Mancher kennt Ernst von Salomons Roman „Der Fragebogen“ wenigstens vage und dem Titel nach. Fragebogen? Ja, da war mal was. Stand irgendwann mal auf einer Liste deutscher Nachkriegsliteratur, die uns in der elften Klasse ausgeteilt wurde. Haben wir in der Schule sonst irgendetwas darüber gehört? Ich erinnere mich nicht. Vielleicht hat irgendwann eine Mitschülerin, die mit dem Thema nichts anfangen und deshalb das Buch nicht verstehen konnte, eines jener grausigen Schülerreferate gehalten, bei denen man nach 20 Sekunden abschaltet, aber genau weiß ich es nicht mehr. Die Böllschen Langweiler waren ja viel wichtiger.
Und so bin ich erst jetzt auf das Buch gestoßen, das in den fünfziger Jahren – völlig zu Recht – ein Bestseller war: Es ist exzellent geschrieben, es enthält kein überflüssiges Wort, dafür an vielen Stellen einen gewissen federnden Sarkasmus, mit dem der Autor nicht zuletzt sich selber auf die Schippe nimmt. Vor allem aber ist es einfach ein Leseabenteuer; es erzählt die Geschichte der Jahre ab ungefähr 1920 bis 1946 ohne den volkspädagogisch erhobenen Zeigefinger, mit dem andere Werke nichts erklären, nur sich selbst und ihren jeweiligen Autor unerträglich machen. (Wer war nochmal dieser Böll? Richtig, das ist der, dessen Bücher niemand mehr liest, seit er tot ist, und wenn nicht passenderweise die Grünen ihre Parteistiftung nach diesem Paradegutmenschen der siebziger und achtziger Jahre benannt hätten, hätte niemand Anlass, seinen Namen überhaupt noch in den Mund zu nehmen. Marcel Reich-Ranicki nannte ihn einmal „eine Notlösung“; weil erstklassige Schriftsteller sich nicht als Propagandaschreiber hergeben wollten, griff man auf zweitklassige zurück und überschüttete sie mit Lob bis hin zu Nobelpreisen für Literatur, auf dass nur ja niemand ihre Erstklassigkeit anzweifle.)
Von Salomon gehörte zu den erstklassigen. Der Fragebogen, von dem der Roman handelt, ist jener, mit dessen Hilfe die amerikanische Militärregierung nach dem Krieg Deutschland entnazifizieren wollte. 133 hochnotpeinliche Fragen, die den Betroffenen, egal wie er sie beantwortete, zum Kotau zwangen. Es gab dafür durchaus ein historisches Vorbild: Wie Sebastian Haffner in seiner „Geschichte eines Deutschen“ berichtet, musste sein Vater, ein in Ehren ergrauter preußischer Beamter, nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten einen ähnlichen Fragebogen ausfüllen, und konnte die Erniedrigung für den kurzen Rest seines Lebens nicht verwinden.
Überhaupt schienen die alliierten Besatzungsmächte sich bei ihrer Revolution von oben – es ging ja um nicht weniger als die Umerziehung eines ganzen Volkes, möglichst unter Ausschaltung der Führungsschichten – die Politik der Nationalsozialisten ab 1933 zum Vorbild genommen zu haben. Die von Salomon geschilderten Zustände in den amerikanischen Konzentrationslagern, die man deshalb auch so nennen darf, unterschieden sich bis in die Einzelheiten hinein nicht wesentlich von denen, die aus Dachau und Buchenwald geschildert (und den dort hinbeorderten Schülergruppen stets als Beweis für den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus präsentiert) wurden und werden. (Sie entsprechen auch dem, was wir über das französische KZ Algenrodt erfahren haben, über das ich Anfang dieses Jahres schrieb.) Um es kurz zu machen, bestand der Lageralltag aus Hunger, Prügeln und Erniedrigung. Halt – einen Unterschied gab es schon: Die Nazis hatten wenigstens darauf geachtet, ihre wirklichen Gegner zu inhaftieren; wer aber in das Räderwerk der amerikanischen Menschenjagd geriet, ob Nazi oder nicht, der verblieb dort erst einmal. Von Salomon zum Beispiel wurde nach über einem Jahr (!) als „irrtümlich Verhafteter“ entlassen.
