Ernst von Salomon: „Der Fragebogen“ – Rezension

Mancher kennt Ernst von Salomons Roman „Der Fragebogen“ wenigstens vage und dem Titel nach. Fragebogen? Ja, da war mal was. Stand irgendwann mal auf einer Liste deutscher Nachkriegsliteratur, die uns in der elften Klasse ausgeteilt wurde. Haben wir in der Schule sonst irgendetwas darüber gehört? Ich erinnere mich nicht. Vielleicht hat irgendwann eine Mitschülerin, die mit dem Thema nichts anfangen und deshalb das Buch nicht verstehen konnte, eines jener grausigen Schülerreferate gehalten, bei denen man nach 20 Sekunden abschaltet, aber genau weiß ich es nicht mehr. Die Böllschen Langweiler waren ja viel wichtiger.

Und so bin ich erst jetzt auf das Buch gestoßen, das in den fünfziger Jahren – völlig zu Recht – ein Bestseller war: Es ist exzellent geschrieben, es enthält kein überflüssiges Wort, dafür an vielen Stellen einen gewissen federnden Sarkasmus, mit dem der Autor nicht zuletzt sich selber auf die Schippe nimmt. Vor allem aber ist es einfach ein Leseabenteuer; es erzählt die Geschichte der Jahre ab ungefähr 1920 bis 1946 ohne den volkspädagogisch erhobenen Zeigefinger, mit dem andere Werke nichts erklären, nur sich selbst und ihren jeweiligen Autor unerträglich machen. (Wer war nochmal dieser Böll? Richtig, das ist der, dessen Bücher niemand mehr liest, seit er tot ist, und wenn nicht passenderweise die Grünen ihre Parteistiftung nach diesem Paradegutmenschen der siebziger und achtziger Jahre benannt hätten, hätte niemand Anlass, seinen Namen überhaupt noch in den Mund zu nehmen. Marcel Reich-Ranicki nannte ihn einmal „eine Notlösung“; weil erstklassige Schriftsteller sich nicht als Propagandaschreiber hergeben wollten, griff man auf zweitklassige zurück und überschüttete sie mit Lob bis hin zu Nobelpreisen für Literatur, auf dass nur ja niemand ihre Erstklassigkeit anzweifle.)

Von Salomon gehörte zu den erstklassigen. Der Fragebogen, von dem der Roman handelt, ist jener, mit dessen Hilfe die amerikanische Militärregierung nach dem Krieg Deutschland entnazifizieren wollte. 133 hochnotpeinliche Fragen, die den Betroffenen, egal wie er sie beantwortete, zum Kotau zwangen. Es gab dafür durchaus ein historisches Vorbild: Wie Sebastian Haffner in seiner „Geschichte eines Deutschen“ berichtet, musste sein Vater, ein in Ehren ergrauter preußischer Beamter, nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten einen ähnlichen Fragebogen ausfüllen, und konnte die Erniedrigung für den kurzen Rest seines Lebens nicht verwinden.

Überhaupt schienen die alliierten Besatzungsmächte sich bei ihrer Revolution von oben – es ging ja um nicht weniger als die Umerziehung eines ganzen Volkes, möglichst unter Ausschaltung der Führungsschichten – die Politik der Nationalsozialisten ab 1933 zum Vorbild genommen zu haben. Die von Salomon geschilderten Zustände in den amerikanischen Konzentrationslagern, die man deshalb auch so nennen darf, unterschieden sich bis in die Einzelheiten hinein nicht wesentlich von denen, die aus Dachau und Buchenwald geschildert (und den dort hinbeorderten Schülergruppen stets als Beweis für den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus präsentiert) wurden und werden. (Sie entsprechen auch dem, was wir über das französische KZ Algenrodt erfahren haben, über das ich Anfang dieses Jahres schrieb.) Um es kurz zu machen, bestand der Lageralltag aus Hunger, Prügeln und Erniedrigung. Halt – einen Unterschied gab es schon: Die Nazis hatten wenigstens darauf geachtet, ihre wirklichen Gegner zu inhaftieren; wer aber in das Räderwerk der amerikanischen Menschenjagd geriet, ob Nazi oder nicht, der verblieb dort erst einmal. Von Salomon zum Beispiel wurde nach über einem Jahr (!) als „irrtümlich Verhafteter“ entlassen.

Ich war einfach in die Maschinerie hineingeraten, und nun war ich drin. Das ging mir nicht allein so. Eines Tages fuhren Lastwagen vor, und es wurden Internierte abgeladen, etwa zweihundert Mann. Wir fragten sie, sie waren alle aus Landshut und Umgebung. Sie sagten, sie wüßten den Grund ihrer Verhaftung nicht. Wir fragten sie, ob sie in der Partei waren, sie sagten nein, wir fragten, jeden einzeln, was sie von Beruf wären, ob sie in der Wehrmacht waren, – der eine war Arzt, der andere Apotheker, der dritte Zahlmeister, einer war nichts, gar nichts, beim Militär war er Stabsgefreiter. Kodak fand des Rätsels Lösung. (…) Just war von der Anklage in Nürnberg die Forderung erhoben worden, den deutschen Generalstab als Verbrecherorganisation zu erklären. Daraufhin hatte der Landshuter Resident-Officer sich die Fragebogen vorgenommen und alles, was die Bezeichnung „Stab“ vor seinem Range führte, verhaften lassen: Stabsärzte, Stabsapotheker, Stabszahlmeister, Stabsintendanten, Stabsgefreite! (…) Nach fünf Tagen stellte sich der kleine Irrtum heraus, aber sie saßen nun einmal, und sie blieben sitzen.

Warum schreibt Manfred das, wird jetzt vielleicht manch einer fragen. Will er krampfhaft einen Phantomschmerz herbeireden, indem er in dieser längst vergessenen Geschichte wühlt? Will er die unsägliche Phrase vom „Tätervolk“ mit einer ebenso haarsträubenden vom „Opfervolk“ kontern? Geht es ihm darum, die Amerikaner schlechtzumachen, die doch, nehmt alles nur in allem, mit dem geschlagenen Deutschland relativ glimpflich umgegangen sind?

Auch wenn man über die Frage, wie „glimpflich“ dieser Umgang wirklich war, trefflich debattieren könnte, und auch wenn die USA bis heute in Abu Ghreib, Guantanamo und anderswo genau die Politik praktizieren, die sie auch schon in Deutschland praktiziert haben, die Frage also durchaus aktuell ist – das ist nicht der Punkt, um den es mir geht.

Es geht darum, dass diese „längst vergessene Geschichte“ unsere Geschichte ist, und dass an die Stelle der vergessenen – oder vielmehr zu vergessenden und daher totgeschwiegenen – Geschichte eine andere getreten ist, die vielleicht nicht in jedem Punkt gelogen sein mag, aber aus einer Perspektive und von einem Interessenstandpunkt erzählt wird, der mit dem deutschen wenig zu tun hat. Übertragen auf eine Einzelperson ist es ungefähr so, als wäre der Inhalt ihres Gedächtnisses gelöscht und durch eine Fremderzählung ersetzt worden, die der arme solchermaßen manipulierte Mensch nunmehr für seine eigene zu halten gezwungen ist, um überhaupt noch so etwas wie ein „Gedächtnis“ zu haben.

Gerade deshalb ist Salomons Buch so wichtig. Es handelt nicht etwa nur von den amerikanischen Lagern, es ist ein Geschichtsbuch der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre, in dem allerhand zur Sprache kommt, was in der offiziösen Geschichtsschreibung weggelassen oder als Fußnote behandelt wird, zum Beispiel die Geschichte der Landvolkbewegung, jener Selbstverteidigungsbewegung schleswig-holsteinischer Bauern Anfang der dreißiger Jahre. Ein Geschichtsbuch freilich – und das macht es so angenehm zu lesen -, das uns keine Antworten liefert, schon gar nicht ideologisch vorgestanzte Antworten im Stil des etablierten Geschichtskatechismus; es liefert Material, das es überhaupt erst ermöglicht, sinnvolle Fragen zu formulieren, und das ist schon weitaus mehr, als der etablierte Diskurs zu liefern vermag. Wer kennt nicht jenes merkwürdige Gefühl von geistiger Leere, das sich einstellt, wenn man das Phänomen „Nationalsozialismus“ auf der Basis der etablierten Prämissen zu erklären versucht? Ich selbst habe es in Jahrzehnten nicht geschafft, und heute weiß ich auch, warum: weil man auf der Basis von Ideologien, die im Grunde gar nicht erst beanspruchen, die Welt zu erklären, sondern ihr vorschreiben wollen, wie sie zu sein hat, naturgemäß nichts erklären kann. Die Ideologien, auf denen die BRD basiert, und die sie deshalb für sakrosankt erklärt, gehören zu denen, an denen die Weimarer Republik gescheitert ist.

Von Salomon, der 1922 an der Ermordung Walter Rathenaus beteiligt gewesen war und deshalb mehrere Jahre im Zuchthaus verbracht hatte, gehörte damals zum Umfeld der konservativen Revolution; sozusagen der ideale Standort für einen, der über diese Zeit berichtet: kein Nazi, kein Kommunist, nicht in der Reichswehr, aber nahe genug an allen dran, um sinnvoll davon erzählen zu können.

