Albrecht Müller: „Meinungsmache.“ (Rezension)


Wenn die deutsche Politik jemals eine Wahlkampfparole hervorgebracht hat, die den Adressaten zum Mitdenken aufrief, dann war das der 72er SPD-Slogan „Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen“. Eine ziemlich faire Parole, weil sie den Leser nicht manipuliert: Er wird zum Nachdenken animiert, und das heißt: Er kann sie auch ablehnen.

Dem linken Sozialdemokraten Albrecht Müller, der als Schöpfer dieses Slogans gilt, wird man also zumindest bescheinigen müssen, dass er die Intelligenz seiner Mitmenschen respektiert. Solcher Respekt gerät bei den meinungsbildenden Eliten bekanntlich immer stärker außer Kurs, und Müller hat ein ganzes Buch genau den Methoden gewidmet, mit denen sie dafür sorgen, dass der vielzitierte Mainstream in eine ganz bestimmte Richtung fließt.

[Diese Rezension wurde schon 2010 auf diesem Blog veröffentlicht, aber alles, was ich damals geschrieben habe, wurde seitdem von der Realität sogar übertroffen, und auch Müllers Buch ist aktueller denn je. Die damaligen Kommentare habe ich stehengelassen, ohne aber den Kommentarstrang nochmals zu öffnen. M. K.-H.]

(Albrecht Müller: 
Meinungsmache. Wie Wirtschaft, Politik und Medien uns das Denken abgewöhnen wollen)

Dabei macht er Erfahrungen, die einem Konservativen merkwürdig vertraut vorkommen, und so mancher Kommentator dieses Blogs wird mit einer Mischung aus Mitgefühl und Schadenfreude Passagen wie diese hier lesen:

Wenn ich … beschreibe, dass die Leistungsfähigkeit des bisherigen Rentensystems systematisch, bewusst und geplant der Erosion preisgegeben worden ist, um [sic!] an diesem Zerstörungswerk zu verdienen, dann kommt der Angriff mit der Behauptung: ‚Sie sind ein Verschwörungstheoretiker!’“(S.133)

Leider analysiert er nicht die Wirkungsweise gerade des Vorwurfs der „Verschwörungstheorie“; also erlaube ich mir hier einen Exkurs: Wie manchem Leser erinnerlich ist, bin ich höchst kritisch gegenüber Verschwörungstheorien und habe im Einzelfall ausführlich begründet, was ich unter einer Verschwörungstheorie verstehe und warum ich sie für problematisch halte. Wer so argumentiert, erlegt sich selbst die Beweislast auf.

Es greift aber immer mehr um sich, Verschwörungstheorien zu tabuisieren, ohne zu begründen, warum. Auf diesem Wege wird die Ablehnung von Verschwörungstheorien zum bloßen sozialen Vorurteil und das Wort „Verschwörungstheorie“ zum Etikett, das man nahezu beliebigen Meinungen aufpappen kann, die dadurch aus dem seriösen Diskurs ausgegrenzt werden – ähnlich, wie es mit dem Wort „rechtsextrem“ schon geschehen ist. Das Ergebnis ist eine Beweislastumkehr: Wer beweisen will, dass er kein „Verschwörungstheoretiker“ respektive nicht „rechtsextrem“ ist, kann dies nur dadurch tun, dass er sich von allen Meinungen, Personen und Organisationen distanziert, denen das entsprechende Schandmal aufgebrannt wurde. Da die Diffamierung aber nahezu beliebig vorgenommen werden kann, führt diese (wie jede andere) Art von Appeasement keineswegs dazu, die Diffamierer zufriedenzustellen; vielmehr wird die Grenze des gesellschaftlich Tolerablen mit jedem Zugeständnis enger gezogen: Musste man vor dreißig Jahren noch Hakenkreuzfahnen schwenken, um als rechtsextrem eingestuft zu werden, so reicht heute schon der Gebrauch des Wortes „Neger“.

Müller, wie gesagt, interessiert sich dafür weniger. Linke Sozialisten sind zwar aus der Sicht der meinungsbildenden Eliten ebenso Außenseiter wie rechte Konservative, aber sie werden nicht so sehr moralisch diffamiert, eher schon laufen sie Gefahr, als rückständige Sozialromantiker lächerlich gemacht zu werden, die die Zeichen der Zeit – und speziell der Globalisierung – nicht erkannt haben.

Umso bemerkenswerter die Parallelen, die zwischen beiden Arten politischen Denkens bestehen. Vielleicht fallen diese Parallelen einem wie mir besonders ins Auge, der lange Jahre politisch dort stand, wo auch Müller steht, und heute dort ist, wo der rechte Flügel der CDU wäre, wenn es einen solchen noch gäbe. Ich glaube aber, dass die Gemeinsamkeiten von Sozialisten und Konservativen nicht nur meiner speziellen Optik geschuldet, sondern objektiv vorhanden sind:

Einer wie Müller, der den handlungsfähigen Staat, ein breites und tiefes Angebot öffentlicher Dienstleistungen, aktive keynesianische Konjunkturpolitik und eine dichtgeknüpftes soziales Netz will, fasst Gesellschaft offenkundig nicht als eine bloße Masse von Einzelperonen auf, sondern als Solidargemeinschaft. Das ist das Gegenteil von dem, was der neoliberalen Doktrin entspricht, ähnelt aber offenkundig dem klassischen konservativen Programm der Bewahrung von Volk und Familie, das heißt von – Solidaritätsstrukturen!

Diese Programme sind selbstverständlich nicht gleich, aber sie sind miteinander vereinbar, zum Teil sogar voneinander abhängig: Ist Sozialismus schon rein technisch schwer vorstellbar ohne Bezugnahme auf einen Staat, so ist er – als Solidargemeinschaft – erst recht ideell unvorstellbar ohne die Bereitschaft zur wechselseitigen Solidarität im gesellschaftlichen Maßstab. Solche Bereitschaft fällt aber nicht vom Himmel, und sie wird auch nicht vom Sozialstaat erzeugt; vielmehr findet er sie vor! Die Bereitschaft zur materiellen Solidarität setzt die Vorstellung von einem „Wir“ voraus. Zu deutsch: ein Volk.

Freilich wollen die Linken das nicht wahrhaben, weil es sie in ideologische Peinlichkeiten stürzt: Zu den Implikationen dieses Sachverhalts gehört ja unter anderem, dass Sozialismus stets etwas sein muss, das man mit einigem Recht auch „National-Sozialismus“ nennen könnte. Eine Solidargemeinschaft kommt, allein schon um die Gegenseitigkeit zu gewährleisten, ohne die es sinnlos wäre, von „Solidarität“ zu sprechen, gar nicht darum herum zu definieren, wer dazugehört und wer nicht. Aller internationalistischen Rhetorik zum Trotz würde ein Sozialismus, der alle Menschen weltweit beglücken wollte, schnell aufhören zu existieren. Sozialismus wird immer, wie Stalin das nannte, „Sozialismus in einem Lande“ sein.

Aus der Abneigung gegen solche Gedankengänge resultieren bei Sozialisten, auch bei so klugen Köpfen wie Albrecht Müller, ganz bestimmte blinde Flecken: Der Sozialstaat ist zwar in der Tat systematisch von den siebziger Jahren an ideologisch delegitimiert worden, wie er behauptet – wir kommen gleich dazu -, aber zumindest einer der wichtigsten Gründe für seinen Legitimitätsverlust hat nichts mit Ideologie, PR oder Propaganda zu tun, sondern schlicht mit der Masseneinwanderung von Menschen, bei denen von vornherein feststand, dass sie den Sozialstaat in erheblichem Maße in Anspruch nehmen würden, und zwar ohne Gegenleistung – auch ohne diejenigen Gegenleistungen an Loyalität gegenüber dem Gemeinwesen, zu denen auch ein materiell armer Mensch fähig ist. Ein solcher Sozialstaat hat mit Solidarität nichts zu tun, und niemand muss sich wundern, dass die, die ein solches System mit ihrer Arbeit finanzieren sollen, sich davon abwenden.

Ein ganz ähnlicher blinder Fleck zeigt sich beim Thema „Demographie“: Müller behauptet, Deutschlands demographische Krise (mit der der langsame Abschied vom Umlageverfahren in der gesetzlichen Rentenversicherung begründet wird), werde weit übertrieben, da unser Land nach bisherigen Prognosen auch 2050 noch 75 Milionen Einwohner haben werde. Dass dieser Wert nur durch massive Einwanderung erreicht werden kann, und dass die Masse der Einwanderer nach allen bisherigen Erfahrungen gering qualifiziert und wenig integrationsbereit sein wird, ja dass sogar zu bezweifeln ist, ob Deutschland überhaupt noch regierbar sein wird, wenn sein Staatsvolk – zumindest bei den wirtschaftlich aktiven Bürgern – eine Minderheit im eigenen Land ist: Das sind Themen, die bei Müller nicht zur Sprache kommen. Er verschweigt sie nicht etwa, er hat sie einfach nicht auf dem Radarschirm.

Nun aber genug von den blinden Flecken, ich schreibe diese Rezension ja nicht zum Zwecke kleinlicher Beckmesserei!

Gemeinsam ist Sozialisten und Konservativen die Erfahrung, dass sie selbst ihre Positionen ausführlich begründen müssen, um sich verständlich zu machen, während etablierte „Wahrheiten“ zu Begriffen geronnen sind, die man schon deshalb Schlagworte nennen darf, weil sie nicht dazu da sind, Gegner argumentativ zu widerlegen, sondern ihren Widerspruch niederzuknüppeln. Ein Sozialist, der darauf hinweist, dass neoliberale Zauberworte wie „Flexibilität“ oder „Wettbewerb“ durchaus nicht immer für etwas Positives stehen müssen, bekommt ähnliche Probleme, sich verständlich zu machen wie ein Konservativer, der darauf besteht, dass Feindschaft gegen das eigene Volk hundertmal schlimmer ist als „Fremdenfeindlichkeit“. Eine Ideologie, die sich auf Schlagworte beschränken kann, ist offenkundig gesellschaftlich dominant.

Erleichtert wird diese Dominanz dadurch, dass sowohl Sozialisten als auch Konservative dazu tendieren, je verschiedene Teile dieses neoliberalen Paradigmas für richtig zu halten: die Linken also die Tendenz zu Entgrenzung und Internationalisierung – obwohl das, wie gezeigt, für Traditionssozialisten an sich inkonsequent ist -, die Rechten die Abneigung gegen das, was sie für linken Sozialklimbim halten.

Letzteres ist fast noch erstaunlicher als die linke Inkonsequenz: Es war ein Konservativer – Bismarck -, der den Grundstein für den deutschen Sozialstaat gelegt hat, und wenn Deutschland auch in den vergangenen hundert Jahren praktisch jede Regierungsform erlebt hat, die überhaupt zur Auswahl stand: Alle Regime haben den Sozialstaat unterstützt und, soweit möglich, ausgebaut. Und auch heute noch gibt es eine deutliche Mehrheit für die Idee, dass eine moderne Gesellschaft sich auch durch materielle Solidarität auszeichnen sollte.

(Wie lange es diese Mehrheit unter dem Druck der Masseneinwanderung noch gibt, steht freilich auf einem anderen Blatt: Dass diese Einwanderung die Idee des Sozialstaats schlechthin in Frage stellt, dürfte aus der Sicht der neoloiberalen Eliten nicht der geringste ihrer Vorzüge sein.)

Wir können daraus schließen, dass die Idee sozialer Solidarität zur Selbstbeschreibung des deutschen Volkes, sprich: zu seiner nationalen Identität gehört. Selbstredend müssen auch Konservative nicht vor Allem und Jedem auf die Knie fallen, was zu dieser Identität gehört, aber die Selbstverständlichkeit, mit der die sozialstaatsfeindliche neoliberale Wirtschaftsideologie von vielen Konservativen akzeptiert wird, erstaunt schon deshalb, weil sie damit ja zugleich die ihr zugrundeliegende Meta-Ideologie schlucken, wonach es überhaupt so etwas wie ein universell anwendbares Wirtschafts-(und Politik- und Gesellschafts-)modell geben könne oder gar müsse. Konservatismus, wenn er mehr sein soll als bloß geistige Bequemlichkeit, müsste aber gerade diese Prämisse des Globalismus prinzipiell anfechten und auf dem Eigenwert und der Eigenlogik unterschiedlicher gewachsener Kulturen beharren. Tut er es nicht, hat er bereits die Waffen gestreckt.

Die entscheidende Frage ist nun: Wie kommt die neoliberale Ideologie eigentlich in die Köpfe? Um dies zu erläutern, untersucht Albrecht Müller die taktischen Mittel der Meinungsmache, dann die strategischen Zusammenhänge, in denen sie eingesetzt werden, und benennt dabei auch einige wichtige Akteure. Die taktischen Mittel, mit denen Ideologie gestreut wird, sind:

Wiederholung: „Wenn alle maßgeblichen Personen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien erzählen, die Globalisierung sei ein völlig neues Phänomen …, was soll die Mehrheit der Bevölkerung dann glauben?“ (S.127) Wenn dies nicht bloß einmal geschieht, sondern über Jahre hinweg fortgesetzt wird, dann gehört das, was da verkündet wird, unweigerlich irgendwann zu den Hintergrundannahmen des gesellschaftlichen Diskurses.

Dieselbe Botschaft aus unterschiedlichen Ecken verkünden: „Wenn der frühere Bahnchef Hartmut Mehdorn und der Aufsichtsratsvorsitzende der Deutschen Bahn
Werner Müller, der zuvor unter Gerhard Schröder Bundeswirtschaftsminister war …, wenn diese beiden das Gleiche sagen wie Norbert Hansen, der … Vorsitzende der größten Eisenbahnergewerkschaft …, dann muss der Börsengang ja gut sein für die Bahn.“ (S.129) Und, möchte man von einem rechten Standpunkt hinzufügen, wenn die CDU sich für Masseneinwanderung stark macht und uns, wie die Grünen, etwas von der damit verbundenen „Bereicherung“ vorschwärmt; wenn obendrein Heerscharen von Wissenschaftlern die vermeintlichen Vorzüge der „Diversität“ anpreisen, dann können nur ungewöhnlich selbstbewusste Menschen sich vorstellen, dass die Alle Unrecht haben sollen.

Vokabeln verwenden, die Urteile und Wertungen beinhalten: „Flexibilität“ klingt doch immer gut, nicht wahr, erst recht „Toleranz“? Müller selbst führt das Wort „Reform“ als Beispiel für einen positiv besetzten Begriff an, der dann umgedeutet wird (in „Reformen“ zugunsten der Oberschicht). (Dass die Umdeutung zentraler politischer Begriffe auch zu den bevorzugten Strategien der EU zu Gesellschaftstransformation gehört, dazu empfehle ich nochmals den Aufsatz von Christian Zeitz)

Einen gruppenspezifischen Jargon sprechen: Ein solcher reduziert ganze Ideologien auf Schlagworte, die für jeweils bestimmte Gruppen gelten und diese Gruppen definieren. Wer ihn nicht spricht – und damit anzeigt, dass er die gruppenspezifische Ideologie nicht teilt – ist draußen. In Kreisen, in denen von „den Märkten“ die Rede ist, sollte man sich Ausdrücke wie „Solidarität“ oder „Gerechtigkeit“ ebenso verkneifen wie „Vaterland“ oder „Abendland“.

Affirmativ auftreten: Menschen neigen dazu, zu glauben, was ihnen erzählt wird. Eine Richtigkeitskontrolle findet höchstens intuitiv statt: Steht der Sprecher hinter dem, was er sagt? Wenn er das vortäuschen kann, glaubt man ihm. Müller zitiert den damaligen Finanzminister Steinbrück: „Schließlich steht außer Zweifel, dass wir einen starken und wettbewerbsfähigen Finanzplatz Deutschland brauchen.“ (S.130) Wer wird sich da schon die Blöße geben, der Hinterwäldler zu sein, der bezweifelt, was doch „außer Zweifel steht“?

Immer im Angriff bleiben: Der Kritiker kann gar nicht Recht haben, und vor allem darf er es nicht. Er kann dumm (links) oder bösartig (rechts) sein; tertium non datur. Ein Rezept, das schon die Nazis praktiziert haben, ebenso wie das folgende:

Keine Diskussionen zulassen: TINA (There is no alternative) bedeutet, die eigentliche Ideologie wird aus jeder Diskussion herausgehalten; so sind die Schlussfolgerungen aus ihr dann tatsächlich ohne Alternative.

Pars pro toto: Einen gesellschaftlichen Missstand dadurch verschwinden lassen (oder dadurch herbeireden), dass man Einzelfälle willkürlich verallgemeinert.

Übertreibung: Wird gerne zur Diffamierung Andersdenkender eingesetzt.

Botschaft B senden, um A zu transportieren: Die explizite Aussage enthält eine Implikation, die als solche unausgesprochen bleibt, aber gerade dadurch umso unauffälliger, d.h. ohne den Filter der kritischen Nachprüfung in die Köpfe gelangt. „Wir verstehen nicht, warum die Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzminister die Banken flehentlich darum bitten, doch endlich unsere 480 Rettungs-Milliarden zu nehmen. Diese Botschaft B wird verständlich, wenn wir die Botschaft A bedenken: Die Banken erweisen uns einen Gefallen, sie erlauben uns gnädig, ihnen unser Geld zu geben, statt ihnen den Staatsanwalt ins Haus zu schicken, was angesichts des millionenfachen Betrugs gerechtfertigt wäre.“ (S.140)

Konflikt: Der inszenierte Konflikt beschäftigt das Publikum so sehr, dass seine Protagonisten die Agenda bestimmen. Müller führt den „Konflikt“ zwischen Schröder und Lafontaine im Vorfeld der Bundestagswahl 1998 an, der entscheidend zum Wahlsieg der SPD beigetragen hat. Auf einer höheren Ebene war die gesamte Zeit des Kalten Krieges so sehr von dem Gegensatz von Liberalismus und Sozialismus, zweier linker Ideologien, beherrscht, dass der Konservatismus aus dem Weltbild des Normalbürgers hinausdefiniert wurde (übrigens so sehr, dass auch Albrecht Müller mit einer gewissen nervtötenden Penetranz „rechtskonservativ“ sagt, wenn er „extrem neoliberal“ meint – das tut dann schon richtig weh.)