Ich war einfach in die Maschinerie hineingeraten, und nun war ich drin. Das ging mir nicht allein so. Eines Tages fuhren Lastwagen vor, und es wurden Internierte abgeladen, etwa zweihundert Mann. Wir fragten sie, sie waren alle aus Landshut und Umgebung. Sie sagten, sie wüßten den Grund ihrer Verhaftung nicht. Wir fragten sie, ob sie in der Partei waren, sie sagten nein, wir fragten, jeden einzeln, was sie von Beruf wären, ob sie in der Wehrmacht waren, – der eine war Arzt, der andere Apotheker, der dritte Zahlmeister, einer war nichts, gar nichts, beim Militär war er Stabsgefreiter. Kodak fand des Rätsels Lösung. (…) Just war von der Anklage in Nürnberg die Forderung erhoben worden, den deutschen Generalstab als Verbrecherorganisation zu erklären. Daraufhin hatte der Landshuter Resident-Officer sich die Fragebogen vorgenommen und alles, was die Bezeichnung „Stab“ vor seinem Range führte, verhaften lassen: Stabsärzte, Stabsapotheker, Stabszahlmeister, Stabsintendanten, Stabsgefreite! (…) Nach fünf Tagen stellte sich der kleine Irrtum heraus, aber sie saßen nun einmal, und sie blieben sitzen.
Warum schreibt Manfred das, wird jetzt vielleicht manch einer fragen. Will er krampfhaft einen Phantomschmerz herbeireden, indem er in dieser längst vergessenen Geschichte wühlt? Will er die unsägliche Phrase vom „Tätervolk“ mit einer ebenso haarsträubenden vom „Opfervolk“ kontern? Geht es ihm darum, die Amerikaner schlechtzumachen, die doch, nehmt alles nur in allem, mit dem geschlagenen Deutschland relativ glimpflich umgegangen sind?
Auch wenn man über die Frage, wie „glimpflich“ dieser Umgang wirklich war, trefflich debattieren könnte, und auch wenn die USA bis heute in Abu Ghreib, Guantanamo und anderswo genau die Politik praktizieren, die sie auch schon in Deutschland praktiziert haben, die Frage also durchaus aktuell ist – das ist nicht der Punkt, um den es mir geht.
Es geht darum, dass diese „längst vergessene Geschichte“ unsere Geschichte ist, und dass an die Stelle der vergessenen – oder vielmehr zu vergessenden und daher totgeschwiegenen – Geschichte eine andere getreten ist, die vielleicht nicht in jedem Punkt gelogen sein mag, aber aus einer Perspektive und von einem Interessenstandpunkt erzählt wird, der mit dem deutschen wenig zu tun hat. Übertragen auf eine Einzelperson ist es ungefähr so, als wäre der Inhalt ihres Gedächtnisses gelöscht und durch eine Fremderzählung ersetzt worden, die der arme solchermaßen manipulierte Mensch nunmehr für seine eigene zu halten gezwungen ist, um überhaupt noch so etwas wie ein „Gedächtnis“ zu haben.