Am faszinierendsten finde ich, wie er den Zeitgeist der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre einfängt. Dass die Republik gescheitert war, gescheitert an der Unfähigkeit ihrer Eliten, lag damals schon vor aller Augen, und die intellektuelle Berliner Szene sprudelte nur so von Ideen, was ihr nachfolgen sollte. Die Nationalsozialisten waren in allen diesen Debatten die großen Abwesenden. Sie interessierten sich nicht dafür, sie versuchten niemanden zu überzeugen. Wovon auch? So etwas wie eine politische Philosophie, ein „System“, ein Ordnungsideal hatten sie nicht, auch wenn sie bisweilen so taten, als hätten sie eins. Als sie tatsächlich an die Macht kamen, war ihr System eines der permanenten Improvisation, bei dem oft mehrere nationalsozialistische Dienststellen in einer Art bürokratischem Darwinismus miteinander um Kompetenzen und die Gunst des Führers konkurrierten. Die Nazis nannten sich „Bewegung“, und eines ihrer Lieblingswörter war „Dynamik“; sofern der Nationalsozialismus überhaupt einen definierbaren Inhalt hatte, lag er in der Entfesselung aller Kräfte der Nation, und in der Beseitigung aller hemmenden Strukturen, notfalls auch derjenigen, die die Nazis selbst erst geschaffen hatten. Es ging ihnen darum, die Dinge in Fluss zu bringen, und wie das bei Flüssigkeiten so ist: Ihnen fehlt die Struktur.

Es ist dieser Aspekt, der für Konservative wie Salomon, aber auch Ernst Jünger und Andere, so abstoßend war und sie in eine Art politischer splendid isolation trieb. Von einem konservativen Standpunkt sind die Skrupellosigkeit und die Verbrechen der Nationalsozialisten leicht zu erklären, nämlich als logische Folge der „linken “ Züge des Nationalsozialismus: der Mobilisierung großer Volksmassen, der systematischen Zerstörung hergebrachter Strukturen, der Unterordnung staatlicher Autorität unter die Imperative einer Volksbewegung, der Auflösung von Staatlichkeit in einem Kompetenzenbrei. Die Auflösung der Strukturen, die immer auch ein Moment von Machtbegrenzung in sich getragen hatten, musste zwangsläufig totalitär wirken. Der totalitäre Staat ist, wie Salomon richtig feststellt, nicht die etwas radikalere Variante eines autoritären Staates, sondern dessen Gegenteil. Man glaubt dem Autor deshalb auch ohne Weiteres, dass er nie in Versuchung war, Nationalsozialist zu werden.

An diesem Punkt stellt sich aber auch eine der beunruhigenden Fragen, die das Buch aufwirft:

Warum hat Hitler sich durchgesetzt, und warum sind die Konservativen, die seiner Herr zu werden versuchten, allesamt gescheitert? Schleicher, der ihn verhindern, Papen, der ihn „einrahmen“, Schmitt, der ihn auf Ordnungsgefüge festlegen, Stauffenberg, der ihn umbringen wollte?

Die banalste Antwort (die aber deswegen nicht falsch ist), lautet, dass Hitler eine Massenbewegung hinter sich hatte, während Konservative bereits das Wort „Masse“ kaum anders als mit aristokratischem Naserümpfen auszusprechen vermögen. Die subtilere Antwort lautet, dass Konservatismus grundsätzlich und vom Ansatz her ungeeignet ist, so etwas wie eine Zukunftsvision (womöglich gar eine Utopie – igitt!!!) hervorzubringen. Genuiner Konservatismus verteidigt, was die Geschichte hervorgebracht hat; er greift dem Wirken Gottes nicht vor. Das gibt ihm seine Stärke und Würde, macht ihn aber etwas hilflos in einer Situation, in der die Szene von Revolutionären beherrscht wird, die Fakten schaffen, ohne zu diskutieren.

Die Frage ist keineswegs nur von historischem Interesse. Es geht um die höchst drängende und aktuelle Frage, wie man als Konservativer mit einer Republik ohne Republikaner umgeht. Die Weimarer Republik war eine solche, die heutige ist es auch. Die freiheitliche Demokratie ist ein sehr anspruchsvolles politisches Konzept: Sie lebt davon, dass die Auseinandersetzung zwischen Links und Rechts scharf genug ist, eine wirkliche Wahl zwischen Alternativen zu bieten; zugleich aber darf diese Auseinandersetzung nicht so scharf sein, dass der Konsens über die Spielregeln dabei verlorengeht.

Eben dies beobachten wir aber in dieser späten BRD. Es gibt zwischen den nennenswerten politischen Kräften zwar einen Konsens, aber gerade nicht einen Konsens, die Grundlagen des Gemeinwesens zu bewahren, sondern sie zu untergraben; es gibt einen Konsens über die Auflösung von Strukturen, einschließlich der Staatlichkeit, und es gibt einen Konsens, das auf diesem Wege selbstgeschaffene Chaos durch einen schleichenden Totalitarismus zu bändigen. Unter diesen Umständen sind die bestenfalls ein paar hundert konservativen Intellektuellen, die auf die Bewahrung machtbegrenzender Strukturen pochen, die letzten Republikaner, die es in dieser Republik noch gibt.

So beunruhigend die Diagnose sein mag, sie sei wenigstens zur Diskussion gestellt: Kann es sein, dass die liberale Demokratie spätestens in dem Moment, wo ihr inneres Gleichgewicht zerstört ist, ganz von selbst und mit schicksalhafter Zwangsläufigkeit zum Totalitarismus tendiert, und dass die möglichen Alternativen, die sie auf den Plan ruft, ihrerseits totalitär sein müssen? Dass Hitler sich deshalb durchsetzt, weil sein totalitäres, „linkes“ Politikkonzept das modernere war? Dass die Moderne selbst die Dinge über kurz oder lang zwangsläufig so in Bewegung bringt, dass ein im strengen Sinne konservatives Konzept gar keine realistische Option ist? Dass uns am Ende also nur die Wahl zwischen verschiedenen Totalitarismen bleibt, wenn überhaupt eine?

Klammheimlich: Hannah-Arendt-Institut verlagert Schwerpunkt von SED- auf NS-Diktatur

Thorsten Hinz weist in der JF unter dem Titel „Ein Institut wird umgekrempelt“ auf den Schwenk des Hannah-Arendt-Instituts hin:

Das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden wurde 1993 gegründet. Die Erinnerung an die DDR war damals noch frisch und das Pathos der Umbruchzeit lebendig. Das erlaubte es, die Doppelerfahrung von Nationalsozialismus und Kommunismus, dieses bittere Privileg der DDR-Bürger, zum Ausgangspunkt der historischen Forschung zu machen. Zur Geschichts- und Wissenschaftspolitik der Bundesrepublik, die neben Hitler keine anderen Götter duldet, stand das Institut von Anfang an schräg, wenn nicht quer.

Da es in der gleichgeschalteten deutschen Bewältigungslandschaft nichts geben darf, was schräg oder gar quer steht, wird jetzt nach Loriots Motto „Das Bild hängt schief“ die Geschichte geradegerückt:

Dresden. Das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (HAIT) verordnet sich einen neuen wissenschaftlichen Schwerpunkt. „Ich habe einen Richtungswechsel veranlasst – hin zur NS-Geschichte“, sagte Direktor Günther Heydemann der Wochenzeitung „Die Zeit“. Bislang erforschte das 1993 gegründete Institut vor allem die SED-Herrschaft in der DDR. Auf dem Gebiet habe sich aber eine gewisse Sättigung eingestellt. „Die Strukturen der SED-Herrschaft liegen weitgehend offen, und auch in der Alltags- und Sozialgeschichte sehe ich kaum noch Lücken“, sagte Heydemann. Der Schwerpunkt liege deswegen künftig auf dem „Nationalsozialismus in Sachsen“, mithin auf regionaler NS-Geschichte.

Sächsische Zeitung [online] – Sachsen: Hannah-Arendt-Institut verlagert Schwerpunkt von SED- auf NS-Diktatur.

Ist man beim Hannah-Arendt-Institut allen Ernstes der Meinung, beim Thema „NS-Geschichte“ habe sich nicht „eine gewisse Sättigung eingestellt“? Glaubt man dort wirklich, das Thema „DDR“ sei schon erschöpfend bearbeitet?

„Eine gewisse Sättigung“ – was wäre dies für ein schöner Euphemismus für den Brechreiz, der sich angesichts der allgegenwärtigen klischeegesättigten Geschichtspropaganda einstellt.

Was wäre denn die Folge, wenn die DDR-Vergangenheit, wenn das SED-Regime in ähnlicher Weise vergegenwärtigt würde wie das NS-Regime?

Die Folge wäre, dass die Sensibilität für totalitäre Ideologien und Strukturen geschärft würde. Die Folge wäre, dass man hellhörig würde, wenn Journalisten einen „Erziehungsauftrag der Partei(en)“ postulieren; dass man sich fragen würde, wie es um die Liberalität eines Staates bestellt ist, der seine Bürger mit erzieherischer Propaganda überschwemmt; dass man stutzig würde, wenn Nonkonformisten als Phobiker, sprich als Geisteskranke und ihre Meinungen als Gedankenverbrechen abgestempelt werden; dass die Menschen sich womöglich über einen Staat wundern würden, dessen Armee im Dienste der Ewigen Waffenbrüderschaft mit einer Supermacht steht statt im Dienste der nationalen Sicherheit; dass man sich verbitten würde, die eigene Souveränität nebst vielen Milliarden Euro einer „Union“ aus Bruderstaaten zu schenken; dass man darüber nachdenken würde, warum angeblich demokratische Organisationen mit Anhängern just der Ideologie zusammenarbeiten, auf der die DDR gegründet war, und sogar mit der SED selbst; dass man auf die Idee kommen könnte, Sozialismus habe etwas mit Totalitarismus zu tun; dass Dutzende von Phrasen und Schlagwörtern – von der „Diversity“ bis zu „Wertegemeinschaft“ – womöglich kritisch hinterfragt würden. Dass auf dem Weg in die Selbstzerstörung plötzlich Hindernisse auftauchen würden.

