Albrecht Müller: „Meinungsmache.“ (Rezension)


Wenn die deutsche Politik jemals eine Wahlkampfparole hervorgebracht hat, die den Adressaten zum Mitdenken aufrief, dann war das der 72er SPD-Slogan „Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen“. Eine ziemlich faire Parole, weil sie den Leser nicht manipuliert: Er wird zum Nachdenken animiert, und das heißt: Er kann sie auch ablehnen.

Dem linken Sozialdemokraten Albrecht Müller, der als Schöpfer dieses Slogans gilt, wird man also zumindest bescheinigen müssen, dass er die Intelligenz seiner Mitmenschen respektiert. Solcher Respekt gerät bei den meinungsbildenden Eliten bekanntlich immer stärker außer Kurs, und Müller hat ein ganzes Buch genau den Methoden gewidmet, mit denen sie dafür sorgen, dass der vielzitierte Mainstream in eine ganz bestimmte Richtung fließt.

[Diese Rezension wurde schon 2010 auf diesem Blog veröffentlicht, aber alles, was ich damals geschrieben habe, wurde seitdem von der Realität sogar übertroffen, und auch Müllers Buch ist aktueller denn je. Die damaligen Kommentare habe ich stehengelassen, ohne aber den Kommentarstrang nochmals zu öffnen. M. K.-H.]

(Albrecht Müller: 
Meinungsmache. Wie Wirtschaft, Politik und Medien uns das Denken abgewöhnen wollen)

Dabei macht er Erfahrungen, die einem Konservativen merkwürdig vertraut vorkommen, und so mancher Kommentator dieses Blogs wird mit einer Mischung aus Mitgefühl und Schadenfreude Passagen wie diese hier lesen:

Wenn ich … beschreibe, dass die Leistungsfähigkeit des bisherigen Rentensystems systematisch, bewusst und geplant der Erosion preisgegeben worden ist, um [sic!] an diesem Zerstörungswerk zu verdienen, dann kommt der Angriff mit der Behauptung: ‚Sie sind ein Verschwörungstheoretiker!’“(S.133)

Leider analysiert er nicht die Wirkungsweise gerade des Vorwurfs der „Verschwörungstheorie“; also erlaube ich mir hier einen Exkurs: Wie manchem Leser erinnerlich ist, bin ich höchst kritisch gegenüber Verschwörungstheorien und habe im Einzelfall ausführlich begründet, was ich unter einer Verschwörungstheorie verstehe und warum ich sie für problematisch halte. Wer so argumentiert, erlegt sich selbst die Beweislast auf.

Es greift aber immer mehr um sich, Verschwörungstheorien zu tabuisieren, ohne zu begründen, warum. Auf diesem Wege wird die Ablehnung von Verschwörungstheorien zum bloßen sozialen Vorurteil und das Wort „Verschwörungstheorie“ zum Etikett, das man nahezu beliebigen Meinungen aufpappen kann, die dadurch aus dem seriösen Diskurs ausgegrenzt werden – ähnlich, wie es mit dem Wort „rechtsextrem“ schon geschehen ist. Das Ergebnis ist eine Beweislastumkehr: Wer beweisen will, dass er kein „Verschwörungstheoretiker“ respektive nicht „rechtsextrem“ ist, kann dies nur dadurch tun, dass er sich von allen Meinungen, Personen und Organisationen distanziert, denen das entsprechende Schandmal aufgebrannt wurde. Da die Diffamierung aber nahezu beliebig vorgenommen werden kann, führt diese (wie jede andere) Art von Appeasement keineswegs dazu, die Diffamierer zufriedenzustellen; vielmehr wird die Grenze des gesellschaftlich Tolerablen mit jedem Zugeständnis enger gezogen: Musste man vor dreißig Jahren noch Hakenkreuzfahnen schwenken, um als rechtsextrem eingestuft zu werden, so reicht heute schon der Gebrauch des Wortes „Neger“.

Müller, wie gesagt, interessiert sich dafür weniger. Linke Sozialisten sind zwar aus der Sicht der meinungsbildenden Eliten ebenso Außenseiter wie rechte Konservative, aber sie werden nicht so sehr moralisch diffamiert, eher schon laufen sie Gefahr, als rückständige Sozialromantiker lächerlich gemacht zu werden, die die Zeichen der Zeit – und speziell der Globalisierung – nicht erkannt haben.

Umso bemerkenswerter die Parallelen, die zwischen beiden Arten politischen Denkens bestehen. Vielleicht fallen diese Parallelen einem wie mir besonders ins Auge, der lange Jahre politisch dort stand, wo auch Müller steht, und heute dort ist, wo der rechte Flügel der CDU wäre, wenn es einen solchen noch gäbe. Ich glaube aber, dass die Gemeinsamkeiten von Sozialisten und Konservativen nicht nur meiner speziellen Optik geschuldet, sondern objektiv vorhanden sind:

Einer wie Müller, der den handlungsfähigen Staat, ein breites und tiefes Angebot öffentlicher Dienstleistungen, aktive keynesianische Konjunkturpolitik und eine dichtgeknüpftes soziales Netz will, fasst Gesellschaft offenkundig nicht als eine bloße Masse von Einzelperonen auf, sondern als Solidargemeinschaft. Das ist das Gegenteil von dem, was der neoliberalen Doktrin entspricht, ähnelt aber offenkundig dem klassischen konservativen Programm der Bewahrung von Volk und Familie, das heißt von – Solidaritätsstrukturen!

Diese Programme sind selbstverständlich nicht gleich, aber sie sind miteinander vereinbar, zum Teil sogar voneinander abhängig: Ist Sozialismus schon rein technisch schwer vorstellbar ohne Bezugnahme auf einen Staat, so ist er – als Solidargemeinschaft – erst recht ideell unvorstellbar ohne die Bereitschaft zur wechselseitigen Solidarität im gesellschaftlichen Maßstab. Solche Bereitschaft fällt aber nicht vom Himmel, und sie wird auch nicht vom Sozialstaat erzeugt; vielmehr findet er sie vor! Die Bereitschaft zur materiellen Solidarität setzt die Vorstellung von einem „Wir“ voraus. Zu deutsch: ein Volk.

Freilich wollen die Linken das nicht wahrhaben, weil es sie in ideologische Peinlichkeiten stürzt: Zu den Implikationen dieses Sachverhalts gehört ja unter anderem, dass Sozialismus stets etwas sein muss, das man mit einigem Recht auch „National-Sozialismus“ nennen könnte. Eine Solidargemeinschaft kommt, allein schon um die Gegenseitigkeit zu gewährleisten, ohne die es sinnlos wäre, von „Solidarität“ zu sprechen, gar nicht darum herum zu definieren, wer dazugehört und wer nicht. Aller internationalistischen Rhetorik zum Trotz würde ein Sozialismus, der alle Menschen weltweit beglücken wollte, schnell aufhören zu existieren. Sozialismus wird immer, wie Stalin das nannte, „Sozialismus in einem Lande“ sein.

Aus der Abneigung gegen solche Gedankengänge resultieren bei Sozialisten, auch bei so klugen Köpfen wie Albrecht Müller, ganz bestimmte blinde Flecken: Der Sozialstaat ist zwar in der Tat systematisch von den siebziger Jahren an ideologisch delegitimiert worden, wie er behauptet – wir kommen gleich dazu -, aber zumindest einer der wichtigsten Gründe für seinen Legitimitätsverlust hat nichts mit Ideologie, PR oder Propaganda zu tun, sondern schlicht mit der Masseneinwanderung von Menschen, bei denen von vornherein feststand, dass sie den Sozialstaat in erheblichem Maße in Anspruch nehmen würden, und zwar ohne Gegenleistung – auch ohne diejenigen Gegenleistungen an Loyalität gegenüber dem Gemeinwesen, zu denen auch ein materiell armer Mensch fähig ist. Ein solcher Sozialstaat hat mit Solidarität nichts zu tun, und niemand muss sich wundern, dass die, die ein solches System mit ihrer Arbeit finanzieren sollen, sich davon abwenden.

Ein ganz ähnlicher blinder Fleck zeigt sich beim Thema „Demographie“: Müller behauptet, Deutschlands demographische Krise (mit der der langsame Abschied vom Umlageverfahren in der gesetzlichen Rentenversicherung begründet wird), werde weit übertrieben, da unser Land nach bisherigen Prognosen auch 2050 noch 75 Milionen Einwohner haben werde. Dass dieser Wert nur durch massive Einwanderung erreicht werden kann, und dass die Masse der Einwanderer nach allen bisherigen Erfahrungen gering qualifiziert und wenig integrationsbereit sein wird, ja dass sogar zu bezweifeln ist, ob Deutschland überhaupt noch regierbar sein wird, wenn sein Staatsvolk – zumindest bei den wirtschaftlich aktiven Bürgern – eine Minderheit im eigenen Land ist: Das sind Themen, die bei Müller nicht zur Sprache kommen. Er verschweigt sie nicht etwa, er hat sie einfach nicht auf dem Radarschirm.

Nun aber genug von den blinden Flecken, ich schreibe diese Rezension ja nicht zum Zwecke kleinlicher Beckmesserei!

Gemeinsam ist Sozialisten und Konservativen die Erfahrung, dass sie selbst ihre Positionen ausführlich begründen müssen, um sich verständlich zu machen, während etablierte „Wahrheiten“ zu Begriffen geronnen sind, die man schon deshalb Schlagworte nennen darf, weil sie nicht dazu da sind, Gegner argumentativ zu widerlegen, sondern ihren Widerspruch niederzuknüppeln. Ein Sozialist, der darauf hinweist, dass neoliberale Zauberworte wie „Flexibilität“ oder „Wettbewerb“ durchaus nicht immer für etwas Positives stehen müssen, bekommt ähnliche Probleme, sich verständlich zu machen wie ein Konservativer, der darauf besteht, dass Feindschaft gegen das eigene Volk hundertmal schlimmer ist als „Fremdenfeindlichkeit“. Eine Ideologie, die sich auf Schlagworte beschränken kann, ist offenkundig gesellschaftlich dominant.

Erleichtert wird diese Dominanz dadurch, dass sowohl Sozialisten als auch Konservative dazu tendieren, je verschiedene Teile dieses neoliberalen Paradigmas für richtig zu halten: die Linken also die Tendenz zu Entgrenzung und Internationalisierung – obwohl das, wie gezeigt, für Traditionssozialisten an sich inkonsequent ist -, die Rechten die Abneigung gegen das, was sie für linken Sozialklimbim halten.

