„Überfall auf Polen“

Heute ist der siebzigste Jahrestag des Angriffs auf Polen, mit dem der Zweite Weltkrieg begann. Seit heute früh kommt keine Nachrichtensendung mehr ohne die Worthülse „Überfall auf Polen“ aus, und ich habe es mit erspart nachzugugeln, ob die Zeitungen sie ebenfalls benutzen; ich wette: ja.

Eine Worthülse ist das deshalb, weil man unter einem Überfall einen überraschenden Angriff aus heiterem Himmel versteht, mit dem nicht gerechnet werden kann. Das Wort „Überfall“ passt gut auf den Angriff von 1941 auf die Sowjetunion; dem Angriff auf Polen vor genau siebzig Jahren aber gingen eine monatelange diplomatische Krise, Propagandaoffensiven beider Seiten, Dutzende von Grenzzwischenfällen und ethnischen Scharmützeln, nicht zuletzt der deutsch-sowjetische Nichtangriffs-(und Teilungs-)pakt voraus. Was am 1. September 1939 begann, war wohl ein Angriff, aber eben kein Überfall.

Es geht hier nicht um kleinkarierte Wortkauberei, wie jetzt vielleicht mach einer denkt:

Wenn ein so auffallend unpassendes Wort wie das vom „Überfall auf Polen“ nicht nur irgendwann und von irgendwem versehentlich eingeflochten wird, sondern offenkundig Teil einer Sprachregelung ist, die ungeachtet ihrer Dummheit von niemandem in Frage gestellt wird, dann ist dies bezeichnend für den Geisteszustand, in dem die meinungsbildenden Eliten ihre für uns Alle bestimmten Texte verfassen: Die Angst vor der abweichenden Meinung, ja die Angst sogar vor einer – womöglich bloß versehentlich – abweichenden Formulierung, verdrängt jede andere journalistische Erwägung, sogar die Angst vor dem Verdacht der Inkompetenz und der daraus resultierenden Blamage.

In einer solch gestanzten Floskelsprache teilt man nicht die Ergebnisse von Überlegungen, sondern eingepaukte Glaubensartikel mit. An ihr ist abzulesen, dass der Diskurs der deutschen Öffentlichkeit über alles, was mit Hitler zusammenhängt, überhaupt nichts mit dem Selbstbild der Nation zu tun hat, die von sich so gerne behauptet, „aus der Geschichte gelernt“ zu haben. Ein Volk, das in stalinistischer Manier Fragen von Wahr und Unwahr mit denen von Gut und Böse vermengt und sich an ein bis in die Formulierungen hinein vorgegebes Geschichtsbild klammert, zeigt, dass es selbst nach zwei totalitären Diktaturen mit dem Begriff des Totalitären noch nichts anzufangen weiß.

Es muss als wahrscheinlich gelten, dass ein solches Volk auch noch einem dritten Totalitarismus anheimfällt.

Warum Europäer Israel unterstützen sollten

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von Fjordman, übersetzt von Manfred

im Original zuerst erschienen im Brussels Journal, 12.03.2007, unter dem Titel „Why Europeans Should Support Israel“

Eine der frustrierendsten Beobachtungen heutzutage ist die mächtige anti-israelische und manchmal unverblümt antisemitische Strömung, die in allzuvielen europäischen Medien vorherrscht. Bat Ye’Ors Vorhersage, dass der arabische Antisemitismus sich in dem Maße über Europa verbreiten wird, wie dessen Islamisierung und Abstieg nach Eurabia voranschreitet, hat sich bisher als deprimierend präzise erwiesen. Dieser Trend muss von allen ernsthaften europäischen Antidschihadisten energisch bekämpft werden, nicht nur, weil er unfair und unmoralisch den Israelis gegenüber ist – das ist er auch -, sondern weil die, die ihn unterstützen, die Europäer daran hindern, die Bedrohung und die Natur des Dschihad zu verstehen, der Europa nicht weniger im Fadenkreuz hat als Israel.

2005 stattete die norwegische Polizei den Führer der rechten Fortschrittspartei, Carl I. Hagen, mit einem Alarmsender aus. Hagen hatte den Islam kritisiert und konnte zwischen dem christlichen und dem islamischen Konzept von Moralität und Gerechtigkeit keinerlei Ähnlichkeit entdecken. Während der Neunziger war Hagen einer der wenigen Politiker gewesen, die dagegen protestiert hatten, Palästinenserführer Arafat im Zuge des von Norwegen vermittelten Oslo-Prozesses finanziell zu subventionieren.

Hagen sagte, dass Europa als nächstes dem Islam erliegen würde, wenn Israel im Nahen Osten verlöre. Er fand, dass Christen Israel unterstützen und sich dem islamischen Einfall in Europa entgegenstellen sollten. In einem beispiellosen Schritt griff daraufhin eine Gruppe muslimischer Botschafter Carl I. Hagen in einem Brief an die Zeitung „Aftenposten“ an. Sie behaupteten, er hätte 1,3 Milliarden Muslime in aller Welt beleidigt. Andere norwegische Politiker knickten schnell ein und verurteilten Hagen. Vielleicht wird Norwegen, das „Land des Friedens“ und Heimat des Friedensnobelpreises, gut mit dem Islam zurechtkommen, der „Religion des Friedens“.

Obwohl einige europäische Politiker wie Carl I. Hagen klar durchschauen, worum es geht, sind sie leider nur verstreute Einzelne. Die meisten europäischen Kommentatoren stehen dem jüdischen Staat feindselig gegnüber, teils deshalb, weil sie sich über jeden ärgern, der dem islamischen Dschihad widersteht statt zu kapitulieren, und teils, weil sie ihre eigenen Schuldgefühle wegen des Holocaust auf Israel projizieren, indem sie die Juden zu Tätern und die Palästinenser zu Opfern stilisieren.

Der französische Filmemacher Pierre Rehov drehte den Film „Suicide Killers“, in dem er die Familien palästinensischer Selbstmordattentäter befragt. Er weist eindringlich darauf hin, dass wir „einer Neurose auf der Ebene einer ganzen Zivilisation“ gegenüberstehen, einer „Kultur des Hasses, in der die Ungebildeten gehirngewaschen werden bis zu einem Grade, wo sie die einzige Lösung für ihr Leben darin sehen, sich selbst und andere im Namen Gottes zu töten. Ich höre eine Mutter sagen ‚Dank sei Gott, mein Sohn ist tot‘. Ihr Sohn wurde ein Shahid, ein Märtyrer, was für sie eine größere Quelle des Stolzes war, als wenn er Ingenieur, Arzt oder Nobelpreisträger geworden wäre. … Sie sehen keine Unschuldigen, die getötet, sondern Unreine, die vertilgt werden müssen.“

Rehov glaubt, dass wir es mit „einer neuen Art von Nazismus“ zu tun haben, die sich in Europa und in den Vereinigten Staaten ausbreitet.

Der spanische Journalist Villar Rodriguez behauptet, Europa sei in Auschwitz gestorben. „“Wir ermordeten 6 Millionen Juden, um am Ende 20 Millionen Muslime hereinzuholen!“ 2007 lehnte die kleine Madrider Vorstadt Ciempozuelos es ab, den Holocaustgedenktag zu begehen und entschied sich, stattdessen den „Tag des palästinensischen Genozids“ zu begehen. In Großbritannien strich der Rat von Bolton auf muslimischen Druck hin die Veranstaltung zum Holocaustgedenktag. Der Muslim Council of Britain forderte einen Völkermordtag, um gegen den israelischen „Völkermord“ an den Palästinensern zu protestieren. Der Generalsekretär des MCB, Dr. Muhammad Abdul Bari, hatte früher schon die Lage von Muslimen in Britannien mit der von Juden unter Hitler verglichen.