Damit dies nicht geschieht, wird ein Hannah-Arendt-Institut bei Nacht und Nebel umgedreht.

Beschäftigen wir uns also mit den Problemen der dreißiger Jahre, damit wir die heutigen erst wahrnehmen, wenn es zu spät ist. „Erforschen“ wir die bis zum Erbrechen durchgekaute Geschichte des Nationalsozialismus noch ein bisschen genauer (Thorsten Hinz: „Was ist zum Beispiel dran an dem Gerücht, daß die Frisuren für den Hund der Hitler-Geliebten Eva Braun in einem Dresdner Haarstudio kreiert wurden? Das Hannah-Arendt-Institut wird uns bald darüber aufklären.“), damit wir auch weiterhin das am wenigsten rassistische Land der Welt mit Propagandaplakaten „gegen Rassismus“ zukleben können; damit in einem Land, dessen Armee sich vor einem Parlament von hysterischen Kindergärtnerinnen für jeden abgefeuerten Schuss entschuldigen muss, der „Militarismus“ bekämpft wird; damit den verachteten und getretenen „deutschen Kartoffeln“ ihre „Fremdenfeindlichkeit“ ausgetrieben wird.

Nicht in unserem Namen!

Der Bundespräsident hat zum 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, eine Rede in Auschwitz gehalten, und wie üblich bei solchen Gelegenheiten, quoll die Rede von Masochistenpathos über:

Auschwitz liegt auf polnischem Boden. Eine ganz große Zahl von Opfern waren polnische Staatsangehörige. Polen und seine Bewohner haben unendlich unter der deutschen Besatzung und dem nationalsozialistischen Rassenwahn gelitten.

Der Name Auschwitz steht wie kein anderer für die Verbrechen Deutscher an Millionen von Menschen. Sie erfüllen uns Deutsche mit Abscheu und Scham.

Es ist keine billige Aufrechnung zu fragen, warum nach einem Jahrhundert der Massenschlächtereien, von denen der Holocaust nur eine war, ausschließlich deutsche Staatsoberhäupter solche Reden halten.

Wir tragen hieraus eine historische Verantwortung, die unabhängig ist von individueller Schuld.

Wer die Kollektivschuld-These vertreten will, möge das tun. Er möge dann aber auch dazu stehen und sich nicht hinter wolkigen Phrasen wie „Verantwortung“ verstecken.

Wir dürfen nie wieder zulassen, dass solche Verbrechen geschehen. Und wir müssen die Erinnerung wach halten. Denn das Wissen um das geschehene Grauen, die Erkenntnis dessen, was Menschen fähig waren, anderen Menschen anzutun …

… um Erinnerung geht es, nicht um historische Aufklärung, in der man versuchen würde, den Nationalsozialismus zu erklären, wie man auch andere historische Epochen erklärt. Eine solche Aufklärung, also eine Historisierung des Nationalsozialismus, würde, wie bei anderen historischen Themen auch, dazu führen, dass immer neu gefragt wird und die Antworten immer wieder am neuesten Stand der Erkenntnis gemessen werden. Das geschieht gerade nicht. Die „Erinnerung“ bleibt gleichsam eingefroren  im Aggregatzustand immergleicher stereotyper Phrasen. Wer debattieren wollte, müsste denken und würde dann zwangsläufig von der vorgestanzten Phraseologie abweichen. Der letzte deutsche Politiker, der das versucht hat, war Philipp Jenninger, der diesen Versuch mit dem Verlust seines Amtes bezahlte.

… sind Mahnung und Verpflichtung für die gegenwärtigen und kommenden Generationen, die Würde des Menschen unter allen Umständen zu wahren und niemals mehr andere zu verfolgen, zu erniedrigen oder gar zu töten, weil sie anders sind in Glaube, Volkszugehörigkeit, politischer Überzeugung oder sexueller Orientierung.

Indem man nicht nach Ursachen fragt, indem man nicht davon spricht, in welches Bedingungsgeflecht die Deutschen der dreißiger und vierziger Jahre verstrickt waren, indem man zugleich alle geschehenen Verbrechen pauschal „den Deutschen“ anlastet – als habe es nicht identifizierbare Entscheidungsträger gegeben – benennt man selbstredend trotzdem „Ursachen“:

Ursache war demnach der böse Wille „der Deutschen“, die kollektiv und aus purem Hass auf Menschen, die „anders sind in Glaube, Volkszugehörigkeit, politischer Überzeugung oder sexueller Orientierung“ diese verfolgt, erniedrigt und ermordet hätten. Dass die Deutschen ganz andere Gründe gehabt haben könnten, Hitler zu unterstützen, kommt gar nicht erst in den Blick. Und es soll offenbar auch nicht in den Blick kommen: Nicht im Manuskript, wohl aber in der gesprochenen Rede mahnt Wulff die Deutschen sogar, für die Verbrechen der Nationalsozialisten „ewig einzustehen“.

Zuerst immunisiert sich die Rede gegen Kritik durch ein moralisches Pathos, dessen erkennbare Funktion die ist, Kritik von vornherein mit dem Makel des „Unmoralischen“ zu belasten – in diesem Zusammenhang fällt dann auch noch das Wort „ewig“ , mit dem sich der Bundespräsident endgültig als Hohepriester einer Religion zu erkennen gibt, deren wesentlicher Inhalt die kollektive Selbstverfluchung ist. Die Worte, mit denen das Matthäusevangelium die Jerusalemer Juden zitiert – „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ – werden von Wulff (wie von unzähligen anderen deutschen Nachkriegspolitikern) sinngemäß auf das eigene Volk angewandt.

Ein Bundespräsident repräsentiert aber nicht das deutsche Volk, weil er von diesem nicht gewählt worden ist (und gerade dieser Präsident wäre auch nicht gewählt worden, wenn man das Volk gefragt hätte). Deshalb ist er nicht einmal befugt, für das jetzige deutsche Volk irgendwelche Verantwortung zu bekunden, geschweige denn dessen Nachkommen eine „ewige Verantwortung“ aufzubürden. Er repräsentiert einen Staat, und zwar einen, der nicht durch einen souveränen verfassunggebenden Akt des deutschen Volkes gegründet worden ist, sondern durch den Willen der Besatzungsmächte – weswegen seine Verfassung bis heute „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“ heißt, und nicht etwa „Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“, und weswegen er in Artikel 146 GG diesen Mangel auch offen zugibt. Ein Bundespräsident repräsentiert die politische Klasse – und niemanden sonst – einer Republik, die, gemessen an ihrem eigenen Maßstab, der Volkssouveränität, ein illegitimes Staatswesen ist.

Die freilich repräsentiert er so vollkommen wie nur irgend möglich. Die Verfluchung des deutschen Volkes, die hier in den Rang einer Religion erhoben wird, soll von den Deutschen verinnerlicht werden – dies geht aus Reden dieser Art deutlich genug hervor und ist Konsens der politischen Klasse. Sie sollen ihr eigenes Volk nicht für erhaltenswert halten, sie sollen sich nicht dazu bekennen, sie sollen sich nicht an ihren eigenen nationalen Interessen orientieren. Sondern an den Interessen „Europas“, d.h. seiner herrschenden Eliten, an den Interessen „der Menschheit“ – womit es wieder herrschenden Eliten überlassen bleibt zu definieren, was dieses Interesse gerade erheischt -, und nicht zuletzt an den Interessen derer, die „anders sind in Glaube, Volkszugehörigkeit … oder sexueller Orientierung“, und zu deren Interessen jedenfalls nicht gehört, dass das deutsche Volk das 22. Jahrhundert erreicht.

Die gestanzten Phrasen sind also nicht etwa Produkt geistiger Impotenz, sondern eines politischen Programms. Insofern erübrigt sich auch die ansonsten naheliegende Frage, ob Christian Wulff eigentlich über die geistigen Voraussetzungen verfügt, um Zitierenswertes über die deutsche Geschichte zu sagen. Er kann seine Funktion viel leichter erfüllen, wenn er über diese Voraussetzungen gerade nicht verfügt.

Das Gift, dass uns seit Jahrzehnten in Gestalt von Worten wie „Scham“, „Schuld“, „Verantwortung“, „Erinnerung“, „Nie wieder!“ eingeträufelt wird, zielt darauf ab, aus dem Volk eine bloße „Bevölkerung“ zu machen, eine Masse von Einzelnen, die sich nicht mehr wehrt, wenn selbsternannte Eliten über ihr Schicksal entscheiden.

Internierungslager Algenrodt – ein totgeschwiegenes Stück Zeitgeschichte

[Es ist gar nicht leicht, an Informationen über das alliierte Internierungslager Algenrodt in Idar-Oberstein zu kommen, in dem mein Großvater seit dem 26. Mai 1945 rund acht Monate lang eingesperrt war. Nachdem er im Februar 1946 mit seinen Mithäftlingen nach Diez verlegt worden war, gelang ihm im Sommer 1946, also nach über einem Jahr, die Flucht.

Der einzige Hinweis auf das Lager Algenrodt, den ich im Netz finden konnte, bezieht sich auf einen Aufsatz, den der Regierungsschuldirektor Edgar Mais aus Idar-Oberstein im Heimatkalender 1985 des Landkreises Birkenfeld veröffentlicht hat. Wenn es um die Misshandlung von Deutschen geht, hält sich das Interesse deutscher Historiker offenbar in Grenzen.