Letzteres ist fast noch erstaunlicher als die linke Inkonsequenz: Es war ein Konservativer – Bismarck -, der den Grundstein für den deutschen Sozialstaat gelegt hat, und wenn Deutschland auch in den vergangenen hundert Jahren praktisch jede Regierungsform erlebt hat, die überhaupt zur Auswahl stand: Alle Regime haben den Sozialstaat unterstützt und, soweit möglich, ausgebaut. Und auch heute noch gibt es eine deutliche Mehrheit für die Idee, dass eine moderne Gesellschaft sich auch durch materielle Solidarität auszeichnen sollte.

(Wie lange es diese Mehrheit unter dem Druck der Masseneinwanderung noch gibt, steht freilich auf einem anderen Blatt: Dass diese Einwanderung die Idee des Sozialstaats schlechthin in Frage stellt, dürfte aus der Sicht der neoloiberalen Eliten nicht der geringste ihrer Vorzüge sein.)

Wir können daraus schließen, dass die Idee sozialer Solidarität zur Selbstbeschreibung des deutschen Volkes, sprich: zu seiner nationalen Identität gehört. Selbstredend müssen auch Konservative nicht vor Allem und Jedem auf die Knie fallen, was zu dieser Identität gehört, aber die Selbstverständlichkeit, mit der die sozialstaatsfeindliche neoliberale Wirtschaftsideologie von vielen Konservativen akzeptiert wird, erstaunt schon deshalb, weil sie damit ja zugleich die ihr zugrundeliegende Meta-Ideologie schlucken, wonach es überhaupt so etwas wie ein universell anwendbares Wirtschafts-(und Politik- und Gesellschafts-)modell geben könne oder gar müsse. Konservatismus, wenn er mehr sein soll als bloß geistige Bequemlichkeit, müsste aber gerade diese Prämisse des Globalismus prinzipiell anfechten und auf dem Eigenwert und der Eigenlogik unterschiedlicher gewachsener Kulturen beharren. Tut er es nicht, hat er bereits die Waffen gestreckt.

Die entscheidende Frage ist nun: Wie kommt die neoliberale Ideologie eigentlich in die Köpfe? Um dies zu erläutern, untersucht Albrecht Müller die taktischen Mittel der Meinungsmache, dann die strategischen Zusammenhänge, in denen sie eingesetzt werden, und benennt dabei auch einige wichtige Akteure. Die taktischen Mittel, mit denen Ideologie gestreut wird, sind:

Wiederholung: „Wenn alle maßgeblichen Personen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien erzählen, die Globalisierung sei ein völlig neues Phänomen …, was soll die Mehrheit der Bevölkerung dann glauben?“ (S.127) Wenn dies nicht bloß einmal geschieht, sondern über Jahre hinweg fortgesetzt wird, dann gehört das, was da verkündet wird, unweigerlich irgendwann zu den Hintergrundannahmen des gesellschaftlichen Diskurses.

Dieselbe Botschaft aus unterschiedlichen Ecken verkünden: „Wenn der frühere Bahnchef Hartmut Mehdorn und der Aufsichtsratsvorsitzende der Deutschen Bahn
Werner Müller, der zuvor unter Gerhard Schröder Bundeswirtschaftsminister war …, wenn diese beiden das Gleiche sagen wie Norbert Hansen, der … Vorsitzende der größten Eisenbahnergewerkschaft …, dann muss der Börsengang ja gut sein für die Bahn.“ (S.129) Und, möchte man von einem rechten Standpunkt hinzufügen, wenn die CDU sich für Masseneinwanderung stark macht und uns, wie die Grünen, etwas von der damit verbundenen „Bereicherung“ vorschwärmt; wenn obendrein Heerscharen von Wissenschaftlern die vermeintlichen Vorzüge der „Diversität“ anpreisen, dann können nur ungewöhnlich selbstbewusste Menschen sich vorstellen, dass die Alle Unrecht haben sollen.

Vokabeln verwenden, die Urteile und Wertungen beinhalten: „Flexibilität“ klingt doch immer gut, nicht wahr, erst recht „Toleranz“? Müller selbst führt das Wort „Reform“ als Beispiel für einen positiv besetzten Begriff an, der dann umgedeutet wird (in „Reformen“ zugunsten der Oberschicht). (Dass die Umdeutung zentraler politischer Begriffe auch zu den bevorzugten Strategien der EU zu Gesellschaftstransformation gehört, dazu empfehle ich nochmals den Aufsatz von Christian Zeitz)

Einen gruppenspezifischen Jargon sprechen: Ein solcher reduziert ganze Ideologien auf Schlagworte, die für jeweils bestimmte Gruppen gelten und diese Gruppen definieren. Wer ihn nicht spricht – und damit anzeigt, dass er die gruppenspezifische Ideologie nicht teilt – ist draußen. In Kreisen, in denen von „den Märkten“ die Rede ist, sollte man sich Ausdrücke wie „Solidarität“ oder „Gerechtigkeit“ ebenso verkneifen wie „Vaterland“ oder „Abendland“.

Affirmativ auftreten: Menschen neigen dazu, zu glauben, was ihnen erzählt wird. Eine Richtigkeitskontrolle findet höchstens intuitiv statt: Steht der Sprecher hinter dem, was er sagt? Wenn er das vortäuschen kann, glaubt man ihm. Müller zitiert den damaligen Finanzminister Steinbrück: „Schließlich steht außer Zweifel, dass wir einen starken und wettbewerbsfähigen Finanzplatz Deutschland brauchen.“ (S.130) Wer wird sich da schon die Blöße geben, der Hinterwäldler zu sein, der bezweifelt, was doch „außer Zweifel steht“?

Immer im Angriff bleiben: Der Kritiker kann gar nicht Recht haben, und vor allem darf er es nicht. Er kann dumm (links) oder bösartig (rechts) sein; tertium non datur. Ein Rezept, das schon die Nazis praktiziert haben, ebenso wie das folgende:

Keine Diskussionen zulassen: TINA (There is no alternative) bedeutet, die eigentliche Ideologie wird aus jeder Diskussion herausgehalten; so sind die Schlussfolgerungen aus ihr dann tatsächlich ohne Alternative.

Pars pro toto: Einen gesellschaftlichen Missstand dadurch verschwinden lassen (oder dadurch herbeireden), dass man Einzelfälle willkürlich verallgemeinert.

Übertreibung: Wird gerne zur Diffamierung Andersdenkender eingesetzt.

Botschaft B senden, um A zu transportieren: Die explizite Aussage enthält eine Implikation, die als solche unausgesprochen bleibt, aber gerade dadurch umso unauffälliger, d.h. ohne den Filter der kritischen Nachprüfung in die Köpfe gelangt. „Wir verstehen nicht, warum die Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzminister die Banken flehentlich darum bitten, doch endlich unsere 480 Rettungs-Milliarden zu nehmen. Diese Botschaft B wird verständlich, wenn wir die Botschaft A bedenken: Die Banken erweisen uns einen Gefallen, sie erlauben uns gnädig, ihnen unser Geld zu geben, statt ihnen den Staatsanwalt ins Haus zu schicken, was angesichts des millionenfachen Betrugs gerechtfertigt wäre.“ (S.140)

Konflikt: Der inszenierte Konflikt beschäftigt das Publikum so sehr, dass seine Protagonisten die Agenda bestimmen. Müller führt den „Konflikt“ zwischen Schröder und Lafontaine im Vorfeld der Bundestagswahl 1998 an, der entscheidend zum Wahlsieg der SPD beigetragen hat. Auf einer höheren Ebene war die gesamte Zeit des Kalten Krieges so sehr von dem Gegensatz von Liberalismus und Sozialismus, zweier linker Ideologien, beherrscht, dass der Konservatismus aus dem Weltbild des Normalbürgers hinausdefiniert wurde (übrigens so sehr, dass auch Albrecht Müller mit einer gewissen nervtötenden Penetranz „rechtskonservativ“ sagt, wenn er „extrem neoliberal“ meint – das tut dann schon richtig weh.)

Verschweigen: Welcher Ideologie die veröffentlichte Meinung folgt, lässt sich daran ablesen, mit welchen Themen sie sich nicht beschäftigt und welche Wahrheiten sie nicht ausspricht. Beispiele erübrigen sich – es gibt sie, vom linken wie vom rechten Standpunkt, zuhauf.

Seit den siebziger Jahren wird massive Propaganda zugunsten der Privatisierung bisher öffentlich erbrachter Dienstleistungen gemacht, werden öffentliche Dienstleistungssysteme bewusst kaputtgespart, um ihre dann notwendig geringere Leistung einem angeblichen „Sozialismus“ in die Schuhe zu schieben, so lange, bis sie tatsächlich privatisiert werden (oder, wo das nicht ohne weiteres möglich ist, wie bei den Universitäten, sie strukturell Privatunternehmen weitgehend angelichen werden). Müller weist, m.E. zu Recht, darauf hin, dass die damit erzielten Verbesserungen bestenfalls zweifelhaft waren, die Schäden aber genau dort eingetreten sind, wo sie zu erwarten waren: bei der Verlässlichkeit, der Nachhaltigkeit, der Langfristperspektive und der Zugangsgleichheit. Das fängt bei Kommunikationsdienstleistungen an, setzt sich fort im Bildungsbereich und im Verkehrswesen und hört bei den Medien noch lange nicht auf. Ich werde diesen Aspekt hier nicht vertiefen (und verweise auf das Buch), weil es mir hier ja nicht darum geht, wo die Neoliberalen Recht oder Unrecht haben, sondern wie sie ihre Ideologie unter die Leute bringen.

In diesem Zusammenhang spielt zum Beispiel die Kommerzialisierung der Medien eine Rolle: zum einen durch die Einführung des kommerziellen Fernsehens in den achtziger Jahren, zum anderen dadurch, dass auch die gedruckten Medien mehr und mehr dem Diktat des Shareholder Value unterworfen werden.