Wir haben also die absurde Situation, dass Nazis uns heute als Juden, Juden aber als Nazis präsentiert werden.

Der französische Philosoph Alain Finkielkraut glaubt, dass Auschwitz zu den Fundamenten der Europäischen Union gehört, einer Kultur, die auf Schuld beruht: „Ich kann die Gewissensbisse verstehen, die Europa dahin gebracht haben, aber diese Gewissensbisse gehen zu weit.“ Es sei ein zu großes Geschenk an Hitler, jeden einzelnen Aspekt der europäischen Kultur zu verwerfen. Das sagt der Sohn eines Auschwitzhäftlings.

Der Holocaust war ein unaussprechliches Verbrechen. Es beschädigte auch schwer Europas eigene Identität und sein Kulturvertrauen, und es ist einer der Hauptgründe dafür, dass Europa allem Anschein nach unfähig ist, dem anhaltenden islamischen Dschihad Widerstand zu leisten.

Hugh Fitzgerald schreibt: „Für viele hier, auch für die Araber, war es ein Glück, dass Israels Sieg im Sechstagekrieg ihnen Grund gab, die Juden als Täter, nicht als Opfer darzustellen. Damit fanden sie ein begieriges Publikum von Europäern, die schon aus psychologischen Gründen danach lechzten, den Juden am Zeug flicken zu können, um nicht allzusehr über das Verhalten vieler Europäer während des Krieges nachdenken zu müssen. […] Durch die Vernichtung der europäischen Judenheit ist der Moral Europas ein gigantischer Schaden zugefügt worden. Wenn Westeuropa, oder überhaupt der Westen, nach allem, was geschehen ist, jetzt noch den Untergang Israels zuließe, würde Europa sich davon nicht mehr erholen.“

Er warnt dringend vor dem Irrtum, man könne den weltweiten Dschihad dadurch stoppen, dass man Israel opfere. Im Gegenteil würde „der Verlust Israels die Araber und Muslime mit solchem Triumphalismus erfüllen, dass der Dschihad in Europa und anderswo (einschließlich des amerikanischen Kontinents) einen gigantischen Schub erhielte: Dessen verbindliches Ziel ist es, dass der Islam den Erdball abdeckt; dass der Islam dominiert, und dass Muslime herrschen.“

Europäer müssen sich darüber im Klaren sein, wie eng die Schicksale Israels und Europas miteinander verknüpft sind. Der Begriff „jüdisch-christlich“ ist kein Klischee. Wir können die westliche Zivilisation nicht verteidigen, ohne deren jüdische Komponente zu verteidigen, ohne die die moderne westliche Kultur völlig undenkbar gewesen wäre.

Die religiöse Identität des Westens steht auf zwei Beinen, dem Judentum wie dem Christentum, und man braucht beide, um aufrecht zu stehen. Das eine zu opfern, um das andere zu retten, ist so, als würde man sich ein Bein abhacken, es dem Feind vor die Füße schleudern und ihm zurufen: „Das andere kriegst du aber nicht! Wir kapitulieren nie!“ (…)

Ich stimme Finkielkraut zu: Alles Europäische auf Gaskammern zu reduzieren heißt, den Nazis die Errungenschaften Tausender von Jahren zum Fraß vorzuwerfen und Hitler posthum zum Sieger zu erklären. Diesen Gefallen sollten wir ihm nicht tun, zumal das, was die westliche Zivilisation ersetzen würde, die islamische Kultur wäre, also die kriegerischste und antisemitischste der Welt, die deshalb auch von Hitler zutiefst bewundert wurde.

Wir können die Vergangenheit nicht ändern. Wir sollten es aber als unsere Pflicht ansehen, Antisemitismus hier und jetzt zu bekämpfen und sicherzustellen, dass die verbleibenden Juden sowohl in Europa als auch in Israel sicher sind. Nicht nur, weil es unsere moralische und historische Pflicht ist – das auch -, sondern weil wir das Recht auf Selbstverteidigung gegen Islamisierung nicht gleichzeitig für uns beanspruchen und Israel verweigern können. Desgleichen können wir nur beginnen, unsere selbstzugefügten zivilisatorischen Wunden zu heilen, wenn wir die jüdische Komponente unserer kulturellen Identität anerkennen.

Vor siebzig Jahren: Der Hitler-Stalin-Pakt – einige Bemerkungen

Als die Zeitungen Europas am Morgen des 24. August 1939 den Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes bekanntgaben, war allen Beobachtern klar, dass Hitler sich damit freie Hand für einen Krieg mindestens gegen Polen verschafft hatte, und dass dieser Krieg damit unvermeidbar geworden war. Besondere Kritik rief bereits damals – und heute erst recht – das Verhalten der Sowjetunion hervor, die jahrelang ihren „Antifaschismus“ zur Schau getragen hatte, sich nun aber plötzlich auf die Seite Hitlers schlug.

Die Politik Großbritanniens, Frankreichs und Polens im Jahre 1939 wird dagegen selten und dann nur verhalten problematisiert, zumindest soweit es die Geschichtsdarstellung für das breite Publikum betrifft. Dabei war der deutsch-sowjetische Pakt, als die vermutlich größte Katastrophe in der Geschichte der britischen wie auch der französischen und polnischen Diplomatie, die Quittung für eine fehlerhafte Politik, in der sich nicht nur bis 1938, sondern bis unmittelbar vor dem Krieg alle nur erdenklichen Formen von Verblendung zu einer grotesken Mischung verbunden hatten:

Im Zuge der Politik, Hitler und das Dritte Reich zu beschwichtigen (engl.: to appease), hatten England und Frankreich die fieberhafte Aufrüstung Deutschlands ab 1933, die Rheinlandbesetzung 1936 (damit auch das Ende des Locarnovertrages, der die Sicherheit Frankreichs garantierte) und den Anschluss Österreichs 1938 tatenlos hingenommen. Sie hatten aktiv im Münchner Abkommen 1938 die mit Frankreich verbündete Tschechoslowakei gezwungen, vor Hitlers Kriegsdrohungen zurückzuweichen und das Sudetenland preiszugeben. Damit hatten sie Deutschland zur Vormacht des Kontinents werden lassen.

Zugleich hatte sie alles getan, um die Gegengewichte, die es noch gab, zu beseitigen:

Mit ihrer törichten Politik in der Abessinienkrise 1935 (siehe die ersten Abschnitte meines Artikels „Theaterdonner“) hatten sie sowohl das Vertrauen in den Völkerbund als ein System kollektiver Sicherheit ruiniert als auch Italien an die Seite Deutschlands getrieben.

In Großbritannien – Frankreich spielte aufgrund seiner Abhängigkeit von London kaum noch eine eigenständige Rolle – hatte man darauf spekuliert, ein „beschwichtigtes“ Deutschland werde eine Vormacht nach Art des Bismarckreiches sein, also der mächtigste Einzelakteur des europäischen Staatensystems, aber doch einer unter mehreren, sodass die „Balance of Power“ wenigstens halbwegs intakt blieb.

