Das Wort „Opfer“ begann seine Karriere irgendwann einmal als religiöser Begriff. Opfer war, wer zur Besänftigung irgendwelcher Götzen auf deren Altar sein Leben lassen musste. Man sollte meinen, dass die aufgeklärte Moderne so etwas wie „Opfer“ gar nicht mehr kennt, zumal das Menschenopfer bereits im Alten Testament verboten wurde und sich spätestens seit dem Opfertod Christi, also seit ungefähr zweitausend Jahren, endgültig erledigt haben sollte. Weit gefehlt. Wer nach dem Wort „Opfer“ gugelt, bekommt den Eindruck, dass die ganze Menschheit nur aus Opfern besteht, und dass es praktisch keine Lebenslage gibt, in der man nicht zum Opfer werden kann.
Wo von Unfallopfern, Taifunopfern, Tsunamiopfern oder Erdbebenopfern die Rede ist, mag man dem Begriff mit seinen religiösen Obertönen noch eine gewisse Berechtigung, zumindest aber Ehrwürdigkeit zusprechen, weil er den Trost bietet, dass wir es nicht mit sinnlosem Zufall, sondern mit dem unbegreiflichen Wirken Gottes zu tun haben, das schrecklich sein mag, aber per definitionem nicht sinnlos ist.
Wie aber steht es mit dem Bafög-Opfer, dem Opfer ärztlicher Behandlung, dem Smartphone-Opfer, Lehman-Opfer, Loveparade-Opfer, Opfer der Telefonwerbung, Opfer häuslicher Gewalt, Phishing-Opfer, Mobbing-Opfer, Stalkingopfer, Justizopfer, Opfer der Privatisierung, Gewaltopfer, Abmahnungsopfer, Promi-Opfer, Casting-Opfer, EC-Karten-Opfer und Opfer der Badenia-Bausparkasse?
Man wird nicht einfach betrogen, man ist ein Betrugsopfer; der Betrug bewirkt mithin nicht einfach eine Verringerung des Kontostandes, sondern eine existenzielle Wandlung, durch die man zu einer anderen Art von Mensch wird, nämlich zu einem Opfer. Die Badenia-Bausparkasse hat ihre Kunden nicht etwa zu betrogenen Kunden gemacht, sondern zu Opfern, d.h. zu christusartigen Gestalten, die dadurch mit einer Aura von „Heiligkeit“ umgeben sind, an der zu zweifeln sich schon aus Gründen der Pietät verbietet. Es ist nur folgerichtig, dass die Verhöhnung der Opfer das moderne Äquivalent zu dem ist, was man früher „Blasphemie“ nannte.
Folgerichtig ist auch, dass der Täter, den es ja geben muss, wo es ein Opfer gibt, nicht einfach verwerflich gehandelt hat, sondern zu einer Art Aztekenpriester wird, der das Opfer, oder in symbolischer Stellvertretung dessen Brieftasche, auf dem Altar seiner Habgier oder irgendeines anderen Götzen dahinmeuchelt. Wo von Opfern die Rede ist, wird der Verstoß gegen das Strafgesetzbuch zur satanistischen Kulthandlung.
Nein, nein, hier wird nicht einfach ein ursprünglich religiöser Begriff mit einer neuen, säkularen Bedeutung versehen und in dieser Bedeutung verwendet. Dass die religiösen Bezüge weiterhin aktuell sind, erkennt man, wenn man Stilblüten wie das „Smartphone-Opfer“ beiseitelässt. Das Smartphone-Opfer ist gewissermaßen nur der niedliche kleine Bruder von Opferkategorien ganz anderen politischen, moralischen und ideologischen Kalibers. Google liefert uns unter anderem das Kirchenopfer und Papstopfer, das Missbrauchsopfer und Familien-Opfer; wir sehen Opfer rechter Gewalt, Stasiopfer, Dopingopfer, Maueropfer, Holocaustopfer, NS-Opfer, Opfer des Stalinismus, Opfer rassistisch motivierter Polizeigewalt, Opfer von Rechtsextremismus, Guantanamo-Opfer, Kundus-Opfer, Hitlers afrikanische Opfer und natürlich die Opfer von Diskriminierung.
Opfer zu sein bedeutet nicht nur Heiligkeit – was an sich schon Prestige und eine gewisse Befriedigung bedeutet -, es bedeutet auch, dass man von dieser Heiligkeit etwas hat. Man kann Entschädigungen und Entschuldigungen fordern, man bekommt versichert „Den Zeitpunkt der Versöhnung können nur die Opfer bestimmen“ (Überschrift eines DLF-Beitrags über Stasiopfer), man kann den als Satanisten gebrandmarkten Tätern (oder deren Stellvertretern) den Mund verbieten, weil dies sonst eine „Verhöhnung der Opfer“ (also Blasphemie) sei, und man kann sie sogar ein bißchen schikanieren, indem man zum Beispiel die Entlassung niederrangiger Ex-Stasi-Bediensteter aus der Unterlagenbehörde durchsetzt, weil es „ein Schlag in die Gesichter der Opfer“ sei, wenn diese auf einem Fußboden gehen müssten, der von einer Putzfrau gewienert wurde, die dasselbe schon unter Erich Mielke getan hat.