Dieses Lager war nicht etwa ein Gefängnis, in dem Menschen wegen konkreter Taten festgehalten wurden, sondern ein Sammellager für einfache Mitglieder und untere Funktionäre von NS-Organisationen, die offenbar allein ihrer Gesinnung wegen eingesperrt wurden. Mein Großvater zum Beispiel war einfaches Mitglied der NSDAP und im Zivilberuf Polizeihauptwachtmeister gewesen, der in den zwanziger Jahren in den Polizeidienst eingetreten war; im Krieg hatte er bei der Waffen-SS gedient. Wie wir im Folgenden erfahren werden, waren praktisch alle Inhaftierten kleine Fische dieser Art. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass auch nur einem von ihnen wegen einer konkreten Tat der Prozess gemacht worden wäre.

Da Algenrodt mit seinem regionalen Einzugsgebiet nicht das einzige Lager dieser Art gewesen sein dürfte, das die Alliierten in Deutschland unterhielten, vermute ich, dass wir es mit einem exemplarischen Fall zu tun haben. Ich halte es der Mühe für wert, den gesamten Aufsatz abzutippen, weil ich nicht möchte, dass das Wenige, was überhaupt bekannt ist, in den Tiefen der Archive verschwindet.

Es handelt sich um die Sorte Zeitgeschichte, die ideologisch und geschichtspolitisch unerwünscht ist, und deren wir uns deswegen nicht erinnern sollen: bezeichnend, dass Geschichtsschreibung dieser Art nur an der Peripherie stattfindet und von unbekannten Privatleuten in unbekannten Aufsätzen unbekannter Heimatkalender betrieben werden muss (während Machwerke wie „Das Amt und die Vergangenheit“ mit Steuergeldern unterstützt werden). Diesen Entstehungszusammenhang sollte berücksichtigen, wer da glauben sollte, über die unvermeidlichen Schwächen der Arbeit eines Amateurhistorikers die Nase rümpfen zu dürfen.

Der folgende Text ist die vollständige Abschrift von: Edgar Mais, Internierungslager Algenrodt, in: Landkreis Birkenfeld (Hrsg.), Heimatkalender des Lankreises Birkenfeld 1985, Baumholder 1984, S. 179-185. Zitate im Text sind durch die im Blog üblichen Zitatblöcke kenntlich gemacht. Meine eigenen Anmerkungen erkennt man daran, dass sie kursiv in eckige Klammern gesetzt sind:]

Das Zusammensein amerikanischer Familien und deutscher Gäste ist Ausdruck partnerschaftlichen Zusammenlebens der verbündeten Nationen. Alljährlich finden zu diesem Zweck bescheidene kleine Volksfeste auf dem Gelände statt, auf welchem sich einmal ein Internierungslager befand. Die Insassen, ehemalige Mitglieder der NSDAP oder ihrer Gliederungen, wurden 1945 von den Amerikanern festgenommen und auf dem Gelände der Straßburg-Kaserne im Stadtteil Algenrodt interniert.

Von den damals Inhaftierten leben nur noch wenige. Sie sprechen nicht gern über diese Zeit und halten sich mit Äußerungen zurück. Auf Befragung geben sie jedoch Auskunft, wollen aber nicht mit ihren Erlebnissen und ihrem Schicksal an die Öffentlichkeit.

[Auch mein längst verstorbener Großvater hat nie über diese Zeit gesprochen. Dass er in Algenrodt interniert war, weiß ich erst seit kurzem – den Namen hatte ich vorher nie gehört. Es war in seiner Generation noch nicht üblich, mit dem eigenen Opferstatus hausieren zu gehen.]

Wenige Tage nach dem Einmarsch der Amerikaner im März 1945 wurden die Ersten verhaftet. Die Amerikaner besaßen vorbereitete Listen, aus denen sie Bedeutung und Rang der NS-Funktionäre kannten. Wurde man der Verdächtigen habhaft, erfolgte sofort die Festsetzung. Wie immer nach einem verlorenen Krieg und dem Zusammenbruch des Regimes, wurden auch Leute denunziert, sei es von den wenigen im 3. Reich Andersdenkenden und den Verfolgten des Regimes oder aus persönlicher Rache heraus.

[Ich glaube nicht, die Verdienste des Autors zu schmälern, wenn ich seine Neigung zur Relativierung und Weichzeichnung kritisiere, die sich hier – nicht zum letzten Mal – zeigt: Es ist keineswegs „immer“ nach einem verlorenen Krieg so, dass der Sieger Jagd auf die Anhänger der alten Regierung macht, was ja die Voraussetzung für solche Denunziationen ist; es ist sogar äußerst ungewöhnlich und weder mit dem Geist noch dem Buchstaben des Kriegsvölkerrechts in Einklang zu bringen.]

Einige NS-Mitglieder bekannten sich aber auch zu ihrer Vergangenheit und wollten möglichst bald in einem Verfahren ihre Angelegenheit geregelt sehen.

Und so sah das für einen Bürger Idar-Obersteins aus:

Er wurde 1934 Mitglied der „Arbeiterfront“ [?] und gehörte damit einer der Gliederungen der NSDAP an [Es ist nicht ganz klar, was der Verfasser hier meint; die Deutsche Arbeitsfront, falls die gemeint sein sollte, war jedenfalls keine Gliederung der NSDAP]. Sein Eintritt in die SA erfolgte verhältnismäßig spät im Jahre 1937. Weit schwerer wog sein Titel als Kreisamtsleiter; diese Bezeichnung beinhaltete die Stellung eines meist ehrenamtlichen Referenten für einen bestimmten Sachbereich, wie z.B. für Kultur oder Sport.

Nach dem Einmarsch der Amerikaner blieb dieser Bürger zunächst unbehelligt. Man kann davon ausgehen, daß er nicht auf der Liste stand, welche die Amerikaner besaßen.

Nach bangem Abwarten und nach dem Versuch, bei antifaschistischen Kräften Hilfe zu erlangen, stellt sich unser Gewährsmann den Amerikanern. Am 26. April 1945 wird er verhaftet, nachdem man ihm am Vortag mitgeteilt hatte, er solle sich bereithalten. Die Verhaftung erfolgt in seinem Wohnhaus, von dort wird er in den „Schützenhof“ gebracht, nach seinen Personalien gefragt, verhört und schließlich mit einem weiteren Festgenommenen in einem Jeep in die Holzbaracken auf der Hohl gebracht. Hier findet eine Leibesvisitation statt, persönliche Dinge werden ihm weggenommen. Am nächsten Tag kann er feststellen, daß sich außer ihm etwa 300 festgenommene Personen, überwiegend aus dem Landkreis Birkenfeld, in den Gebäuden der Hohlkaserne befinden.

Nach diesem Zwischenaufenthalt von etwa 14 Tagen werden die Inhaftierten mit einem Lastwagen nach Trier auf den Petrisberg gebracht. Man schreibt jetzt Ende Mai 1945. Unser Gefangener wird in der Steinbaracke Nr.8 untergebracht. Die Gesamtzahl der Lagerinsassen kennt man nicht. In den Speiseraum wird marschiert, das Essen dauert höchstens 5 Minuten. Der Lagerleitung gehören auch Mitgefangene an, auch sie sind z.T. wie die uniformierten Bewacher bestechlich und korrupt. Diese überall in solchen Notsituationen [Notsituationen???] auftretenden menschlichen Schwächen sprießen erst richtig ins Kraut, als die Gefangenen Verbindung zur Außenwelt aufnehmen dürfen. Ab Juni 1945 ist der Empfang von Paketen erlaubt, jedoch nicht alle erreichen den Empfänger, andere werden teilweise ausgeraubt. Einige wenige Inhaftierte können sich mit deftigen Bestechungen ihre Freiheit erkaufen, in einem Fall z.B. mit 60 Schweizer Uhren.

Der Hunger treibt die Insassen bei allen sich bietenden Möglichkeiten zum Diebstahl (Salz, Brot etc.), die Folgen sind dann Prügel und Bunkerhaft, die Amerikaner haben dazu besondere Käfige bauen lassen.

Im Januar 1946 wird dann endlich der erste Schub entlassen, unser Gewährsmann auch, die anderen Insassen werden nach Diez an der Lahn verlegt.

Nach einem Familienbesuch in Sachsen wird unser Mann erneut denunziert, verhaftet und für ein weiteres Vierteljahr ebenfalls nach Diez gebracht. Dort wird er dann endlich entnazifiziert und entlassen.

Interessant wären sicherlich noch andere Schicksale, vor allem die Gründe für die Verhaftung und die Tatsache, daß der einmal Inhaftierte kein ordentliches Verfahren erhielt, in dem Schuld oder Unschuld hätte ermittelt werden können. So zum Beispiel auch bei einem damals 17jährigen, der dem „Wehrwolf“ [sic] angehört haben sollte. Ein Verdacht bzw. eine Behauptung, die nicht zutraf.

Dem Autor erinnerlich ist eine kurze Bekanntschaft mit einem Wittlicher Kaufmann, dem beim Austreten in der Nähe des Zaunes von einem Wachtposten in den Oberschenkel geschossen wurde. Der Angeschossene mußte deshalb ins Obersteiner Krankenhaus eingewiesen werden.

Aus der Sicht des Historikers ist es bedauerlich, daß keine Aufzeichnungen ehemaliger Inhaftierter vorhanden sind. Auch über das Lager selber wissen wir mit Ausnahme des in diesem Aufsatz benutzten Zeitungsartikels nichts.

Zehn Jahre nach Kriegsende, im Jahre 1955, erschien in der jetzigen Nahe-Zeitung der o.a. Artikel über das Lager Algenrodt, der eigentlich großes Aufsehen hätte erregen müssen. Der Autor ist nicht mehr zu ermitteln, der verantwortliche Redakteur war damals Werner Bohrer. Ihm verdanken wir dieses Zeitdokument.