Dass Deutschland es auf eine nicht etwa latente, sondern offene Vorherrschaft auf dem Kontinent abgesehen hatte, wurde der britischen Regierung unter Neville Chamberlain erst klar, als die Wehrmacht unter Bruch des Münchner Abkommens im März 1939 in die Tschechoslowakei einmarschierte. Großbritannien reagierte darauf mit – scheinbar – einer 180-Grad-Wendung hin zu einer maximalen Abschreckung, gab die traditionelle britische Politik auf, nicht im Vorhinein bindende Beistandsversprechen zu geben und erklärte eine britische Garantie zugunsten Polens, des voraussichtlich nächsten Adressaten Hitlerscher Gebietsforderungen.

Die Rolle, die Polen in der Zwischenkriegszeit spielte, wird im offiziösen Geschichtsbild eher weichgezeichnet, und ich wage nicht zu spekulieren, ob dies aus Pietät geschieht, oder weil man in einem schwarzweiß gezeichneten Geschichtsbild keine Grautöne zulassen möchte. Jedenfalls gehörte Polen damals zu den aggressivsten Mächten Europas, hatte Anfang der zwanziger Jahre nacheinander Litauen, die Sowjetunion (der es bei dieser Gelegenheit ein riesiges, überwiegend von Nichtpolen bewohntes Gebiet entriss) und Deutschland angegriffen und noch 1938 im Windschatten Hitlers der Tschechoslowakei das Gebiet von Teschen gewaltsam abgepresst. Das Motiv für diese Politik lässt sich selbst bei größtem Wohlwollen nicht anders umschreiben denn als nationalistische Großmannssucht: Polen sah sich selbst keineswegs als ein hochgradig gefährdeter Staat zwischen zwei Großmächten (wie die polnische Geschichte der preußisch-russischen Teilungen an sich nahegelegt hätte), sondern hielt sich selbst für eine Großmacht.

Zudem hatte das Land mit seinen autoritären Strukturen, seiner intoleranten bis brutalen Minderheitenpolitik, nicht zuletzt seinem Antisemitismus mehr Gemeinsamkeiten mit dem damaligen Deutschland als mit westlichen Ländern. Es wird heute oft darüber hinweggesehen, dass Polen in der Rolle eines Verbündeten des liberalen Westens damals beinahe so skurril und deplaciert wirken musste wie zuvor das russische Zarenreich, während es zu Hitlers Deutschland jedenfalls nicht schlechter passte als dessen Verbündete Ungarn und Rumänien.

Es schien also durchaus keine gewagte Spekulation zu sein, sondern lag in der Natur der Sache, dass Hitler versuchte, Polen zu einem Verbündeten zu machen. Schließlich waren die bilateralen Beziehungen seit dem deutsch-polnischen Nichtangriffspakt von 1934 ziemlich entspannt (was sie zur Zeit der Weimarer Republik nie gewesen waren), und nachdem Hitler die Polen mit Teschen gleichsam angefixt hatte, schien nichts selbstverständlicher, als sie in ein deutsches Bündnissystem zu integrieren.

Dies freilich wollte Polen nicht. Nicht aus moralischen Gründen, sondern weil es den deutsch-sowjetischen Gegensatz als feste Größe einkalkulierte, daraus aber nicht den Schluss zog, mithilfe einer Schaukelpolitik – mal dem einen, mal dem anderen zuneigend – die beiden gegeneinander auszuspielen. Stattdessen glaubte man in Warschau, weder dem einen noch dem anderen irgendwelche Zugeständnisse machen zu müssen, sondern zwischen den beiden einander neutralisierenden Flügelmächten freie Hand zu eigener Großmachtpolitik zu haben.

Diesem Land also gab die Regierung Chamberlain eine Sicherheitsgarantie, man könnte auch sagen: einen Blankoscheck. Zum einen wirkte sich hier der Fluch der bösen Tat aus: Nachdem Großbritannien jahrelang gegenüber Deutschland eine Politik der Feigheit und der Anbiederung getrieben hatte, konnte eine Kehrtwende nur dann einigermaßen glaubwürdig sein, wenn sie mit den denkbar stärksten Ankündigungen operierte. Weniger als eine Sicherheitsgarantie für Polen konnte und durfte es also nicht sein; zugleich aber begab London sich dadurch des Handlungsspielraumes, den es gebraucht hätte, um auf Polen gegebenenfalls Druck auszuüben. So aber wirkte die britische Garantie wie besagter Blankoscheck, dessen störende Wirkung sich sofort bemerkbar machte, als es galt, die Sowjetunion in das britische Bündnissystem einzubeziehen.

Die Garantie zugunsten Polens hatte ja nur dann Sinn, wenn sie dazu diente, Hitler vom Krieg abzuschrecken. Abschrecken konnte einen solchen Mann aber nur die Aussicht auf eine zu erwartende Niederlage. Diese Niederlage setzte die Beteiligung Moskaus voraus, und das war auch damals schon zu erkennen, ist also nicht etwa Besserwisserei aus der Perspektive des Nachgeborenen.

Tatsächlich versuchte London auch, wenn auch gewissermaßen nur mit angezogener Handbremse, ein Viererbündnis mit Frankreich, Polen und Russland zustandezubringen, und wenn überhaupt irgend etwas Hitler zu diesem Zeitpunkt noch hätte aufhalten können, dann wahrscheinlich eine solche Allianz. (Jedenfalls scheint mir das plausibel – genau werden wir es nie wissen.)

Ein derartiges Bündnis musste aber, um eine glaubwürdige Drohung nach Berlin zu senden, militärisch handlungsfähig sein, d.h. die russischen Truppen mussten im Falle eines deutschen Angriffs auf Polen diesem zu Hilfe kommen können und zu diesem Zweck auch auf polnischem Territorium operieren dürfen. Diese Forderung wurde von Warschau aber kategorisch zurückgewiesen, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass das Bündnis mit Russland ja den Sinn haben sollte, den Krieg (und damit russische Operationen auf polnischem Boden) zu verhindern, dass im Falle seines Funktionierens also russische Truppen nicht nach Polen hätten einrücken können und müssen.

Man bezweifelte in Warschau nicht nur – damals aus guten Gründen – den Bündniswert Russlands, sondern glaubte vor allem – und zwar völlig unbegründet – an die Schlagkraft der eigenen Armee und traute ihr zu, mit der deutschen Wehrmacht fertig zu werden, zumal speziell Frankreich Illusionen nährte, im Kriegsfall gegen Deutschland eine Polen entlastende Offensive zu führen. So scheiterte die letzte Hoffnung, Hitler in die Schranken zu zwingen und den Krieg womöglich doch noch abzuwenden, an Starrsinn und Selbstüberschätzung Polens.

Die Empörung über das Verhalten Russlands dagegen, die ebenfalls zum gängigen Geschichtsklischee gehört, ist völlig fehl am Platze und resultiert aus der neumodischen Neigung, nicht das Handeln politischer Akteure als richtig oder falsch, sondern diese Akteure selbst als gut oder böse einzustufen. Man darf sicher sein, dass das Verhalten Stalins weitaus wohlwollender beurteilt würde, wenn es eben nicht gerade um Stalin ginge, sondern irgendein anderer russischer Staatsmann in eine vergleichbare Situation geraten wäre.