Letzteres – dass also kapitalistische Unternehmen naturgemäß auf Deubel komm raus maximalen Gewinn erwirtschaften müssten – wird zwar vielfach für selbstverständlich gehalten, liegt aber durchaus nicht in der Natur der Sache. In der Natur der Sache liegt lediglich, dass solche Unternehmen um jeden Preis die Pleite vermeiden müssen. Wer freilich Gewinnmaximierung anstrebt, wird im Medienbereich dasselbe tun wie in anderen Branchen, nämlich Stellen streichen und auslagern, Löhne und Honorare drücken, zusätzliche Einnahmequellen erschließen. Für die Redakteure, die unter solchem Druck produzieren müssen, ist es ein zweifelhafter Glücksfall, dass es zu jedem Thema vier oder fünf sogenannte oder auch Experten gibt, auf die man arbeitssparend zurückgreifen kann, und die, weil sie normalerweise alle dieselbe Meinung vertreten, keine irritierenden Dissonanzen aufkommen lassen, stattdessen suggerieren, es könne ohnehin bloß eine vernünftigerweise vertretbare Meinung geben, nämlich ihre eigene.

Und dabei ist das noch eine relativ saubere Form von Journalismus, verglichen mit dem Einsatz von Fertigprodukten aus PR-Abteilungen. Publizistische Unabhängigkeit, auch früher schon wegen der Abhängigkeit von Werbekunden ein heikles Thema, wird in dem Maße zur Fiktion, wie man sich von kapitalstarken PR-Anbietern kaufen lässt: Sich die Spalten und Sendeplätze füllen zu lassen und dafür noch Geld zu kassieren – das ist journalistisch das Allerletzte, aber kommerziell der Königsweg.

Und das betrifft nicht nur private Medien: Im „redaktionellen“ Teil der GEZ-Sender spottet das Maß an Werbung, die man längst nicht mehr „Schleichwerbung“ nennen kann, inzwischen jeder Beschreibung! Dass die Orientierung am kommerziellen Erfolg das Ergebnis einer ideologischen Gehirnwäsche ist, die mit ökonomischen Notwendigkeiten nichts zu tun hat, liegt gerade bei diesen Sendern auf der Hand.

Ganz ähnlich sieht es bei den Universitäten aus. Dort hat die Gehirnwäsche schon so weit gefruchtet, dass kaum noch einem aufzufallen scheint, dass der vielgepriesene „Wettbewerb der Universitäten um Drittmittel“ (der Wirtschaft und des Staates) auf nichts anderes hinausläuft als darauf, die wissenschaftliche Unabhängigkeit an den Meistbietenden zu verhökern. Im naturwissenschaftlich-technischen Bereich lässt sich vielleicht noch darüber diskutieren, ob die dadurch möglicherweise erzielbare Orientierung an der praktischen Anwendung auch ihr Gutes hat. Bei den Geistes- und Sozialwissenschaften bedeutet es die Verwandlung von Universitäten in Ideologiefabriken. Wenn zudem noch der Turbo-Master gefordert wird (von Studenten, die bereits das Turbo-Abitur hinter sich haben), dann ist das erwartbare Ergebnis, dass die Bereitschaft und Fähigkeit zu ideologiekritischem Denken (von welchem politischen Ausgangspunkt auch immer) nicht mehr entwickelt wird. Und sie sollen ja auch gar nicht entwickelt werden. (Und nochmal: Neoliberale und linksliberale Ideologien ergänzen einander, sie widersprechen einander nicht! Allenfalls setzen sie unterschiedliche Akzente. Weswegen der Einwand, die Unis seien doch in der Hand der Linken, am springenden Punkt vorbeigeht.)

Kommerzialisierung wirkt also in diesen Bereichen selbstverstärkend: Kommerzialisierte, gewinnmaximierte Medien und Universitäten bringen wie von selbst genau die Ideologie hervor, die ihre eigenen Binnenstrukturen legitimiert; zugleich verlieren sie in dem Maße an Autonomie, wie die Orientierung an nichtwissenschaftlichen bzw. nichtpublizistischen Kriterien zunimmt. Das soziologische Standardmodell einer funktional differenzierten und sich immer weiter differenzierenden Gesellschaft stößt bei der Beschreibung eines solchen Sachverhalts nicht nur an Grenzen: Es führt sogar in die Irre, weil es einen Prozess der systematischen Ent-differenzierung verschleiert, bei dem verschiedene Teilsysteme den Maßgaben derselben leitenden Ideologie unterworfen werden.

Wie aber konnte die neoliberale Ideologie so dominant werden, und wer hat die Kampagnen angeschoben, die eine so nachhaltige ideologische Wirkung gezeitigt haben?

Leider bleibt Müller in seiner Darstellung ganz auf Deutschland fixiert, obwohl die Durchsetzung des neoliberalen Paradigmas ein Prozess war, den man seit den sechziger Jahren in der gesamten westlichen Welt beobachten konnte. Müller erwähnt zwar die „Chicago Boys“, also die Gruppe von Ökonomen um Milton Friedman, aber eine umfassende Darstellung strebt er nicht an.

Umso interessanter ist das, was er über die Rolle der Bertelsmann-Stiftung schreibt, die seit ihrer Gründung in den siebziger Jahren das neoliberale Paradigma verficht. Natürlich ist sie nicht der einzige Akteur auf diesem Gebiet: Wirtschaftsnahe Institute und Lobbyorganisationen mit vergleichbarer Agenda gibt es zuhauf, aber die Bertelsmann-Stiftung liefert – gerade für Politiker als Abnehmer – ganze Fertigpakete: nicht nur eine Ideologie, auch die dazu passenden wissenschaftlichen Studien; nicht nur Studien, sondern auch Handlungsempfehlungen; und zu den Empfehlungen gleich die Strategien zu ihrer Umsetzung; verbunden mit publizistischer Unterstützung für diejenigen Politiker, die sich an diese Empfehlungen des Hauses Bertelsmann halten, das zugleich Eigentümer eines der größten Medienkonzerne der Welt ist. Politiker, die sich darauf konzentrieren wollen, an der Macht zu bleiben, und die zu diesem Zwecke auch politische Inhalte benötigen – als notwendiges Übel sozusagen –, werden bei Bertelsmann zweifellos erstklassig bedient.

Der inzwischen verstorbene Bertelsmann-Gründer Reinhard Mohn hat hier eine Struktur geschaffen, die ganz auf die Verbreitung und gesellschaftliche Durchsetzung seiner Ideologie programmiert ist. Ich weiß nicht, und Müller schreibt nichts darüber, aber ich vermute, dass Springer, Murdoch und Berlusconi in ähnlicher Weise für ihr Nachleben vorgesorgt haben. In jedem Fall ist es auffällig, wie gering die Anzahl der Großakteure ist, die hier eine Rolle spielen.

Wenn man mit so viel Medienmacht erst einmal eine ganz bestimmte Sicht der Welt als dominant etabliert hat, kommt es wie von alleine zur Selbstgleichschaltung der nicht konzerngebundenen Medien und von Politikern, die eigentlich für die Unterstützung einer anderen, z.B. linken oder konservativen Agenda gewählt wurden. Wer möchte sich schon nachsagen lassen, die Zeichen der Zeit nicht erkannt zu haben. Wenn die Bejahung einer bestimmten Ideologie – sprich: die Bereitschaft und Fähigkeit, mit einer gewissen urbanen Lässigkeit alles abzulehnen, was der Normalbürger für selbstverständlich hält – über die Zugehörigkeit zur Elite entscheidet, dann werden anderslautende Prinzipien schnell zu etwas Lästigem, das man höchstens noch zur Täuschung der Wähler benötigt.

(Ob man wirklich dazugehört, steht freilich auf einem anderen Blatt. Gerhard Schröder jedenfalls erfuhr erst im Frühjahr 2005 durch den plötzlichen Schwenk jener Blätter, die ihn bis dahin unterstützt hatten, dass er bloß der nützliche Idiot gewesen war, der den Boden für eine neoliberale Reformpolitik hatte bereiten sollen. Nachdem das erledigt war, war er plötzlich jener Mohr, der seine Arbeit getan hatte. Der Mohr konnte gehen.)

Und man glaube nicht, das diese Form von Korruption durch Eitelkeit nur auf der Linken funktioniert. Der linke Politiker, der sich nicht dabei erwischen lassen möchte, von Klasseninteressen oder Solidarität zu sprechen, weil das rückständig wäre, findet seine rechten Gegenstücke in gewissen Leuten, die sich nicht dabei erwischen lassen möchten, noch an die Existenz von Völkern zu glauben, und die uns deshalb in der „Sezession“ oder der „Jungen Freiheit“ die neoliberale „Wahrheit“ unterzujubeln versuchen, dass Masseneinwanderung unvermeidlich sei.

Ich bin mit Müller selbstredend nicht in jedem Punkt einverstanden; mir scheint auch, dass er die Möglichkeiten eines spezifisch sozialistischen Politikansatzes deutlich überschätzt – aber wer weiß? Ich bin im Gegensatz zu ihm kein Makroökonom, und vielleicht bin ich selbst ein Opfer neoliberaler Meinungsmache? Ich finde jedenfalls, man sollte seine eigenen Meinungen von Zeit zu Zeit darauf abklopfen, ob sie auch wirklich die eigenen sind. Womöglich vertritt man sie nur, weil „Alle“ sie vertreten, insbesondere die „Eliten“, und die müssen es ja wissen, nicht wahr?

Müller empfiehlt, wie ich selbst auch, die Übermacht der Meinungsmacher durch Nutzung des Netzes zu konterkarieren, und unterhält zu diesem Zweck die NachDenkSeiten. Sein Buch ist ungeachtet einiger Schwächen gerade für Konservative lesenswert: weil man manche Sachverhalte klarer sieht, wenn sie einmal nicht anhand der eigenen Lieblingsthemen erläutert werden; und weil man gerade an der Auseinandersetzung mit sozialistischen Positionen merken kann, wie sehr man unter Umständen selber auf der Basis von neoliberalen Annahmen argumentiert, die man nicht wirklich kritisch überprüft hat.

 

 

 

 

Kriegsenkel – Eine Generation am Scheideweg

Die Ursache für die linke Hypermoral ist psychologischer Natur: Aufgewachsen in traumatisierten Familien bilden die „Kriegsenkel“ eine Generation von Muttersöhnchen, die ihre Unsicherheit mit aggressivem Konformismus kompensieren. Die Zukunft Deutschlands hängt davon ab, ob sie endlich erwachsen werden.

Der Abstieg der Linken hat viele Gründe. Nicht der unbedeutendste ist ihre Neigung, jeden herausragenden Kopf abzuschlagen und jeden Intellektuellen zu exkommunizieren, dessen Gedanken in der linken Szene Pawlowsche Bell- und Beißreflexe auslösen.