Die Überschrift war eigentlich schon voller Brisanz:

Über 40 Tote im Konzentrationlager Algenrodt. Mit Eisenstangen und Holzknüppeln zu Tode geprügelt. Gottesdienst über den Prügelszenen. 486 Insassen aus dem Kreis Birkenfeld. 4000 Männer und Frauen in Pferdeställen und Kellerräumen festgehalten.

Am besten läßt man den Schreiber des Zeitungsartikels weiter zu Wort kommen. Man muß dabei bedenken, daß es zwar keine Zensur mehr ab, die Bundesrepublik aber noch nicht ihre volle Souveränität besaß und die Siegermächte durchaus noch „gegenwärtig“ waren. Von daher gesehen, ein mutiger Artikel!

Algenrodt, ein Stadtteil Idar-Obersteins, ist in den Nachkriegsjahren zu einer traurigen Berühmtheit gelangt. Als Konzentrationslager, man nannte es „Anhaltelager“, ging sein Ruf hinaus in alle Teile des westlichen Deutschlands. 4000 überwiegend unbescholtene Männer und Frauen führten in Pferdeställen und Kellerräumen der ehemaligen Artilleriekaserne ein menschenunwürdiges Dasein, weil sie Mitglieder und Funktionäre der NSDAP waren. Sie verdankten zum größten Teil ihre jahrelange Inhaftierung der Denunziation durch eigene Landsleute, die sich persönlicher Dinge wegen im günstigen Augenblick rächen wollten. Wer aber einmal dort eingeliefert war, nach dem krähte kein Hahn mehr – selbst wenn eine Namensverwechslung vorlag, wie es Tatsachen bezeugen.

[Zwischenfrage: Ist es eigentlich zulässig, ein Lager dieser Art ein „Konzentrationslager“ zu nennen? Ja, das ist durchaus zulässig, jedenfalls, wenn man sich den Unterschied zwischen einem Konzentrationslager – wie Dachau – und einem Vernichtungslager – wie Auschwitz – bewusst macht:

Konzentrationslager wurden (und werden!) errichtet, wenn es Machthabern darum geht, politisch missliebige Personengruppen, denen man aber keine Gesetzesverstöße nachweisen und die man deswegen nicht der Justiz überantworten kann und will, im Schwarzen Loch eines rechtsfreien Raumes verschwinden zu lassen und sie dort willkürlicher, brutaler und entwürdigender Behandlung auszusetzen.

Erfunden wurde die Einrichtung wie der Begriff des Konzentrationslagers – im oben genannten Sinne – bekanntlich von den Briten im Burenkrieg. Totalitäre Diktaturen jedweder Couleur haben sich dieses Mittels im innerstaatlichen Machtkampf bedient, aber die westlichen Demokratien haben geradezu eine Tradition daraus gemacht, solche Lager in den von ihnen besetzten Ländern zu errichten. Von den britischen Burenlagern zieht sich eine gerade Linie bis nach Bagram und Guantánamo, und Algenrodt und vergleichbare Lager in Deutschland sind nicht etwa Ausnahmen von der Regel, sondern Glieder einer Kette. Es gehört offenbar zu den immanenten Tendenzen westlicher Demokratien, unter Missachtung des Völkerrechts (dessen Grundlagen gelegt wurden, als die Souveränität von Staaten noch etwas galt) den Feind für vogelfrei zu erklären. Der universelle Geltungsanspruch der liberalen Ideologie schlägt um in einen Totalitarismus, der dem militärischen wie ideologischen Feind nicht einmal die Rechte zugestehen will, die selbst ein verurteilter Verbrecher hat.]

Gleich nach dem Einrücken amerikanischer Truppen in den Märztagen des Jahres 1945 rollte die Verhaftungswelle an. Es war eine denkwürdige Karwoche, als man mit der Aufforderung „Kommen Sie mit!“ in die Familien einbrach und in den meisten Fällen – die im Kreis Birkenfeld bekannten Verhaftungen weisen es heute einwandfrei aus! – unbescholtene Parteimitglieder über das örtliche Gefängnis und das Trierer Russenlager am 26.Mai in das Lager Algenrodt einwies. Frauen wie Männer wurden in Zellen zusammengeworfen und politische Gegner übten Funktionen aus, die ihnen Tür und Tor öffneten. Das persönliche Eigentum galt nichts, und manch einer der Inhaftierten fand nach seiner Rückkehr nur noch einen kärglichen Rest seiner Habe vor. Wie schnell war man damals zum „Kriegsverbrecher“ gestempelt, und wie gerne hätte man in späteren Jahren diese Voreiligkeit wieder rückgängig gemacht.

In verschiedenen Räumen, die untereinander durch Stacheldraht abgeteilt waren, hatte man die Inhaftierten nach dem Grad ihrer „Gefährlichkeit“ untergebracht. Im Bau 13 saßen die sog. Kriegsverbrecher, darunter Bürger Idar-Obersteins, die man kaum mit diesem Titel belegen kann. Im Keller, der sog. „Dunkelkammer“, saßen meist zehn Vernehmungsaspiranten, die sechs Wochen kein Tageslicht sahen, keine Waschmöglichkeit hatten und keine Erlaubnis, eine „Toilette“ aufzusuchen. Dazu war ein Eimer da, den man je nach Laune dem Betroffenen samt Inhalt über den Kopf kippte. Daß sich dabei Schwerkriegsbeschädigte befanden, störte die Bewacher nicht. Die Auswahl für die Dunkelzellen wurde willkürlich getroffen. Sie mußten nur besetzt sein.

Später baute man darüber noch 100 feste Zellen und über ihr [sic], frivolerweise, die Kirche, in der Idar-Obersteiner Geistliche predigten. Bei einem Thema allerdings „Ihr müßt nun ernten, was ihr gesäet habt…“ kam es zu einem stillen Protest, der allerdings für die Gefangenen peinliche Folgen hatte.

Meistens in den Nachtstunden begann das Martyrium der Inhaftierten. Mit Knüppeln schlug man auf sie ein, unvorstellbare Mißhandlungen waren an der Tagesordnung, und über 40 Tote sind die Folge dieser von den Amerikanern als auch von den Franzosen geübten Rache. Selbst über 80 Jahre alte Gefangene schliefen ohne Stroh und Decke auf dem blanken Pferdestallboden.

Die Verpflegung war zum Sterben etwas zuviel, zum Leben jedoch entschieden zu wenig. Morgens, meist zwischen 10 und 11 Uhr, gab es zwei Scheiben Brot und drei Viertel Liter warmes Wasser. Zwischen 15 und 17 Uhr gab es eine Suppe – ebenfalls drei Viertel Liter – mit Haferspreu und Kartoffelschalen. Es war klar, daß sich schon nach wenigen Wochen gesundheitliche Schädigungen einstellten, und Gewichtsabnahmen bis auf 80 Pfund herab waren keine Seltenheit.

Auf militärische Disziplin legte man großen Wert. Betrat ein Offizier das Lager, mußte alles strammstehen (selbst Frauen hatten die Hände anzulegen) und wenn nicht gegrüßt wurde, entzog man eben einmal auf 24 Stunden das warme Wasser. Keiner der Insassen wird die sog. „Filmnacht“ vergessen, eine Blutnacht, die einer Filmvorführung über das Konzentrationslager Dachau auf dem Fuß folgte. Was man dort als abscheulich hingestellt hatte, sollte hier „zum Abgewöhnen“ wiederholt werden. Nachdem man die Bewachungssoldaten betrunken gemacht hatte, wurden 50 Mann in den „Dunkelkammern“ zusammengeschlagen, daß ihre Schreie kilometerweit zu hören waren.

[Es handelte sich also nicht etwa um bedauerliche Ausschreitungen von Einzelpersonen, sondern um gezielte Politik: Die Bewacher wurden „scharf gemacht“ in dem Sinne, wie man Bluthunde scharf macht.]

Mit der Übergabe des Lagers an die Franzosen im Juli 1945 änderte sich zunächst nichts. Erst bekam man 24 Stunden lang nichts zu essen und unter der Leitung des Capitaine Thomas, des Oberleutnants Goldstrich und eines Unteroffiziers namens Corbin, den man als üblen Schläger ewig in Erinnerung halten wird, begann ein Leidensweg, den man sich scheut, in aller Öffentlichkeit zu schildern.  Schießereien waren an der Tagesordnung, und wenn man nachts das Schlägerkommando in den Hallen auftauchen sah, suchte man sofort volle Deckung, um vor Schußverletzungen sicher zu sein. Dieses Leidensmaß konnte ein später hinzugekommener älterer französischer Offizier, den man das „Posthörnchen“ nannte, auch nicht wesentlich mildern. Sein Verständnis und seine menschliche Haltung gaben manchen Inhaftierten den Glauben an die Menschheit zurück. Mit der Aera „Salin“, dem Nachfolger von Capitaine Thomas, hörten die Schlägereien, nicht aber die Schikanen, auf, die noch durch den deutschen Lagerleiter Schmidt, einen Saarländer, unterstützt wurden.

Die Internierten sprechen mit Hochachtung vom Roten Kreuz Idar-Obersteins, von den helfenden Händen der Bevölkerung und dem Verständnis der kath. Geistlichen und des evangel. Pfarrers von Oberstein. Sie haben geholfen, wo es ging, und manch einer gedenkt des tunesischen Berwachungssoldaten, der beide Augen zudrückte mit dem Bemerken „Du Gefangener, ich Gefangener“. Sie sahen sich allerdings außerstande zu helfen, wenn alle Insassen eines Blocks wie Hunde bellen mußten, wenn ihnen das heiße Essen ins Gesicht geschüttet wurde oder wenn das mit Boxhandschuhen ausgestattete „Boxkommando“ kam, um Insassen einzelner Zellen nach Belieben zusammenzuboxen. Wen nimmt es Wunder, wenn man lieber sterben wollte, als noch länger die sadistischen Grausamkeiten dieser Lagerleitung zu ertragen?