Angenommen, Stalin hätte ein Bündnis mit den Westmächten geschlossen und dabei zugesichert, seine Truppen nicht auf polnischem Gebiet einzusetzen. Angenommen, Hitler hätte darin keine ausreichende Gegendrohung gesehen (was als wahrscheinlich angesehen werden muss) und den Krieg gegen Polen eröffnet. Polen hätte den Krieg verloren, und die Wehrmacht wäre an der Westgrenze einer Sowjetunion aufmarschiert, die mit Deutschlands Kriegsgegnern England und Frankreich verbündet und daher mit Deutschland im Krieg gewesen wäre, und von der Hitler von Beginn seiner Karriere an gesagt hatte, dass er sie vernichten wollte. Russland hätte zudem mit einer viel schwächeren Armee dagestanden als 1941 und mit einer Front 200 bis 300 Kilometer östlich der Demarkationslinie, die Molotow mit Ribbentrop aushandelte.

Die westlichen Verbündeten hatten die gesamten dreißiger Jahre hindurch demonstriert, dass sie nichts so sehr fürchteten wie den Krieg mit Deutschland. Dass eine Entlastungsoffensive gegen Deutschland von ihnen nicht zu erwarten war, dazu musste man 1939 nicht erst die leidvollen Erfahrungen abwarten, die Polen mit entsprechenden westlichen Versprechungen machte. Tatsächlich fand die Offensive, die Frankreich den Polen schon für den fünfzehnten Kriegstag versprochen hatte, erst im fünften Kriegsjahr statt und setzte selbst dann noch die Beteiligung der Amerikaner (nebst einer gewaltigen Leistung der Russen) voraus.

Das einzige, was Stalin unter diesen Umständen von einem Bündnis mit dem Westen zu erwarten hatte, war dessen Versuch, sich bis zum letzten Russen zu verteidigen. Deshalb, auch wenn es Stalin war: Er hatte nicht die kleinste praktikable Alternative.

Warum Josef Scheungraber wirklich verurteilt wurde

Das Urteil gegen den ehemaligen Gebirgspionierleutnant Josef Scheungraber – lebenslang wegen vierzehnfachen Mordes – gehört zu jener Sorte von Fehlurteilen, die der Schriftsteller Manès Sperber „symbolträchtiges Unrecht“ genannt hat: Es wirft ein Schlaglicht auf die geistige Verfassung unserer Gesellschaft, ihrer Medien und ihrer Justiz. Ein Schlaglicht, das für die Zukunft nichts Gutes ahnen lässt.

Die Anklage: Im Juni 1944 gerieten Angehörige des deutschen Gebirgspionierbataillons 818 in Falzano nahe Perugia in einen Hinterhalt italienischer Partisanen. Dabei wurden zwei deutsche Soldaten getötet. Der Angeklagte soll deswegen bei der Division die Erlaubnis zu einer Vergeltungsaktion angefordert und erhalten haben. Daraufhin soll er befohlen haben, italienische Zivilisten zu töten. Die tatsächlich erfolgte Tötung von insgesamt vierzehn italienischen Zivilisten durch Schüsse und Sprengstoff soll auf diesen Befehl zurückgehen.

Die Beweislage: Die persönliche Schuld des Angeklagten konnte nicht bewiesen werden. Das wichtigste Beweisstück der Anklage war die Aussage eines ehemaligen Mitarbeiters von Scheungraber, der sich erinnerte, der Angeklagte habe in den sechziger Jahren von seiner Beteiligung an einem Vorgang dieser Art erzählt, und der diese Erzählung mit der Anklage in Verbindung brachte. Dieser Zeuge war erst lange nach dem Beginn des Prozesses aufgetaucht, der von Anfang an die Aufmerksamkeit der Medien gefunden hatte. Die Möglichkeit, dass dieser Zeuge (und zwar ohne zu lügen, einfach nur, weil das menschliche Gedächtnis erwiesenermaßen von sich aus „Erinnerungen“ produziert, um Verständnislücken zu schließen), eine relativ nebulöse Erzählung des Angeklagten mit Informationen aus Zeitungsartikeln über den Prozess gefüllt haben könnte, wurde vom Gericht allem Anschein nach nicht ernsthaft in Erwägung gezogen.

(Nach welchen Grundsätzen die vorhandenen Beweise gewürdigt wurden, illustriert die Stellungnahme des Staatsanwalts Lutz in seinem Plädoyer: „Eine absolute Gewissheit ist nicht erforderlich, es reicht ein ausreichendes Maß an Sicherheit“. Abgesehen von der dümmlichen Tautologie – „es reicht ein ausreichendes Maß“ – besagt dieser Satz entweder eine Selbstverständlichkeit, die kein Staatsanwalt in seinem Plädoyer erwähnen würde, oder umschreibt die Auffassung, dass man es bei Prozessen mit NS-Bezug mit dem Schuldbeweis nicht so genau nehmen muss.)

Allem Anschein nach. Ich habe nicht die Prozessakten studiert, sondern bin auf Medienberichte angewiesen, deren Verfasser an einer kritischen Beweiswürdigung erkennbar nicht interessiert sind.

Ich halte mich – pars pro toto – an „Spiegel online“: Dessen Schreiber Sebastian Fischer hält es nicht für wichtig zu erörtern, ob die Beweise für einen Schuldspruch tatsächlich ausreichten. Stattdessen belehrt er uns über einen der Verteidiger:

Scheungraber war nicht der erste Kriegsverbrecher, den Rechtsanwalt Goebel vertritt: Vor Gericht verteidigte er bereits Malloth. Außerdem vertrat er auch die Holocaust-Leugner David Irving und Germar Rudolf.

Wer mit dem Finger auf den anderen zeigt, weist bekanntlich mit dreien auf sich selbst zurück. Was ist das für ein Gerichtsreporter, der einem Anwalt allen Ernstes zum Vorwurf macht, dass der seinen Beruf ausübt? Ich kann mich nicht erinnern, dass der „Spiegel“ (oder sonst ein deutsches Blatt) jemals an die RAF-Verteidiger Otto Schily oder Christian Stroebele einen vergleichbaren Vorwurf gerichtet hätte. Wer solches tut, betreibt einen Kampfjournalismus, der nicht nur hochgradig unfair ist, sondern auch unprofessionell.

Es wird aber noch besser:

Der Rechtsanwalt ist in diesem Verfahren durch krude Thesen aufgefallen. Etwa als er von den „mehreren tausend deutschen Soldaten“ sprach, die Opfer italienischer Partisanen geworden seien – dabei handele es sich schließlich „um ein völkerrechtswidriges Tätigwerden dieser Partisanen“.

Halten wir fest, dass man im Jahre 2009 Gerichtsreporter beim „Spiegel“ sein kann, ohne zu wissen,
dass irreguläre Kämpfer Kriegsverbrecher sind!

Die Strategie irregulärer Kämpfer – Partisanen, Guerilleros, Terroristen – zielt darauf ab, die Zivilbevölkerung in den Kampf hineinzuziehen, indem man sich in ihr versteckt. Sie zielt darauf ab, regulären feindlichen Streitkräften das Bild zu vermitteln, jeder Zivilist sei ein potenzieller Partisan und müsse entsprechend behandelt werden. Sie basiert auf der Verwischung des Unterschieds zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten ebenso, wie sie auf diese Verwischung abzielt. Es geht ihr darum, eine Eskalation zu entfesseln, in der die reguläre Truppe das Kriegsvölkerrecht gar nicht einhalten kann, weil Zivilisten dann, und nur dann, praktisch gezwungen sind, die Irregulären zu unterstützen.