Da die – meist rechte – Opposition wiederum neue und zukunftsweisende Ideen nur so aufsaugt und solchen Denkern ein interessiertes Publikum bietet, gewinnen ihre Diskurse eine Klasse, die der Linken schon lange abhanden gekommen ist. Die geistige Sterilität, der Konformismus und das Denunziantentum links der Mitte sind das folgerichtige Ergebnis eines selbstverschuldeten und sich selbst verstärkenden osmotischen Prozesses: In dessen Verlauf diffundieren Kreativität und intellektuelles Format nach rechts, während Konformismus und geistige Zweitklassigkeit sich auf der Linken derart anreichern, dass sie bereits zum linken Markenkern gehören.

Seelische Trümmerfelder

Raymond Unger, Die Wiedergutmacher, Das Nachkriegstrauma und die Flüchtlingsdebatte, Europa Verlag 2018, 416 Seiten, 24,90 €

Der Berliner Maler Raymond Unger, bisher wohletabliert in linksliberalen Künstlerkreisen, ist eines der jüngsten Opfer der linken Exkommunikationsmechanismen. Nach jahrelanger Beschäftigung mit den seelischen Defiziten der Generation der Kriegsenkel hat er mit seinem Buch „Die Wiedergutmacher – Das Nachkriegstrauma und die Flüchtlingsdebatte“ ein Tabu gebrochen. Nicht das Kriegsenkelthema als solches ist neu, eher schon der Bogen, den er zwischen diesen Defiziten und dem existenzgefährdenden politischen Missmanagement unseres Landes schlägt, in dem gerade diese Generation (etwa die Jahrgänge 1955-1975) die Schaltstellen besetzt. Diesen Zusammenhang hatte bis dahin fast nur Gabriele Baring („Die Deutschen und ihre verletzte Identität“) thematisiert. Mit Unger ist ein Mann hinzugekommen, der aus dem politisch korrekten Juste Milieu stammt, und seit 2018 mit zwei weiteren Büchern zur Lage und Seelenlage der Nation von sich reden gemacht hat: „Vom Verlust der Freiheit“ und „Das Impfbuch“.

Ungers Analyse könnte der Linken zu denken geben, denn in ihrer panischen Flucht vor den eigenen Lebenslügen spielt die Linke der Opposition ein Thema von besonderer Brisanz zu – ein Thema, das Unger überzeugend entfaltet:

Die Inkompetenz der Kriegsenkelgeneration hat etwas mit seelischen Verwüstungen zu tun, die noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammen und an sie nur vererbt wurden. Während die materiellen Schäden nach dem Krieg zügig beseitigt wurden, gleichen viele Seelen immer noch Trümmerfeldern, die erst seit rund zwanzig Jahren vermessen werden:

Bücher wie das von Sabine Bode über „Die vergessene Generation“ und Filme wie der von Andreas Fischer über den „Hamburger Feuersturm 1943“ und seine Nachwirkungen verbreiteten die Erkenntnis, dass Kriegserlebnisse wie Bombardierungen, Vertreibung, Fronterlebnisse, Vergewaltigungen, Gefangenschaft oder politische Verfolgung nicht nur die damals Erwachsenen traumatisierten, sondern auch deren Kinder. Und diese Generation von „Kriegskindern“ gab ihre eigenen unverarbeiteten Traumata ihrerseits an die eigenen Kinder weiter – die Kriegsenkel.

Kriegsenkel haben oft Eltern, deren Weltvertrauen bereits in der Kindheit durch massive Gewalterfahrungen erschüttert wurde, und zu deren prägenden Erfahrungen die Abwesenheit der Väter gehört, die an der Front oder in Gefangenschaft waren und gar nicht oder schwer traumatisiert zurückkehrten. Viele dieser Kinder wurden von ihren überforderten Müttern in eine Verantwortung gezwungen, der sie nicht gewachsen sein konnten. Lebenstüchtig wurden viele von ihnen durchaus, aber um einen Preis, den wiederum ihre eigenen Kinder zu bezahlen hatten.

Die Kriegsenkel

Die verdrängten, nie geheilten frühen Verletzungen machten viele dieser Eltern unfähig, zu ihren Kindern emotional offene Beziehungen aufzubauen. Manche jungen Väter flüchteten in die Arbeit, in Hobbys, in Liebschaften oder in den Alkohol, nur weg von der Familie. Mütter suchten unbewusst bei ihren Kindern die Zuwendung, die sie von den Eltern nicht bekommen hatten und vom Partner nicht bekamen. Folgerichtig stiegen Anzahl wie Quote der Ehescheidungen von 1960 an bis in die frühen 2000er Jahre hinein rapide an und sinken erst seit etwas mehr als zehn Jahren wieder.

Was unter diesen Umständen heranwuchs, war eine zutiefst verunsicherte Generation. Sie hatte Mühe, sich aus der ungesunden Abhängigkeit von Müttern zu lösen, die ihnen auf einer subtilen, unbewussten Ebene die Botschaft vermittelt hatten: „Du, Kind, bist für mein Glück verantwortlich.“ Der moderne Habitus dieser Elterngeneration war oft nur ein dünner Firnis, der aber die Manipulation undurchschaubar machte und die Kinder in der ihnen zugedachten Rolle festhielt.

Dass viele Eltern dieser Generation auch noch die Bindung ihrer Kinder an die Großeltern, überhaupt die Herkunftsfamilie und sogar das eigene Volk untergruben, hatte wenig mit „Vergangenheitsbewältigung“ zu tun, wie der Achtundsechziger-Mythos heute noch glauben machen will. Die Kinder sollten vielmehr für ihre Eltern – und nur für die Eltern! – da sein, speziell für die Mütter, von denen manche ihren natürlichen Konkurrenzvorteil dazu missbrauchten, den Vater aus der Familie zu drängen, um die Kinder für sich allein zu haben.

So wuchsen die Kriegsenkel heran – nicht alle, aber viele: Verstrickt in ein System von Doppelbindungen („Du darfst tun, was du willst; du musst tun, was ich will; du darfst nicht leugnen, dass beides dasselbe ist!“), ausgestattet mit einer ihnen aufgedrängten fiktiven Autonomie, ohne eine Vorstellung davon, was ein gelungenes Leben sein könnte, weil ihre Eltern selbst keines gelebt hatten, und ohne ihren eigenen Willen von dem ihrer Mütter unterscheiden zu können. Sie stolperten in ein Leben hinaus, das sich nicht selten durch häufigen Berufswechsel, Alkohol- und Drogenprobleme, prekäre finanzielle Verhältnisse, wechselnde (Ehe-)Partner und problematische Beziehungen zu ihren eigenen Kindern auszeichnete. Und durch eine politische Ideologie, die all dies schönredete.

Generation Nice Guy

Auch politisch waren und blieben die Kriegsenkel nämlich fremdgesteuerte Stellvertreter ihrer Elterngeneration, der Kriegskinder, zu der auch die in den 1940er Jahren geborenen Achtundsechziger gehörten. Von ihnen übernahmen sie die Themen, die Ideologie, auch die selbstheroisierenden Mythen. Der „Kampf gegen Rechts“, also gegen imaginäre Nazis, ist ein Kampf, den die heute Fünfzigjährigen sich als vermeintlich eigene Angelegenheit unterjubeln ließen, obwohl es sich um einen Krieg ihrer Eltern gegen die Großeltern handelte.

Wer sich die Physiognomien typischer Vertreter dieser Generation ansieht – in willkürlicher, beliebig fortsetzbarer Aufzählung etwa Christian Wulff, Johannes B. Kerner, Gerhard Delling, Peter Altmaier – erkennt unschwer das eigentümlich „Nette“, Weiche, Unreife und Unmännliche dieser Generation. Es sind brave Bubis, die ihrer Mama gefallen wollen. Dass manche von ihnen ihre Kanzlerin ausgerechnet „Mutti“ nennen, ist mehr als ein sprechendes Detail.

Diejenigen Kriegsenkel, die Karriere gemacht haben und die Geschicke unseres Landes kontrollieren, sind – entgegen dem Anschein – nicht etwa der Antityp zu den in ihrer Generation so häufigen Studienabbrechern und gescheiterten Existenzen. Sie sind selbst Gescheiterte, und dies nicht nur bei dem Versuch, stabile Familien zu gründen. Die innere Verunsicherung, die für ihre ganze Generation charakteristisch ist, kompensieren sie durch einen Konformismus von grotesken Ausmaßen, der sie unfähig macht, eine vom Mainstream abweichende Meinung zu tolerieren, geschweige denn zu erwägen. Sie sind demokratieunfähig. Sie können sich von der Masse selbst dann nicht lösen, wenn die offenkundig auf Katastrophen zusteuert: Mit einer solchen Mentalität kann man persönlich aufsteigen, aber kein Land führen. Es ist die Tragik der Zweiten Republik, dass gerade solche Menschen in ihren Institutionen Karriere machen. Ihre eigene Psyche haben sie mit Ach und Krach stabilisiert – allerdings um den Preis der Destabilisierung des Landes.

Dabei gibt es durchaus Kriegsenkel, die sich mit ihren Lebenslügen (und denen ihrer Eltern) auseinandersetzen und das Erwachsenwerden nachholen – als Vierzig-, Fünfzig- oder sogar Sechzigjährige haben sie jetzt die letzte Chance dazu. Es sind sogar so viele, dass man sie getrost eine Bewegung nennen kann.

Unglücklicherweise droht ein Teil dieser Bewegung jedoch dem Sirenenklang einer trügerischen Selbstheroisierung zu folgen. Der Tenor geht etwa so: „Ja, man hat uns Hypotheken auferlegt, ja, viele von uns sind in ihrem persönlichen Leben daran fast gescheitert, ja, wir haben einen schmerzhaften Prozess der Selbsterkenntnis hinter uns. Aber gerade dies hat uns zu Bannerträgern einer künftigen besseren Welt und unser Land mit seiner Willkommenskultur zum Vorbild für die Menschheit heranreifen lassen.“

Es versteht sich, dass diese Denkfigur erst ab der Grenzöffnung 2015 aufkam und popularisiert wurde. Verständlich, dass manche der Verlockung erlagen, den Verwüstungen in ihren Seelen nachträglich einen quasi religiösen Sinn zu verleihen. Mit Selbsterkenntnis, mit der Erringung von Autonomie, mit Erwachsenwerden aber hat dieses Schönreden der eigenen Komplexe gerade nichts zu tun. Ganz im Gegenteil: Was als gesunde Aufklärung über die eigenen verborgenen Handlungsmotive begann, mündet auch diese Art und Weise erneut in eine entfremdete Selbststilisierung, die einen gerade außerstande setzt, die Pathologien zu durchschauen, an denen die Gesellschaft genauso krankt wie man selbst.