Mit der Verlegung nach Diez in den Fastnachtstagen 1946 wurde es dann langsam besser, wenn auch Paketsperren, stundenlanges Antreten und Schikanen noch immer an der Tagesordnung waren. Die körperlichen Mißhandlungen hatten aber ein Ende, und den Angehörigen war es möglich, mit den Inhaftierten in briefliche Verbindung zu treten.

Um einseitiger Schilderung vorzubeugen, soll ein anderer, damals noch jugendlicher Insasse zu Wort kommen, der heute [1984] den Zeitungsbericht kritisch kommentiert:

Der Bericht zeigt die Mehrzahl der Fakten richtig auf. In seiner Tendenz vermittelt er jedoch ein Zerrbild, das dem Alltag in dem Internierungslager Algenrodt nicht gerecht wird.  Die Lebensbedingungen waren hart. Es gab ein strenges Reglement, Schikanen und auch Ausschreitungen des Bewachungspersonals. All dies muß jedoch im Zusammenhang mit dem Schicksal der Deutschen im Jahre 1945 gesehen werden. Damals gab es Millionen von Kriegsgefangenen, Vertriebenen und Flüchtlingen, unsere Städte lagen in Trümmern und überall herrschte Elend und Not. Vor diesem Hintergrund war ein Lagerleben in Algenrodt als „noch erträglich“ und das Verhalten der Besatzungsmächte – amerikanische und später französische Militärverwaltung – als „nicht aus dem Rahmen fallend“ angesehen worden.

[Nach dem Motto: Wenn ohnehin alles in Trümmern liegt, kommt es auf ein KZ auch nicht mehr an. Dass der Kommentator die Zustände verbal zu beschönigen versucht, verursacht leichten Brechreiz; zugleich ist aber gerade dieser Wille zur Schönfärberei, verbunden mit der gleichzeitigen Bestätigung praktisch aller Tatsachenbehauptungen des Zeitungsartikels, der denkbar stärkste Beleg dafür, dass diese Behauptungen tatsächlich der Wahrheit entsprechen.]

Das soll nicht sagen, dass die Menschen im Lager nicht gelitten hätten; unter Hunger, einem ungewissen Schicksal, nicht wenige auch unter den Schikanen des Bewachungspersonals.

Bei einer Bewertung der Lagersituation darf nicht übersehen werden, daß die Bewcher davon ausgingen, sie hätten die „Super-Nazis“, die Terror und Elend über die Welt gebracht hatten, vor sich. Dies war ein Irrtum, …

[Nein, das war gewollte Ignoranz! Einen bloßen Irrtum hätte man ganz leicht aus der Welt schaffen können. Allein die Verhöre, wenn sie denn ernsthaft mit dem Willen zur Wahrheitsfindung geführt worden wären, hätten zu der Einsicht führen müssen, dass wahrscheinlich die meisten Internierten biedere Familienväter waren, die im guten Glauben gehandelt hatten, ihrem Land und dessen legaler Regierung dienen zu müssen. Das herauszufinden war aber gerade nicht der Sinn der Sache!]

… obwohl nicht zu verkennen war, daß die Mehrheit der Internierten zur unteren Führungsschicht des NS-Staates gehörten. Viele waren jedoch auch per Zufall, aufgrund Denunziation oder falscher Einschätzung verhaftet worden.

Das Lager war ein Teil einer ehemaligen Artilleriekaserne, nämlich eine große Reithalle, Pferdeställe und Geräteschuppen. Als Bett dienten Holzgestelle (zum Teil) mit Strohsäcken und einer Decke. Persönliches Eigentum gab es nicht. Jeder trug die Kleidung, die er bei seiner Verhaftung anhatte. Manche hatten nur eine Hose und ein Hemd. Uhren waren, wie überall in Deutschland, ein begehrtes Objekt der Wachsoldaten; sie haben in der Regel bereits beim Eintreffen in das [sic] Lager den Besitzer gewechselt.

Es gab einen Sonderbau für sogenannte Kriegsverbrecher, in dem sich etwa 300 Menschen befanden. Die meisten standen im Verdacht, kriminelle Handlungen begangen zu haben; so etwa Mißhandlungen von Menschen im besetzten Ausland oder an abgeschossenen Flugzeugpiloten, bei Judendeportationen oder bei Tätigkeiten als Mitglied der Geheimen Staatspolizei pp.

Schließlich gab es den in dem Bericht erwähnten Keller, die sogenannte Dunkelkammer (2×2 m). Der normale Internierte kannte diese nur vom Hörensagen. Angeblich waren dort nur „schwere“ Kriegsverbrecher, die auf ihre Aburteilung warteten, untergebracht.

Es waren kleine Zellen, die außer einem Brett zum Liegen keinerlei Einrichtungen enthielten. In diesen „Löchern“ wurden auch Vergehen gegen die Lagerordnung (etwa Kassiber schieben) geahndet. Drei Tage Bunker bedeutete auch drei Tage Prügel. Ohne Zweifel, scheußliche Verletzung der Menschenwürde.

Ich kann nicht bestätigen, daß es 40 Tote, wie die Überschrift angibt, gegeben hat. Jedenfalls nicht infolge von Mißhandlungen. Wahrscheinlich sind insgesamt 40 Menschen verstorben. Das wäre bei dem unterschiedlichen Alter (15-80 Jahre) und den äußeren Lebensbedingungen durchaus denkbar.

[Greise unter solchen Umständen zu inhaftieren, fällt für den Kommentator offenbar nicht unter „Misshandlungen“.]

Ein besonderes Problem war der Hunger (siehe Bericht des DRK). Erwähnt werden muß aber, daß die Franzosen, m.E. seit Herbst 1945, die Zusendung von Lebensmittelpaketen zuließen. Da die meisten Internierten aus der französischen Besatzungszone waren, schleppten die Angehörigen Brot und andere Lebensmittel herbei. So gab es Satte und Hungrige.

Jeder Paketempfänger war gehalten, etwa 1/10 der Lebensmittel an Nicht-Paketempfänger abzugeben. Der französische Kommandant meinte, es brauche eigentlich niemand zu hungern. Dies war übertrieben. In Wirklichkeit verhinderten die Pakete, die überwiegend unter großen Opfern der Angehörigen aufgebracht wurden, die Katastrophe. Wahrscheinlich hat man sie deshalb zugelassen.

Als weiteres Dokument sei ein Bericht des IKRK vom 4.12.1945 angefügt:

Betr.:
Lager Idar-Oberstein (Algenrodt)
Lg.Nr. 51 Ziv.- u. Polit.Int.Lager
Gew.Macht: franz.
(lt. IKRK-Besuch vom 3.12.45)

Belegstärke:
3795 Personen (3618 Männer und 177 Frauen)

Unterkunft:
Holzbaracken und Stengebäude. Fenster ohne Scheiben, Strohsäcke schlecht gefüllt oder leer. Decken nicht ausreichend. Keine Heizung.

Hygiene:
Waschgelegenheit unzureichend.
Latrinen primitiv und nicht genügend desinfiziert.

Ernährung:
550 Kalorien
9,00 Uhr = 100 gr. Brot, 1/2 l Kaffee
15,00 Uhr = 100 gr. Brot, 1 l Suppe

Bekleidung:
Nicht ausreichend.

Disziplin:
Sehr streng. Arrestzellen im Keller, Größe 2×2 mtr.

Gesundheitswesen:
Zur Betreuung der Gefangenen standen 10 Ärzte zur verfügung. Keine Medikamente, sonst kaum Instrumente (2 Thermometer im Revier). Allgemeine Unterernährung.
532 Fälle von Hungerödemen
150 Fälle von Skorbut
leichte Fälle wurden im Revier behandelt = 58 Fälle
Größe des Lager-Reviers war 60 Betten
schwere Fälle kamen in Ziv.-Krankenhäuser = 153 Fälle

Die Delegation des IKRK befürchtet eine Katastrophe bei Fortdauer dieser Lagerzustände.

Dies alles geschah mitten unter uns. Die Folgen der NS-Zeit und des verlorenen Krieges werden in unserem Heimatraum genau so verschwiegen wie die Zeit des 3. Reiches selbst. Die Beteiligten, seien sie führend, nachlaufend duldend oder ablehnend gewesen, halten sich bedeckt.

Offenbar bleibt es der Nachwelt überlassen, das Thema aufzuarbeiten. Dann wird man nach schriftlichen Quellen suchen, die Zeitgenossen aber wird man nicht mehr fragen können.

Gerd Schultze-Rhonhof: „1939 – Der Krieg, der viele Väter hatte“ (Rezension)

51QgP4B9ovL._SL210_Man tut dem Bundeswehr-Generalmajor a.D. Gerd Schultze-Rhonhof, der in seinem Werk die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs untersucht, sicherlich nicht Unrecht, wenn man ihn einen Revisionisten nennt. Wer das Wort „Revisionist“ freilich als Vorwurf gebraucht, sollte sich darüber im Klaren sein, in welche geistige Tradition er sich damit stellt: „Revisionisten“ nannte man in der Bebel-SPD und später auch in allen anderen marxistischen Organisationen diejenigen Theoretiker, die die Lehre von Marx und Engels re-vidieren (von lat. re-videre: neu betrachten) und korrigieren wollten. In Ländern, in denen Kommunisten zur Macht gelangten, galt es den Ruch des „Revisionismus“ schon deshalb zu meiden, weil zu gewissen Zeiten bereits der Verdacht den Kopf kosten konnte.