Verschweigen: Welcher Ideologie die veröffentlichte Meinung folgt, lässt sich daran ablesen, mit welchen Themen sie sich nicht beschäftigt und welche Wahrheiten sie nicht ausspricht. Beispiele erübrigen sich – es gibt sie, vom linken wie vom rechten Standpunkt, zuhauf.

Seit den siebziger Jahren wird massive Propaganda zugunsten der Privatisierung bisher öffentlich erbrachter Dienstleistungen gemacht, werden öffentliche Dienstleistungssysteme bewusst kaputtgespart, um ihre dann notwendig geringere Leistung einem angeblichen „Sozialismus“ in die Schuhe zu schieben, so lange, bis sie tatsächlich privatisiert werden (oder, wo das nicht ohne weiteres möglich ist, wie bei den Universitäten, sie strukturell Privatunternehmen weitgehend angelichen werden). Müller weist, m.E. zu Recht, darauf hin, dass die damit erzielten Verbesserungen bestenfalls zweifelhaft waren, die Schäden aber genau dort eingetreten sind, wo sie zu erwarten waren: bei der Verlässlichkeit, der Nachhaltigkeit, der Langfristperspektive und der Zugangsgleichheit. Das fängt bei Kommunikationsdienstleistungen an, setzt sich fort im Bildungsbereich und im Verkehrswesen und hört bei den Medien noch lange nicht auf. Ich werde diesen Aspekt hier nicht vertiefen (und verweise auf das Buch), weil es mir hier ja nicht darum geht, wo die Neoliberalen Recht oder Unrecht haben, sondern wie sie ihre Ideologie unter die Leute bringen.

In diesem Zusammenhang spielt zum Beispiel die Kommerzialisierung der Medien eine Rolle: zum einen durch die Einführung des kommerziellen Fernsehens in den achtziger Jahren, zum anderen dadurch, dass auch die gedruckten Medien mehr und mehr dem Diktat des Shareholder Value unterworfen werden.

Letzteres – dass also kapitalistische Unternehmen naturgemäß auf Deubel komm raus maximalen Gewinn erwirtschaften müssten – wird zwar vielfach für selbstverständlich gehalten, liegt aber durchaus nicht in der Natur der Sache. In der Natur der Sache liegt lediglich, dass solche Unternehmen um jeden Preis die Pleite vermeiden müssen. Wer freilich Gewinnmaximierung anstrebt, wird im Medienbereich dasselbe tun wie in anderen Branchen, nämlich Stellen streichen und auslagern, Löhne und Honorare drücken, zusätzliche Einnahmequellen erschließen. Für die Redakteure, die unter solchem Druck produzieren müssen, ist es ein zweifelhafter Glücksfall, dass es zu jedem Thema vier oder fünf sogenannte oder auch Experten gibt, auf die man arbeitssparend zurückgreifen kann, und die, weil sie normalerweise alle dieselbe Meinung vertreten, keine irritierenden Dissonanzen aufkommen lassen, stattdessen suggerieren, es könne ohnehin bloß eine vernünftigerweise vertretbare Meinung geben, nämlich ihre eigene.

Und dabei ist das noch eine relativ saubere Form von Journalismus, verglichen mit dem Einsatz von Fertigprodukten aus PR-Abteilungen. Publizistische Unabhängigkeit, auch früher schon wegen der Abhängigkeit von Werbekunden ein heikles Thema, wird in dem Maße zur Fiktion, wie man sich von kapitalstarken PR-Anbietern kaufen lässt: Sich die Spalten und Sendeplätze füllen zu lassen und dafür noch Geld zu kassieren – das ist journalistisch das Allerletzte, aber kommerziell der Königsweg.

Und das betrifft nicht nur private Medien: Im „redaktionellen“ Teil der GEZ-Sender spottet das Maß an Werbung, die man längst nicht mehr „Schleichwerbung“ nennen kann, inzwischen jeder Beschreibung! Dass die Orientierung am kommerziellen Erfolg das Ergebnis einer ideologischen Gehirnwäsche ist, die mit ökonomischen Notwendigkeiten nichts zu tun hat, liegt gerade bei diesen Sendern auf der Hand.

Ganz ähnlich sieht es bei den Universitäten aus. Dort hat die Gehirnwäsche schon so weit gefruchtet, dass kaum noch einem aufzufallen scheint, dass der vielgepriesene „Wettbewerb der Universitäten um Drittmittel“ (der Wirtschaft und des Staates) auf nichts anderes hinausläuft als darauf, die wissenschaftliche Unabhängigkeit an den Meistbietenden zu verhökern. Im naturwissenschaftlich-technischen Bereich lässt sich vielleicht noch darüber diskutieren, ob die dadurch möglicherweise erzielbare Orientierung an der praktischen Anwendung auch ihr Gutes hat. Bei den Geistes- und Sozialwissenschaften bedeutet es die Verwandlung von Universitäten in Ideologiefabriken. Wenn zudem noch der Turbo-Master gefordert wird (von Studenten, die bereits das Turbo-Abitur hinter sich haben), dann ist das erwartbare Ergebnis, dass die Bereitschaft und Fähigkeit zu ideologiekritischem Denken (von welchem politischen Ausgangspunkt auch immer) nicht mehr entwickelt wird. Und sie sollen ja auch gar nicht entwickelt werden. (Und nochmal: Neoliberale und linksliberale Ideologien ergänzen einander, sie widersprechen einander nicht! Allenfalls setzen sie unterschiedliche Akzente. Weswegen der Einwand, die Unis seien doch in der Hand der Linken, am springenden Punkt vorbeigeht.)

Kommerzialisierung wirkt also in diesen Bereichen selbstverstärkend: Kommerzialisierte, gewinnmaximierte Medien und Universitäten bringen wie von selbst genau die Ideologie hervor, die ihre eigenen Binnenstrukturen legitimiert; zugleich verlieren sie in dem Maße an Autonomie, wie die Orientierung an nichtwissenschaftlichen bzw. nichtpublizistischen Kriterien zunimmt. Das soziologische Standardmodell einer funktional differenzierten und sich immer weiter differenzierenden Gesellschaft stößt bei der Beschreibung eines solchen Sachverhalts nicht nur an Grenzen: Es führt sogar in die Irre, weil es einen Prozess der systematischen Ent-differenzierung verschleiert, bei dem verschiedene Teilsysteme den Maßgaben derselben leitenden Ideologie unterworfen werden.

Wie aber konnte die neoliberale Ideologie so dominant werden, und wer hat die Kampagnen angeschoben, die eine so nachhaltige ideologische Wirkung gezeitigt haben?

Leider bleibt Müller in seiner Darstellung ganz auf Deutschland fixiert, obwohl die Durchsetzung des neoliberalen Paradigmas ein Prozess war, den man seit den sechziger Jahren in der gesamten westlichen Welt beobachten konnte. Müller erwähnt zwar die „Chicago Boys“, also die Gruppe von Ökonomen um Milton Friedman, aber eine umfassende Darstellung strebt er nicht an.

Umso interessanter ist das, was er über die Rolle der Bertelsmann-Stiftung schreibt, die seit ihrer Gründung in den siebziger Jahren das neoliberale Paradigma verficht. Natürlich ist sie nicht der einzige Akteur auf diesem Gebiet: Wirtschaftsnahe Institute und Lobbyorganisationen mit vergleichbarer Agenda gibt es zuhauf, aber die Bertelsmann-Stiftung liefert – gerade für Politiker als Abnehmer – ganze Fertigpakete: nicht nur eine Ideologie, auch die dazu passenden wissenschaftlichen Studien; nicht nur Studien, sondern auch Handlungsempfehlungen; und zu den Empfehlungen gleich die Strategien zu ihrer Umsetzung; verbunden mit publizistischer Unterstützung für diejenigen Politiker, die sich an diese Empfehlungen des Hauses Bertelsmann halten, das zugleich Eigentümer eines der größten Medienkonzerne der Welt ist. Politiker, die sich darauf konzentrieren wollen, an der Macht zu bleiben, und die zu diesem Zwecke auch politische Inhalte benötigen – als notwendiges Übel sozusagen –, werden bei Bertelsmann zweifellos erstklassig bedient.

Der inzwischen verstorbene Bertelsmann-Gründer Reinhard Mohn hat hier eine Struktur geschaffen, die ganz auf die Verbreitung und gesellschaftliche Durchsetzung seiner Ideologie programmiert ist. Ich weiß nicht, und Müller schreibt nichts darüber, aber ich vermute, dass Springer, Murdoch und Berlusconi in ähnlicher Weise für ihr Nachleben vorgesorgt haben. In jedem Fall ist es auffällig, wie gering die Anzahl der Großakteure ist, die hier eine Rolle spielen.

Wenn man mit so viel Medienmacht erst einmal eine ganz bestimmte Sicht der Welt als dominant etabliert hat, kommt es wie von alleine zur Selbstgleichschaltung der nicht konzerngebundenen Medien und von Politikern, die eigentlich für die Unterstützung einer anderen, z.B. linken oder konservativen Agenda gewählt wurden. Wer möchte sich schon nachsagen lassen, die Zeichen der Zeit nicht erkannt zu haben. Wenn die Bejahung einer bestimmten Ideologie – sprich: die Bereitschaft und Fähigkeit, mit einer gewissen urbanen Lässigkeit alles abzulehnen, was der Normalbürger für selbstverständlich hält – über die Zugehörigkeit zur Elite entscheidet, dann werden anderslautende Prinzipien schnell zu etwas Lästigem, das man höchstens noch zur Täuschung der Wähler benötigt.

(Ob man wirklich dazugehört, steht freilich auf einem anderen Blatt. Gerhard Schröder jedenfalls erfuhr erst im Frühjahr 2005 durch den plötzlichen Schwenk jener Blätter, die ihn bis dahin unterstützt hatten, dass er bloß der nützliche Idiot gewesen war, der den Boden für eine neoliberale Reformpolitik hatte bereiten sollen. Nachdem das erledigt war, war er plötzlich jener Mohr, der seine Arbeit getan hatte. Der Mohr konnte gehen.)

Und man glaube nicht, das diese Form von Korruption durch Eitelkeit nur auf der Linken funktioniert. Der linke Politiker, der sich nicht dabei erwischen lassen möchte, von Klasseninteressen oder Solidarität zu sprechen, weil das rückständig wäre, findet seine rechten Gegenstücke in gewissen Leuten, die sich nicht dabei erwischen lassen möchten, noch an die Existenz von Völkern zu glauben, und die uns deshalb in der „Sezession“ oder der „Jungen Freiheit“ die neoliberale „Wahrheit“ unterzujubeln versuchen, dass Masseneinwanderung unvermeidlich sei.

Ich bin mit Müller selbstredend nicht in jedem Punkt einverstanden; mir scheint auch, dass er die Möglichkeiten eines spezifisch sozialistischen Politikansatzes deutlich überschätzt – aber wer weiß? Ich bin im Gegensatz zu ihm kein Makroökonom, und vielleicht bin ich selbst ein Opfer neoliberaler Meinungsmache? Ich finde jedenfalls, man sollte seine eigenen Meinungen von Zeit zu Zeit darauf abklopfen, ob sie auch wirklich die eigenen sind. Womöglich vertritt man sie nur, weil „Alle“ sie vertreten, insbesondere die „Eliten“, und die müssen es ja wissen, nicht wahr?

Müller empfiehlt, wie ich selbst auch, die Übermacht der Meinungsmacher durch Nutzung des Netzes zu konterkarieren, und unterhält zu diesem Zweck die NachDenkSeiten. Sein Buch ist ungeachtet einiger Schwächen gerade für Konservative lesenswert: weil man manche Sachverhalte klarer sieht, wenn sie einmal nicht anhand der eigenen Lieblingsthemen erläutert werden; und weil man gerade an der Auseinandersetzung mit sozialistischen Positionen merken kann, wie sehr man unter Umständen selber auf der Basis von neoliberalen Annahmen argumentiert, die man nicht wirklich kritisch überprüft hat.

 

 

 

 

Mein neues Buch: „Die liberale Gesellschaft und ihr Ende“

kleine-hartlage die liberaleEndlich ist es so weit: Mein neues Buch „Die liberale Gesellschaft und ihr Ende. Über den Selbstmord eines Systems“, das ich schon vor über zwei Jahren unter dem damaligen Arbeitstitel „Die Liquidierung der Zivilisation“ angekündigt hatte, wird in Kürze das Licht der Welt erblicken und kann ab jetzt vorbestellt werden (hier klicken!).

Es handelt sich um eine Fundamentalkritik jener Ideologie, die von den meisten Menschen in westlichen Gesellschaften als so selbstverständlich verinnerlicht worden ist, dass sie sie als Ideologie kaum mehr durchschauen. Aus der Einleitung:

So wird zum Beispiel kaum jemand, der über einigen Einfluß auf die öffentliche Meinung verfügt (und diesen behalten möchte), bezweifeln, daß die Aufklärung mitsamt den damit verbundenen Werten der individuellen Freiheit, der Emanzipation, der Toleranz, der Gleichheit und so weiter etwas unhinterfragbar Gutes sei. Die lange und große Tradition gegenaufklärerischen Denkens dürfte außer einer marginalisierten konservativen Rechten bloß noch Spezialisten für Philosophiegeschichte geläufig sein, und die wenigen Denker dieser Tradition, deren Namen wenigstens den Gebildeten noch etwas sagen (Carl Schmitt etwa), sind oft weniger Gegenstand einer ernstzunehmenden Kritik als einer niveaulosen, haßerfüllten Diffamierung.

Daß die Aufklärung durchaus ihre Schattenseiten hat; daß ihre Prämissen anfechtbar sind; daß Ideologien, die auf diesen anfechtbaren Prämissen basieren, die Existenz der ihr anhängenden Gesellschaft gefährden, sind Gedanken, die nicht verstanden werden können, solange eben diese Prämissen gedankenlos als Selbstverständlichkeiten verinnerlicht und als vermeintlicher Inbegriff des Wahren und Guten jeder Kritik so weit entrückt sind, daß der bloße Versuch, sie mit Argumenten zu kritisieren, den Kritiker zum Feind von Freiheit, Emanzipation und Toleranz stempelt, mit dem man demgemäß auf keinen Fall diskutieren darf.

Es liegt in der Natur der Sache, daß eine Gesellschaft, die eine falsche Ideologie verinnerlicht hat, stets aufs neue von unerwarteten Entwicklungen unangenehm überrascht wird – Entwicklungen wie denen, die ich in [meinen bisherigen] Büchern analysiert habe –, daß sie aber deren Ursachen nicht erkennen und adäquate Antworten nicht finden kann, sofern sich in diesen Entwicklungen die innere Logik eben der fehlerhaften Ideologie entfaltet, deren Prämissen sakrosankt sind.

Unter solchen Umständen muß es bei oberflächlicher Kritik und zaghafter, erfolgloser Symptombekämpfung bleiben, die sich obendrein lediglich auf die bereits offen zutage liegenden Probleme beschränkt, diese isoliert voneinander angeht und nicht zu verhindern vermag, daß immer neue verhängnisvolle Fehlentwicklungen eingeleitet werden.

Die Partikularinteressen verantwortungsloser Machteliten und Interessengruppen tragen das Ihre dazu bei, die Gesellschaft in einem Netz ideologischer Fehlannahmen gefangenzuhalten, die es ihr unmöglich machen, ihre eigene Situation zu erkennen. Es handelt sich dabei nicht etwa um ein zufälliges Sammelsurium von Irrtümern, sondern um ein in sich schlüssiges, durchdachtes und immer weiter ausgebautes System von Unwahrheiten, das für die Gesellschaft, die an sie glaubt, selbstzerstörerische Konsequenzen hat: um ein lückenlos geschlossenes, soziopathologisches Wahnsystem.

Es wird in diesem Buch darum gehen, die verborgenen Prämissen und Implikationen dieses Systems aufzudecken und die von ihm systematisch ausgeblendeten Wahrheiten zur Sprache zu bringen. Wir werden sehen, daß zu diesen mißachteten Wahrheiten nahezu alles gehört, was naturgemäß zur Aufrechterhaltung von Gesellschaft erforderlich ist, und daß diese Ideologie eben deshalb auf die Dauer nur zu deren Zerstörung führen kann.

Ich werde im Folgenden keine Zusammenfassung des Buches geben, nur anhand einiger Zitate den Argumentationsstil illustrieren. Natürlich in der Hoffnung, Euch damit Appetit auf das Buch zu machen:

Es wird allgemein angenommen, rationale Erkenntnis sei in jedem Fall die Grundlage erfolgreichen Handelns: So, wie man auf der Grundlage naturwissenschaftlicher Erkenntnis funktionierende Technik entwickeln könne, müssten auch im sozialen Bereich rational entwickelte ethische Prinzipien voraufklärerischen Normen überlegen sein. Voraufklärerische, religiös fundierte Ethik sei entbehrlich, weil man in Gestalt des Kategorischen Imperatives über ein universell gültiges Prinzip verfüge, dass das Zusammenleben unterschiedlichster Menschen zur allseitigen Zufriedenheit regeln könne.

Wie kompliziert die Verwirklichung dieses einfachen Prinzips sein kann, können wir uns an einem Extrembeispiel klarmachen, an dem eines Terroristen. Scheinbar ist der Terrorist – egal für welche Ideen er kämpft – von der Ethik des Kategorischen Imperativs so weit entfernt wie nur möglich. Er selbst freilich würde argumentieren, daß er schließlich für das Wohl der Menschheit kämpfe, das durch die gesellschaftlichen Verhältnisse (welche auch immer er konkret im Auge haben mag) beeinträchtigt werde. Würden alle Menschen, so spräche unser hypothetischer Terrorist, derselben Maxime folgen wie er und sich einem gedachten Gesetz unterwerfen, das zum Kampf gegen diese Verhältnisse verpflichtet, so wären Glück und Wohl der Menschheit gesichert. Er wäre also durchaus der Ansicht, im Sinne des Kategorischen Imperativs zu handeln und könnte sogar darauf verweisen, daß sein Handeln besonders selbstlos sei, da er selber ja ebensogut seinen Privatvergnügungen frönen könnte, statt sich für das Wohl einer Menschheit zu opfern, die dieses Opfer unverständlicherweise gar nicht zu schätzen wisse.