Die politischen Themen, entlang denen die Front zwischen Establishment und Opposition verläuft, gewinnen an Klarheit und Tiefenschärfe, wenn man die ihnen zugrundeliegende Psychologie einer verstörten Generation berücksichtigt. Diese Generation steht an einem Scheideweg, von dem möglicherweise die Zukunft der Nation abhängt.

 

[Dieser Artikel erschien erstmals in Compact 02/2019; er wurde für die Neuveröffentlichung geringfügig überarbeitet.]

 

Jürgen Elsässer: Ich bin Deutscher. Wie ein Linker zum Patrioten wurde (Rezension)

Was ist eigentlich links, was rechts? Noch in den siebziger und achtziger Jahren war diese Frage relativ leicht zu beantworten. Linkssein hieß so viel wie „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“ Heute bedeutet es das Gegenteil:

Jürgen Elsässer: Ich bin Deutscher. Wie ein Linker zum Patrioten wurde. ca. 580 Seiten, € 24,95

Wer heute als „links“ gelten will, darf das Wort „Volk“ nicht mehr in den Mund nehmen (weil das „völkisch“ sei), darf das globale Finanzkapital nicht kritisieren („Antisemitismus!“), muss strikte Zensur gegen Kritiker der herrschenden Klasse und Kriege gegen die Widersacher des amerikanischen Imperiums befürworten und jeden noch so dreisten und noch so totalitären Übergriff des herrschenden Machtkartells gegen die Bürger und Völker, gegen den Frieden und die verfassungsmäßige Ordnung gutheißen.

In einer Situation, in der die Existenz einer herrschaftskritischen Linken nötiger wäre als je zuvor, hat das herrschende Kartell den linken Mainstream kooptiert und korrumpiert: handfest durch Posten, Pöstchen und Subventionen, in subtilerer Weise dadurch, dass er dem unhinterfragten Utopismus der Linken passende Spielwiesen zur Verfügung stellt („multikulturelle Gesellschaft“) und ihre apokalyptischen Sehnsüchte nach Endschlachten („Last Generation“) und Feindbildern („Kampf gegen Rechts“) bedient.
Dass unter diesen Umständen ehemalige Linke scharenweise von der roten Fahne abfallen, liegt somit in der Natur der Sache. Einer der wortgewaltigsten und wirkmächtigsten von ihnen, nämlich der Compact-Herausgeber und Chefredakteur Jürgen Elsässer (65), hat nunmehr einen ebenso kurzweiligen wie erhellenden Lebensrückblick vorgelegt

Thorsten Hinz: “Der Weizsäcker-Komplex”

Für die meisten Deutschen verkörpert Richard von Weizsäcker zweifellos das Ideal eines Bundespräsidenten, und in der Tat hat keiner seiner Vorgänger oder Nachfolger die Bundesrepublik auch nur annähernd mit dem Stilgefühl und der royalen Aura repräsentiert, die für Weizsäckers’ Habitus charakteristisch waren und sind. Weizsäcker hat die heimliche Sehnsucht nach einem Monarchen befriedigt, zu dem man aufschauen kann – und zwar so sehr, dass Kritik an ihm vielen Menschen buchstäblich als Majestätsbeleidigung erscheinen muss. Thorsten Hinz hat mit “Der Weizsäcker-Komplex. Eine politische Archäologie” (Edition JF, Berlin 2012, 353 S., € 24,80) eine der ersten kritischen Würdigungen des ehemaligen Bundespräsidenten vorgelegt und ihn dabei ein wenig entzaubert. […]

Weiterlesen bei PI: Thorsten Hinz: “Der Weizsäcker-Komplex” – Politically Incorrect.

Schriftenreihe der Gustav-Stresemann-Stiftung

Die liberale Gustav-Stresemann Stiftung

(Nein, das Wort „liberal“ ist in diesem Zusammenhang keine Beleidigung. Ich würde es vorziehen, sie „libertär“ zu nennen, aber ich möchte Menschen nicht in den Rücken fallen, die darum kämpfen, den ehrwürdigen Begriff „liberal“ einem „liberalen“ Mainstream zu entreißen, in dessen Händen der Liberalismus längst zu einem linksutopistischen, einem totalitären Projekt verkommen ist.)

Felix Strüning
Die liberale Gustav-Stresemann-Stiftung also, geleitet von Felix Strüning, der nach einem Zwischenspiel bei der Partei „Die Freiheit“ als Publizist auf eigene Faust weitermacht, gibt unter dem Titel „Freiheit & Verantwortung“ eine Schriftenreihe heraus, deren erste beiden Bände nunmehr erschienen sind.

Jeroen Zandbergs „Die Politik der Freiheit“ ist eine fulminante Abrechnung mit linken Lebens- und Propagandalügen, die der Autor in einem wahren Kritikstakkato regelrecht zerfetzt. Dabei wird deutlich, wie sehr der egaltiäre und demokratische Anspruch der Linken der Bemäntelung elitärer Herrschaftsinteressen dient. Eine intelligente Streitschrift, bei der Zandberg die heiligen Kühe des Liberalismus genauso wenig schont wie die der Linken. Eine vergnügliche und gewinnbringende Lektüre.

Band 2 der Schriftenreihe, „Der Islam und der Westen“ versammelt Interviews, die Strüning selbst in den vergangenen Jahren mit einer ganzen Reihe von Islamkritikern geführt hat, darunter auch mit mir. Was dabei deutlich wird: Wenn es auch den Islam gibt – die Islamkritik gibt es nicht. Islamkritik kann von sehr verschiedenen ideologischen und Interessnstandpunkte geübt werden; aus der Sicht des Patrioten wie aus der des Globalisten, aus der des Deutschen wie aus der von muslimischen Migranten; von einem liberalen wie von einem linken oder konservativen Standpunkt. Der gemeinsame Nenner ist, dass man den Islam als Problem sieht; sonst verbindet die Interviewpartner wenig. Im einzelnen sind die Interviews hochinformativ, insgesamt stellen sie ein breites Panorama dar.

Felix Strüning: Rezension zu Kleine-Hartlage, „Warum ich kein Linker mehr bin“

Felix Strüning schreibt in Citizen Times über mein Buch „Warum ich kein Linker mehr bin“:

Sein erstes Mal war, wie es sich für einen Noch-Muslim anfühlen muss, wenn er erstmals in Schweinefleisch beißt: Es kostete ganz viel Mut, aber dann war es wunderbar! So beschreibt der Sozialwissenschaftler Manfred Kleine-Hartlage (Das Dschihadsystem) seinen Abfall vom Glauben an die linke Ideologie, seine Wendung von der Utopie hin zur Realität. Warum ich kein Linker mehr bin, ist nicht das erste autobiografische Buch von einem, der ins bürgerliche Lager wechselte. Wohl aber eines der intellektuell am überzeugendsten. Der Leser hat nicht so viel Spaß wie bei Jan Fleischhauer (Unter Linken) oder den bissigen Büchern Henryk M. Broders. Dafür ist nach gut 80 überschaubaren Seiten bereits alles Wichtige gesagt – denn Kleine-Hartlage versteht es wie kaum ein anderer, die Sachen auf den Punkt zu bringen.

Die Motivation für ein solches Buch sei zum einen, „geborenen Konservativen“ einen Einblick in das für sie unvorstellbare Innenleben eines Linken zu gewähren und zum anderen, um seinen Ex-Genossen den Weg aus dem linken Dilemma aufzuzeigen. 1 Denn er hoffe, so Kleine-Hartlage, dass das permanente Denktraining zur Verteidigung der linken Luftschlösser wie bei ihm auch bei anderen dazu führe, dass „man dann so klug [werde], daß man aufhören muss, links zu sein.“ […]

[zum Weiterlesen hier klicken!]

Martin Lichtmesz: „Die Verteidigung des Eigenen“

Martin Lichtmesz‘ Essays sind ein Lesegenuss ersten Ranges. Es gibt nur wenige politische Essayisten in Deutschland, die die Lage der Nation in solcher Zuspitzung und zugleich solcher stilistischer Klasse auf den Punkt zu bringen verstehen.

Sein neues Buch, „Die Verteidigung des Eigenen. Fünf Traktate“, erschienen in der Reihe Kaplaken, enthält fünf seiner besten Essays:

  • Die Verteidigung des Eigenen
  • Über die Vielfalt
  • Über die verschleppte Gewalt
  • Die Totgesagten
  • Unsichtbare Gegner

Auch dies ein Buch zum Verschenken. Als Appetithäppchen ein Zitat aus „Die Verteidigung des Eigenen“. Nachdem er sich unter Bezugnahme auf Frantz Fanon („Die Verdammten dieser Erde“) mit Kolonisierung und Identität auseinandergesetzt hat – Fanon legte großen Wert auf seine nègrerie, sein Negertum -, kommt die Pointe:

Natürlich war der Deutsche seit 1945 soetwas wie der Neger Europas, den man erst gewaltsam an den Ohren ziehen und der Barbarei entwöhnen mußte, um ihn in die Gemeinschaft der zivilisierten Völker einzugliedern, eine Aufgabe, die die Träger der „Bürde des Liberalismus“ heroisch auf sich genommen hatten, wie es eben ihr Job war und ist. Wir danken ihnen noch heute in Washington und Moskau dafür, daß sie den Drachen erschlagen haben, der wir einst selbst waren. Aber man kann dem per Versailles und Dresden zwangsdemokratisierten Deutschen eben nicht über den Weg trauen, man kann nie wissen, ob unter der kosmopolitischen Maske nicht immer noch der alte schwarze Buschneger lauert, der dann eben Nazi heißt, und der wie einst der scheinromanisierte Arminius nur darauf wartet, wieder sein Beil zu zücken. Das liefert natürlich den praktikablen Vorwand, die Zuchtrute und den Nasenring immer parat zu halten. Das Geschichtsbewußtsein des Deutschen wird dabei möglichst um seine Negervergangenheit herum gruppiert, weniger, damit er aufhört, Neger zu sein und nie wieder zum Neger wird, sondern vielmehr, um ihn immer daran zu erinnern, daß er aufgrund seines latenten Negertums einer ständigen erzieherischen Überwachung bedarf.