(Es trifft zu, dass die Nazis die Bekämpfung von Partisanen häufig bloß zum Vorwand genommen haben, Völkermord zu legitimieren, allerdings nicht in Italien und schon gar nicht im vorliegenden Fall.)

Es wäre schön, wenn man die generelle blinde Bewunderung von Partisanen, also von Kriegsverbrechern, als bloße Marotte von Leuten abtun könnte, deren Pubertät kein Ende findet, und die deshalb ihre unverarbeitete Che-Guevara-Romantik bis ins Rentenalter mit sich herumtragen. Leider sitzen diese Leute in Positionen, in denen sie ihr in der Tat krudes Weltbild, verdichtet zur Ideologie, einem Millionenpublikum unterbreiten dürfen.

Das heißt selbstverständlich nicht, dass ich die Tötung Unbeteiligter als Vergeltung für Partisanenangriffe gutheißen oder für legal halten würde. Es handelt sich um ein Kriegsverbrechen, keine Frage. Wenn aber der „Spiegel“-Schreiber seinen Artikel mit diesem Absatz eröffnet:

Margherita und Angiola Lescai sind an diesem Tag nach Deutschland gekommen, weil sie Gerechtigkeit wollten für Vater und Großvater. Und die beiden Halbschwestern, Nebenklägerinnen in einem der wohl letzten Prozesse zu den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs, haben Gerechtigkeit gefunden: „Unser Leben wird jetzt heiter und fröhlich sein, wie werden nicht mehr diese Ängste und Beklemmungen haben.“

dann erlaube ich mir den Hinweis, dass den Angehörigen der beiden von italienischen Kriegsverbrechern ermordeten deutschen Soldaten diese Art von Genugtuung nicht zuteil werden wird, weil kein einziger der damals kriegführenden Staaten, auch Italien nicht, heute noch Kriegsverbrecherprozesse im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg gegen eigene Bürger führt (und ich traue mich sogar wetten, dass sie die letzten Verfahren schon kurz nach Kriegsende abgeschlossen haben).

Wohlgemerkt: Es geht hier nicht um Aufrechnung. Ich glaube nur einfach, dass die Anderen hier etwas richtig machen. In den Worten Sebastian Haffners:

Nach dem Kriege … pflegen … Kriegsverbrechen, soweit ungesühnt, auf allen Seiten stillschweigend amnestiert zu werden, was nur Justizfanatiker bedauern können. Es liegt Weisheit darin, die sozusagen normalen Kriegsgreuel als Begleiterscheinungen einer unvermeidlichen Ausnahmesituation zu behandeln, in der gute Bürger und Familienväter sich ans Töten gewöhnen, und sie nach dem Kriege möglichst schnell in Vergessenheit geraten zu lassen. (…) Massaker an Kriegsgefangenen in Drang und Hitze der Schlacht; Geiselerschießungen im Partisanenkrieg; Bombardierungen reiner Wohngebiete im „strategischen“ Luftkrieg; Versenkung von Passagierdampfern und neutralen Schiffen im U-Bootkrieg; das alles sind Kriegsverbrechen, fürchterlich gewiss, aber nach dem Kriege nach allgemeiner Übereinkunft besser allseits vergessen. (Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler, Taschenbuchausgabe S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1981, S.128 f.)

Genau mit dieser Art Kriegsverbrechen haben wir es hier zu tun, also nicht mit Völkermord, Vernichtungslagern und dergleichen, sondern mit dem, was Haffner die „sozusagen normalen Kriegsgreuel“ nennt.

Warum tut Deutschland nicht dasselbe, was seine Kriegsgegner auch tun, nämlich diese Art von Kriegsverbrechen außer Verfolgung zu setzen? Warum wird gegen einen ehemaligen Wehrmachtsoffizier ein Schuldspruch verhängt, der bei vergleichbarer Beweislage in keinem normalen Strafverfahren zustandekäme? Was treibt ein deutsches Gericht dazu, wenn es ihn schon schuldig, alle mildernden Umstände außer Betracht zu lassen (die man DDR-Tätern, z.B. Mauerschützen, gerne zugute gehalten hat)? Warum wird ein Neunzigjähriger (!) zu lebenslanger Haft verurteilt, was bedeutet, dass er keine realistische Chance mehr hat, noch einmal freizukommen – und was deshalb vermutlich sogar verfassungswidrig ist? Wieso diese für die deutsche Justiz doch ganz untypische Gnadenlosigkeit?

Weil die deutsche Gesellschaft Sündenböcke braucht. Das tief eingefressene kollektive Misstrauen gegen sich selbst, der kollektive Selbsthass, das kollektive Schuldgefühl, das in diesem Ausmaß nur noch als krankhaft und neurotisch zu qualifizieren ist, sind nur zu ertragen, wenn man sie projizieren kann – auf Einzelpersonen oder auf Gruppen. Die maßlose, völlig irrationale Brutalität und Gehässigkeit gegen einen Greis, verbunden mit der mutwilligen Missachtung professioneller Standards durch Justiz und Medien, haben mit dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit nichts zu tun.

Indem sie auf einem hinfälligen alten Mann herumtrampelt, vergewissert sich die deutsche Gesellschaft ihres eigenen „Antifaschismus“, vergewissert sich das deutsche Volk, dass es mit jenem anderen deutschen Volk, das bis 1945 hier wohnte, nichts zu tun hat. Mit der Jagd auf „Nazis“ täuscht sich das Volk darüber hinweg, dass es auf der Flucht vor sich selbst ist.

Kriegsverbrecherprozesse wird es in wenigen Jahren nicht mehr geben, weil die potenziellen Angeklagten aussterben. Was aber nicht ausstirbt, sind die Bedürfnisse einer Gesellschaft, die es zum eigenen psychischen Überleben nötig hat, auf sogenannte oder auch Nazis einzudreschen.

Sie wird immer welche finden. Oder erfinden.

Die Büchse der Pandora

Als die Leugnung des Holocaust als Volksverhetzung in Deutschland strafbar wurde (§ 130 Abs.3 StGB), fehlte es nicht an Kritikern, die zu Recht fanden, es sei mit dem Selbstverständnis eines freiheitlichen Rechtsstaates unvereinbar, ein bestimmtes Geschichtsbild unter Strafe zu stellen. Heute wird man besagten Kritikern bescheinigen müssen, die Gefahren, die von dieser Norm für eine freiheitliche Rechtskultur ausgehen, sogar noch unterschätzt zu haben.

Das stärkste Argument für die Strafbarkeit stützt sich auf den verfassungsrechtlichen Grundgedanken der wehrhaften Demokratie: Die Väter des Grundgesetzes wollten nicht noch einmal eine Verfassung schaffen, die ihren Feinden die Waffen zu ihrer eigenen Beseitigung liefert. Es ist nachvollziehbar, dass die Meinungsfreiheit nicht dazu dienen soll, genau diejenige Ordnung zu beseitigen, die diese Meinungsfreiheit gewährleistet. Es ist deshalb (aber eben nur deshalb!) auch nachvollziehbar, dass eine offensichtlich unwahre Tatsachenbehauptung (nämlich die, dass der Holocaust nicht stattgefunden habe), die gleichwohl oder eben deswegen ein zentrales Thema in der Propaganda rechtstotalitärer Organisationen darstellt, unter Strafandrohung verboten wird. Zumal das Bundesverfassungsgericht klargestellt hat, dass es nur um diese eine konkrete Tatsachenbehauptung geht, und dass ein Verbot komplexerer Geschichtsbilder sehr wohl gegen das Grundrecht auf Meinungsfreiheit verstoßen würde: Als konkretes Beispiel diente das mögliche Bestreiten der deutschen Alleinschuld am Zweiten Weltkrieg, das der Gesetzgeber nicht verbieten könnte. Selbst unter dieser Einschränkung ist das Verbot der Holocaustleugnung das Äußerste, aber wirklich das Alleräußerste, was ein demokratischer Rechtsstaat gerade noch zur Selbstverteidigung tun kann, ohne genau jene Freiheit zu zerstören, die er angeblich verteidigen will.