Zugleich haben diese Opfer auch ihre Mitesser: Gutmenschen, die sich „auf die Seite der Opfer stellen“ und dadurch an deren vermeintlicher Heiligkeit teilhaben, Heerscharen von Opferanwälten, die nicht so sehr für Gotteslohn, sondern für klingende Münze arbeiten, all die Betreiber von Hotlines, Beratungsinitiativen, Nachsorgeangeboten usw., die sich dafür vom Steuerzahler bezahlen lassen, nicht zuletzt eine Medienindustrie, die mit der Präsentation von Opfern aller Art nicht nur die Tränendrüse, sondern auf dem Umweg über Einschaltquoten auch den Geldbeutel des Zuschauers anzapft.
Es gibt also eine ganze Industrie, die vom ständigen Nachschub an Opfern lebt, und im Namen ihrer jeweiligen Schützlinge mit harten Bandagen um deren Platz in der Opferhierarchie kämpft. Google liefert uns als Nebenprodukte dieses Kampfes Begriffe wie Opfer zweiter Klasse, wahres Opfer, ewiges Opfer. Die unermüdliche Opfersuche spiegelt sich in den Floskeln unsichtbare Opfer, unbekannte Opfer, vergessene Opfer, und sogar: Opfer des Tages. Und damit nur ja kein Opfer vergessen wird, fordert der Berliner Senat sogenannte „Diskriminierungsopfer“ – von denen es offenbar nicht genügend gibt, es sei denn in der Katgeorie der unsichtbaren, unbekannten und vergessenen Opfer – auf, sich zu beschweren und ihre Mitbürger als Diskriminierer zu denunzieren, also zu Quasi-Aztekenpriestern zu stempeln, um für die Antidiskriminierungsstelle noch ein paar zusätzliche Planstellen durchzusetzen oder wenigstens die offenbar unausgelasteten vorhandenen zu sichern.
Wenn wir die obige Opferliste durchgehen, erkennen wir, wem der Status der Heiligkeit verwehrt werden soll. Es gibt Diskriminierungsopfer, aber keine Dschihadopfer. Es gibt Opfer rechter, aber nicht linker Gewalt. Wer nicht zu den Aztekenpriestern gerechnet werden will, hat sozusagen keine andere Wahl, als sich auf die Opferkonkurrenz einzulassen und darauf hinzuweisen, dass nicht nur Ausländer Opfer von Deutschen werden, sondern dass der umgekehrte Fall weitaus häufiger ist. Dass nicht nur Frauen Opfer von Männern sein können, sondern auch umgekehrt, und dass linke Gewalt gegen Rechte ziemlich häufig ist (und umso wahrscheinlicher ist, je harmloser die jeweiligen Rechten sind; an betenden Christen vergreift es sich eben gefahrloser als an Skinheads.) In einer Gesellschaft, die den Opferstatus prämiert, sind Gruppen wie Männer oder Deutsche, zu deren Selbstbild es gerade nicht gehört, Opfer zu sein, von vornherein chancenlos in der Opferkonkurrenz. Sie hassen ganz einfach, mit ihrem Opferstatus hausieren zu gehen.
Gleichzeitig hat das Gutmenschentum dem Schimpfwort „Du Opfer“ den Kampf angesagt, aus seiner Sicht verständlicherweise. Im Schimpfwort zeigt sich nämlich, was der Begriff des „Opfers“ – außer einer vermeintlichen Heiligkeit – noch enthält: Ein Opfer ist jemand, der schwach ist, der auf anderer Leute Hilfe angewiesen ist, der sein Leben nicht im Griff hat, der kein Recht auf Stolz hat, der leidet, der Mitleid braucht und seinen Mitmenschen ein schlechtes Gewissen macht. Kurz gesagt, Opfer sind Leute, auf die die Gesellschaft gut verzichten kann.
Immer, wenn die TV-Journaille wieder ein neues „Opfer“ vor die Kamera zerrt (welche Art von und wessen Opfer auch immer), und dieses Opfer seine Leidensgeschichte zum Besten gibt, sich in seiner Schwäche suhlt und um unser Mitleid bettelt, möchte ich ihm in die Fresse hauen.
Eine Gesellschaft, die den Opferstatus prämiert – mit moralischer Unangreifbarkeit, mit einem, wenn auch verlogenen „Prestige“, mit öffentlicher Aufmerksamkeit, nicht zuletzt mit Geld – prämiert Schwäche statt Stärke, das Leiden statt der Tat, Abhängigkeit statt Freiheit, Demut statt Stolz. Prämiert wird, was das Land kaputtmacht. Gezüchtet werden Untertanen. Verdächtig ist und bekämpft wird, wer stark, aktiv, frei und stolz ist. Bekämpft werden die Gruppen, die es ablehnen, Opfer zu sein.
Und doch klappt es nicht, so sehr es versucht wird. Man hat sich oft über den merkwürdigen „Sündenstolz“ der Deutschen gewundert, über dieses „Unsere Verbrechen sind die größten!“ Man hat sich gewundert, wie wenig sie von ihren eigenen Opfern (Bombenkrieg, Vertreibung, Massenvergewaltigungen) im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg sprechen bzw. sie krampfhaft als Konsequenzen des eigenen Handelns deuten („Wir dürfen nie vergessen, dass Deutschland zuerst…“). Masochismus? Auch. Vor allem aber ein als Masochismus getarnter Stolz, der offenkundig unverwüstlich ist. Es hat einen subtilen Doppelsinn, wenn die Antideutschen (die sich dabei, wie so oft, als die Deutschesten von allen entpuppen) propagieren „Deutsche sind keine Opfer!“, und damit genau das deutsche Selbstverständnis wiedergeben.
Ja, Freunde, Ihr habt den Nagel auf den Kopf getroffen: Deutsche sind keine Opfer. Und wir gedenken auch nicht, es zu werden!