Der wissenschaftliche Fortschritt freilich lebt von der ständigen Revision, von der Neu-Betrachtung, von der Infragestellung vertrauter Sichtweisen und etablierter Konzepte. Das Wort „Revisionist“, verwendet als Vorwurf, disqualifiziert nur den, der es in den Mund nimmt. Für den, dem es gilt, kann es durchaus ein Ehrentitel sein.

Freilich ist nicht jede Revision, egal in welcher Wissenschaftsdisziplin, schon deshalb brauchbar, weil sie eine solche ist. Sie muss mit dem vorhandenen Daten- bzw. Quellenmaterial vereinbar sein und dem etablierten theoretischen Paradigma an Erklärungskraft mindestens gleichkommen. Indem Schultze-Rhonhof die These vertritt, der Zweite Weltkrieg habe „viele Väter“ gehabt, tritt er gegen ein Geschichtsbild an, das die Fachhistoriker zwar wissenschaftsintern weitaus differenzierter darstellen, als es etwa in Schulbüchern oder Nachrichtenmagazinen ankommt, dessen Grundzüge man aber dennoch im Großen und Ganzen so zusammenfassen kann:

Bereits das deutsche Kaiserreich habe nach der deutschen Herrschaft mindestens über Europa, möglichst aber über die ganze Welt gestrebt. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg sei dieses Streben, untermauert durch eine sozialdarwinistische Ideologie, in verschiedenen – gemäßigteren und radikaleren Varianten – das Programm der deutschen Rechten gewesen, am radikalsten verkörpert in Hitler und seiner NSDAP. Hitler habe von Anfang an danach gestrebt, durch sukzessive Ausschaltung von Nachbarstaaten erst die Machtbasis des Deutschen Reiches so weit auszubauen, dass der Krieg auch gegen Großmächte mit Erfolg geführt werden konnte, dann Frankreich und notfalls auch England auszuschalten, und schließlich die Sowjetunion zu vernichten, um dort Lebensraum für Deutsche zu gewinnen, vielleicht auch die Grundlage für einen Krieg gegen Amerika zu legen und damit endgültig zur Weltherrschaft vorzustoßen.

Das Bestechende an diesem Geschichtsbild ist – noch bevor es um Quellen und Fakten geht – seine narrative Struktur: Es gibt eine klare Verteilung von Gut und Böse, es gibt einen Spannungsbogen: Das Böse baut sich auf, bis es fast, aber eben nur fast, übermächtig wird, von einem einen kleinen gallischen Dorf – Großbritannien – in die Schranken gewiesen und schließlich von einem unerschrockenen weißen Ritter – Amerika – vernichtet wird. Und es gibt eine Moral von der Geschicht.

Diese Struktur ist doppelt vertraut: Sie entspricht zum einen der eines Märchens, zum anderen – mit dem Motiv des Endkampfs zwischen Gut und Böse – der der Apokalypse. Das heißt selbstverständlich nicht, dass es nicht stimmen kann. Man muss sich nur bewusst sein, in welchem Maße dieses etablierte Geschichtsbild den Erwartungen an schöne Literatur entspricht, und in welchem Maße es religiöse Bedürfnisse bedient.

Vor vielen Jahren wurden in „Versteckte Kamera“ die Versuchspersonen aufs Glatteis gelockt, indem ein Passant, scheinbar mit einem Stadtplan in der Hand, sie nach dem Weg zum Bahnhof fragte und sich diesen Weg auf dem „Stadtplan“ erklären ließ, der in Wirklichkeit ein Schnittmuster aus „Burda Moden“ war. Da entspannen sich dann Dialoge wie:

„Also, sie müssen jetzt hier geradeaus“
„Bei ‚Fadenlauf‘?“
„Ja genau, und dann hier rechts…“
„Richtung ‚Tasche‘?“
„Ja, ja. Und dann links“
„An ‚Knopfloch‘ vorbei?“
„Ganz recht.“

Die Bereitschaft, eine angebotene Situationsdefinition (hier also das Schnittmuster als „Stadtplan“) als „wahr“ zu übernehmen, kann so stark sein, dass auch offenkundige Widersprüche in oder zu dieser Definition nicht wahrgenommen werden. Und man glaube nicht, dass diese Bereitschaft sich auf die überraschten Versuchspersonen bei „Versteckte Kamera“ beschränkt.

Ich zum Beispiel war jahrelang der Überzeugung gewesen, das Hossbach-Protokoll vom 5. November 1937 enthalte Hitlers Ankündigung, einen Weltkrieg führen zu wollen, mithin den Beweis für die Richtigkeit des oben zitierten Geschichtsbildes. Dabei hatte ich das Protokoll schon mehrfach gelesen: Es enthält Hitlers Ankündigung, die Tschechoslowakei und Österreich anzugreifen, dazu Überlegungen, unter welchen Voraussetzungen ein solcher Schlag geführt werden könne, und wie sich die anderen Mächte dann verhalten würden. Schwerwiegend genug und für die Anklage im Nürnberger Prozess, in dem es ja um den Anklagepunkt „Angriffskrieg“ ging, zweifellos ein wichtiges Beweisstück, aber eben nicht ein Beweis für einen Masterplan zur Weltherrschaft. Obwohl ich es also besser hätte wissen müssen, bin ich erst durch Schultze-Rhonhofs Analyse darauf gestoßen worden, dass ich genauer hätte lesen müssen. Dies nur als Beispiel dafür, wie stark der Einfluss einer scheinbar selbstverständlichen Deutung und wie hilfreich es bisweilen sein kann, Dinge „neu zu betrachten“.

Schultze-Rhonhof geht offenbar von der Annahme aus, dass es keinen Masterplan gegeben habe, sondern dass Hitlers Außenpolitik vor allem den jeweils taktischen Erwägungen des Augenblicks entsprang, und zeichnet Stationen dieser Außenpolitik nach. Für diese Annahme spricht zweifellos der sprunghafte Charakter Hitlers und seiner Politik, die oft extremen Schwankungen und Kehrtwendungen, sein Hang zur Improvisation und generell der chaotische Charakter der Entscheidungsfindung im NS-Staat.

Die entgegengesetze Annahme der vorherrschenden Geschichtsdeutung, Hitler habe strengsten Dogmatismus der Theorie, Strategie und Planung mit maximalem Opportunismus der Praxis, Taktik und Durchführung verbunden, enthält einen latenten Widerspruch; die beiden Teile dieser Auffassung passen jedenfalls nicht bruchlos zusammen. Sie muss nicht falsch sein, aber ich kann nicht erkennen, was dagegen sprechen sollte, die Alternative zu erwägen, dass Hitler womöglich auf der Basis vor allem taktischer Überlegungen gehandelt hat. Vielleicht ging es ihm eher um seinen eigenen Platz in den Geschichtsbüchern als um die Verwirklichung der Ideen, die er 1924 in „Mein Kampf“ niedergelegt hatte, und vielleicht sind die dort niedergelegten Gedanken mehr ein Ideendepot gewesen, aus dem er sich bei Bedarf bediente, über das er sich aber ebenso hinwegsetzten konnte.

Bemerkenswerterweise hält sich auf einem angrenzenden Forschungsgebiet, nämlich der Holocaustforschung, hartnäckiger Widerstand gegen die von der breiten Öffentlichkeit verinnerlichte „intentionalistische“ These, und zwar im Zentrum der Geschichtswissenschaft, nicht an der Peripherie; besonders bekannt ist Hans Mommsens Deutung des Entscheidungsprozesses, der schließlich in den Holocaust mündete, als eines Prozesses „kumulativer Radikalisierung“. Das Regime, so lautet grob die These, habe sich selbst in Zwänge verstrickt, die wie von alleine zu immer radikaleren „Lösungen“ drängten, am Ende eben zur „Endlösung“. Ich halte es durchaus für diskutabel, für die Außenpolitik des Regimes eine ähnlich schrittweise Radikalisierung wenigstens als Hypothese anzunehmen, und Hitlers sozialdarwinistischem Weltbild in diesem Kontext dieselbe Rolle zuzuschreiben wie dem Antisemitismus in der strukturalistischen Deutung des Holocausts, also die Rolle eines allgemeinen ideologischen Rahmens, ohne den die späteren Entwicklungen zwar undenkbar wären, der aber für sich genommen kein hinreichendes Explanans darstellt.

Schultze-Rhonhof freilich trifft solche Annahmen mehr implizit als explizit. Er hat nicht den Ergeiz, der etablierten Geschichtserzählung einen ebenso umfassenden Gegenentwurf entgegenzustellen; überhaupt sind theoretische Überlegungen weniger seine Sache. Er versucht, die Situation aus der Sicht der jeweiligen Akteure (Hitler, die europäischen Mächte, die deutsche Generalität, das deutsche Volk) zu schildern, und deren Handlungen zu verstehen, um zu einem Gesamtbild zu gelangen. Dies ist die Schwäche und zugleich die Stärke seines Ansatzes.

Die Schwäche liegt offenkundig darin, dass eine jeweils situationsbezogene Analyse nicht die Kohärenz des etablierten Geschichtsbildes erreicht. Im Grunde überlässt es der Autor seinem Leser zu entscheiden, in welchen theoretischen Rahmen er das einordnen möchte, was er erfährt.