Was in den neunziger Jahren vielleicht nicht für jedermann vorhersehbar war, heute aber vor Aller Augen liegt, ist die wahrscheinlich irreparable Beschädigung des bürgerlichen Rechtsbewusstseins. Das Verbot der Holocaustleugnung wird nicht mehr als die krasse – und vor allem begründungsbedürftige! – Ausnahme von der Regel gesehen, dass eine Zensur nicht stattfindet. Vielmehr verbreitet sich ein Rechtsverständnis, wonach historische Wahrheit etwas ist, das von Staats wegen dekretiert werden kann, darf und muss, und das man (unabhängig von Tatsachen) nicht bezweifeln darf, weil die bloße Äußerung eines Zweifels bereits strafwürdiges „Unrecht“ darstellt.

Dass dies tatsächlich so gesehen wird, erkennt man daran, dass sowohl der sachliche als auch der räumliche Anwendungsbereich von „Leugnungs-“Verboten seit Jahren immer weiter ausgedehnt wird. So wurde in Frankreich die Leugnung des Völkermords an den Armeniern unter Strafe gestellt, obwohl das Thema nicht den geringsten innerfranzösischen Bezug aufweist. So konnte erst vor kurzem in Deutschland gefordert werden, die Leugnung von Stasi-Verbrechen zu verbieten; und dies nicht, weil es öffentlichen Bedarf an einer solchen Regelung gäbe. Nein, es hat sich offenkundig ein totalitäres Rechtsverständnis verbreitet, wonach eine „staatsbürgerliche“ ideologische Konformität ein legitimes Staatsziel sei: ein Rechtsverständnis, das nur deshalb mit Akzeptanz rechnen kann, weil der Präzedenzfall des § 130 Abs. 3 StGB eine gewissermaßen volkspädagogische Wirkung gezeitigt und die Bürger dazu konditioniert hat, ihre eigene politische Entmündigung zu tolerieren.

Mit dieser, aus ihrer Sicht positiven Erfahrung im Hinterkopf verfügten die EU-Justizminister, dass die Leugnung des Holocausts europaweit verboten werden soll, obwohl sie durchaus nicht in allen europäischen Ländern zentrales Kampfmittel antidemokratischer Rechtsextremisten ist. Man hält es schon nicht mehr für nötig zu fragen, ob der Sachverhalt, der in Deutschland einen so schwerwiegenden Eingriff in die Meinungsfreiheit als Ausnahme rechtfertigen kann, in anderen europäischen Ländern überhaupt gegeben ist.
Mehr noch: Um kein Opferkollektiv zu bevorzugen (die Osteuropäer etwa wollten auch die Verbrechen des Stalinismus berücksichtigt wissen), wurde verfügt, dass die Mitgliedsstaaten der EU die Leugnung jeglichen Völkermordes und jedes Verbrechens gegen die Menschlichkeit unter Strafe zu stellen hatten, d.h. die an sich schon bis hart an den Rand der verfassungsrechtlichen Legalität gehende deutsche Norm wird noch verschärft und erweitert weden müssen.

Dass ein solcher Vorgang möglich ist und keinen Aufschrei verursacht, zeigt, wie weit die massenhafte Gehirnwäsche bei den Völkern Europas bereits gediehen ist. Es zeigt aber vor allem, dass der, der einmal „A“ gesagt und ein staatliches „Meinungsmanagement“ akzeptiert hat, unweigerlich auch „B“, „C“, „D“ und so weiter sagen muss, bis er bei einem „Z“ ankommt, das man in Russland „gelenkte Demokratie“ nennt. Und das ist noch der günstigste Fall.

Das Eiserne Kreuz

Wen wundert es noch, dass nach der Verleihung von Tapferkeitsorden an vier Bundeswehrsoldaten der Chor der Bedenkenträger seine schaurigen Balladen anstimmt? Ihre Argumente sind von so atemberaubender Dummheit, dass sie jede denkbare Satire in den Schatten stellen:

(„Der Linke-Verteidigungspolitiker Schäfer wandte sich gegen einen „neu-alten Heroenkult“. Die gesellschaftliche Hervorhebung des Soldatenberufs durch Ehrenmale und Auszeichnungen sei oft ein Vorbote deutscher Kriegsbeteiligung gewesen.“Vorbote??? Guten Morgen, Herr Abgeordneter, haben Sie die letzten zehn Jahre gut geschlafen?)

EhrenkreuzKritisierenswert ist einzig und allein, dass man nicht endlich Nägel mit Köpfen macht und das Eiserne Kreuz wiedereinführt. Das Eiserne Kreuz als Emblem der Bundeswehr zu verwenden, aber nicht als Orden; stattdessen Orden wie das Ehrenkreuz zu verwenden, die irgendwie an das Eiserne Kreuz erinnern, ohne eines zu sein: Das ist genau dieselbe Art von Halbherzigkeit und Inkonsequenz, die auch aus der Reduzierung des Deutschlandliedes auf seine dritte Strophe spricht. Nichts Halbes und nichts Ganzes!

In beiden Fällen handelt es sich um Symbole, die gerade keinen nationalsozialistischen Ursprung haben. Das EK ist vom preußischen König für den Befreiungskrieg gegen Napoleon gestiftet, das Deutschlandlied von einem Liberalen geschrieben worden, der damit die Einheit der Ideen von Freiheit und Nation zum Ausdruck bringen wollte. Die Nazis haben beide Symbole vorgefunden, nicht erfunden (und dem Deutschlandlied, das ja die Hymne nicht einmal des Kaiserreiches, sondern der verhassten Republik gewesen war, haben sie so wenig getraut, dass sie stets das Horst-Wessel-Lied dranhängten – gleichsam als Kommentar, damit auch ja niemand etwas falsch versteht.)

Was nun den sogenannten „Missbrauch“ speziell des Eisernen Kreuzes durch die Nazis angeht, so wird man es schwerlich den „Missbrauch“ eines Kriegsordens nennen können, ihn im Kriege zu verleihen, und zwar ganz unabhängig davon, ob dieser Krieg als solcher gerechtfertigt ist oder nicht. „Missbraucht“, und zwar für eine linke Geschichtsideologie, wird hier höchstens das Wort „Missbrauch“.