Fjordman: „Europa verteidigen“ – eine Vorschau

Martin Lichtmesz und ich geben in der Edition Antaios unter dem Titel „Europa verteidigen“ einen Sammelband mit zehn der wichtigsten Essays von Peder Jensen, besser bekannt als Fjordman, heraus. Damit erscheint erstmals ein Fjordman-Band in deutscher Sprache.

Das Projekt befindet sich auf der Zielgeraden (Das Buch erscheint voraussichtlich am 30. Oktober), und ich kann jetzt schon sagen, dass es uns gelungen ist – der Herr bewahre mich vor der Eitelkeit -, eine vorzügliche Einführung in den konservativen Antiglobalismus zusammenzustellen. Man kann wohl kaum überschätzen, wie sehr gerade Fjordman mit seiner gedanklichen und sprachlichen Kraft dazu beigetragen hat, die konservative Islam-, Kultur- und Globalismuskritik (dies auch die drei Schwerpunkte, um die sich die Aufsätze in dem Buch gruppieren) zuzuspitzen und zu einem kohärenten Ganzen zu formen. Mir selbst ist bei der Arbeit an „Europa verteidigen“ erst so richtig bewusst geworden, wie wiele Anregungen ich Fjordman verdanke.

Ein – wie immer hervorragender – langer Essay von Martin Lichtmesz rundet den Band ab und wäre allein schon den halben Preis wert. Hiermit verdonnere ich jeden meiner Leser, mindestens zehn Stück zu bestellen, allen Freunden, Verwandten und Bekannten unter den Weihnachtsbaum zu legen und selbstredend auch auf dem eigenen Blog (falls vorhanden), dazu auf Twitter, Facebook, StudiVZ, in Kommentarsträngen, wo auch immer, dafür zu werben. Wir müssen davon ausgehen, dass die Mainstreammedien das Buch ignorieren werden; es liegt an uns, an uns allen, nicht nur an den Herausgebern und der Edition Antaios, unsere Gedanken, die in „Europa verteidigen“ so prägnant auf den Punkt gebracht sind, unter die Leute zu bringen.

(Zur Bestellseite hier klicken.)

Als Appetithäppchen ein Auszug aus meinem Vorwort:

„Bis zum 22. Juli 2011 waren der Name „Fjordman“ und die unter diesem Pseudonym verfaßten Essays nur wirklichen Kennern ein Begriff, ein Geheimtip für Menschen, die der täglichen ideologischen Gehirnwäsche durch die Massenmedien überdrüssig waren. Die nach Antworten auf die Fragen suchten, die sich Jedem aufdrängen, der feststellt, daß die Themen des sogenannten öffentlichen Diskurses nichts mit den wirklichen Problemen unserer Gesellschaft zu tun haben, und daß das, was man uns als „Wahrheit“ zu glauben zumutet, nicht mit den eigenen täglichen Beobachtungen in Einklang zu bringen ist:

Ist es so, daß Masseneinwanderung die Völker Europas in irgendeinem vernünftigen Sinne des Wortes „bereichert“? Ist die Religion, der die meisten dieser Einwanderer anhängen – der Islam – wirklich eine „Religion des Friedens“, wo doch der Augenschein eher eine starke islamische Tendenz zu Gewalttätigkeit und Intoleranz nahelegt? Und wenn dieser Augenschein zutrifft, welche Folgen muß die Masseneinwanderung gerade von Muslimen nach Europa für die Stabilität des Kontinents mit sich bringen? Wenn ihre Kultur mit unserer unvereinbar zu sein scheint, was macht eigentlich den Kern und das Wesen dieser unserer eigenen Kultur aus? Warum soll es „rassistisch und fremdenfeindlich“ sein, sie bewahren zu wollen und sich ihrer Auflösung zu widersetzen? Warum wird eben dies von den meinungsbildenden Eliten behauptet? Welche Interessen und welche Ideologie vertreten diese Eliten, und sind sie mit den Wünschen und Ideen ihrer Völker vereinbar? Warum forcieren sie Einwanderung, wenn sie doch von einer Mehrheit abgelehnt wird? Warum treten sie immer mehr nationale Befugnisse an die EU ab, obwohl die Völker das nicht wollen? Warum behaupten sie gar, so etwas wie Völker gebe es gar nicht, Kulturen erst recht nicht, auch die Religionen wollten alle dasselbe, und selbst der elementare Unterschied von Mann und Frau sei nicht mehr als ein „Konstrukt“ im Sinne von „Illusion“? Warum also legen sie ihrer Politik Ideen zugrunde, deren Absurdität jedes Kind durchschauen muß? Warum verleumden und kriminalisieren sie ihre Kritiker, statt sich mit deren Kritik auseinanderzusetzen? Und wie hängen all diese Merkwürdigkeiten miteinander zusammen?

Daß es einen solchen Zusammenhang geben muß, erschließt sich nahezu Jedem, der einmal beginnt, sich auf solche Fragen einzulassen, und feststellt, daß jede Teilantwort neue Fragen nach sich zieht, und deren Beantwortung wiederum neue Fragen. Ein solcher Erkenntnisprozeß ist erregend und beängstigend zugleich: Man wird immer mehr gewahr, daß das, was man mit einer gewissen Selbstverständlichkeit für „wahr“ gehalten hat, bestenfalls eine ideologische Wahrheit ist; daß sich hinter der Welt, die die Medien uns malen, eine andere, häßlichere verbirgt; daß die meisten Menschen in einer illusionären Ideologie befangen sind; daß diese Ideologie wie eine halluzinogene Droge wirkt, die uns den Blick auf eine Wirklichkeit verwehrt, die uns eines Tages mit verheerender Wirkung heimsuchen, dann aber nicht mehr zu ändern sein wird.

Solche Erkenntnisprozesse verlaufen langsam und bleiben fruchtlos, solange sie nur im Kopf des Einzelnen stattfinden, nicht verbreitet, nicht im Feuer der Kritik gehärtet und nicht systematisch durchdacht werden. Diese systematische Durchdringung und Verbreitung ist das Werk von Intellektuellen wie Fjordman, der noch vor zwanzig Jahren außer in einem „Privatdruck für Freunde“ keine Chance bekommen hätte, seine Ideen öffentlich zu äußern. Das Internet hat eine Gegenöffentlichkeit hervorgebracht, die sich der Kontrolle durch das zentralisierte Mediensystem weitgehend entzieht. Wenn der Begriff des „herrschaftsfreien Diskurses“ überhaupt einen Sinn hat, dann im Netz und durch das Netz.

Mehr als jeder andere vergleichbare Denker ist Fjordman, den man bis Juli 2011 nur unter diesem Pseudonym kannte, ein Internetphänomen. Er begann im Jahr 2005 zu bloggen, hat seitdem in hunderten von Essays Bahnbrechendes geschrieben und gehört ohne Zweifel zu den Vordenkern der Counterjihad-Szene, die sich im Internet um Blogs wie „Gates of Vienna“ und „The Brussels Journal“ gruppiert.

Islamkritik ist eines der zentralen Themen, die dort diskutiert werden, aber nicht das einzige. Vielmehr haben gerade die Essays von Fjordman dazu beigetragen, die Bedrohung des Westens durch den Islam in einen breiten Kontext kultur- und gesellschaftskritischer Betrachtungen zu stellen, die herrschende Ideologie dadurch zu dekonstruieren und die Debatte auf ein Niveau zu heben, von dem weite Teile der deutschen islamkritischen Szene immer noch weit entfernt sind.

Hierzulande nämlich artikuliert Islamkritik sich noch vor allem im Rahmen eines rechtsliberal-globalistischen Paradigmas, das … den Islam insbesondere wegen seiner Frauenfeindlichkeit, seines Antisemitismus, seines theologischen Fundamentalismus, seiner Demokratiefeindschaft und Gewaltneigung, kurz: seiner offensichtlich illiberalen und totalitären Ausrichtung kritisiert. So richtig und notwendig diese Kritik ist (und so sehr sich diejenigen blamieren, die etwa PI ungeachtet seiner liberalen Werteorientierung als „rechtsradikal“ diffamieren): Sie blendet aus, wie sehr nicht erst der Islam, sondern bereits Masseneinwanderung schlechthin ein Problem darstellt; daß der Dschihad primär nicht durch ideologische Unterwanderung, sondern durch ethnische Verdrängung geführt wird; daß demgemäß die Verteidigung des Eigenen Dreh- und Angelpunkt jeder Anti-Islamisierungsstrategie sein muß; daß die Masseneinwanderung Teil eines One-World-Paradigmas ist, dem die herrschenden Eliten aller westlichen Länder folgen; daß dieses Paradigma seinerseits in liberaler und linker Ideologie verwurzelt und die drohende Islamisierung Ergebnis eines amoklaufenden Liberalismus ist, den man schwerlich mit noch mehr Liberalismus bekämpfen kann; daß der Vormarsch des Islam Ausdruck einer tödlichen kulturellen Krankheit des Westens ist; daß man daher von einem liberalen Standpunkt wohl den Islam kritisieren, aber nicht die Islamisierung bekämpfen kann.

(…)

International, wie gesagt, ist die Debatte schon viel weiter. Das Paradigma des Kampfes der Kulturen zwischen dem Westen und dem Islam wird mehr und mehr abgelöst von dem des Kampfes der Völker gegen ihre globalistischen Eliten und deren Weltverschmelzungsutopien. Es schält sich heraus, daß diese Völker Opfer nicht nur eines gigantischen Menschenversuchs sind, sondern auch eines Klassenkampfes von oben.