Die Logik einer solchen Argumentation ist hieb- und stichfest. Offenbar genügt es für das Funktionieren der Gesellschaft nicht, daß die meisten – im Idealfall alle – ihrer Mitglieder sich in einem abstrakten Sinne am Kategorischen Imperativ orientieren; dies tut der Terrorist unter Umständen ebenso wie der ihn verfolgende Polizeibeamte. Vielmehr bedarf es auch noch eines zumindest grundlegenden Konsenses darüber, wie die allgemeinen Gesetze beschaffen sein sollten, als deren Grundlage die Maxime des eigenen Handelns dienen kann. Der Imperativ setzt diesen Konsens voraus. Er sagt nichts darüber aus, wie er zustande kommt oder gestiftet werden kann.

(…)

Es hilft nichts, den daraus resultierenden Problemen dadurch ausweichen zu wollen, daß man einen menschheitsweiten Konsens einfach als gegeben unterstellt. Kulturen sind nicht nur, aber auch nicht zuletzt, Konsensgemeinschaften, die unter jeweils konkreten und unwiederholbaren Voraussetzungen historisch gewachsen sind und einer je spezifischen inneren Logik folgen. Eine multikulturelle Gesellschaft ist daher per definitionem eine, in der die Orientierung am Kategorischen Imperativ, sofern er abstrakt gedacht wird, unter Umständen nicht geeignet ist, das elementare Problem menschlichen Zusammenlebens zu lösen. Dies wird nämlich vor allem dann nicht gelingen, wenn die Gerechtigkeits-, Wahrheits- und Moralvorstellungen der verschiedenen Kulturen, die in ein und demselben Land eine Gesellschaft bilden sollen, miteinander unvereinbar sind.

Es wird allgemein angenommen, eine freiheitliche Gesellschaft werde vor allem von ihren Gegnern bedroht, also zum Beispiel von Nazis, Kommunisten oder Islamisten – woraus ein Geschichtsbild resultiert, wonach der Nationalsozialismus hätte verhindert und die Demokratie gerettet werden können, wenn man nur beizeiten genug linke Ideologie unter die Leute gebracht hätte; weswegen es nun darauf ankomme, irgendwelchen „Anfängen zu wehren“. Dass die liberale Gesellschaft selbst jene Probleme ausbrütet, die dann nach totalitären „Lösungen“ schreien, kann kaum gedacht werden, obwohl es auf der Hand liegt:

Zu Beginn der dreißiger Jahre gab es in Deutschland kaum einen Beobachter des Zeitgeschehens, der der liberalen Demokratie noch eine Chance einräumte, und dies galt selbst für ihre Anhänger. Die Politik stellte sich zunehmend als Wettlauf von Kommunisten und Nationalsozialisten, also von totalitären Gegenentwürfen, um die Macht dar, und ich halte es für wahrscheinlich, daß dies den Zeitgenossen deshalb so erschien, weil es nichttotalitäre Lösungen für die tiefe Gesellschaftskrise damals in der Tat objektiv nicht mehr geben konnte. Von einem gewissen Grad der Gesellschaftszersetzung an gewinnen zentrifugale Kräfte derart das Übergewicht über die zentripetalen, die die Gesellschaft zusammenhalten, daß die Gesellschaft nur noch durch die Gewalt eines nicht nur autoritären, sondern totalitären Staates rekonstituiert werden kann; eines Staates also, der die Menschen nicht nur dazu zwingt, zu tun, sondern zu wollen, was sie sollen.

Niemand sollte sich einbilden, unsere eigene Gesellschaft sei vor solcher Instabilität gefeit; insbesondere sollte man sich bewußt sein, daß eine freiheitliche Ordnung auf einem äußerst fragilen Gleichgewicht von Freiheit und Bindung, Rechten und Pflichten, Dynamik und Stabilität beruht; daß die Entscheidung für Freiheit, Rechte und Dynamik in jedem Einzelfall notwendig die Entscheidung gegen die komplementären Bindungen, Pflichten und Stabilitätsfaktoren impliziert. Politische Kräfte, die aus ideologischem Prinzip die stabilisierenden Strukturen unter Beschuß nehmen, führen, wenn ein bestimmter „point of no return“ einmal überschritten ist, genau jene totalitäre Repression herbei, der sie selbst am Ende zum Opfer fallen werden, sofern sie dann nicht auf der Siegerseite sind.

(…)

Die totalitären – kommunistischen, faschistischen, heutzutage zunehmend auch islamischen – Gegenentwürfe zur liberalen Moderne sind nicht zuletzt Antworten auf ein von dieser selbst erzeugtes existentielles Problem. Sie sind der Versuch, einen neuen Konsens zu stiften, wo der alte zerstört worden ist. Ein Antikommunismus, ein Antifaschismus, eine Islamfeindlichkeit, die diesen Sachverhalt ignorieren und die totalitäre Herausforderung als etwas auffassen, was bloß von außen an die liberale Gesellschaft herangetragen wird und notfalls mit Gewalt zu bekämpfen ist, verkennen, wie sehr die liberale Moderne selbst solche Gegenentwürfe herausfordert, womöglich sogar ihre Verwirklichung unvermeidlich macht. Die in diesen Entwürfen enthaltene Kritik nicht ernst zu nehmen, sondern als vermeintlich „böse“ zu denunzieren, ist ein Fehler, der den Sieg des Totalitären gerade nicht aufhält, sondern beschleunigt.

Viele Menschen glauben, staatliche Politik sei dazu da, die Gesellschaft zu gestalten:

Die Vorstellung, daß die Gesamtheit der sozialen Beziehungen Gegenstand politischer Planung sein könne, daß es also Aufgabe der Politik sei, die Gesellschaft zu gestalten, ist historisch neu und hätte kaum jemandem in den Sinn kommen können, wenn die Aufklärung nicht diese Beziehungen und deren Struktur auf ihr Warum und Wozu befragt hätte und weiterhin befragte. Wenn die soziale Ordnung nicht etwas schlechthin Gegebenes, sondern etwas von Menschen Gemachtes ist, ist in der Tat auf den ersten Blick nicht erkennbar, warum dieses Gemachte nicht auch von Menschen geändert werden sollte und könnte. Auf den zweiten Blick freilich erweist sich diese Idee als naiv:

Soziale Ordnungen sind nämlich normalerweise nicht in dem Sinne „gemacht“, daß sie einem bewußt konzipierten Masterplan folgen würden. Sie entstehen und entwickeln sich durch unzählige soziale Wechselwirkungen über lange Zeiträume hinweg, und sie bleiben bestehen, solange sie sich bewähren und ihre Integrität bewahren, wobei sie sich durchaus an veränderte Bedingungen anpassen können. Den großen Strippenzieher und Gesellschaftsingenieur gab es nie, und wer sich in dieser Funktion versuchte, wie etwa die kommunistischen Revolutionäre, mußte stets feststellen, daß sich unerwartete, weil in der Theorie nicht vorgesehene Rückwirkungen einstellten, die dazu führten, daß die Gesellschaft ganz anders funktionierte, als der vermeintliche Ingenieur vorausgesehen hatte, und die seine Theorien ad absurdum führten.

Der Irrtum solcher selbsternannter Gesellschaftsingenieure lag darin, daß sie sich mit Gott verwechselten, an den sie meistens nicht glaubten, dessen Stelle sie aber eben deshalb für sich beanspruchen zu dürfen meinten. Die Gesellschaft funktioniert nicht mechanisch, sondern organisch, weswegen es wohl möglich ist, Krankheiten zu diagnostizieren, nicht aber, eine Gesellschaft neu zu erfinden. Die Gesellschaft auf dem Reißbrett zu entwerfen gleicht dem Versuch, durch künstliche Synthese eines DNS-Strangs einen lebensfähigen Organismus zu erzeugen; und auch der nur scheinbar umgekehrte Weg, Teile der vorhandenen kulturellen DNS willkürlich herauszuschneiden, weil ihre Funktion latent und nicht auf den ersten Blick erkennbar ist, und weil sie der Verwirklichung eines abstrakten Gesellschaftsideals hemmend im Wege stehen, basiert bestenfalls auf einer drastischen Überschätzung soziologischer Erkenntnisfähigkeit, häufiger freilich auf dem bloßen Ignorieren der Tatsache, daß es hier überhaupt etwas zu erkennen gibt.

Nachdem ich in diesem Stil im ersten von drei Hauptkapiteln die prinzipiellen Schwachstellen des aufklärerischen Paradigmas aufs Korn genommen habe, widmet sich Kapitel II den Ideologien des Liberalismus und Marxismus, in denen dieses Paradigma sich konkretisiert und zu einer Metaideologie verdichtet:

Sie definieren, was überhaupt ideologiefähig ist: worüber in westlichen Gesellschaften sinnvoll gestritten werden kann und worüber nicht; was als normal und vernünftig gelten kann und was als exzentrisch oder verwerflich aus dem als seriös geltenden öffentlichen Diskurs ausgeschlossen ist; für welche Ideen man demgemäß mit Aussicht auf Erfolg werben kann und für welche nicht.

Dies bedeutet nicht, daß Marxismus und Liberalismus einfach dieselbe Ideologie seien, wohl aber, daß sie das politische Spektrum definieren: Positionen, die mit dem Paradigma der gemeinsamen Metaideologie unvereinbar sind, sind von vornherein gesellschaftlich marginal. Was zwischen Marxismus und Liberalismus nicht umstritten sein kann, ist Konsens.

Das hat Konsequenzen: Die problematischen Seiten der Aufklärung entfalten sich eben nicht nur im Marxismus (wie ich in „Warum ich kein Linker mehr bin“ ausführlich gezeigt habe), sondern auch im Liberalismus, der, genau wie sein marxistisches Gegenstück, wegen der Irrealität seiner Prämissen mit geradezu physikalischer Zwangsläufigkeit Konsequenzen hervorbringt, die eben diese Prämissen ad absurdum führen. Zum Beispiel im Zusammenhang mit Masseneinwanderung:

Das liberale Gedankenmodell würde ganz hervorragend in einer Welt funktionieren, die nur aus Liberalen bestünde – aber eben nur in einer solchen. Das weltfremde Ignorieren tatsächlich vorhandener Erwartungsstrukturen und tatsächlicher sozialer Voraussetzungen für eine liberale Ordnung hat desaströse Folgen nicht nur für die Völker, die einer liberalen Ideologie folgen, sondern auch für den Liberalismus selbst:

Wenn man nämlich nicht wahrnehmen und nicht wahrhaben kann, daß die liberale Ordnung alles andere als natürlich ist, vielmehr nur unter bestimmten kulturellen Voraussetzungen entstehen konnte und sich behaupten kann, wenn man also nicht zugeben kann, daß ein Minimum an kultureller Homogenität zu den Existenzbedingungen einer solchen Ordnung gehört, weil man sonst die Prämissen der eigenen Ideologie hinterfragen müßte, dann ist man nicht allein genötigt, mehr oder minder seufzend die immer weiter reichenden Eingriffe abzunicken, die der Staat bereits zur Bekämpfung von immigrationsbedingt ansteigender Kriminalität, Korruption und Terrorismus vornehmen muß.

Wenn man ideologiebedingt blind für den Sachverhalt sein muß, daß ethnische Spannungen – von alltäglicher Gewalt im Normal- bis hin zu Pogrom und Bürgerkrieg im Extremfall – in allen multiethnischen und multikulturellen Gesellschaften an der Tagesordnung sind, dann kann man in solchen Spannungen nicht die zwangsläufig eintretende Konsequenz einer Politik der forcierten Masseneinwanderung sehen, die sie tatsächlich sind, sondern muß sie auf die „Intoleranz“ der Einheimischen zurückführen, auf ihren „Rassismus“, ihre „Fremdenfeindlichkeit“.

Daß es sich dabei um ganz normale und sogar unvermeidliche menschliche Reaktionen auf eine ideologisch motivierte Überforderung handeln könnte, darf schon deshalb nicht gesehen werden, weil damit der Liberalismus im Sinne einer zu verwirklichenden Utopie in Frage gestellt würde. Es könnte womöglich jemand auf die Idee kommen, daß es eine nur aus Liberalen bestehende Gesellschaft gar nicht geben kann. Es könnte jemand glauben, daß die „Freiheit“ des Liberalismus womöglich ausschließlich in dem Recht bestehen könnte, ein Liberaler (oder schlimmstenfalls ein Linker) zu sein – so wie auch jede andere Ideologie ihren eigenen Anhängern ein Höchstmaß an Entfaltung erlaubt. Es könnte sich jemand daran erinnern, daß die segensreichen Wirkungen einer freien Marktwirtschaft sich auch im Gedankenmodell stets nur ceteris paribus (d.h. unter sonst gleichbleibenden Umständen) einstellen, daß aber Massenmigration eben diese Umstände verändert und der Gewinn an ökonomischer Effizienz entweder gar nicht erst erzielt oder mit Freiheitsverlusten an anderer Stelle bezahlt wird.

Wenn man in solcher Weise mit den Konsequenzen der eigenen Oberflächlichkeit, Weltfremdheit und Verbohrtheit konfrontiert wird, sucht man verständlicherweise nach einem Sündenbock und findet ihn in den eigenen Mitbürgern, den intoleranten, die eben dadurch, daß sie das sind, das Recht auf Toleranz verwirkt haben. Der „Kampf gegen Rechts“, gegen „Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“, der von der gesamten politischen Klasse geführt wird, also nicht nur von den Liberalen, sondern auch den Linken und den (Schein-)Konservativen, zielt nur oberflächlich und nur sekundär auf Rechtsextremisten. Er zielt auf die moralische Einschüchterung der Mehrheit, die ihre eigenen natürlichen Gefühle als etwas „Böses“ verdammen soll, damit sie sich auch weiterhin für den ideologisch motivierten gigantischen Menschenversuch „Massenmigration“ als Versuchskaninchen hergibt.

Nachdem ich also in Kapitel II gezeigt habe, wie und warum die herrschende Metaideologie zunehmend totalitär werden, ihre emanzipatorischen Prämissen zwangsläufig Lügen strafen und die Gesellschaft zerstören muss, verlasse ich in Kapitel III die reine Ideologiekritik und frage nach dem Wie, dem Warum und vor allem dem Wer.

Daß eine Ideologie leidenschaftliche Anhänger hat, ist eine Sache; daß diese Anhänger in der Politik und in den Zentren der gesellschaftlichen Ideologieproduktion nahezu ausschließlich das Sagen haben, ist eine ganz andere – zumal es sich um eine Ideologie handelt, deren Prämissen, wie wir gesehen haben, von den meisten Menschen unwillkürlich abgelehnt werden, die also die Wahrscheinlichkeit, Menschen zu überzeugen, gegen sich hat.

(…) Ein solcher Zustand wäre letztlich dennoch undenkbar, wenn nicht wohletablierte, mächtige Akteure ein Interesse daran hätten, daß es so ist – denn es wäre wohl doch zu blauäugig, auch in diesen Akteuren lediglich irregeleitete Idealisten zu vermuten. Wer sind diese Akteure, und warum korrespondieren ihre Interessen mit der Metaideologie? In welchen Zustand gerät eine Gesellschaft, die der Metaideologie folgt, und wer zieht daraus Nutzen?

Ich lege dar, wie die angeblich emanzipatorischen Prozesse von Entstrukturierung und Entdifferenzierung dazu dienen, neue Machtstrukturen aufzubauen und zu legitimieren. Der systematische Angriff auf Strukturen wie Nation, Familie, Staat, Recht und Religion dient – entgegen den emanzipatorischen Postulaten – vor allem dazu, das machtbegrenzende Element dieser Strukturen zu beseitigen, um neuen, unkontrollierbaren Herrschaftsformen den Weg zu ebnen. Dabei bilden die einschlägigen Interessengruppen informelle Kartelle:

Die Interessengruppen, die hierbei eine Rolle spielen, überlappen sich vielfach personell, was die Kartellbildung erleichtert. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich folgende Gruppen identifizieren:

  • die international vernetzte politische Klasse mit ihrem Kollektivinteresse, sich von demokratischer Kontrolle zu befreien und dem individuellen Karriereinteresse ihrer Mitglieder, das sie auf ideologische und machtpolitische Konformität festlegt;

  • die politische Linke, getrieben von ideologischen Zielen und Machtinteressen;

  • ethnisch-religiöse Minderheiten und deren oft selbsternannte Interessenvertreter;

  • gesellschaftliche Randgruppen mit hoher ideologischer Durchsetzungsmacht, etwa die Homosexuellenlobby;

  • sekundäre Interessengruppen, etwa die Angehörigen der Sozial-, Integrations- und Ideologieindustrie, die mit der Verwaltung, Deutung und Beschönigung der Probleme betraut sind, die durch die Politik der systematischen Entstrukturierung entstehen, allein deshalb schon ein Interesse an deren Fortbestand haben und obendrein von der Unterstützung insbesondere durch die Politik abhängig sind;

  • und schließlich „das Großkapital“, genauer die Letzteigentümer der miteinander verflochtenen internationalen Großkonzerne, eine relativ kleine Schicht von Multimilliardären, von denen einige aktiv, speziell über die von Ihnen kontrollierten Stiftungen, an der gesellschaftlichen Durchsetzung von Ideologien und Politiken arbeiten, die einem ungehemmten Globalkapitalismus förderlich sind.

Diese letztere Interessengruppe ist diejenige, die ihre Ziele voraussichtlich durchsetzen wird, sofern die Politik der Entstrukturierung fortgesetzt wird.