Wenn wir im Übrigen alles abschaffen wollten, was von den Nazis missbraucht wurde, dann müssten wir zuallererst aufhören, unsere eigene Muttersprache zu sprechen. Im Grunde müssten wir aufhören, als Volk zu existieren. Und genau darum geht es auch. Der politische Neuanfang nach 1945 hat dazu geführt, dass wir heute nicht mehr das gleiche Volk sind wie damals. Nichtsdestoweniger sind wir immer noch dasselbe Volk wie vor siebzig oder auch vor hundertsiebzig oder dreihundertsiebzig Jahren. Die schrille Panik gegenüber Symbolen, in denen sich die historische Kontinutität des heutigen Deutschland eben nicht nur zum Dritten Reich, sondern zu seiner Geschichte überhaupt ausdrückt, beruht womöglich darauf, dass vielen Menschen der Unterschied zwischen „dasselbe“ und „das gleiche“ nicht mehr geläufig ist. Wenn man diesen Unterschied verwischt, dann stempelt man Deutschland bis ans Ende aller Tage zu einem verlängerten Dritten Reich, und dann ist es nur konsequent, seine Existenz zu beenden.

Deswegen wird das Eiserne Kreuz abgelehnt! Die Nation soll nicht nur anderen Idealen anhängen als früher; sie soll aufhören, mit sich selbst identisch zu sein. Die Idee (zu der sich niemand explizit bekennt, weil sie zu absurd ist, um ausgesprochen zu werden, die aber gleichwohl den geistigen Fluchtpunkt des bundesrepublikanischen Selbstverständnisses darstellt) lautet, dass 1945 ein neues Volk gegründet worden sei, das mit dem, was früher „deutsches Volk“ genannt wurde, nur noch den Lebensraum teilt. Eine solch willkürliche Neugründung eines Volkes ist aber nicht möglich und kann bestenfalls eine durchsichtige ideologische Fiktion darstellen. Entweder sind wir dasselbe Volk, das wir auch in den Jahrhunderten vorher waren, oder wir hören auf zu existieren.

Dies, nämlich der Selbstmord der deutschen Nation, ist die Option der politischen und Meinungseliten.Wenn Deutschland in den letzten Jahrzehnten immer besonders „europafreundlich“ war, dann hat das weniger mit einer europäischen Idee oder gar Vision zu tun – unseren Eliten ist jede Idee recht, die sich das Etikett „Europa“ aufklebt -, als vielmehr mit dem Versuch, Deutschland in Europa aufzulösen wie ein Stück Zucker im Kaffee. Und wenn das nicht funktioniert, weil die anderen Nationen noch nicht so weit sind, sich aufzulösen und Deutschland daher nolens volens fortexistieren muss, dann aber höchstens als geographisches Gefäß, in dem vielleicht noch eine „Bevölkerung“ lebt, aber kein Volk, und in das man nach Belieben und vor allem nach (wessen?) ökonomischem Bedarf Menschen füllen kann.

In dieser Ideologie kommt das deutsche Volk allenfalls noch als sein eigener Nachlassverwalter vor. Die Bundeswehr soll demgemäß auch keine deutsche Armee sein, sondern eine Art Polizei im Dienste einer „Weltinnenpolitik“ (der Ausdruck stammt nicht von mir, sondern von den Verfechtern eines solchen Konzepts). Eine Welt aber, die eine „Innenpolitik“ hat, ist eine, die keine souveränen Staaten und keine Völker und Nationen kennt, und sie erst recht nicht anerkennt.

Diese globalistische Ideologie herrscht in Deutschland ziemlich unangefochten; und entsprechend lautet denn das stärkste Argument der Befürworter der neuen Tapferkeitsauszeichnung, dass sie eben nicht das Eiserne Kreuz – sprich: nicht deutsch sei.

Der Selbstmord der Völker Europas

Ich habe hier schon mehrfach den Selbsthass des Westens, speziell der europäischen Völker (und hier wiederum besonders meines eigenen) thematisiert. Er äußert sich explizit  in einer Political Correctness, die dem jeweils eigenen Volk, der eigenen Kultur, der eigenen Religion (so man noch eine hat), der eigenen Rasse die Schuld an praktisch allen Übeln dieser Welt zuschreibt, aber äußerst wohlwollend mit dem jeweils „Anderen“ umgeht. Er äußert sich aber auch implizit in der schleichenden Selbstauslöschung der Völker Europas.

Für beide Phänomene lassen sich eine Reihe von Ursachen bzw. Motiven identifizieren: ideologische, politische, soziologische, ökonomische, und einige von denen habe ich auch hier im Blog schon behandelt.

Mit der psychologischen Seite habe ich mich bisher nur en passant befasst, obwohl allein das Wort „Selbsthass“ auf die Bedeutung psychologischer Motive verweist.

Ruth hat mich vor einiger Zeit auf einen Aufsatz des Psychoanalytikers und Bloggerkollegen Shrinkwrapped hingewiesen, den BeforeDawn netterweise ins Deutsche übersetzt und im Counterdjihad-Blog eingestellt hat. Leider findet dieser Blog nicht die verdiente Aufmerksamkeit – bisher hat es gerade einmal 79 Zugriffe auf Shrinkwrappeds Essay gegeben (Ich muss mir für diesen Blog wohl etwas einfallen lassen.), und deshalb stelle ich ihn hier mit einigen Raffungen und Kürzungen und unterbrochen von meinen eigenen Kommentaren noch einmal ein. Natürlich bin ich kein Psychologe und weiß über Psychologie nur so viel, wie man als belesener Zeitgenosse eben weiß; aber auch auf dieser Basis lässt sich ja trefflich spekulieren:

„Scham, Aggression und demographischer Selbstmord

von Shrinkwrapped

Übersetzung: BeforeDawn

Teil I

(28. März 2006)

Am Anfang meiner beruflichen Tätigkeit kam eine Frau zu mir, die ich Gudrun nennen möchte, um sich therapieren zu lassen, und zwar gezwungenermaßen. Sie hatte eine ausgezeichnete berufliche Tätigkeit, die sehr zu ihr passte, aber ihr Chef hatte ihr gesagt, er würde sie entlassen, wenn sie sich nicht einer psychiatrischen Behandlung unterzöge. Es war ihr klar, dass sie nicht gut mit Menschen zurechtkam: in den meisten ihrer Beziehungen hatte sie am Ende das Gefühl, misshandelt zu werden, und so war es wohl auch wirklich. Es gab einiges Beeindruckende an dieser Frau, nicht zuletzt ihre Schönheit und ihre Intelligenz. Sie war Deutsche und war in die USA gekommen, um ihr Studium abzuschließen; sie hatte sich dann entschieden, in New York zu bleiben, weil sie sich eine Zukunft in Deutschland eigentlich nicht vorstellen konnte.

Mein anfänglicher Eindruck war, dass diese Frau sehr sympathisch war, nicht nur wegen ihres offensichtlichen Charmes und ihrer Intelligenz. Sie war warmherzig und einnehmend, sie ließ sich ohne erkennbare Schwierigkeiten auf eine relativ intensive Psychotherapie ein, was emotionale Intimität und Offenheit angeht, und ich wunderte mich darüber, warum es ihr nie möglich gewesen war, eine langfristige Beziehung einzugehen, und warum sie bei ihrem Chef und ihren Mitarbeitern einen so starken Zorn auf sich auslöste. Im Laufe der Zeit merkte ich, dass sie zentrale Teile ihrer Lebensgeschichte nicht thematisierte.

Sie war etwas mehr als zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren. Ihr Vater war in der Wehrmacht gewesen, und nach dem Krieg war er mehrere Jahre Gefangener in Stalins Gulag, bevor er entlassen wurde und nach Hause zurückkehren konnte. Ihre Mutter war während des Krieges noch ein Teenager gewesen und hatte in Berlin gelebt. Ihre Eltern hatten geheiratet, nachdem der Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war. Sie war ein Einzelkind. Sie, wie auch ich, brauchte mehrere Monate, um zu erkennen, was in ihrer Lebensgeschichte fehlte: sie hatte keine Vorstellung davon, was ihre Eltern während des Krieges erlebt hatten.