Gerade deshalb ist Salomons Buch so wichtig. Es handelt nicht etwa nur von den amerikanischen Lagern, es ist ein Geschichtsbuch der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre, in dem allerhand zur Sprache kommt, was in der offiziösen Geschichtsschreibung weggelassen oder als Fußnote behandelt wird, zum Beispiel die Geschichte der Landvolkbewegung, jener Selbstverteidigungsbewegung schleswig-holsteinischer Bauern Anfang der dreißiger Jahre. Ein Geschichtsbuch freilich – und das macht es so angenehm zu lesen -, das uns keine Antworten liefert, schon gar nicht ideologisch vorgestanzte Antworten im Stil des etablierten Geschichtskatechismus; es liefert Material, das es überhaupt erst ermöglicht, sinnvolle Fragen zu formulieren, und das ist schon weitaus mehr, als der etablierte Diskurs zu liefern vermag. Wer kennt nicht jenes merkwürdige Gefühl von geistiger Leere, das sich einstellt, wenn man das Phänomen „Nationalsozialismus“ auf der Basis der etablierten Prämissen zu erklären versucht? Ich selbst habe es in Jahrzehnten nicht geschafft, und heute weiß ich auch, warum: weil man auf der Basis von Ideologien, die im Grunde gar nicht erst beanspruchen, die Welt zu erklären, sondern ihr vorschreiben wollen, wie sie zu sein hat, naturgemäß nichts erklären kann. Die Ideologien, auf denen die BRD basiert, und die sie deshalb für sakrosankt erklärt, gehören zu denen, an denen die Weimarer Republik gescheitert ist.
Von Salomon, der 1922 an der Ermordung Walter Rathenaus beteiligt gewesen war und deshalb mehrere Jahre im Zuchthaus verbracht hatte, gehörte damals zum Umfeld der konservativen Revolution; sozusagen der ideale Standort für einen, der über diese Zeit berichtet: kein Nazi, kein Kommunist, nicht in der Reichswehr, aber nahe genug an allen dran, um sinnvoll davon erzählen zu können.
Am faszinierendsten finde ich, wie er den Zeitgeist der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre einfängt. Dass die Republik gescheitert war, gescheitert an der Unfähigkeit ihrer Eliten, lag damals schon vor aller Augen, und die intellektuelle Berliner Szene sprudelte nur so von Ideen, was ihr nachfolgen sollte. Die Nationalsozialisten waren in allen diesen Debatten die großen Abwesenden. Sie interessierten sich nicht dafür, sie versuchten niemanden zu überzeugen. Wovon auch? So etwas wie eine politische Philosophie, ein „System“, ein Ordnungsideal hatten sie nicht, auch wenn sie bisweilen so taten, als hätten sie eins. Als sie tatsächlich an die Macht kamen, war ihr System eines der permanenten Improvisation, bei dem oft mehrere nationalsozialistische Dienststellen in einer Art bürokratischem Darwinismus miteinander um Kompetenzen und die Gunst des Führers konkurrierten. Die Nazis nannten sich „Bewegung“, und eines ihrer Lieblingswörter war „Dynamik“; sofern der Nationalsozialismus überhaupt einen definierbaren Inhalt hatte, lag er in der Entfesselung aller Kräfte der Nation, und in der Beseitigung aller hemmenden Strukturen, notfalls auch derjenigen, die die Nazis selbst erst geschaffen hatten. Es ging ihnen darum, die Dinge in Fluss zu bringen, und wie das bei Flüssigkeiten so ist: Ihnen fehlt die Struktur.
Es ist dieser Aspekt, der für Konservative wie Salomon, aber auch Ernst Jünger und Andere, so abstoßend war und sie in eine Art politischer splendid isolation trieb. Von einem konservativen Standpunkt sind die Skrupellosigkeit und die Verbrechen der Nationalsozialisten leicht zu erklären, nämlich als logische Folge der „linken “ Züge des Nationalsozialismus: der Mobilisierung großer Volksmassen, der systematischen Zerstörung hergebrachter Strukturen, der Unterordnung staatlicher Autorität unter die Imperative einer Volksbewegung, der Auflösung von Staatlichkeit in einem Kompetenzenbrei. Die Auflösung der Strukturen, die immer auch ein Moment von Machtbegrenzung in sich getragen hatten, musste zwangsläufig totalitär wirken. Der totalitäre Staat ist, wie Salomon richtig feststellt, nicht die etwas radikalere Variante eines autoritären Staates, sondern dessen Gegenteil. Man glaubt dem Autor deshalb auch ohne Weiteres, dass er nie in Versuchung war, Nationalsozialist zu werden.