Und weiter unten:

Es handelt sich bei ihnen um ein heterogenes Kartell von – insbesondere politischen, ideologischen, sozialen, ökonomischen und ethnischen – Interessengruppen, die aus verschiedenen Gründen ein Interesse an der Dominanz der Metaideologie und an der Fortführung der von ihr postulierten Destruktions- und Entstrukturierungsprozesse haben. Daß die Ziele dieser Gruppen einander auf den ersten Blick teilweise widersprechen, hindert sie nicht an der Kartellbildung, weil sie alle dieselben Angriffsobjekte aufs Korn nehmen und in Positionen sind, in denen sie sich gegenseitig Rückendeckung geben.

So, nun habe ich Euch aber wirklich genug verraten. Das Buch kann hier vorbestellt werden (klicken!) und wird nach Erscheinen umgehend ausgeliefert. Viel Spaß beim Lesen!

Lob des Generalverdachts

Im Großen und Ganzen sind Gesellschaften stabil, solange ein gewisser Konsens vorausgesetzt werden kann, was als akzeptabel und tolerabel zu gelten hat; solange Gesetzestreue eine weitgehend geteilte kulturell verinnerlichte Norm darstellt, d.h. nicht nur dann geübt wird, wenn gerade ein Polizist danebensteht; solange demokratische Verfahren als fair empfunden werden; solange das Minimum an gesellschaftlicher Solidarität gewahrt bleibt, weil die Bereitschaft, die Verfolgung der Eigeninteressen zugunsten der Gesellschaft zurückzustellen, in bestimmten Grenzen als allgemein gegeben unterstellt werden kann und der Ehrliche daher nicht den Eindruck haben muss, der Dumme zu sein.

Solange all dies gegeben ist, bleibt Regelverletzung die Ausnahme und Kriminalität die vergleichsweise winzige Spitze eines nur kleinen Eisbergs. Der Kriminalität Einzelner kann der Rechtsstaat dann mit Hilfe der Justiz Herr werden.

Auch das beste Rechtsstaat ist aber überfordert, wenn Kriminalität zum Massenphänomen wird, und er ist umso schneller überfordert, je liberaler er ist, d.h. je mehr er die Bürgerrechte achtet. Je weiter Kriminalität sich quantitativ ausbreitet und je gefährlicher ihre Erscheinungsformen sind, desto weniger Liberalität kann der Rechtsstaat sich leisten. Organisierte Kriminalität, Terrorismus, internetgestützte Kriminalität aller Art und, besonders gefährlich, da den Rechtsstaat im Kern angreifend, Korruption, stellen den Rechtsstaat vor Probleme, die er regelmäßig mit mehr Überwachung und mehr Reglementierung löst, d.h. er tendiert in dem Maße zur Illiberalität, wie die Kriminalität voranschreitet.

Nun breitet dergleichen sich aber nicht zufällig aus. Gewiss ist Organisierte Kriminalität, um mit diesem Beispiel zu beginnen, keine italienische, russische oder chinesische Spezialität in dem Sinne, dass es sie anderswo nicht geben könnte. Trotzdem ist es bezeichnend, dass es eine sizilianische Mafia gibt, aber keine friesische; eine russische, aber keine dänische; eine chinesische, aber keine schweizerische. Bezeichnend ist auch, dass das Phänomen der Korruption in den klassischen Herkunftsländern des Organisierten Verbrechens deutlich verbreiteter ist als in Mittel-, Nord- und Westeuropa. Offenbar gibt es Kulturen, in denen eine abstrakte und als Norm verinnerlichte Gesetzesloyalität nur schwach ausgeprägt ist, der Staat nicht als Verkörperung des Allgemeinwohls gesehen wird, eher als feindliche Macht, und wo private Gewaltstrukturen daher besondere Entfaltungschancen haben. Wandern Menschen aus solchen Kulturen in Massen ein, so wandern diese Strukturen mit ein, und sie stellen den Staat vor Probleme, die er ohne Masseneinwanderung nicht hätte. Das heißt durchaus nicht, dass alle oder auch nur die Mehrzahl der Einwanderer aus den genannten Ländern an solchen Organisationen beteiligt wäre, wohl aber, dass ihre massenhafte Anwesenheit gewissermaßen den Resonanzboden mafiöser Strukturen darstellt. Die Masseneinwanderung als solche schafft das entsprechende Umfeld.

Entsprechendes gilt für Terrorismus. Terrorismus entsteht, wo die liberale Demokratie bestimmte politische Strömungen nicht integrieren kann, weil deren Gestaltungswille sich gegen diese liberale Demokratie selbst richtet. Dabei kann solcher Terrorismus durchaus hausgemacht sein wie etwa der linke Terrorismus der siebziger und achtziger Jahre. Dass solcher Terrorismus, wie auch weniger spektakuläre Formen linksextremer Gewalt, endemisch werden konnte, ist ein deutliches Anzeichen für die schwindende Integrationskraft liberaler Systeme und für die Zunahme jener Zentrifugalkräfte, die diese Systeme bereits aus sich heraus hervorbringen.

Werden sie freilich zusätzlich strapaziert, indem Millionen von Menschen einwandern, denen die Prinzipien der liberalen Demokratie fremd sind und aufgrund ihrer tiefverwurzelten Ideale einer gerechten und gottgewollten – islamischen – Ordnung sogar als unsittlich erscheinen müssen, dann werden diese Einwanderergruppen erwartbar ein hohes Maß an systemoppositionellem Verhalten hervorbringen. Die Skala solchen Verhaltens reicht sehr weit: von passiver Resistenz über Hasspredigten bis hin zum Terrorismus, und nur eine kleine Minderheit wird bis zu dieser extremen Option vorstoßen; diese ist nur die Spitze des Eisbergs. Aber diese Spitze ist da, weil der Eisberg da ist.

Korruption ist ein in vielen Ländern nicht nur der Dritten Welt verbreitetes Problem, das dort hartnäckig allen Versuchen trotzt, seiner Herr zu werden. Es ist kulturell verwurzelt, und zwar aus ähnlichen Gründen wie die Organisierte Kriminalität. Was geschieht nun, wenn man den einheimischen Staatsapparat für Menschen öffnet, die solche kulturellen Orientierungen mitbringen? Sie werden selbstverständlich nicht alle korrupt sein, aber die Korruption wird mit Sicherheit ansteigen.

Es ist bezeichnend für die Oberflächlichkeit der veröffentlichten Meinung, dass solche Warnungen regelmäßig mit dem Hinweis auf den „Generalverdacht“ abgetan werdem unter den man diese oder jene Migrantengruppe (oder welche Art von Minderheit auch immer) keinesfalls stellen dürfe. Dabei liegt es in der Natur statistischer Aussagen, dass sie keine Rückschlüsse auf den Einzelfall zulassen, wohl aber Rückschlüsse auf das Ergebnis, das sich einstellt, wenn man solche statistischen Befunde ignoriert. Es gibt kein Recht auf Einwanderung; es gibt lediglich das Recht jedes Menschen, sich auf dem Gebiet desjenigen Staates aufzuhalten, dessen Bürger er ist. Komplementär dazu gibt es das Recht jedes Staates zu entscheiden, wen er einwandern lässt und wen nicht. Dies ist ein souveränes Recht, d.h. der Staat ist niemandem (außer seinen eigenen Bürgern, sofern er sich als demokratisch versteht) Rechenschaft darüber schuldig, wen er warum einwandern lässt. Er kann, darf und soll sich bei dieser Entscheidung an den Interessen seiner Bürger orientieren, und wenn er zu diesem Zweck einen „Generalverdacht“ hegen muss, dann muss er es eben.

Liberale und konservative Islamkritik

Unter diesem Titel habe ich mich heute auf PI mit den ideologischen Differenzen innerhalb der islamkritischen Szene auseinandergesetzt und dabei insbesondere die Illusionen der liberalen Islamkritik aufgespießt. Zum Lesen hier klicken!

Harald Seubert: „Jenseits von Sozialismus und Liberalismus“ – Rezension

Dass die Moderne, die westliche Gesellschaft, sich in einer Existenzkrise befindet, dürfte zumindest unter den Lesern dieses Blogs unstrittig sein. Worauf diese Krise beruht, und wie lässt sie sich möglicherweise überwinden lässt, ist das Thema von Harald Seuberts „Jenseits von Sozialismus und Liberalismus“. Der erste Teil des Buches ist eine Tour d’horizon, in der die vielfältigen Krisen-, Dekadenz- und Degenerationserscheinungen beim Namen genannt und analysiert werden: die neue Weltunordnung, der Zerfall staatlicher Ordnungsstrukturen nach innen und außen, die geistige Desorientierung, die durchgehende Ideologisierung von Wissenschaft, Medien und Politik, der Amoklauf der Finanzwirtschaft, die Desintegration von Völkern und Familien.

Diese Zerfallserscheinungen treten nicht zufällig zur gleichen Zeit auf. In ihnen manifestiert sich eine Ambivalenz der liberalen Moderne, die die Frage aufwirft, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Ordnung der Freiheit überhaupt möglich ist. Das Bockenförde-Diktum, wonach der freiheitliche Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, wird zwar oft und gern zitiert, in seiner existenziellen Ernsthaftigkeit aber außerhalb des konservativen Spektrums (und damit meine ich das wirklich konservative Spektrum im Unterschied zum Mainstream-„Konservatismus“) so gut wie nicht diskutiert, ja nicht einmal begriffen. Gerade ideologisch gefestigte Liberale halten individuelle Freiheit im Sinne der Freiheit von allen Bindungen für das Natürlichste der Welt und eine darauf beruhende Ordnung für die „natürliche Ordnung“ (Oliver Janich). (Wenn das so sein sollte: Warum hat es diese „natürliche“ Ordnung dann noch nie gegeben?) Die bloße Idee, dass Freiheit so etwas wie Voraussetzungen haben könnte, und dass diese Voraussetzungen sich nicht in der Existenz eines Rechtsstaates erschöpfen, kann vom Liberalismus her kaum gedacht werden. Die Gefahr, dass ein entwurzelter, nämlich von der Tradition des Christentums (aus der er stammt) abgeschnittener Liberalismus womöglich nicht lebensfähig ist, sondern entweder in den totalitären Alternativen mündet, die durch seine eigenen Aporien auf den Plan gerufen worden sind, oder selbst totalitär wird, kann von seinen eigenen Voraussetzungen her schon deshalb nicht bekämpft werden, weil er sie nicht in ideologieeigener Sprache thematisieren kann. Wenn es heute ein konservatives Projekt gibt, so besteht es nicht zuletzt darin, die Freiheit vor den Liberalen zu retten.

Seubert entwickelt die grundlegende Aporie der liberalen Moderne in der Auseinandersetzung mit dem Kategorischen Imperativ Kants. Dieser begründet eine rein subjektive Moralität, aber keine sittliche Ordnung.

Das ehrwürdige Prinzip der Kantischen Philosophie besteht darin, dass er erstmals in der Weltgeschichte der Philosophie die Selbstgesetzgebung zum konstituierenden Anfang und Prinzip der praktischen Vernunft erhoben hat. (…) Der Mangel aber besteht darin, dass die moralische Subjektivität nicht über das bloße Sollen hinausführt. Sie kann sich nur in unendlichen Bemühungen und Anstrengungen mit dem Anspruch, moralisch zu sein, abquälen. Erfüllen kann sie ihn nicht. Die tantalidische Qual der moralischen Subjektivität ist darin begründet, dass die reine Moralität in der Welt prinzipiell unerfüllbar ist. Woran liegt das? Der Wille müsste die Absolutheit preisgeben, wenn er sich auf die nach ganz anderen Gesetzen geordnete Wirklichkeit einlassen würde. Wer die Einlösung des Postulats der Moral in der Realität bezweckt, kann also, wenn er mehr erreichen will als Forderung und Klage über den Weltlauf, mit der Wirklichkeit und ihren Kräfteverhältnissen nur wie ein Machiavellist umgehen. Nur durch Machteinwirkung kann die Realität geändert werden. Der apodiktische Boden der Moralität würde damit aber verlassen, indem man sich auf die Realitäten einlässt, die die Wirklichkeit bestimmen und die essenziell unmoralisch sind. (S.117)

Die Moral wandert in die engste Privatsphäre aus; im Geschäftsleben gilt sie schon nicht mehr, es sei denn als Mittel zum Zweck, in der Politik schon gar nicht. Das nutzenmaximierende und eben nicht das moralische Individuum ist die Urfigur der bürgerlichen Gesellschaft. Diesen Mangel der Kantschen – oder überhaupt der liberal aufgeklärten – Philosophie nimmt Seubert von Hegel her in den Blick. Der Begriff des „sittlichen Staates“ ist nicht zuletzt der Versuch, die Grundlagen einer freiheitlichen Ordnung – die beides ist, also freiheitlich und eine Ordnung – in einer Synthese zur Deckung zu bringen, statt, wie es dem liberalen Denken entspräche, das eine bloß als Begrenzung des anderen aufzufassen.

Im Grunde setzen die in der individualistischen Tradition der Aufklärung stehenden Philosophen von Kant bis Habermas den sittlichen Menschen als Gegebenheit voraus, als Selbstverständlichkeit, die keiner weiteren Begründung bedarf. Da die Frage, woher Sittlichkeit kommt, nicht gestellt wird, verschwinden die Gefahren, die dieser elementaren Grundlage der Gesellschaft drohen, aus dem Blickfeld der Theoretiker – und zwar so lange, bis sie in Gestalt höchst realer Katastrophen wieder zum Vorschein kommen.

Dies bedeutet aber in der Essenz, dass Hegel keineswegs die liberale Position negieren will. Vielmehr lassen sich mit Hegel über den Rahmen des klassischen Liberalismus hinaus die Bedingungen denken, die erfüllt sein müssen, damit der Staat in der modernen Welt überhaupt ein liberaler Staat bleiben kann. Der faktische Gang der Geschichte seit dem Zeitalter Hegels hat bewiesen, dass die absolut gesetzte liberale Position unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft ständig in der Gefahr steht, der Zerstörung und Selbstzerstörung anheimzufallen und von einem totalitären Zustand abgelöst zu werden, den sie selbst nicht will, den sie aber aufgrund ihrer Blindheit über die Voraussetzungen, die sie selbst bedingen, unbewusst herbeiführt. (S.135)

Wir sehen heute klarer als bisher, dass die Marktgesellschaft angesichts der Freisetzung konkurrierender natürlicher Willen allein aus sich heraus nicht existenz- und schon gar nicht überlebensfähig ist. Noch immer ist sie funktionsfähig; und dies nicht wegen der fromalen Legalität, sondern weil nach wie vor gelebte, faktische Sittlichkeit menschliches Handeln bestimmt. Wir machen uns nie klar, dass wir in dieser Gesellschaft leben, handeln und uns verhalten im Vertrauen auf die noch vorhandene und gelebte humane Sittlichkeit. Was die Gesellschaft wirklich zusammenhält, ist eine Form des überkommenen Ethos. Dabei wird paradoxerweise eben dieses selbe Ethos in der Theorie und im öffentlichen Bewusstsein verneint. Es ist eine dramatische Schizophrenie, dass im theoretischen intellektuellen Selbstverständnis ständig suggeriert wird, es gebe jene Arkana nicht, die tatsächlich immer wieder in Anspruch genommen werden müssen. Wenn diese selbstverständliche, nur als sittlich zu qualifizierende Einstellung der Menschen zum Gemeinwohl, aber auch zur natürlichen Welt nicht mehr präsent wäre (und sei es als ferner Nachklang, als habitueller Sozialinstinkt), so würde die Gesellschaft sich von einem Tag auf den anderen offensichtlich in Chaos auflösen. Dies macht man sich freilich nicht klar, und deshalb leben wir in der Moderne in einem Bewusstseinszustand, der das Niveau der eigenen konkreten geschichtlichen Wirklichkeit unterschreitet. (…) Es ist eine Ideologie, dass in das Bewusstsein nicht eingehen darf, was an gelebtem Ethos noch vorhanden ist.(S.137 f.)

Die liberale Moderne ist nicht zufällig auf dem Boden der christlichen Kultur entstanden, sondern weil die unhintergehbare dialektische Spannung zwischen individueller Freiheit und der sie ermöglichenden Ordnung zu den fundamentalen Zügen dieser, und eben nur dieser, Religion gehört. (Wer es genauer wissen möchte, dem empfehle ich mein „Dschihadsystem“ und dort den Exkurs zwischen den Kapiteln III und IV. Wer es noch nicht gelesen hat, sollte dies schleunigst nachholen 😀 ).

Die Diagnose zu treffen, dass die schwindende Bindekraft des Christentums die tiefste Ursache der Krise liberalen Moderne darstellt, ist eine Sache; eine Therapie zu finden, ist viel schwieriger. Es geht ja nicht darum, das Christentum als eine Art Staatsreligion einzuführen; der Staat kann eine weitgehend entchristlichte Gesellschaft nicht mit seinen Mitteln rechristianisieren. Ein Glaube, der von oben verordnet wird, ist keiner. Allenfalls kann und sollte der Staat die Entchristlichung nicht vorantreiben. Die Rechristianisierung selbst kann nur aus der Gesellschaft selbst kommen, und dort nicht in Gestalt eines mehr oder minder politischen Programms: Ein Christentum als Mittel zu einem säkularen Zweck wäre ebenso ein Widerspruch in sich wie ein von oben verordnetes. Rechristianisieren kann Jeder nur sich selbst.

Seubert hat eine treffsichere und unbedingt lesenswerte Diagnose gestellt. Die Heilung aber ist nach dieser Diagnose von Voraussetzungen abhängig, deren Eintreten man erhoffen, aber kaum als wahrscheinlich ansehen kann. (Allein die christliche Sexualmoral zu rekonstituieren gliche doch dem Versuch, die Zahnpasta in die Tube zurückzudrücken.) So sehr ich wünschte, es wäre anders: Am wahrscheinlichsten ist, dass der Marsch in Barbarei und Totalitarismus weitergeht.