Daß dieser herrschaftskritische und insofern geradezu linke und revolutionäre Aspekt des konservativen Antiglobalismus auch die Gefahr in sich birgt, Menschen auf den Plan zu rufen, die die herrschende Klasse mit Gewalt beseitigen zu müssen glauben, liegt auf der Hand. Wenig überraschend ist auch, daß die journalistischen Sachwalter der Interessen eben jener Klasse die Gelegenheit beim Schopf packten, die sich ihnen bot, als der Terrorist und Amokläufer Anders Breivik zuerst eine Bombe im Regierungsviertel von Oslo zündete und anschließend Dutzende von jugendlichen Teilnehmern eines sozialistischen Feriencamps ermordete. (…) Medien und Politik waren … mit Schuldzuweisungen schnell bei der Hand. Ohne im Mindesten auf seine Thesen und Argumente einzugehen, stempelte sie Fjordman zum „Haßblogger“, der für die Tat eines offensichtlich persönlichkeitsgestörten Einzelgängers verantwortlich sein sollte. Dieselben Leute, die sich standhaft weigern, die weltweit rund siebzehntausend muslimischen Terroranschläge der letzten zehn Jahre mit dem Islam in Verbindung zu bringen, dieselben Leute, für die die historisch beispiellose Blutspur des Marxismus nie ein Grund gewesen war, ihre eigene linke Ideologie zu hinterfragen, meinten nun, aus der Mordtat eines Breivik die ultimative Waffe gegen die Rechte im Allgemeinen und die Ideen Fjordmans im Besonderen schmieden zu können und zu dürfen.

Gewiß gibt es eine Verantwortung des Intellektuellen: Mit dem Wort gilt es umsichtig und gewissenhaft zu hantieren, es kann Dynamit sein. Man wird dieser Verantwortung aber nicht dadurch gerecht, daß man Wahrheiten verschweigt oder gar lügt. Wer sieht, daß sich unsere Zivilisation einem Abgrund nähert, muß – gewiß nach Abwägung aller Zweifel und bei größter Sorgfalt der Formulierung – diese Wahrheit aussprechen. Wer den Untergang des eigenen Volkes lieber in Kauf nimmt als die Gefahr, von gewalttätigen Revoluzzern mißverstanden zu werden, handelt gerade nicht verantwortungsvoll, sondern gewissenlos.

(…)

Unser Dank gilt neben Fjordman, der diesem Sammelband gerne zustimmte, den Übersetzern, die Wert auf ihre Anonymität legen und daher auch in diesem Buch nur mit ihren Netzpseudonymen Eisvogel, Deep Roots, Thatcher und Before Dawn genannt werden.“

 

Ach ja, und noch etwas: Fjordman hat seinen Job verloren, nachdem er seine Anonymität gelüftet hat. Bitte spendet für ihn über den Vlad-Tepes-Blog. Hier klicken!

Erik Lehnert/Karlheinz Weißmann: „Staatspolitsches Handbuch Bd. 2: Schlüsselwerke“

Auf die Frage, warum linke Ideologie in westlichen Gesellschaften so dominant ist, gibt es eine ganze Reihe von Antworten. Ein Schlüsselelement der linken Strategie jedenfalls ist es, die Multiplikatorpositionen zu besetzen, also die Segmente der Gesellschaft zu beherrschen, wo Ideologie produziert und an den Mann gebracht wird. Dazu gehören speziell Medien, Universitäten, Schulen und Kirchen. Von dort aus bekämpfen sie nichtlinke Positionen nicht etwa mit Argumenten, sondern durch Totschweigen. Es soll gar nicht erst irgendeiner auf die Idee kommen, dass intelligente Menschen rechts sein könnten.

Die Folge dieser Strategie ist durchaus im Sinne ihrer Erfinder, nämlich dass konservatives Gedankengut gesellschaftlich überhaupt nicht präsent ist. Wenn ein flacher liberaler Technokrat wie Roland Koch für sich in Anspruch nimmt zu definieren, was Konservatismus ist, und nicht dafür ausgelacht wird; wenn überhaupt die CDU als „konservativ“ gilt; wenn die katholische Kirche (oder was in Deutschland noch substanziell davon übrig ist) nicht einmal begreiflich machen kann, warum bestimmte Positionen nicht zur Disposition stehen können, dann kann man daran erkennen, wie sehr linke Ideologie sich als Selbstverständlichkeit etabliert hat; nämlich so sehr, dass selbst die schiere Existenz grundsätzlicher Kritik an deren Ausgangspositionen kaum noch jemandem bewusst ist, ganz zu schweigen vom Inhalt dieser Kritik. Und dies, obwohl im gesamten 19. und 20. Jahrhundert viele der besten Köpfe Europas diese linken Positionen mit Argumenten auf höchstem Niveau zurückgewiesen haben. Vielfach kennt man heute kaum noch die Namen dieser Kritiker.

Es gilt also, das ideologische Terrain zurückzugewinnen und das Geisteskapital der Rechten zu mobilisieren. Das bloße Unbehagen an einem selbstzerstörerischen Lauf der liberalen Moderne bleibt unfruchtbar, sofern es sich nur an Einzelerscheinungen festmacht, etwa an Islamisierung, Terrorismus, Euro-Rettungsschirmen oder politisch korrekter Intoleranz.

Viele von uns wissen gar nicht, welche Schätze es zu heben gibt. Wer wissen möchte, was man gelesen haben sollte, ist bei Erik Lehnert und Karlheinz Weißmann gut bedient. Das von ihnen herausgegebene „Staatspolitische Handbuch, Band 2: Schlüsselwerke“ stellt in kompetenten Kurzrezensionen einige hundert (ich habe nicht gezählt) herausragende und grundlegende Werke des zivilisationskritischen bis konservativen Spektrums vor, wobei praktisch alle wichtigen Denker dieser Richtungen vertreten sind (mit Ausnahmen von Kleine-Hartlage, aber diesen kleinen Schönheitsfehler wollen wir ihnen nachsehen…). Für einen wie mich, der als Ex-Linker rund zwanzig Jahre versäumter Lektüre nachzuholen hat, ist dieses Nachschlagewerk inzwischen unentbehrlich; ich kann nur Jedem empfehlen, es sich zuzulegen.

Ernst von Salomon: „Der Fragebogen“ – Rezension

Mancher kennt Ernst von Salomons Roman „Der Fragebogen“ wenigstens vage und dem Titel nach. Fragebogen? Ja, da war mal was. Stand irgendwann mal auf einer Liste deutscher Nachkriegsliteratur, die uns in der elften Klasse ausgeteilt wurde. Haben wir in der Schule sonst irgendetwas darüber gehört? Ich erinnere mich nicht. Vielleicht hat irgendwann eine Mitschülerin, die mit dem Thema nichts anfangen und deshalb das Buch nicht verstehen konnte, eines jener grausigen Schülerreferate gehalten, bei denen man nach 20 Sekunden abschaltet, aber genau weiß ich es nicht mehr. Die Böllschen Langweiler waren ja viel wichtiger.

Und so bin ich erst jetzt auf das Buch gestoßen, das in den fünfziger Jahren – völlig zu Recht – ein Bestseller war: Es ist exzellent geschrieben, es enthält kein überflüssiges Wort, dafür an vielen Stellen einen gewissen federnden Sarkasmus, mit dem der Autor nicht zuletzt sich selber auf die Schippe nimmt. Vor allem aber ist es einfach ein Leseabenteuer; es erzählt die Geschichte der Jahre ab ungefähr 1920 bis 1946 ohne den volkspädagogisch erhobenen Zeigefinger, mit dem andere Werke nichts erklären, nur sich selbst und ihren jeweiligen Autor unerträglich machen. (Wer war nochmal dieser Böll? Richtig, das ist der, dessen Bücher niemand mehr liest, seit er tot ist, und wenn nicht passenderweise die Grünen ihre Parteistiftung nach diesem Paradegutmenschen der siebziger und achtziger Jahre benannt hätten, hätte niemand Anlass, seinen Namen überhaupt noch in den Mund zu nehmen. Marcel Reich-Ranicki nannte ihn einmal „eine Notlösung“; weil erstklassige Schriftsteller sich nicht als Propagandaschreiber hergeben wollten, griff man auf zweitklassige zurück und überschüttete sie mit Lob bis hin zu Nobelpreisen für Literatur, auf dass nur ja niemand ihre Erstklassigkeit anzweifle.)

Von Salomon gehörte zu den erstklassigen. Der Fragebogen, von dem der Roman handelt, ist jener, mit dessen Hilfe die amerikanische Militärregierung nach dem Krieg Deutschland entnazifizieren wollte. 133 hochnotpeinliche Fragen, die den Betroffenen, egal wie er sie beantwortete, zum Kotau zwangen. Es gab dafür durchaus ein historisches Vorbild: Wie Sebastian Haffner in seiner „Geschichte eines Deutschen“ berichtet, musste sein Vater, ein in Ehren ergrauter preußischer Beamter, nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten einen ähnlichen Fragebogen ausfüllen, und konnte die Erniedrigung für den kurzen Rest seines Lebens nicht verwinden.

Überhaupt schienen die alliierten Besatzungsmächte sich bei ihrer Revolution von oben – es ging ja um nicht weniger als die Umerziehung eines ganzen Volkes, möglichst unter Ausschaltung der Führungsschichten – die Politik der Nationalsozialisten ab 1933 zum Vorbild genommen zu haben. Die von Salomon geschilderten Zustände in den amerikanischen Konzentrationslagern, die man deshalb auch so nennen darf, unterschieden sich bis in die Einzelheiten hinein nicht wesentlich von denen, die aus Dachau und Buchenwald geschildert (und den dort hinbeorderten Schülergruppen stets als Beweis für den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus präsentiert) wurden und werden. (Sie entsprechen auch dem, was wir über das französische KZ Algenrodt erfahren haben, über das ich Anfang dieses Jahres schrieb.) Um es kurz zu machen, bestand der Lageralltag aus Hunger, Prügeln und Erniedrigung. Halt – einen Unterschied gab es schon: Die Nazis hatten wenigstens darauf geachtet, ihre wirklichen Gegner zu inhaftieren; wer aber in das Räderwerk der amerikanischen Menschenjagd geriet, ob Nazi oder nicht, der verblieb dort erst einmal. Von Salomon zum Beispiel wurde nach über einem Jahr (!) als „irrtümlich Verhafteter“ entlassen.