An diesem Punkt stellt sich aber auch eine der beunruhigenden Fragen, die das Buch aufwirft:
Warum hat Hitler sich durchgesetzt, und warum sind die Konservativen, die seiner Herr zu werden versuchten, allesamt gescheitert? Schleicher, der ihn verhindern, Papen, der ihn „einrahmen“, Schmitt, der ihn auf Ordnungsgefüge festlegen, Stauffenberg, der ihn umbringen wollte?
Die banalste Antwort (die aber deswegen nicht falsch ist), lautet, dass Hitler eine Massenbewegung hinter sich hatte, während Konservative bereits das Wort „Masse“ kaum anders als mit aristokratischem Naserümpfen auszusprechen vermögen. Die subtilere Antwort lautet, dass Konservatismus grundsätzlich und vom Ansatz her ungeeignet ist, so etwas wie eine Zukunftsvision (womöglich gar eine Utopie – igitt!!!) hervorzubringen. Genuiner Konservatismus verteidigt, was die Geschichte hervorgebracht hat; er greift dem Wirken Gottes nicht vor. Das gibt ihm seine Stärke und Würde, macht ihn aber etwas hilflos in einer Situation, in der die Szene von Revolutionären beherrscht wird, die Fakten schaffen, ohne zu diskutieren.
Die Frage ist keineswegs nur von historischem Interesse. Es geht um die höchst drängende und aktuelle Frage, wie man als Konservativer mit einer Republik ohne Republikaner umgeht. Die Weimarer Republik war eine solche, die heutige ist es auch. Die freiheitliche Demokratie ist ein sehr anspruchsvolles politisches Konzept: Sie lebt davon, dass die Auseinandersetzung zwischen Links und Rechts scharf genug ist, eine wirkliche Wahl zwischen Alternativen zu bieten; zugleich aber darf diese Auseinandersetzung nicht so scharf sein, dass der Konsens über die Spielregeln dabei verlorengeht.
Eben dies beobachten wir aber in dieser späten BRD. Es gibt zwischen den nennenswerten politischen Kräften zwar einen Konsens, aber gerade nicht einen Konsens, die Grundlagen des Gemeinwesens zu bewahren, sondern sie zu untergraben; es gibt einen Konsens über die Auflösung von Strukturen, einschließlich der Staatlichkeit, und es gibt einen Konsens, das auf diesem Wege selbstgeschaffene Chaos durch einen schleichenden Totalitarismus zu bändigen. Unter diesen Umständen sind die bestenfalls ein paar hundert konservativen Intellektuellen, die auf die Bewahrung machtbegrenzender Strukturen pochen, die letzten Republikaner, die es in dieser Republik noch gibt.
So beunruhigend die Diagnose sein mag, sie sei wenigstens zur Diskussion gestellt: Kann es sein, dass die liberale Demokratie spätestens in dem Moment, wo ihr inneres Gleichgewicht zerstört ist, ganz von selbst und mit schicksalhafter Zwangsläufigkeit zum Totalitarismus tendiert, und dass die möglichen Alternativen, die sie auf den Plan ruft, ihrerseits totalitär sein müssen? Dass Hitler sich deshalb durchsetzt, weil sein totalitäres, „linkes“ Politikkonzept das modernere war? Dass die Moderne selbst die Dinge über kurz oder lang zwangsläufig so in Bewegung bringt, dass ein im strengen Sinne konservatives Konzept gar keine realistische Option ist? Dass uns am Ende also nur die Wahl zwischen verschiedenen Totalitarismen bleibt, wenn überhaupt eine?