Deutschenfeindlichkeit – Teil 2: Deutscher Selbsthass und linke Ideologie

[In Teil 1 meines Vortrags zum Thema „Deutschenfeindlichkeit – eine Bestandsaufnahme“ ging es um die Ideologie, die das westliche antideutsche Narrativ hervorgebracht hat. Ich habe aufgezeigt, dass und warum diese Ideologie zu Deutschland nicht passen konnte und nicht passt. Im folgenden Abschnitt behandle ich die Konsequenzen, die es haben musste, dass dieses Narrativ von den Deutschen selbst übernommen wurde, und anschließend die Rolle spezifisch linker Ideologie im Gesamtkomplex der Deutschenfeindlichkeit.]

Übernahme des westlichen Narrativs durch Deutsche

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es unter kräftiger Einwirkung verschiedenster amerikanischer Propagandakanäle zu einer grundlegenden Umwälzung des politischen Denkens in Deutschland, und zwar in Richtung auf die angelsächsische Ideologie des revolutionären Liberalismus, später auch des Marxismus, in jedem Fall aber zur Übernahme der Basisannahmen der revolutionären Metaideologie. Dies implizierte unter anderem, dass eine Wir-Sie-Unterscheidung auf ideologischer statt auf ethnischer oder staatlich-politischer Basis als selbstverständliche Norm akzeptiert wurde. „Wir“, das waren nicht mehr „die Deutschen“, und nicht einmal „die Europäer“, jedenfalls nicht im Sinne einer Völkergemeinschaft. „Wir“ – das war eine Partei im globalen ideologischen Bürgerkrieg; der „Westen“, die „westliche Wertegemeinschaft“, die „Freie Welt“. „Wir“ war, wer die utopisch-revolutionären Ideale teilte, und nach dem Untergang der Sowjetunion stießen auch große Teile der Linken zu diesem „Wir“, wie sich nicht zuletzt an den Karrieren ehemaliger Achtundsechziger unschwer ablesen lässt.

Eine solche Definition der Wir-Gruppe nach dem Kriterium ideologischer Zugehörigkeit bedeutete schon für die Völker der Siegermächte einen latenten Widerspruch zu ihrem Selbstverständnis als Völker. Nicht nur für die Russen, die mehr für Mütterchen Russland als für den Kommunismus gekämpft hatten (deren Sieg aber dem Kommunismus mehr nutzte als Russland), auch für Amerikaner und Briten war „Right or wrong – my country“ mit dem Projekt „to make the world safe for democracy“ nicht bruchlos unter einen Hut zu bringen. Nur blieb bei diesen Völker, wie gesagt, der Widerspruch latent, weil sie in beiden Weltkriegen gleichermaßen als Völker wie als Bannerträger bestimmter Ideen gekämpft hatten.

Bei den besiegten Deutschen hingegen musste der Widerspruch in dem Moment schreiend werden, wo sie das Narrativ der Sieger und deren utopische Ideologie(n) übernahmen, wie dies nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war. Ein Volk als Wir-Gruppe ist eine generationenübergreifende Gemeinschaft, zu der die verstorbenen Vorfahren ebenso gehören wie die noch ungeborenen Nachkommen. Die Logik dagegen, aufgrund deren deutsche Bundeskanzler in Paris, Moskau und der Normandie an Siegesfeiern der Alliierten teilnehmen, lautet dass die beiden Weltkriege Schlachten des europäischen und Weltbürgerkrieges waren, den die „westliche Wertegemeinschaft“ oder schlicht „die Demokratie“ (im Falle der Russen die utopische Ideologie schlechthin) gegen die Mächte der Finsternis gewonnen habe, und da „wir“ zur westlichen Wertegemeinschaft gehören, haben „wir“ den Zweiten Weltkrieg mitgewonnen, während „die Deutschen“ ihn als Verkörperung des „Bösen“ verloren haben.

Die Übernahme der westlichen Ideologie, und ganz allgemein der utopischen Metaideologie durch Deutsche impliziert daher die Nichtidentifikation mit dem eigenen Volk. Sie zwingt dazu, das deutsche, also das eigene Volk als Feind anzusehen, sich selbst als einen Spross des Bösen zu verabscheuen und die eigenen Vorfahren zu hassen. Deutschland dürfte das einzige Land der Welt sein, das Deserteuren Denkmäler setzt, und das einzige Land, in dem es als Tugend gilt, auf das Grab der eigenen Großeltern zu spucken. Dem Geschichtsnarrativ der Sieger, moralisch aufgeladene und überhöhte utopische Weltsicht, die universalistische, globalistische Politikauffassung, die für Deutsche, die das auch bleiben wollen, naturgemäß nicht die eigene sein kann, kann das deutsche Volk nur nur um den Preis der Selbstauslöschung folgen. Und dieser Widerspruch ist unüberbrückbar. Die verkrampften Versuche, in Formelkompromissen wie „Verfassungspatriotismus“ zusammenzuzwingen, was nicht zusammengehört, unterstreichen das Problem eher, als es zu lösen.

Dass diese Feindschaft gegen das eigene Volk wiederum etwas spezifisch Deutsches ist, lässt sich übrigens an keinem Beispiel besser illustrieren als daran, dass ausgerechnet die sogenannten (und sich selbst so nennenden) „Antideutschen“ die einzige halbwegs nennenswerte politische Kraft sind, die das Wort „deutsch“ im Namen bzw. der Selbstbeschreibung führt. Das tun sonst nicht einmal die Neonazis; die nennen sich „national“ und unterstreichen damit, dass sie Nationalismus schlechthin für etwas Gutes halten, nicht nur für Deutschland, sondern auch für alle anderen Völker. Den (entgegengesetzten) Wunsch, gerade das deutsche Volk auszulöschen, äußern nur die Antideutschen, und interessanterweise tun sie das, sofern sie ihn ideologisch rationalisieren, genau mit der Begründung, die ich in Teil 1 als Grundlage der westlichen Feindschaft gegen Deutschland identifiziert habe, die aber normalerweise unausgesprochen bleibt, außer eben bei den Antideutschen: nämlich das Deutschland die anti-utopische, antiglobalistische, konterrevolutionäre Macht schlechthin war. In der Sache ist meine Analyse von der der Antideutschen gar nicht so weit entfernt; nur die wertenden Vorzeichen sind entgegengesetzt.

Linke Ideologie

Es hat seine innere Logik, dass Gesellschaften, die die Grundannahmen des liberalen Utopismus bejahen, es sehr schnell mit dessen feindlichem Zwilling, dem Sozialismus, dem Marxismus, oder sagen wir allgemeiner: der linken Ideologie, zu tun bekommen. Wer gesellschaftliche Machtungleichgewichte, sofern sie nicht rational begründet sind, als etwas Böses und Auszumerzendes verdammt, darf sich nicht wundern, wenn auch das Machtungleichgewicht zwischen Reichen und Armen ins Fadenkreuz der Kritik gerät, und wer Freiheit und Gleichheit als Prinzipien bejaht, und dies als letzte und universell gültige Werte, handelt sich naturgemäß die Sorte Opposition ein, die die Freiheit im Namen der Gleichheit bekämpft.

Der Marxist, der gegen die Macht des Kapitals zu Felde zieht, weil diese nicht rational legitimiert ist, sondern aus dem bloßen Selbstlauf der kapitalistischen Wirtschaft resultiert, und der die Dialektik aufzeigt, nach der der freie Austausch unter Gleichen nicht zufällig, sondern notwendig zur Herrschaft einer Klasse über die andere führt, und der diese Herrschaft als bekämpfenswert ansieht, beruft sich auf dieselbe Logik wie der Liberale, der gegen Kirche und König polemisiert. In gewisser Hinsicht sind die Marxisten die konsequenteren Liberalen, insofern sie buchstäblich alle gesellschaftlichen Machtungleichgewichte verdammen: zum Beispiel zwischen Reich und Arm, zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen, zwischen Staat und Bürger, zwischen Eltern und Kindern zwischen Mehrheit und (z.B. ethnischer oder religiöser) Minderheit.

Aus der Sicht der linken Ideologie ist die stärkere Partei bereits dadurch im Unrecht, dass sie eben die stärkere ist, und dies impliziert, dass sie nicht auf der Basis einer („bloß formalen“) Rechtsgleichheit mit den Schwächeren verkehren soll, sondern aktiv benachteiligt werden muss: Es ist demgemäß aus dieser Sicht kein Unrecht, etwa die Reichen zugunsten der Armen und die Arbeitenden zugunsten der Nichtarbeitenden auszuplündern. Staat und Recht stehen unter Repressionsverdacht, weil sie Ungleiches nach gleichem Maßstab messen statt es gleich zu machen. Und selbstredend gibt es keine Rechte, die die Mehrheit gegenüber der Minderheit geltend machen kann: Götz Kubitschek und Michael Paulwitz zitieren in „Deutsche Opfer, fremde Täter“ (S.28) eine typisch linke Stellungnahme, wonach es so etwas wie „Rassismus gegen Deutsche“ gar nicht geben könne, weil Rassismus naturgemäß ein Repressionsmittel sei, das von einer Minderheit aufgrund ihrer geringeren gesellschaftlichen Durchsetzungsmacht nicht gegen die Mehrheit eingesetzt werden könne.

Auf Deutsch heißt das: Der „Schwächere“, also zum Beispiel die ethnische Minderheit, darf alles, der „Stärkere“ ,also zum Beispiel in Deutschland die ethnischen Deutschen, darf nichts und muss sich alles gefallen lassen. Der „Stärkere“, und sei es nur der vermeintlich Stärkere, ist automatisch der Böse, weil er von angeblichen gesellschaftlichen Repressionverhältnissen profitiert, die er zugleich zementiert.

Mehr noch: Da bereits die bloße Existenz von Machtungleichgewichten das zu bekämpfende „Böse“ ist, genügt eine nachträglich „ausgleichende“ Ungerechtigkeit nicht. Wenn irgend möglich, muss die Basis des Machtungleichgewichts selbst beseitigt werden, also zum Beispiel der Reichtum schlechthin, oder, für unser Thema besonders wichtig, die ethnische Mehrheit. Mehrheitsvölker haben aus linker Sicht kein Lebensrecht.

Es geht den Linken nicht darum, die Interessen der Schwachen zu vertreten, sondern die der „Starken“ zu delegitimieren, hierzulande also die Interessen von Deutschen, Christen, Männern und nichtfeministischen bzw. nichtlesbischen Frauen, Weißen, Heterosexuellen und Erwerbstätigen, d.h. die Interessen der Mehrheit und diese Mehrheiten nach Möglichkeit in die Minderheit zu drängen oder gleich ganz zu vernichten. Dies ist die Logik hinter der Politik der Entchristlichung, Verschwulung, Feminisierung, Enteuropäisierung, Entdeutschung. (Nur die Erwerbstätigen kann man nicht abschaffen, aber es ist erlaubt, ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen, weil sie sich allein schon dadurch ins Unrecht setzen, dass sie von ihrer eigenen Arbeit leben (können)).

Dass eine solche Politik, die sich systematisch gegen Mehrheiten richtet, gar nicht demokratisch sein kann, liegt auf der Hand. Die linke Ideologie resultiert naturgemäß in der Propagierung von Demophobie, in Entdemokratisierung und kaltem Staatsstreich. Und naturgemäß findet sie in Minderheiten aller Art ihre Verbündeten.

Das hat übrigens auch etwas mit der Psychologie von Minderheiten schlechthin zu tun, die von einem tiefen Ressentiment geprägt ist: Die Lebenswelt der Mehrheit, an der man selbst nicht teilhaben kann und will, soll dieser Mehrheit wenigstens verleidet werden. Das treffende Bild für das Minderheitenressentiment ist der Penner, der nachts in den Vorraum einer Bank pinkelt. Rassismus gegen Deutsche ist nur eine Spielart dieser Sorte Resentiment, allerdings eine wichtige. Linke Ideologie zielt auf die Mobilisierung solcher Destruktivität.

Deutschenfeindlichkeit – Teil 1: Das westliche antideutsche Narrativ

[Am 16. Juli hielt ich im Rahmen des 18. Berliner Kollegs des Instituts für Staatspolitik in Berlin einen Vortrag zum Thema „Deutschenfeindlichkeit – eine Bestandsaufnahme“. Leider gibt es von der auch im Übrigen hochinteressanten Veranstaltung keine Bild- oder Tonaufzeichnungen. Aufgrund vielfacher Nachfrage habe ich mich entschlossen, meine Rede auf der Grundlage meiner Redenotizen zu rekonstruieren und hier zu dokumentieren. Da der Vortrag für einen einzelnen Blogartikel zu lang war, veröffentliche ich ihn als Serie. Ich beginne mit dem Abschnitt über das westliche antideutsche Narrativ]

Deutschenfeindlichkeit ist ein ausgesprochen vielschichtiges Phänomen. Es gibt das traditionelle Ressentiment vieler Völker – Polen, Franzosen, Briten, Juden – aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und der Kriege davor. Es gibt eine intellektuelle Form der Deutschfeindlichkeit, die weniger mit der Abneigung gegen die Deutschen als Menschen zu tun hat, als mit der Abneigung gegen und die Furcht vor dem deutschen Staat, dem man jederzeit zutraut, zu mächtig zu werden. Es gibt Misstrauen gegen den deutschen Volkscharakter. Es gibt die Deutschfeindlichkeit hier lebender Migranten. Es gibt die Deutschfeindlichkeit der Deutschen selbst. Und es gibt eine Ideologie, zu deren zentralen Bestandteilen Deutschfeindlichkeit gehört. [Das Thema des Vortrages war Deutschenfeindlichkeit. Wenn ich im Folgenden meist das Wort Deutschfeindlichkeit verwende, dann um deutlich zu machen, dass es nicht einfach um Ressentiment gegen Deutsche, sondern in einem umfassenderen Sinn um verschiedene Arten von Feindseligkeit gegen das Deutsche schlechthin geht: das Volk, den Staat, die Menschen usw.]

Die verschiedenen Facetten und Ebenen des Gesamtkomplexes „Deutschfeindlichkeit“ stehen nicht unverbunden nebeneinander. Sie durchdringen und verstärken einander und wachsen sich zusammen zu einer Gefahr für das deutsche Volk aus. Die Deutschfeindlichkeit von Migranten, die Götz Kubitschek und Michael Paulwitz in ihrem Buch „Deutsche Opfer – fremde Täter“ thematisiert haben ist nur die eine Seite der Medaille, und darauf komme ich noch zu sprechen. Die andere Seite ist die Deutschfeindlichkeit im eigenen Lager, die es überhaupt erst möglich macht, dass wir durch Massenmigration Gefahr laufen, zu Minderheit im eigenen Land zu werden, und dass die Deutschfeindlichkeit von Migranten zu einem Problem der inneren Sicherheit werden konnte.

Zu diesem „eigenen Lager“, dessen Deutschfeindlichkeit zu Problem wird, gehören in diesem Zusammenhang die Deutschen selbst, speziell deren Funktionseliten; in einem größeren Zusammenhang aber auch der westliche Kulturkreis, in den Deutschland eingebunden ist, und dessen Eliten für ihre Deutschfeindlichkeit Gründe haben, die weniger mit eigentlichem Ressentiment als mit Ideologie zu tun haben.

Das westliche antideutsche Narrativ

Die allgemeinste und verbreitetste Grundlage von Deutschfeindlichkeit ist das, was ich das westliche antideutsche Narrativ nennen möchte. „Narrativ“ ist ein neudeutscher Ausdruck; man kann auch sehr gut von einer Geschichtsideologie sprechen. Einer Ideologie, die über Filme, Literatur, populäre Geschichtsdarstellungen verbreitet wird, und derzufolge Deutschland eine Gefahr für seine Nachbarn gewesen (und potenziell auch heute noch) sei und daher gefesselt, entmachtet und verdünnt werden müsse, weil der deutsche Volkscharakter antidemokratisch, obrigkeitshörig, kollektivistisch, gewalttätig, kriegslüstern, genozidal usw. sei. Zwar sind sich die heutigen Historiker meistens zu fein dazu, eine direkte Linie Luther-Friedrich-Bismarck-Hitler zu ziehen, aber die Nachwirkungen dieser Art von propagandistischer Geschichtsschreibung sind noch heute deutlich spürbar und äußern sich nicht zuletzt in der Neigung, die gesamte deutsche Geschichte als Vorgeschichte des Dritten Reiches zu behandeln.

Man begreift dieses Geschichtsbild nicht, wenn man den historischen Kontext außer Acht lässt, und dieser Kontext ist der europäische Bürgerkrieg, der seit 1789 tobt. [Noch immer lesenswert in diesem Zusammenhang ist Hanno Kestings 1959 erschienenes Werk „Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg. Deutungen der Geschichte von der Französischen Revolution bis zum Ost-West-Konflikt“. Zur Zeit ist es anscheinend nicht einmal antiquarisch verfügbar, aber gut sortierte Bibliotheken sollten es haben; die Berliner Staatsbibliothek jedenfalls hat es.] Dieser Bürgerkrieg wird von den Anhängern dreier Ideologien ausgefochten, die immer mal wieder ihre Namen, Parolen und Programme ändern, aber doch eine erkennbare Identität und Kontinuität aufweisen. Es handelt sich um zwei utopische und eine nichtutopische Weltanschauung, also um Liberalismus und Sozialismus auf der einen Seite; auf der anderen Seite um, wie auch immer man das nennen will, die konservative Weltanschauung, die Reaktion oder auch einfach die politische Rechte.

Die beiden utopischen, revolutionären Ideologien, worin auch immer sie sich sonst unterscheiden, haben benennbare Gemeinsamkeiten, durch die sie sich so fundamental von der Rechten unterscheiden, dass es zulässig ist, sie auf eine gemeinsame Metaideologie zurückzuführen. Dies betrifft vor allem den utopischen Ansatz als solchen. Der utopische Ansatz geht davon aus, dass die Möglichkeit des friedlichen und zivilisierten Zusammenlebens von Menschen nicht ein erklärungsbedürftiges Wunder, sondern eine Selbstverständlichkeit sei, weswegen man den Grundlagen der Existenz von Gesellschaft schlechthin auch keine Beachtung schenken müsse und sich gleich – durch schrittweise Reformen oder per revolutionärem Parforceritt – der Verwirklichung des Paradieses auf Erden widmen könne.