Ich war einfach in die Maschinerie hineingeraten, und nun war ich drin. Das ging mir nicht allein so. Eines Tages fuhren Lastwagen vor, und es wurden Internierte abgeladen, etwa zweihundert Mann. Wir fragten sie, sie waren alle aus Landshut und Umgebung. Sie sagten, sie wüßten den Grund ihrer Verhaftung nicht. Wir fragten sie, ob sie in der Partei waren, sie sagten nein, wir fragten, jeden einzeln, was sie von Beruf wären, ob sie in der Wehrmacht waren, – der eine war Arzt, der andere Apotheker, der dritte Zahlmeister, einer war nichts, gar nichts, beim Militär war er Stabsgefreiter. Kodak fand des Rätsels Lösung. (…) Just war von der Anklage in Nürnberg die Forderung erhoben worden, den deutschen Generalstab als Verbrecherorganisation zu erklären. Daraufhin hatte der Landshuter Resident-Officer sich die Fragebogen vorgenommen und alles, was die Bezeichnung „Stab“ vor seinem Range führte, verhaften lassen: Stabsärzte, Stabsapotheker, Stabszahlmeister, Stabsintendanten, Stabsgefreite! (…) Nach fünf Tagen stellte sich der kleine Irrtum heraus, aber sie saßen nun einmal, und sie blieben sitzen.

Warum schreibt Manfred das, wird jetzt vielleicht manch einer fragen. Will er krampfhaft einen Phantomschmerz herbeireden, indem er in dieser längst vergessenen Geschichte wühlt? Will er die unsägliche Phrase vom „Tätervolk“ mit einer ebenso haarsträubenden vom „Opfervolk“ kontern? Geht es ihm darum, die Amerikaner schlechtzumachen, die doch, nehmt alles nur in allem, mit dem geschlagenen Deutschland relativ glimpflich umgegangen sind?

Auch wenn man über die Frage, wie „glimpflich“ dieser Umgang wirklich war, trefflich debattieren könnte, und auch wenn die USA bis heute in Abu Ghreib, Guantanamo und anderswo genau die Politik praktizieren, die sie auch schon in Deutschland praktiziert haben, die Frage also durchaus aktuell ist – das ist nicht der Punkt, um den es mir geht.

Es geht darum, dass diese „längst vergessene Geschichte“ unsere Geschichte ist, und dass an die Stelle der vergessenen – oder vielmehr zu vergessenden und daher totgeschwiegenen – Geschichte eine andere getreten ist, die vielleicht nicht in jedem Punkt gelogen sein mag, aber aus einer Perspektive und von einem Interessenstandpunkt erzählt wird, der mit dem deutschen wenig zu tun hat. Übertragen auf eine Einzelperson ist es ungefähr so, als wäre der Inhalt ihres Gedächtnisses gelöscht und durch eine Fremderzählung ersetzt worden, die der arme solchermaßen manipulierte Mensch nunmehr für seine eigene zu halten gezwungen ist, um überhaupt noch so etwas wie ein „Gedächtnis“ zu haben.

Gerade deshalb ist Salomons Buch so wichtig. Es handelt nicht etwa nur von den amerikanischen Lagern, es ist ein Geschichtsbuch der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre, in dem allerhand zur Sprache kommt, was in der offiziösen Geschichtsschreibung weggelassen oder als Fußnote behandelt wird, zum Beispiel die Geschichte der Landvolkbewegung, jener Selbstverteidigungsbewegung schleswig-holsteinischer Bauern Anfang der dreißiger Jahre. Ein Geschichtsbuch freilich – und das macht es so angenehm zu lesen -, das uns keine Antworten liefert, schon gar nicht ideologisch vorgestanzte Antworten im Stil des etablierten Geschichtskatechismus; es liefert Material, das es überhaupt erst ermöglicht, sinnvolle Fragen zu formulieren, und das ist schon weitaus mehr, als der etablierte Diskurs zu liefern vermag. Wer kennt nicht jenes merkwürdige Gefühl von geistiger Leere, das sich einstellt, wenn man das Phänomen „Nationalsozialismus“ auf der Basis der etablierten Prämissen zu erklären versucht? Ich selbst habe es in Jahrzehnten nicht geschafft, und heute weiß ich auch, warum: weil man auf der Basis von Ideologien, die im Grunde gar nicht erst beanspruchen, die Welt zu erklären, sondern ihr vorschreiben wollen, wie sie zu sein hat, naturgemäß nichts erklären kann. Die Ideologien, auf denen die BRD basiert, und die sie deshalb für sakrosankt erklärt, gehören zu denen, an denen die Weimarer Republik gescheitert ist.

Von Salomon, der 1922 an der Ermordung Walter Rathenaus beteiligt gewesen war und deshalb mehrere Jahre im Zuchthaus verbracht hatte, gehörte damals zum Umfeld der konservativen Revolution; sozusagen der ideale Standort für einen, der über diese Zeit berichtet: kein Nazi, kein Kommunist, nicht in der Reichswehr, aber nahe genug an allen dran, um sinnvoll davon erzählen zu können.

Am faszinierendsten finde ich, wie er den Zeitgeist der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre einfängt. Dass die Republik gescheitert war, gescheitert an der Unfähigkeit ihrer Eliten, lag damals schon vor aller Augen, und die intellektuelle Berliner Szene sprudelte nur so von Ideen, was ihr nachfolgen sollte. Die Nationalsozialisten waren in allen diesen Debatten die großen Abwesenden. Sie interessierten sich nicht dafür, sie versuchten niemanden zu überzeugen. Wovon auch? So etwas wie eine politische Philosophie, ein „System“, ein Ordnungsideal hatten sie nicht, auch wenn sie bisweilen so taten, als hätten sie eins. Als sie tatsächlich an die Macht kamen, war ihr System eines der permanenten Improvisation, bei dem oft mehrere nationalsozialistische Dienststellen in einer Art bürokratischem Darwinismus miteinander um Kompetenzen und die Gunst des Führers konkurrierten. Die Nazis nannten sich „Bewegung“, und eines ihrer Lieblingswörter war „Dynamik“; sofern der Nationalsozialismus überhaupt einen definierbaren Inhalt hatte, lag er in der Entfesselung aller Kräfte der Nation, und in der Beseitigung aller hemmenden Strukturen, notfalls auch derjenigen, die die Nazis selbst erst geschaffen hatten. Es ging ihnen darum, die Dinge in Fluss zu bringen, und wie das bei Flüssigkeiten so ist: Ihnen fehlt die Struktur.

Es ist dieser Aspekt, der für Konservative wie Salomon, aber auch Ernst Jünger und Andere, so abstoßend war und sie in eine Art politischer splendid isolation trieb. Von einem konservativen Standpunkt sind die Skrupellosigkeit und die Verbrechen der Nationalsozialisten leicht zu erklären, nämlich als logische Folge der „linken “ Züge des Nationalsozialismus: der Mobilisierung großer Volksmassen, der systematischen Zerstörung hergebrachter Strukturen, der Unterordnung staatlicher Autorität unter die Imperative einer Volksbewegung, der Auflösung von Staatlichkeit in einem Kompetenzenbrei. Die Auflösung der Strukturen, die immer auch ein Moment von Machtbegrenzung in sich getragen hatten, musste zwangsläufig totalitär wirken. Der totalitäre Staat ist, wie Salomon richtig feststellt, nicht die etwas radikalere Variante eines autoritären Staates, sondern dessen Gegenteil. Man glaubt dem Autor deshalb auch ohne Weiteres, dass er nie in Versuchung war, Nationalsozialist zu werden.

An diesem Punkt stellt sich aber auch eine der beunruhigenden Fragen, die das Buch aufwirft:

Warum hat Hitler sich durchgesetzt, und warum sind die Konservativen, die seiner Herr zu werden versuchten, allesamt gescheitert? Schleicher, der ihn verhindern, Papen, der ihn „einrahmen“, Schmitt, der ihn auf Ordnungsgefüge festlegen, Stauffenberg, der ihn umbringen wollte?

Die banalste Antwort (die aber deswegen nicht falsch ist), lautet, dass Hitler eine Massenbewegung hinter sich hatte, während Konservative bereits das Wort „Masse“ kaum anders als mit aristokratischem Naserümpfen auszusprechen vermögen. Die subtilere Antwort lautet, dass Konservatismus grundsätzlich und vom Ansatz her ungeeignet ist, so etwas wie eine Zukunftsvision (womöglich gar eine Utopie – igitt!!!) hervorzubringen. Genuiner Konservatismus verteidigt, was die Geschichte hervorgebracht hat; er greift dem Wirken Gottes nicht vor. Das gibt ihm seine Stärke und Würde, macht ihn aber etwas hilflos in einer Situation, in der die Szene von Revolutionären beherrscht wird, die Fakten schaffen, ohne zu diskutieren.

Die Frage ist keineswegs nur von historischem Interesse. Es geht um die höchst drängende und aktuelle Frage, wie man als Konservativer mit einer Republik ohne Republikaner umgeht. Die Weimarer Republik war eine solche, die heutige ist es auch. Die freiheitliche Demokratie ist ein sehr anspruchsvolles politisches Konzept: Sie lebt davon, dass die Auseinandersetzung zwischen Links und Rechts scharf genug ist, eine wirkliche Wahl zwischen Alternativen zu bieten; zugleich aber darf diese Auseinandersetzung nicht so scharf sein, dass der Konsens über die Spielregeln dabei verlorengeht.

Eben dies beobachten wir aber in dieser späten BRD. Es gibt zwischen den nennenswerten politischen Kräften zwar einen Konsens, aber gerade nicht einen Konsens, die Grundlagen des Gemeinwesens zu bewahren, sondern sie zu untergraben; es gibt einen Konsens über die Auflösung von Strukturen, einschließlich der Staatlichkeit, und es gibt einen Konsens, das auf diesem Wege selbstgeschaffene Chaos durch einen schleichenden Totalitarismus zu bändigen. Unter diesen Umständen sind die bestenfalls ein paar hundert konservativen Intellektuellen, die auf die Bewahrung machtbegrenzender Strukturen pochen, die letzten Republikaner, die es in dieser Republik noch gibt.

So beunruhigend die Diagnose sein mag, sie sei wenigstens zur Diskussion gestellt: Kann es sein, dass die liberale Demokratie spätestens in dem Moment, wo ihr inneres Gleichgewicht zerstört ist, ganz von selbst und mit schicksalhafter Zwangsläufigkeit zum Totalitarismus tendiert, und dass die möglichen Alternativen, die sie auf den Plan ruft, ihrerseits totalitär sein müssen? Dass Hitler sich deshalb durchsetzt, weil sein totalitäres, „linkes“ Politikkonzept das modernere war? Dass die Moderne selbst die Dinge über kurz oder lang zwangsläufig so in Bewegung bringt, dass ein im strengen Sinne konservatives Konzept gar keine realistische Option ist? Dass uns am Ende also nur die Wahl zwischen verschiedenen Totalitarismen bleibt, wenn überhaupt eine?