Was der Autor aber erreicht, ist dass er dem Leser den Erfahrungs- und Erwartungshorizont der damaligen Akteure vor Augen führt: Wer in der Nachkriegszeit aufgewachsen ist, wird sich kaum bewusst sein, welche existenzielle Bedeutung damals zum Beispiel die Probleme nationaler Minderheiten hatten: Man konnte in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in einer ganzen Reihe von Ländern entlassen, ausgewiesen, enteignet oder totgeschlagen werden, nur weil man einer ethnischen Minderheit angehörte; und da das Selbstbestimmungsrecht von Deutschen von den Siegermächten besonders gering geachtet wurde und große Gebiete mit deutscher Bevölkerung an Fremdstaaten vergeben wurden, waren Deutsche besonders häufig von solchen Praktiken betroffen. Auch dass die Vorstellung vom fehlenden „Lebensraum“ damals nicht spezifisch nationalsozialistisch oder spezifisch deutsch war, wird nicht jeder wissen.

(Tatsächlich gehörten solche Vorstellungen zu den Grundlagen von Kolonialpolitik; die großen Kolonialmächte selbst beklagten sich natürlich nicht über fehlenden Lebensraum, denn sie hatten das „Problem“ für sich ja gelöst – oder glaubten, es gelöst zu haben. Dass in Ländern wie Deutschland, aber auch Polen die Ansicht verbreitet war, hier harre ein dringendes Problem der Lösung, war Folge dieser in ganz Europa vorherrschenden Denkrichtung.)

In Deutschland mussten Lebensraum-Ideologien auf besonders fruchtbaren Boden fallen, weil die britische Hungerblockade, die während des Ersten Weltkrieges rund eine Million deutsche Zivilisten umgebracht hatte, der These vom „Volk ohne Raum“ (speziell ohne ausreichende Rohstoffe und landwirtschaftliche Nutzfläche) ein Maß an Plausibilität verlieh, das sonst ganz unverständlich wäre – auch daran erinnert Schultze-Rhonhofs Buch. Seine Darstellung des von den Alliierten in Versailles und danach begangenen Unrechts hat nicht etwa die Funktion einer billigen Aufrechnung, sondern dient dazu, den Nachgeborenen den Hintergrund zu vergegenwärtigen, vor dem damals Politik gemacht wurde.

Des Autors Freude am Detail mehr als an den großen Linien führt zu mancher Erkenntnis, die nachdenklich stimmt. So kennt zum Beispiel jeder, der sich mit dem Weg in den Zweiten Weltkrieg beschäftigt, den Hitler zugeschriebenen Satz: “Ich habe nur Angst, dass mir im letzten Moment irgendein Schweinehund einen Vermittlungsvorschlag vorlegt.“ aus seiner Rede vor der Generalität vom 22.August 1939. Eine solch pointierte Aussage ist zur Popularisierung wie geschaffen und rundet das Bild des unablässig auf Krieg drängenden Diktators ab.

Ich hatte mich schon immer gewundert, dass Hitler gegenüber der hochkonservativen deutschen Generalität eine solch vulgäre Sprache gebraucht haben soll, ohne Befremden auszulösen, und hatte es darauf zurückgeführt, dass unter dem Einfluss des NS-Regimes die Verlotterung der Wehrmacht bis hinein in die Umgangsformen früh um sich gegriffen haben müsse. Schultze-Rhonhof dagegen macht plausibel, dass dieser Satz weder so noch sinngemäß gefallen ist, sondern dass es sich bei der fraglichen Version des Redeprotokolls um eine Fälschung handelt, die der Anklage im Nürnberger Prozess zugespielt wurde, um die deutschen Generale kollektiv für die Entfesselung des Krieges mitverantwortlich zu machen.

Im Hinblick auf die Rezeption des Buches ist erstaunlich, mit welcher Verbissenheit gerade die Kernthese angefochten wird, dass der Zweite Weltkrieg „viele Väter“ gehabt habe: weniger von der Fachwelt, die erwartungsgemäß das Werk des Außenseiters – Schultze-Rhonhof ist kein Historiker – ignoriert, sondern von den Rezensenten speziell der FAZ und der „Welt“, die bei dieser Gelegenheit wieder einmal dem Verdacht Nahrung geben, im Mediensystem etwa das zu sein, was die Unionsparteien im politischen System sind, nämlich bloße Konservatismus-Surrogate; in beiden Rezensionen spielt jedenfalls die Frage eine untergeordnete Rolle, ob das, was Schultze-Rhonhof schreibt, wahr ist. Es scheint eher darum zu gehen, aus volkspädagogischen Gründe eine bestimmte Version von Geschichte aufrechtzuerhalten – und sei es dadurch, dass man den Autor als Person diffamiert und ihn – was sonst? – in die rechte Ecke schiebt.

Dabei ist gerade die These, dass der Zweite Weltkrieg viele Väter hatte, alles andere als eine „Legende“, wie der FAZ-Schreiber meint: Im Ernst streitet doch kein Historiker ab, dass der Versailler Vertrag eine Fehlkonstruktion war, der einen Revancheversuch Deutschlands wahrscheinlicher machte; dass Polen eine aggressive Macht war, die unglaublich brutal mit ihren vielen ethnischen Minderheiten umsprang; dass die Tschechoslowakei ihre Minderheitenprobleme bis in die deißiger Jahre verschleppt und sich so selbst zu einem Krisenherd erster Güte gemacht hatte; dass Polen eher bereit war, einen Krieg mit Deutschland zu riskieren, als irgendwelche Zugeständnisse in der Danziger und Korridorfrage zu machen, und dies, obwohl die durchaus maßvollen deutschen Wünsche Ende 1938 und Anfang 1939 keine Gebietsforderungen gegen Polen enthielten und nach Jahren der deutsch-polnischen Zusammenarbeit keineswegs mit ultimativen Drohungen vorgebracht wurden, sondern in einem Stil, wie er zwischen befreundeten Ländern üblich ist. Und zumindest diskutabel ist die These, dass England mit seiner Garantie für Polen und Frankreich mit seinen leeren Versprechungen militärischer Unterstützung Polens Halsstarrigkeit verstärkt hat, vielleicht auch absichtlich. Viele Väter, in der Tat.

Aaaaaber, lautet jetzt der typische Einwand, über den ich mich schon deshalb nicht lustig machen werde, weil ich ihn noch vor kurzem selbst vertreten habe: Sind nicht die Handlungen der anderen europäischen Mächte vom Amtsantritt Hitlers an tatsächlich sozusagen bedeutungslos (wie das vorherrschende intentionalistische Paradigma suggeriert) bzw. nur als Fehler von Bedeutung, wie etwa die Appeasementpolitik, also als Fahrlässigkeit statt Vorsatz, weil Deutschland in jedem Falle einen Krieg entfesselt hätte, und zwar den in „Mein Kampf“ angekündigten großen Lebensraumkrieg gegen Russland?

Zumindest was Polen angeht, stimmt es nicht. Polen hätte sich mit Deutschland verständigen können, auch ohne den Beitritt zum Antikominternpakt; auch das stellt Schultze-Rhonhof klar, und ich kenne keinen Historiker, der es bestreiten würde.

Die Frage, ob die Folge einer solchen Verständigung ein großer Krieg (gegen Frankreich, Russland oder wen auch immer) gewesen wäre, kann man, wenn man ehrlich ist, nicht beantworten. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie von der etablierten Forschung bejaht wird, dürfte jedenfalls weniger auf unabweisbarem Quellenzeugnis beruhen als vielmehr auf dem Deutungsangebot der großen Erzählung von Aufstieg und Fall des raffinierten Teufels Hitler, der 1923 schon wusste, was er 1943 tun würde. Die bloße Existenz einer solch „runden“ Erzählung wirkt wie ein gemachtes Bett, in das man sich nur hineinlegen muss.

Ob diese Erzählung allerdings wirklich einem guten Stadtplan entspricht oder einem Wegweiser nach „Fadenlauf“, lasse ich dahingestellt. Auch Schultze-Rhonhof beantwortet diese Frage letztlich nicht. Er erschüttert die Plausibilität der vorherrschenden Geschichtsdeutung in einigen Details, indem er die situativen und taktischen Momente der deutschen Außenpolitik in den Blickpunkt rückt, bietet aber letztlich keine eigene überzeugende Deutung an. Die Stärke des Buches, dem Leser die seltsame Welt der Zwischenkriegszeit plastisch vor Augen zu führen, wird erkauft mit einer gewissen Kurzsichtigkeit der Deutung. Das Bedürfnis des Autors, ein wahrscheinlich allzu einseitiges Geschichtsbild zu korrigieren, bringt ein Geschichtsbild hervor, das seinerseits blinde Flecken aufweist.

Nichtsdestotrotz: Das Werk bietet eine Fülle an wichtigen Details, die der Fachwelt bekannt sind, dem breiten Publikum aber nicht, und die es anderswo in dieser Dichte und Übersichtlichkeit nicht zu lesen gibt. Deshalb ist es lesenswert und regt zum Nachdenken und Weiterfragen an. Nicht mehr, nicht weniger.

Resozialisierung

„Der Fall Scheungraber lässt … ganz besonders deutlich eine Merkwürdigkeit erkennen, die mir bereits seit vielen Jahren aufgefallen ist:Gewöhnlich wird seit Ende der sechziger Jahre in der Justiz das Ziel einer Resozialisierung besonders hoch gewichtet, während der Sühnegedanke fast völlig verpönt ist. Das gilt aber offenbar nur für Leute, die beispielsweise eine wehrlose alte Frau niederschlagen, um ihr die Handtasche zu rauben; bei Straftaten im Zusammenhang mit Krieg und Nationalsozialismus spielt die Resozialisierung offenbar keine Rolle, zumal sie ja mittlerweile zumeist völlig vollzogen ist. Dafür wird die sonst kaum noch erwähnte Sühne plötzlich zum höchsten und einzigen Ziel des richterlichen Strebens.“

Friedel B.