Die utopischen Ideologien implizieren eine Reihe von Annahmen:

Erstens, der Mensch sei von Natur aus gut, nur die gesellschaftlichen Verhältnisse, kurz gesagt Unfreiheit und Ungleichheit seien für das Böse verantwortlich, weswegen sie beseitigt werden müssten. Der rechte Ansatz geht dagegen davon aus, dass der Mensch unvollkommen und schwach und in die Erbsünde verstrickt und deshalb auf die Existenz einer ihn stützenden sozialen Ordnung angewiesen ist, wobei ein gewisses Maß an Unfreiheit und Ungleichheit notwendig in Kauf genommen werden muss, weil die Alternative nicht Freiheit und Gleichheit, sondern Chaos, Gewalt und Barbarei sind.

Zweitens, dass Gesellschaft rational geplant werden könne und ihre Gestaltung eine Frage der Vernunft sei. Die Rechte dagegen geht davon aus, dass die Gesellschaft auf die Geltung des Vorgefundenen und Nichthinterfragten angewiesen ist, das durch Kritik zwar zerstört, aber nicht auf rationalem Wege durch etwas Besseres ersetzt werden kann: etwa auf Familie, Glaube, Tradition, Vaterland.

Drittens, das „Gute“, also Freiheit und Gleichheit sei rational ableitbar, müsse mithin auch kulturunabhängig und universell gültig sein, weswegen man die gesamte Menschheit zum Heil führen könne, wenn man die aus den Prinzipien der Aufklärung folgenden Utopien global verwirkliche. Für Konservative dagegen ist jede Kultur eine einzigartige, nicht planbare und unwiederholbare Antwort auf die elementare Frage, wie Gesellschaft möglich ist. Sie betonen daher das Recht des Partikularen gegenüber den Geltungsansprüchen universalistischer Ideologie.

Viertens, dass man Gesellschaft von der Utopie her deuten und analysieren müsse, dass heißt von Normen statt von Fakten, vom Sollen statt vom Sein, von den Rechten statt von den Pflichten her.

Von diesem utopischen Gesellschaftsverständnis her, das sich selbst schon deshalb mit „der Vernunft“ verwechselt, weil es auf wirklichkeitslosen Kopfgeburten statt auf krummer Wirklichkeit aufbaut, und das sich selbst mit dem „Guten“ verwechselt, weil es von dem Axiom ausgeht, dass der Mensch schlechthin gut sei, weswegen das „Böse“ in den gesellschaftlichen Strukturen (einschließlich Traditionen, Glaubenswahrheiten etc.) stecken müsse, deren Verteidiger folgerichtig ebenfalls „böse“ sein müssen – von einem solchen Gesellschaftsverständnis her ist Toleranz nicht begründbar (und sie wird demgemäß auch umso weniger geübt, je weniger seine Anhänger es nötig haben). Aus dem utopischen Gesellschaftsverständnis resultiert folgerichtig ein apokalyptisches Politikverständnis, wonach Politik ein Kampf zwischen den Mächten des Lichts und denen der Finsternis sei. Krieg etwa ist kein tragisches, letztlich unentrinnbares Verhängnis. Er ist gerechtfertigt, wenn er für revolutionäre Ziele geführt wird (und dann ist auch jedes Verbechen erlaubt), und von vornherein verbrecherisch, wenn er für konterrevolutionäre Ziele geführt wird (und dann kommt es auf die Mittel, mit denen er geführt wird, nicht mehr an).

Was hat all dies mit Deutschfeindlichkeit zu tun?

Nun, wenn wir die Kriege des 20. Jahrhunderts als Teile des ideologischen Weltbürgerkrieges auffassen, dann verkörperte Deutschland offensichtlich die rechte Partei. Die Vorstellung, dass Kriege zur globalen Verwirklichung einer schlechthin guten Ordnung geführt werden müssten, wie sie dem utopischen Politikverständnis entsprach und als liberale Weltordnung von den westlichen Mächten, als kommunistische Weltordnung später von der Sowjetunion angestrebt wurde, musste Deutschland fremd sein. Der schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhobene Vorwurf, Deutschland strebe nach der Weltherrschaft, wäre auch dann absurd gewesen, wenn er nicht ausgerechnet von den angelsächsischen Mächte erhoben worden wäre, die zu jedem Zeitpunkt im 19., 20. und 21. Jahrhundert der Weltherrschaft näher waren und sind, als Deutschland es jemals gewesen ist.

Ein Denken, das auf die Verwirklichung einer Weltordnung – welcher auch immer – abzielte, lag Nationen nahe, die im Schutz ihrer Insellage kühnen Idealen nachhängen konnten und durch denselben Umstand in der Lage waren, globale Politik zu machen. Die liberale Neue Weltordnung, die sich als Idee schon vor dem Ersten Weltkrieg deutlich abzeichnete, war ebenso die passende Ideologie für einen globalen Imperialismus, wie imperialistische Machtpolitik so etwas wie der bewaffnete Arm der Utopie war. Es ist nicht etwa so, dass das eine nur eine Funktion des anderen gewesen wäre. Beide Aspekte angelsächsischer, besonders amerikanischer Politik waren Aspekte ein und desselben Politikverständnisses.

Deutschland dagegen war geradezu die institutionalisierte Konterrevolution. Ein Denken in globalen Utopien musste seinen Eliten bereits deshalb fremd sein, weil sie in dem Bewusstsein lebten, ein von innen und außen stets hochgradig gefährdetes Staatswesen zu regieren, und ihr politischer Horizont war strikt kontinental und auf die Konsolidierung des Bestehenden gerichtet. Das Kaiserreich übernahm durchaus liberale, demokratische und sogar sozialistische Ideen, man denke nur an die Bismarcksche Sozialgesetzgebung, aber nur unter der Voraussetzung, dass sie die bestehende Ordnung konsolidieren, auch fortentwickeln, aber keinesfalls sprengen sollten. Dieses Politikverständnis, also die Absage an revolutionäre, utopische Entwürfe, prägte in Deutschland nicht nur die Politik der Konservativen, sondern auch die der Liberalen und auf die Dauer auch die der Sozialdemokraten. Das ganze Denken in abstrakten Idealen war Deutschland einfach fremd.

Deutschland war also einerseits zu schwach und gefährdet, um selbst Weltordnungs- oder gar Weltherrschaftsgelüsten zu folgen oder auch nur in solchen Kategorien zu denken. Es war aber – zumindest potenziell – stark genug, Europa in seinen Machtbereich zu ziehen und damit die Verwirklichung einer Weltordnung zu verhindern, zu der ja, wenn sie ihren Namen verdienen sollte, Europa in jedem Fall gehören musste. In dem Krieg gegen Deutschland, der nach Winston Churchills zutreffenden Worten von 1914 bis 1945 dauerte, der also keineswegs wegen irgendwelcher Verbrechen der Nationalsozialisten geführt wurde, ging es nicht darum, Europa vor dem deutschen Joch zu schützen, sondern darum, dieses Europa in die liberale Weltordnung und damit zugleich in den angelsächsischen Machtbereich zu zwingen.

Deutschland verkörperte also kein universell zu verwirklichendes Prinzip, sondern eine konkret verortete Nation, die ihre Ordnung und ihre Ziele nicht aus utopischen Entwürfen, sondern aus praktischen Notwendigkeiten ableitete. Es kannte keine abstrakte Loyalität gegenüber liberalen und demokratischen Idealen; das trug den Deutschen den Vorwurf der „Obrigkeitshörigkeit“ ein. Es strebte nicht nach Menschheitsbeglückung und musste die Interessen eines nicht ideologisch, sondern ethnisch bzw. staatlich definierten „Wir“ gegen die Außenwelt verteidigen, was als „Nationalismus“ gedeutet wurde. Es musste auf der Geltung von Gemeinschaftswerten beharren statt auf individualistischen Rechtsansprüchen (nicht zufällig war die Gegenüberstellung von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ ein Thema gerade der deutschen Soziologie); dies machte den „Kollektivismus“ aus, der den Deutschen unterstellt wurde. Solche Gemeinschaftsideale funktionieren nur, wenn sie gefühlsmäßig verankert sind; daher das Klischee vom „Romantizismus“ und „Irrationalismus“ der Deutschen.

Kurz und gut, die Tatsache, dass die Deutschen anders waren und anders dachten als die Angelsachsen, dass sie insbesondere keinen Sinn für die Utopie hatten, dass sie aber zugleich eine Gefahr für die globale Verwirklichung dieser Utopien waren, machte sie zum Gegen- und Feindbild des westlichen revolutionär-utopischen Denkens. Die Klischees über den deutschen Nationalcharakter stellen die demagogisch verzerrte Beschreibung von Dispositionen dar, die in diesem Nationalcharakter tatsächlich vorhanden waren (und sind), und die auch vorhanden sein mussten (und müssen), weil ein Land wie Deustchland sich den liberalen Globalismus und Utopismus nicht leisten konnte, und wie wir heute sehen, nicht kann. (Ob die Angelsachsen, und damit meine ich die Völker, selber ihn sich leisten können, sei fürs erste dahingestellt.)

[In Teil II wird es um die Übernahmen des westlichen antideutschen Narrativs durch die Deutschen selbst und die Konsequenzen daraus gehen. Dieser zweite Teil erscheint Mittwoch oder Donnerstag.]

Zur Dialektik des Liberalismus

In einigen meiner letzten Artikel („Die Liquidierung der Zivilisation“, „Armin Mohler: Gegen die Liberalen“, „Bei Nacht und Nebel“) habe ich die These vertreten, dass die Krise unserer Zivilisation unter anderem Ergebnis der Eigenlogik liberaler Ideologie ist. Für diese These habe ich in den dazugehörigen Kommentarsträngen heftige Gegenrede von Le Penseur geerntet. Le Penseur führte neben vielen anderen Argumenten an, die Politik einer sich liberal nenndenden Justizministerin, die soeben bei Nacht und Nebel das Meinungsstrafrecht verschärft, könne so wenig als Argument gegen den Liberalismus herhalten wie die Politik von Angela Merkel als Argument gegen das Christentum.

Heute komme ich endlich dazu, ausführlich zu antworten. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der folgenden Überlegungen stelle ich meine Replik nicht als Kommentar, sondern als Beitrag ein:

Vielleicht sollt ich einmal noch deutlicher machen, worum es mir bei meiner Liberalismuskritik geht:

Ausgangspunkt ist für mich die Frage, wie es kommt, dass für unsere Gesellschaft die Frage nach ihrer eigenen Erhaltung und ihrer eigenen Zukunft bedeutungslos ist; warum sie systematisch ihre eigenen Grundlagen zerstört; warum nicht der sich rechtfertigen muss, der an der Zerstörung der Zivilisation arbeitet, sondern der, der sie erhalten will.

Eine Teilantwort lautet, dass die Frage, was die Gesellschaft zusammenhält, das Erstaunen darüber, dass sie zusammenhält, die typische Ausgangsfrage konservativen Denkens ist. Das heißt ja nicht, dass man gegen die Freiheit ist, sondern dass man sich bewusst ist, dass Freiheit nur auf der Basis einer sie ermöglichenden Ordnung möglich ist – und damit ist keineswegs nur die Rechtsordnung gemeint. Das Recht kann nur regeln, was einer nicht tun darf. Es kann (und darf) der Gesellschaft nicht die Normen und Werte vorschreiben, die durch Sozialisation verinnerlicht – oder eben nicht verinnerlicht – werden.

Patriotismus – um dieses Beispiel zu verwenden – kann man niemandem vorschreiben, und ein Volk kann auch mit ein paar ganz unpatriotischen Einzelnen gut leben. Es kann aber nicht überleben, wenn niemand mehr Patriot ist, wenn also niemand mehr sich fragt, was er für sein Land tun kann.

Diese Frage nach den strukturellen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen von Zivilisation (und damit nach den notwendigen Voraussetzungen von Freiheit) an den Anfang zu stellen, ist der Ausgangspunkt konservativen Denkens, und genau dadurch unterscheidet es sich von den liberalen und linken Ansätzen, die – explizit oder unausgesprochen – Rechte, Freiheiten und die Emanzipation von vorgefundenen Bindungen an den Anfang stellen und bestenfalls – wenn überhaupt – in einem zweiten Schritt fragen, wieviel Strukturzerstörung man sich praktisch leisten kann, ohne dass der Laden auseinanderfliegt.

Es geht nicht darum zu behaupten, linke oder liberale Ansätze seien a priori „falsch“ – denn keine Ideologie ist von vornherein so blöde, dass sie nicht irgendetwas Richtiges benennen könnte. Wie ich an anderer Stelle schon sagte: Jede Ideologie ist eine Brille, durch die man manches scharf fokussiert sieht, anderes überhaupt nicht.

Es geht darum, dass konservative Ansätze im oben skizzierten Sinne praktisch aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt sind, und dass deswegen das nötige Korrektiv fehlt, das lange Zeit verhindert hat, dass die gemeinsamen Grundannahmen linker und liberaler Ideologie zu Selbstverständlichkeiten werden konnten, die praktisch nicht mehr hinterfragt werden. Es ist diese Selbstverständlichkeit, die das Denken der Gesellschaft blockiert und sie in das Schema unangemessener Begriffe zur Beschreibung ihrer Wirklichkeit zwingt.

Liberale Ansätze werden praktisch nur noch vom marxistischen, marxistische Ansätze nur noch vom liberalen Standpunkt kritisiert. Was nicht kritisiert wird, obwohl es unsere Kultur zerstört, ist die kulturelle Selbstverständlichkeit, dass die Wirklichkeit auf der Basis normativer Gedankensysteme, letztlich vom Standpunkt der Utopie her, zu kritisieren und entsprechend solchen Systemen zu verändern sei.

Sie missverstehen meine Kritik, wenn Sie darauf abheben, dass unsere Gesellschaft doch gar nicht in einem strengen Sinne liberal sei, wenn man nur an die vielen Staatseingriffe, Sozialstaatlichkeit etc. denke, wie Sie das an anderer Stelle ausgeführt haben. Ich verweise nochmals auf meinen Artikel zur Liquidierung der Zivilisation: Nicht der Liberalismus allein ist die Grundlage der gesellschaftlich vorherrschenden Ideologie, sondern Marxismus und Liberalismus zusammen, mitsamt dem De-facto-Monopol der ihnen beiden zugrundeliegenden Metaideologie.

Dass den Liberalen die Welt zu marxistisch ist, ist daher kein Argument gegen meine These. Umgekehrt gilt nämlich, dass sie den Marxisten zu liberal ist (in ihrer Terminologie: zu neoliberal). Sozialismus und Liberalismus sind durchaus zwei unterschiedliche Utopien, das ja. Aber sie bilden die beiden Pole einer Skala des gesellschaftlich Akzeptablen, und sie definieren dadurch diese Skala. Chance auf Gehör hat nur, wer sich auf dieser Skala positioniert, nicht wer außerhalb von ihr steht. Die ganze Verleumdung von Konservativen als „rechtsradikal“, „fundamentalistisch“, „reaktionär“ usw. usw. würde niemandem einleuchten, wenn nicht die gesamte Begrifflichkeit, in der der öffentliche Diskurs strattfindet, durch Ideologien definiert würde, die auf emanzipatorischen bzw. utopistischen Grundannahmen basieren.

Und nun sagen Sie, lieber Le Penseur, Ihr Liberalismus sei aber der, der zwischen 1759 und 1968 als solcher gegolten habe. Das freut mich. Er spricht für Sie. Es interessiert mich bloß nicht. Ideologien sind nichts Statisches, sondern werden – entschuldigen Sie bitte mein Soziologenlatein – gesellschaftlich fortlaufend reproduziert und dabei verändert, und diese Veränderung folgt einer inneren Logik. Sie haben Frau L.-S. vorgeworfen, sie sei ja gar keine echte Liberale. Nun, diese Dame hat in den neunziger Jahren ihren Ministersessel zur Verfügung gestellt, weil sie den Großen Lauschangriff nicht mittragen wollte, also in Verfolgung eines geradezu klassisch liberalen Anliegens. Finden Sie es nicht etwas arrogant, ihr den Liberalismus abzusprechen? Wenn sie heute das Gesinnungsstrafrecht verschärft, so reagiert sie auf das Problem ethnischer Spannungen, ohne es freilich so zu nennen. Solche Spannungen können aus ihrer Sicht nur auf „Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ beruhen. Würde sie zugeben, dass sie das unvermeidliche Ergebnis einer Politik sind, die verschiedene Völker durcheinander rührt, dann müsste sie zwei liberale Grunddogmen in Frage stellen oder doch wenigstens relativieren:

Erstens müsste sie anerkennen, dass die Verfolgung individueller Freiheitsrechte (das Tragen von Kopftüchern, die Orientierung an einem islamischen Wertesystem etc.), selbst wenn sie völlig legal sind, zu gesellschaftlichen Problemen führen können, die sich nicht „von selbst“ durch individuelle Handlungen über Marktmechanismen oder zivile Aushandlungsprozesse restabilisieren und reharmonisieren.

Zweitens müsste sie anerkennen, dass die individuelle Nutzenmaximierung, die auf dem geduldigen Papier der ökonomischen Fachbücher stets zur optimalen Allokation von Ressourcen führt (zum Beispiel durch freie Arbeitsmigration), in der sozialen Wirklichkeit zu ganz und gar suboptimalen Ergebnissen führen kann. Die Crux liegt darin, dass die Modelle der Ökonomen immer nur ceteris paribus, also unter sonst gleichbleibenden Umständen funktionieren, dass ihre Übertragung auf die Wirklichkeit aber gerade diese Umstände verändert (wenn zum Beispiel aufgrund der Migration die Kriminalität steigt).

Das Problem von Frau LS ist also, dass sie es mit Problemen zu tun hat, die sie in der Sprache ihrer eigenen Ideologie kaum benennen und analysieren, geschweige denn lösen kann. Um der Konsistenz ihrer Ideologie willen muss sie zu einer inadäquaten Problembeschreibung greifen und ethnische Spannungen auf „Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ zurückführen, was in der Konsequenz darauf hinausläuft, den „Rassisten und Fremdenfeinden“ mit staatlicher Gewalt das Maul zu stopfen. So schlägt Liberalismus in Totalitarismus um – das ist die Dialektik des Liberalismus.

Halt, werden Sie jetzt sagen, Frau LS muss doch merken, dass mit diesem „Liberalismus“ etwas defekt ist, dass er sich auf diesem Wege selbst ad absurdum führt, und wenn sie eine richtige Liberale ist, so werden Sie sagen, dann wird sie doch lieber ihren gesunden Menschenverstand einschalten, statt aus bloßer Prinzipienreiterei ihren Liberalismus so weit auf die Spitze zu treiben, dass er seine eigenen Voraussetzungen untergräbt. Schließlich, so werden Sie zu Recht sagen, kann man jegliche Ideologie dadurch ad absurdum führen, dass man sie auf die Spitze treibt. Wohl wahr.

Das ist nun der Punkt, an dem es so wichtig ist, eine Ideologie nicht als theoretisches Ideensystem zu interpretieren, das als solches statisch wäre, sondern als ein in einer sozialen Bewegung objektiviertes Ideensystem.

Nehmen wir also an, Frau LS würde einem ebenso aufgeklärten und in der Wirklichkeit geerdeten Liberalismus anhängen wie Sie selbst.
Sie würde also ihren Parteifreunden mitteilen müssen: Liebe Parteifreunde, so sehr ich für ein Maximum an individueller Freiheit bin, hier müssen wir eine Ausnahmen von der Regel machen (Buuh!); es kann keine freie Arbeitsmigration geben (Buuuuuuh!); und eventuell werden wir unser ganzes Ideensystem korrigieren müssen (Buuuuuuuuuuuuuuuuu!).

Da wird die Dame schlechte Karten haben. Wer einer Ideologiegemeinschaft angehört, also zum Beispiel einer Partei, in der bestimmte Prämissen zum identitätsstiftenden Konsens gehören, wird es schwer haben, eine Position durchzusetzen, wonach die Konsequenzen aus diesen Prämissen ausnahmsweise einmal nicht gezogen werden sollen. (Ich weiß, wovon ich rede: Ich habe Anfang der achtziger Jahre ein paarmal versucht, orthodox-marxistischen Jusos die Idee nahezubringen, dass die Sowjetunion womöglich nicht nur eine Friendensmacht sei. :D)

Ihr Liberalismus, Le Penseur, von dem Sie zu Recht sagen, dass er dem Liberalismus der Vor-68er-Epoche entspricht, ist gerade deshalb nicht der Liberalismus, weil wir das Jahr 2010 schreiben und der Liberalismus sich mittlerweile mit den von ihm selbt mitverschuldeten Problemen herumschlagen muss. Er steht jetzt als politische Bewegung vor der Wahl, seinen freiheitlichen Ansatz dadurch zu retten, dass er ihn in ein konservatives Paradigma einpasst (also von der Frage nach den Existenzbedingungen von Gesellschaft ausgeht) oder seinen dialektischen Umschlag in totalitäre Ideologie in Kauf zu nehmen. Es gibt kein Drittes.

Ob es politisch klug ist, dass ich gerade den Liberalismus aufs Korn nehme, steht auf einem anderen Blatt. Es spricht politisch zweifellos einiges dafür, gestützt auf den altliberalen Liberalismusbegriff den real existierenden Liberalismus zu attackieren. Nur geht es mir um Erkenntnis der Ursachen der Krise unserer Zivilisation, und vom Standpunkt dieses Erkenntnisinteresses wären taktische Rücksichtnahmen hochgradig störend.

Mein neues Buch: "Die Liquidierung der Zivilisation"

Für die, die sich wundern, dass ich in letzter Zeit meine Schlagzahl hier im Blog reduziert habe: Ich habe angefangen, ein neues Buch zu schreiben, und wenn ich mit dem ersten Entwurf in einem halben Jahr fertig sein will, muss ich mich ranhalten.

Im „Dschihadsystem“ habe ich beschrieben, warum und mit welchen Mitteln der Islam sich ausdehnt, wo  er die Möglichkeit dazu findet. Die andere Seite der Medaille habe ich dabei nur gestreift.

Diese andere Seite ist die Frage: Warum findet er in Europa die Möglichkeit dazu? Warum werden ihm die Türen geöffnet? Wer tut das? und nicht zuletzt: Warum funktioniert das?

So perfekt das islamische Dschihadsystem in seiner Art auch ist: Da der Islam nicht über militärische Macht verfügt, geschweige denn über die militärische Übermacht seiner frühen Periode; da er auch sonst dem Westen in jeder Hinsicht unterlegen ist, lebt der Dschihad nicht von seiner eigenen Stärke, sondern von der Schwäche der Völker Europas.

Diese Schwäche – eine Mischung aus Selbsthass, Geschichtsvergessenheit, Kulturverfall, Gleichgültigkeit, Verblendung, Verrat und ideologisch motivierter Destruktivität – ist vom Islam nicht verursacht worden; sie wird lediglich von ihm ausgenutzt.

Ich werde in meinem Buch die These vertreten, dass unsere Gesellschaft bzw. deren sogenannte Eliten von einer Ideologie beherrscht werden, deren Dominanz notwendig zum Untergang der europäischen Kultur führen muss und auch dann führen müsste, wenn es den Islam überhaupt nicht gäbe. Wie es meine Art ist, werde ich, ausgehend von einer zunächst abstrakten, dann immer konkreter werdenden Ideologiekritik darlegen, worin genau sich die Verfallserscheinungen manifestieren, warum solche Phänomene wie Genderismus, Globalismus, Kulturrelativismus, Synkretismus, Massenmigration usw. geradewegs in den Untergang führen (daher der vorläufige Arbeitstitel „Die Liquidierung der Zivilisation“), und wie sie miteinander verknüpft sind.

Ich werde zeigen, dass auf einem zusammenhängenden linkstotalitären Wahnsystem basieren, dessen Prämissen von den meisten Menschen als Selbstverständlichkeiten verinnerlicht worden und daher von ihnen nicht durchschaubar sind; dies umso weniger, je näher sie an den Quellen der gesellschaftlichen Ideologieproduktion sitzen. sind und einer radikalen Kritik bedürfen.

Die Grobanatomie dieses Wahnsystems habe ich im ersten Kapitel unter dem Titel „Das Erbe des Kalten Krieges“ analysiert, und einen Auszug aus diesem Kapitel spendiere ich Euch heute als Appetithäppchen.

Ich gehe von der Beobachtung aus, dass der jahrzehntelange Systemgegensatz zwischen Ost und West – zugleich ein ideologischer Gegensatz zwischen Liberalismus und Marxismus – dazu geführt hat, dass die Themen dieser ideologischen Auseinandersetzung gleichbedeutend mit den Themen von Politik schlechthin wurden.

Die traditionell dritte politische Großkraft – nennen wir sie der Einfachheit halber „die Rechte“ verlor auf die Dauer an politischer Eigenständigkeit. „Konservatismus“ war zuletzt nur noch eine Art inkonsequenter, träger Liberalismus, und dies ist bis heute der Stand der Dinge.

Dass Marxismus und Liberalismus sich ein gemeinsames Ideologie-Oligopol sicherten, bedeutet, dass bestimmte gesellschaftliche Realitäten nicht mehr mit Aussicht auf Resonanz beschreibbar sind: Damit meine ich diejenigen Realitäten, die weder vom Liberalismus noch vom Marxismus in jeweils theorieeigener Sprache thematisiert werden können.

Da Marxismus und Liberalismus aber trotz aller Gegensätze nicht unabhängig voneinander sind, vielmehr der eine die Kritik des anderen darstellt und sie insofern aufeinander aufbauen, liegt ihnen eine gemeinsame Metaideologie zugrunde. Um die geht es in dem folgenden Auszug:

Mit der Dominanz des Gegensatzes von Liberalismus und Sozialismus wurden alle Prämissen, über die zwischen diesen Strömungen kein Dissens bestand, zu Selbstverständlichkeiten. Geistesgeschichtlich betrachtet, sind Liberalismus und Sozialismus bzw. Marxismus keineswegs die unversöhnlichen Gegenspieler, als die sie während des Kalten Krieges aufgetreten sind. Marx hat den Liberalismus und das von diesem favorisierte kapitalistische System ja nicht etwa von einem konservativen (in seiner Terminologie: reaktionären) Standpunkt kritisiert, sondern von einem revolutionären. Er sah durchaus, dass das Bürgertum selbst eine revolutionäre Klasse, sein Liberalismus eine revolutionäre Ideologie, sein Kapitalismus ein revolutionäres System war, das die Menschen aus ihren vertrauten Bindungen riss, hergebrachte Gemeinschaften zerstörte, die Religion in die Krise stürzte, die Gesellschaft atomisierte, und dies im Weltmaßstab. Was wir heute „Globalisierung“ nennen, ist von Marx bereits vor hundertsechzig Jahren gedanklich vorweggenommen und bis zur letzten Konsequenz durchdacht worden.

(…)

Marx war … nicht einfach ein Empiriker, der gestützt auf seine Theorie eine wissenschaftliche Prognose abgab. Das ganze Marxsche Gedankengebäude bliebe unverstanden, wenn man es nicht von seinem „kategorischen Imperativ“ her interpretierte, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen sei“1. Dieser Imperativ ist Prämisse, nicht Konsequenz der Marxschen Analyse. Und diese Prämisse konnte und kann bis heute von jedem Liberalen unterschrieben werden.

Für den Liberalen allerdings ist die Emanzipation des Menschen bereits dann verwirklicht, wenn er frei von Zwang, speziell von staatlichem Zwang ist. Vom Marxismus, aber eben nicht vom Liberalismus her, ist es dagegen möglich zu denken, dass die sozialen Beziehungen, die die Menschen „freiwillig“ miteinander eingehen, sich verselbständigen und zu einer Struktur verdichten könnten, die die Menschen genauso effektiv, womöglich sogar noch gnadenloser unterjocht, als ein absolutistischer Herrscher es je könnte.

Die wirklichkeitsfremde Missachtung des sozialen Kontexts, in dem individuelle Handlungen stehen und von dem sie abhängig sind, ist eine Schwäche, die das liberale Denken mit seinem individualistischen Ansatz bis heute nicht überwunden hat2. Diese Schwäche wird uns weiter unten [im Buch] noch beschäftigen; vorerst aber genügt die Feststellung, dass liberales und marxistisches Denken sich grundsätzlich lediglich in diesem einen Punkt unterscheiden.

Marx hat nicht etwa die emanzipatorischen Wertprämissen des Liberalismus abgelehnt, sondern ihm lediglich angekreidet, dass diese Werte auf der Basis einer liberalen Ideologie und eines kapitalistischen Systems nicht zu verwirklichen seien. Er beansprucht für sich, das emanzipatorische Potenzial, das im Liberalismus ideell, im Kapitalismus materiell angelegt ist, im Kommunismus zur Entfaltung und Vollendung zu führen. Marxismus und Liberalismus sind Geistesverwandte:

Beide Ideologien kritisieren hergebrachte, nicht freiwillig eingegangene soziale Bindungen, etwa an Volk, Familie und Kirche, wegen des ihnen innewohnenden Moments von Herrschaft und Unfreiheit und betrachten sie insofern als zerstörenswert.

Beide Ideologien sind universalistisch, d.h. beanspruchen Gültigkeit für alle Menschen und Völker; wobei der Liberalismus diesen universellen und globalen Geltungsanspruch unmittelbar aus den Menschenrechten ableitet, während der Marxismus ihn als Ergebnis eines materiellen Globalisierungsprozesses antizipiert, der die gesamte Menschheit einbeziehen soll.

Beide beurteilen die jeweils gegebene Gesellschaft – mindestens implizit – vom Standpunkt der Utopie, das heißt des gedachten Idealzustandes einer völlig herrschaftsfreien Gesellschaft der Freien und Gleichen; eines Zustandes, den es noch nie und nirgendwo gegeben hat, und dessen Realisierbarkeit bestenfalls unbewiesen ist.

Diese Punkte sind durch die jahrzehntelange Dominanz liberaler und marxistischer Diskurse zu selbstverständlichen Voraussetzungen politischen Denkens schlechthin geworden, zu Voraussetzungen, die eben ihrer Selbstverständlichkeit wegen nicht hinterfragt werden. Zusammen ergeben sie eine Meta-Ideologie, d.h. sie definieren, was überhaupt ideologiefähig ist: worüber in westlichen Gesellschaften sinnvoll gestritten werden kann und worüber nicht; was als normal und vernünftig gelten kann, und was als exzentrisch oder verwerflich aus dem als seriös geltenden öffentlichen Diskurs ausgeschlossen ist; für welche Ideen man demgemäß mit Aussicht auf Erfolg werben kann und für welche nicht.

Machen wir uns nun klar, was diese Metaideologie impliziert, und welchen Vorentscheidungen daher der politische Diskurs unterliegt, quasi bevor er begonnen hat:

Erstens enthält sie eine in der Menschheitsgeschichte nie dagewesene Beweislastumkehr. Während traditionell die hergebrachten Werte, Normen, Strukturen und Glaubenssätze die Vermutung auf ihrer Seite haben, wahr, gerecht und praktisch angemessen zu sein, geraten sie unter dem Druck der neuen Metaideologie in eine permanente Defensive. Dass etwas sich bewährt hat – traditionell das stärkste Argument dafür, es auch beizubehalten -, ist plötzlich kein Argument mehr, weil das Bewährte nicht mehr, wie früher, am stets drohenden Absturz in Chaos und Barbarei, sondern am Glanz der Utopie gemessen wird.

Die Utopie selbst ist des Rechtfertigungszwangs enthoben; insbesondere muss sie sich nicht an ihrer Realisierbarkeit messen lassen, weil sie nicht als zu verwirklichendes Projekt und nicht einmal als konkret ausformuliertes Ideal daherkommt, sondern lediglich ein Normensystem darstellt, das den Referenzrahmen bildet, auf den hin die gesellschaftliche Wirklichkeit interpretiert und kritisiert wird; die Utopie ist in diesem Normensystem implizit, aber eben nicht explizit enthalten. Da dieser Referenzrahmen als solcher eine Selbstverständlichkeit darstellt und daher meist unbewusst bleibt, entzieht er sich jedem Legitimationszwang.

Der Gedanke, dass das Hergebrachte eine – jeweils kultur- und gesellschaftsspezifische – evolutionär bewährte Lösung des existenziellen Problems darstellen könnte, wie ein friedliches und geordnetes Zusammenleben von Menschen zu gewährleisten ist, kann vor dem Hintergrund einer Utopie kaum noch gedacht werden. Wer sich an einer Utopie orientiert, setzt vielmehr bereits voraus, dass dieses Problem nicht existiert; dass Zivilisation schlechthin mithin eine Selbstverständlichkeit ist und die maßgebliche Alternative daher nicht „Zivilisation oder Barbarei“ lautet, sondern „Zivilisation oder Paradies“. Daran gemessen, muss jegliche Zivilisation schlecht aussehen.

Zweitens: Der utopische Globalismus beider Ideologien entzieht allen Ordnungsvorstellungen den Boden, die bloß für bestimmte Gesellschaften und Kulturen Gültigkeit beanspruchen können. Wenn aber Zivilisation schlechthin das Unwahrscheinliche ist, das nur auf dem Boden eines jeweils historisch gewachsenen, äußerst komplexen Systems von Normen, Werten und Strukturen existieren kann, die als kulturelle Selbstverständlichkeiten verinnerlicht sind, so impliziert dies, dass man solche Systeme nicht ohne weiteres verpflanzen oder global verallgemeinern kann.

Politische Ideen, die diesen Sachverhalt berücksichtigen und auf bestimmte Völker und Kulturen zugeschnitten sind, kollidieren zwangsläufig mit der gesellschaftlich vorherrschenden Metaideologie, für die ein Ideensystem entweder universell gültig ist oder überhaupt nicht.

So gibt es zum Beispiel liberale Islamkritiker, die dem Islam wegen seiner offenkundigen Unvereinbarkeit mit liberalen Werten geradezu die Existenzberechtigung absprechen. Dass der Islam ein Dschihadsystem ist, das dem Westen den Garaus machen wird, wenn man es nicht verhindert, das habe ich selbst ausführlich begründet.3 Zu sagen, dass er unsere Ordnung untergräbt, bedeutet jedoch per se keineswegs, seine Legitimität als Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung in seinen eigenen Stammländern zu bestreiten. Der Islam ist, wenn man so will, ein großes Unternehmen, das seit 1400 Jahren nicht pleite geht. Irgendetwas muss er wohl richtig gemacht haben.

Er ist ein Dschihadsystem, ja; aber er kann das nur sein, weil er die muslimische Gesellschaft konsolidiert, einen Konsens über Normen und Werte stiftet und die Welt aus der Sicht seiner Anhänger als ein sinnvolles Ganzes deutet. Der Versuch, islamischen Ländern liberale oder marxistische Gesellschaftsmodelle von außen und womöglich mit Gewalt zu implantieren, wird scheitern; wenn er überhaupt irgendetwas erreicht, dann die Zerstörung der Gesellschaft, wie uns die Vereinigten Staaten im Irak und zuvor die Sowjets in Afghanistan vor Augen geführt haben.

(Die meisten Muslime würden es freilich ablehnen, eine solch partikulare Legitimation des Islam zu akzeptieren. Seinem eigenen Anspruch nach ist der Islam nicht weniger universalistisch als der Westen.)

Drittens impliziert die Metaideologie ein bestimmtes Verständnis des Wesens von Politik: Politik ist demnach der Versuch, eine abstrakte Ordnung zu verwirklichen; abstrakt in dem Sinne, dass sie nicht an ein bestimmtes Volk, einen bestimmten Staat oder überhaupt an eine bestimmte politische Einheit gebunden ist.

Politische Ideen, die nicht darauf abzielen, eine schlechthin gute Ordnung zu verwirklichen, sondern die Interessen etwa eines ganz bestimmten Volkes (im Zweifel die des eigenen) zu verwirklichen, werden nicht nur deshalb als „nationalistisch“ oder „faschistisch“ diffamiert, weil Demagogie nun einmal zu den schmutzigen Mitteln von Politik gehört. Vielmehr ist es vom Standpunkt der Metaideologie einfach unbegreiflich, dass der Andersdenkende nicht in den Begriffen einer abstrakten Ordnung denken könnte. Ein partikularer Interessenstandpunkt gilt aus dieser Sicht nicht nur als – eben wegen seiner Partikularität – unmoralisch oder bestenfalls provinziell, sondern wird als getarnter Universalismus interpretiert:

Wer also von einem partikularen Interessenstandpunkt, zum Beispiel dem eines Volkes, argumentiert – so die Unterstellung –, propagiert „in Wirklichkeit“ eine Ideologie, wonach nur die Interessen von Völkern, nicht aber die des Individuums beachtenswert seien (nach dem Motto „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ – was in der Tat eine im weitesten Sinne faschistische Idee wäre).

Der Gedanke, dass es womöglich nicht darum geht, den Interessen von Völkern Vorrang vor denen des Individuums einzuräumen, sondern denen des eigenen Volkes vor denen von anderen Völkern, kann von der Metaideologie her nicht gedacht werden, weil er kein abstraktes Ordnungsideal enthält, auch kein faschistisches.

Das Denken in abstrakten Ordnungen, verbunden mit dem Universalismus, lässt unterhalb der Ebene der Menschheit keine partikularen Gruppenloyalitäten zu, es sei denn, diese wären ihrerseits durch die Bezugnahme auf ein abstraktes Ordnungsideal definiert, wie etwa die „westliche Wertegemeinschaft“. Patriotismus gilt unter diesen Vorgaben nicht als Wert an sich, er ist – z.B. als „Verfassungspatriotismus“ – nur dann und nur so weit eine Tugend, wie er sich durch die Bezugnahme auf ein solches Ideal legitimiert. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Sekundärtugend, weil die Nation ihrerseits sekundär, nämlich bloß eine Teilmenge der „Wertegemeinschaft“ ist.

In dieser Hinsicht tun sich Parallelen sowohl zum Kommunismus als auch zum Islam auf: Beide Ideensysteme lassen Patriotismus zu, aber nur so weit, wie die Nation, der er gilt, Teilmenge des „sozialistischen Lagers“ bzw. der islamischen Umma ist.

Kurz gesagt, lässt die Metaideologie keine Unterscheidung von Wir und Sie zu, es sei denn nach ideologischen Kriterien.

Und wieder sind es die liberalen Islamkritiker, an deren Denken sich diese Haltung besonders gut veranschaulichen lässt, gerade weil sie in ihrem Liberalismus konsequenter sind als die Mainstreamliberalen, die auch eine gänzlich illiberale Ideologie wie den Islam fördern: Liberale Islamkritiker finden Massenmigration auch von Muslimen nach Europa durchaus akzeptabel, sofern diese Muslime sich an die Spielregeln der liberalen Gesellschaft halten, d.h. ihre Frauen nicht verprügeln, keine Bomben legen, Homosexuelle respektieren usw. Masseneinwanderung ist also nicht zu beanstanden, sofern die liberale Ordnung nicht tangiert wird. Da stört es auch nicht, wenn diese Ordnung in hundert Jahren nicht mehr die des eigenen Volkes sein wird, weil dieses Volk aufgehört haben wird zu existieren. Dein Volk ist nichts, der Liberalismus ist alles.

Viertens gilt der Universalismus nicht nur räumlich – also für den gesamten Planeten -, sondern auch sachlich, also für alle Gesellschaftsbereiche: Wenn Bindungen, die der Einzelne vorfindet, d.h. nicht in einem bewussten Willensakt selbst eingeht, das schlechthin Böse oder doch zumindest permanent zu Kritisierende sind, von dem man den Menschen „befreien“ muss, dann kennt eine Ideologie, die Solches postuliert, kein Kriterium, anhand dessen man Bereiche definieren könnte, in denen dieses Prinzip nicht gilt.

Dass es eine Offene Gesellschaft nur dort geben kann, wo verschiedene Prinzipien in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, ist auf der Basis einer Ideologie, die lediglich ein einziges Prinzip gelten lässt – nämlich das der Freiheit von vorgefundenen Bindungen – nicht begründbar, ja kaum tolerierbar. Die binäre Logik, wonach alle sozialen Beziehungen emanzipatorischen Idealen zu genügen und anderenfalls zu verschwinden haben, wird dann auch den Kritikern dieser Ideologie unterstellt:

Der oben erwähnten umstandslosen Gleichsetzung von Patriotismus und Faschismus entspricht eine gleichartig manichäische Denkweise auf allen Gebieten: Da kann nur einen „Gottesstaat“ wollen, wer auf der theologischen Integrität des Christentums beharrt, da kann nur Frauen unterdrücken wollen, wer die traditionelle Kleinfamilie hochschätzt, da kann nur gegen die Demokratie sein, wer ihre dysfunktionalen Züge thematisiert, nur die uniformierte Gesellschaft wollen, wer den Multikulturalismus kritisiert, nur „homophob“ sein und Homosexuelle ins KZ sperren wollen, wer darauf hinweist, das Homosexualität naturgemäß keine gleichwertige Lebensform sein kann usw. In dem Maße, wie die Metaideologie ihr Monopol festigt, sind ihre Anhänger schlechterdings außerstande, sich vorzustellen, dass es politische Ideologien geben könnte, die nicht auf die Verwirklichung eines utopischen Projektes abzielen, das die gesamte Gesellschaft einem einzigen Leitgedanken unterwirft.

Auf die Dauer wird unter der Herrschaft der Metaideologie die gesamte Gesellschaft in allen ihren Lebensbereichen einem einzigen Prinzip, einem einzigen Gedanken untergeordnet. Es gibt, zumindest der Idee nach, keine ideologiefreie Zone, keine politikfreie Nische, keinen Ort, an dem die Dinge so bleiben können, wie sie immer waren, keine Insel, die von der Revolution verschont bliebe.

Es geht in diesem Kapitel noch nicht darum, dies alles zu kritisieren und die Folgen aufzuzeigen, die es für die Gesellschaft haben muss, wenn eine solche Ideologie als Selbstverständlichkeit verinnerlicht wird; noch sind wir bei einer abstrakten Bestandsaufnahme. Doch schon auf dieser abstrakten Ebene macht sich das eigentümlich totalitäre Aroma bemerkbar, das diese Metaideologie auch dann verströmt, wenn sie sich nicht in ihrer marxistischen, sondern in ihrer liberalen Spielart konkretisiert.

Fünftens impliziert die Vorherrschaft der Metaideologie eine a priori gesetzte Wahrheitsdefinition: Wenn die unhinterfragte Prämisse politischen Denkens die normative Bejahung einer Utopie ist, dann muss diese Utopie zumindest theoretisch auch realisierbar sein. Religiöse oder philosophische Positionen, die die Unvollkommenheit des Menschen betonen – etwa die christliche Erbsündenlehre –, ja sogar naturwissenschaftliche Erkenntnisse, die die Realisierbarkeit liberaler oder sozialistischer Utopien prinzipiell bestreiten, geraten nicht nur unter Rechtfertigungsdruck. Sie werden in dem Maße, wie die Metaideologie sich durchsetzt, aus dem Bereich des Diskutablen ausgegrenzt.

Man stempelt sie zu „Unwahrheiten“, nicht weil sie in einem empirischen Sinne unwahr wären, sondern weil Utopien, also Vorstellungen, wie die Welt sein soll, wenn sie zu Dogmen erhoben werden, a priori keine Tatsachenbehauptungen als wahr akzeptieren können, die sie ad absurdum führen. Ein Weltbild, das nicht empirisch, sondern normativ fundiert ist, kann höchstens zufällig und im Einzelfall mit empirischen Tatsachen korrespondieren; je dominanter dieses Weltbild gesellschaftlich wird, desto effektiver fungiert es als Filter, der unpassende Tatsachen aus der gesellschaftlich gültigen Wirklichkeitsbeschreibung ausblendet, und desto mehr gilt, dass Wahrheitansprüche nicht aus empirischer Beobachtung, sondern direkt aus der Ideologie abgeleitet werden. Die Verwechslung von Normen und Tatsachen, die ich in „Das Dschihadsystem“ als Wesensmerkmal linker Ideologie herausgearbeitet habe, ist nicht einfach ein logischer Fehlschluss. Sie ist die zwingende Konsequenz aus einem Weltbild, das die jeweils gegebene Wirklichkeit nur als Durchgangsstation zum irdischen Paradies auffassen kann.

Sechstens folgt aus dieser Wahrheitsdefinition eine Feinddefinition: Bereits das Wort „Fortschritt“, das im politischen Bereich ja nicht auf irgendwelche Veränderungen, sondern ausschließlich auf Egalisierungs-, Liberalisierungs- und Demokratisierungsprozesse angewendet wird, impliziert die Idee, dass die Geschichte eine immanente Richtung und ein Ziel kennt, d.h. es impliziert eine teleologische, wenn nicht gar deterministische Geschichtsauffassung. Wer dieser Geschichtsauffassung nicht folgt, ist, durch die Brille der Metaideologie betrachtet, ein „Reaktionär“, der „das Rad der Geschichte zurückdrehen“ will und die „Zeichen der Zeit nicht erkannt“ hat. Allein das bloße „zurück zu“ (einem früheren Zustand) steht im Verdacht des Unmoralischen, weil das Vergangene – allein schon, weil es eben vergangen ist – aus der Sicht dieser Ideologie das „historisch Widerlegte“, das durch den „Fortschritt“ (Egalisierung, Liberalisierung, Demokratisierung) überwundene Schlechte ist.

Wenn nun jemand zu diesem „Schlechten“ zurückkehren will, muss er ein schlechter Mensch sein, dem man nicht einmal gute Absichten zuzugestehen braucht; wenn er die „Wahrheit“, dass die Utopie realisierbar sei, „leugnet“, dann braucht man ihm vom Standpunkt der Metaideologie nicht einmal zuzugestehen, dass er sich einfach irren könnte; erst recht braucht man nicht der Vermutung nachzugehen, dass man womöglich selber im Irrtum sein könnte: Der Andersdenkende, der sich der gesellschaftlich akzeptierten Wahrheitsdefinition nicht beugt, ist einfach ein Lügner oder Psychopath, den man ohne Gewissensbisse unschädlich machen kann. Und dies auch – wohlgemerkt! – vom liberalen Standpunkt!

Womit auch geklärt sein dürfte, warum die meinungsbildenden Eliten sich weigern, Linksextremismus mit derselben Elle zu messen wie Rechtsextremismus, warum man konservative Patrioten schon gewohnheitsmäßig in die Nähe des Rechtsextremismus rückt, und warum der Begriff „Fundamentalismus“, womit in aller Regel ein konservatives Christentum gemeint ist, fast schon so pejorativ verwendet wird wie der des „Faschismus“: Linksextreme Positionen stehen auf dem Boden der Metaideologie, konservative nicht. Letztere sind daher aus der Sicht der Metaideologie per se „extremistisch“, selbst wenn sie ohne Weiteres verfassungskonform sind: Nicht die demokratische Verfassung ist hier der Maßstab, sondern die Bejahung des Utopismus.

Siebtens impliziert dieser Utopismus ein Menschenbild, wonach nur solche menschlichen Eigenschaften als gesund und normal zu gelten haben, die mit der jeweiligen Utopie kompatibel sind.

Dieses Menschenbild bedeutet im Umkehrschluss, dass Menschen, mit denen die Utopie nicht zu verwirklichen ist, weil sie an ihren vertrauten Bindungen, Werten und Lebenswelten festhalten und sich gegen deren politisch induzierte Veränderung wehren, nicht nur im Irrtum befangen, reaktionär und böse sind, sondern obendrein Psychopathen. Es spricht Bände, welch erstaunliche Karriere das Wort „Phobie“ gemacht hat, das in früheren Zeiten nur auf krankhafte Angstzustände angewendet wurde, heute aber auf so merkwürdige „Krankheiten“ wie Homophobie, Xenophobie und Islamophobie.

In „Das Dschihadsystem“ schrieb ich: „An sich handelt es sich [bei dem Wort „Phobie“] um einen psychiatrischen Fachbegriff, dessen Verwendung in sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen sich schon deshalb verbietet, weil Sozialwissenschaftler gar nicht kompetent sind zu beurteilen, ob die Abneigung gegen eine Personengruppe auf einer Phobie beruht oder nicht. Wenn Soziologen4 diesen Ausdruck trotzdem benutzen können, ohne sich zumindest fachintern Kritik einzuhandeln, so ist bereits dieser Umstand ein starkes Indiz für die Wirksamkeit ideologisch motivierter Vor-Urteile bis ins wissenschaftliche Vokabular hinein.“

Im Lichte der bisherigen Überlegungen müssen wir diesen Befund noch verschärfen: Wir haben es nicht einfach mit menschlicher Unzulänglichkeit zu tun, die es auch unter Wissenschaftlern gibt, und aufgrund derer unhinterfragte ideologische Vorurteile sich verfälschend in einen Forschungsprozess einschleichen, der ansonsten durchaus integer ist. Vielmehr geht das Menschenbild der Metaideologie bereits als Prämisse in die sozialwissenschaftliche Arbeit ein. Es bedarf dann gar keiner psychiatrischen Expertise mehr, um zu entscheiden, ob eine „Phobie“ vorliegt: Die Metaideologie selbst liefert den „psychiatrischen“ Befund. Die Logik, aufgrund derer ideologisch nonkonforme Menschen zu Geisteskranken erklärt werden, die unter einer „Phobie“ leiden, ist dieselbe, aufgrund derer in der Sowjetunion Dissidenten in psychiatrische Anstalten eingewiesen wurden.

Dies impliziert auch, dass nicht die Bedürfnisse der tatsächlich lebenden Menschen Anspruch auf soziale Berücksichtigung erheben können, sondern lediglich die Bedürfnisse eines gedachten „neuen Menschen“, der sich dadurch auszeichnet, utopiekompatibel zu sein. „Humanität“ besteht unter diesen Prämissen darin, den empirischen Menschen zum utopischen umzuerziehen.

Wie aber nennt man eine Ideologie, die darauf hinausläuft, gestützt auf ein utopisches Ideal und mit dem Anspruch auf das Monopol absoluter Wahrheit alle Lebensbereiche zu durchdringen und gegebenenfalls umzuwälzen, und dies weltweit; die den Gang der Geschichte zu durchschauen beansprucht, ihre Kritiker als böse im moralischen und krank im medizinischen Sinne diffamiert und die Umerziehung der Menschheit propagiert?

Man nennt eine solche Ideologie: totalitär.

Da sie ihr Deutungsmonopol durchgesetzt hat und kaum noch angefochten wird, jedenfalls nicht im „seriösen“ Diskurs, bleibt uns der beunruhigende Befund nicht erspart, dass die meisten Menschen in unserer Gesellschaft (also wahrscheinlich auch Sie) ohne es zu wollen Anhänger einer totalitären Ideologie sind.

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1Karl Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, S. 385.

2Es entbehrt allerdings nicht einer gewissen Ironie, dass die Marxisten, nachdem sie an die Macht gekommen waren, sich ihrerseits als unfähig erwiesen, den totalitären Herrschaftscharakter des von ihnen selbst konstruierten sozialen Zusammenhangs zu durchschauen und angemessen zu kritisieren. Ausnahmen bestätigen lediglich die Regel.

3Manfred Kleine-Hartlage, Das Dschihadsystem. Wie der Islam funktioniert, Gräfelfing 2010

4vgl. z.B. die Verwendung der Begriffe „Islamophobie“ und „Homophobie“ bei Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände. Folge 6, Frankfurt/M. 2007

Mit der Dominanz des Gegensatzes von Liberalismus und Sozialismus wurden alle Prämissen, über die zwischen diesen Strömungen kein Dissens bestand, zu Selbstverständlichkeiten. Geistesgeschichtlich betrachtet, sind Liberalismus und Sozialismus bzw. Marxismus keineswegs die unversöhnlichen Gegenspieler, als die sie während des Kalten Krieges aufgetreten sind. Marx hat den Liberalismus und das von diesem favorisierte kapitalistische System ja nicht etwa von einem konservativen (in seiner Terminologie: reaktionären) Standpunkt kritisiert, sondern von einem revolutionären. Er sah durchaus, dass das Bürgertum selbst eine revolutionäre Klasse, sein Liberalismus eine revolutionäre Ideologie, sein Kapitalismus ein revolutionäres System war, das die Menschen aus ihren vertrauten Bindungen riss, hergebrachte Gemeinschaften zerstörte, die Religion in die Krise stürzte, die Gesellschaft atomisierte, und dies im Weltmaßstab. Was wir heute „Globalisierung“ nennen, ist von Marx bereits vor hundertsechzig Jahren gedanklich vorweggenommen und bis zur letzten Konsequenz durchdacht worden.

Marcello Pera: "Warum wir uns Christen nennen müssen: Plädoyer eines Liberalen"

kathnews.de schreibt:

„In seinem nun vorgelegten Werk stellt Pera eine These auf, die zwar einfach und prägnant ist, dennoch aber für hitzige Diskussionen sorgen dürfte: Im Grunde sind wir alle Christen, und ohne christlichen Glauben ist in Europa kein Staat zu machen.

In einem Streifzug durch die Philosophie analysiert der Autor die großen liberalen Denker und kommt zu einem Ergebnis, das den kritischen Leser durchaus überraschen mag: auch wer sich auf den Liberalismus als Grundlage der modernen Gesellschaftsordnung bezieht, muss sich Christ nennen, denn erst das christliche Gottes- und Menschenbild gibt dem Liberalismus sein Fundament. Pera bezeichnet das Christentum in diesem Zusammenhang als ‚Seele Europas‘.“

Auszüge aus dem Buch und aus dem Vorwort von Papst Benedikt bei KAS-Aquädukt. Hier klicken.