Dies hatte Ähnlichkeit mit den „Löchern“ in der Lebensgeschichte von Patienten, die Kinder von Überlebenden der Konzentrationslager waren. Die Eltern sprachen nicht nur nicht über ihre Erfahrungen, sondern sie vermittelten ihren Kindern die Botschaft, dass bestimmte Fragen nicht denkbar waren und schon gar nicht gefragt werden durften. Bei Kindern von KZ-Überlebenden konnte man ein solches Fehlen von Teilen der Lebensgeschichte erwarten und man konnte damit therapeutisch arbeiten; ich hatte jedoch bis dahin keine Erfahrung mit Überlebenden auf der Seite der Täter und erwartete nicht dieselbe Art von biographischen Lücken.

Eine Anzahl von disparaten Teilen im Puzzle meiner Patientin kam allmählich in den Blick. Sie verriet mir, dass sie ein Jahr in Israel gelebt hatte, als sie 18 war, und dass sie zu der Zeit erwogen hatte, zum jüdischen Glauben überzutreten. Das erschien rätselhaft, denn als sie zu mir kam, war sie eine kosmopolitische unreligiöse Europäerin mit beträchtlicher Lebenserfahrung. Ein weiterer verwirrender Aspekt ihres Falles war, dass ich von Zeit zu Zeit den Wunsch verspürte, ihr gegenüber verletzende Bemerkungen zu machen, die in ihrer Therapie unangebracht schienen. Ich mochte sie wirklich, und ich war mir keines negativen Gefühls ihr als Deutscher gegenüber bewusst (Wie hätte sie denn für den Holokaust auch nur im geringsten verantwortlich sein können?), noch konnte ich irgendein Stück Gegenübertragung bei mir identifizieren, das mich hätte dazu bringen können, sie zu verletzen.

Erst nachdem mir klar geworden war, dass ich mit meiner Patientin in Hinsicht auf einen Verzicht, die Verwicklung der Eltern in die historischen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs zu erkunden, kollaborierte, gewann ihre Therapie einen klareren Fokus und war es uns möglich zu verstehen, was die Gründe für ihre Probleme waren.“

Als ich das las, war ich überzeugt, dieselbe Krankengeschichte vor Jahren schon einmal gelesen zu haben, und zwar in diesem Buch:

71DSGF7XD4L._SL500_AA240_Der darin enthaltene Aufsatz „Kind von Verfolgern“ von M. David Coleman – auch er der Bericht eines jüdischen amerikanischen Analytikers, der eine deutsche Patientin behandelt -, ähnelt Shrinkwrappeds Bericht nicht in jedem Detail, aber doch genug, dass ich zunächst glaubte, es mit ein- und demselben Text zu tun zu haben: Auch dort eine attraktive, scheinbar gut angepasste Person, die ständig die Aggressionen ihrer Mitmenschen herausforderte; die den Übertritt zum jüdischen Glauben in Erwägung gezogen hatte; deren Mutter über die Vergangenheit niemals sprach; beide aus Deutschland emigriert, Gudrun von sich aus als Erwachsene, Frieda (die Patientin von Herrn Coleman) als Kind. Beide schufen Distanz zu Deutschland, Gudrun durch die Emigration, Frieda, indem sie Kopfschmerzen bekam, wenn sie die deutsche Sprache hörte.

„Wir fanden heraus, dass ihr Vater zwar in die Wehrmacht eingetreten war, aber sich geweigert hatte, irgendetwas mit der SS oder der Gestapo zu tun zu haben; er hatte regelmäßig erkennen lassen, dass er gegen die Nazis war.  Nach dem Krieg hatten die Russen ihn mit vielen anderen deutschen Soldaten verladen und nach Sibirien in den Gulag geschickt, wo er fast zehn Jahre leiden musste, bis die Russen ihn schließlich repatriierten.

Interessant war, dass sie über die Geschichte ihrer Mutter lediglich wusste, dass die Familie am Ende des Krieges mit beträchtlichen Entbehrungen fertig werden musste, und dass sie sich daran erinnern konnte, Hunger gehabt zu haben. Besonders auffällig war, dass Kenntnisse über Erlebnisse ihrer Mutter aus der Zeit vor dem Krieg und während des Krieges völlig fehlten, obwohl sie ein sehr enges Verhältnis zu ihrer Mutter hatte und viel über ihre Nachkriegserlebnisse wusste. Wenn sie ihre Mutter gefragt hatte, wie ihr Leben vor dem Krieg gewesen war, hatte sie es immer abgelehnt zu antworten oder das Thema gewechselt.

Zu der Zeit, als wir anfingen, den Hintergrund ihrer Mutter zu erkunden, offenbarte sie – und es fiel ihr bezeichnenderweise schwer -, dass sie seit langem relativ weitgehende sadomasochistische Sexualphantasien hatte. Sie hatte diese Phantasien nie ausagiert, aber sie fand sie sehr erregend und zugleich in hohem Maße beschämend, was sie in einen inneren Konflikt versetzte. Was ich bemerkenswert fand, war, dass ihre Phantasien – im Gegensatz zu denen anderer Patienten mit sadomasochistischen Neigungen – ganz offensichtlich außerordentlich fließend waren, in dem Sinne, dass es ihr oft unmöglich war, festzulegen, ob sie in ihrer Phantasie das masochistische Opfer oder der sadistische Täter war.

Im dritten Jahr ihrer Therapie machte Gudrun eine vierwöchige Reise nach Deutschland, um ihre Eltern zu besuchen. Ihr Vater war zu der Zeit schwer erkrankt, und es sollte ein Abschiedsbesuch sein.

Nach ihrer Rückkehr hatte sie mir viel zu erzählen. Sie hatte Gelegenheit gefunden, sich mit ihren Eltern zusammenzusetzen und lange Gespräche zu führen; sie hatte schließlich ihre Mutter mit den Lücken in ihrer Lebensgeschichte konfrontiert. Was sie dabei entdeckt hatte, ließ sie ihre eigenen Erfahrungen aus einer veränderten Perspektive sehen.

Ihre Mutter hatte, als sie in Berlin aufwuchs, als beste Freundin ein jüdisches Mädchen gehabt, das im Haus nebenan lebte. Ihre eigenen Eltern hatten ein sehr enges Verhältnis zu den Eltern ihrer Freundin. Die beiden Mädchen waren unzertrennlich. Als die Nazis an die Macht kamen, wurde diese beste Freundin ihrer Mutter, weil sie Jüdin war, in der Schule gemieden und gehänselt; ihre Mutter distanzierte sich von ihrer Freundin. Eines Tages war die Familie von nebenan verschwunden. Es war nicht nur, dass sie sie nie wieder sahen, es wurde auch nie wieder von ihnen gesprochen. Der Name des Mädchens war Giselle.

Meine Patientin brach in Tränen aus und zeigte ihr Entsetzen, als sie mir diese Dinge erzählte. Es war für sie unfassbar, dass ihre Mutter und ihre Großeltern so gefühllos gewesen waren. Wie konnte eine solche Schlechtigkeit in ihrer Familie sein? Andere Deutsche hatten ihr Leben riskiert, um jüdische Kinder und jüdische Familien zu retten; wie konnte ihre Familie sich angesichts solcher Grausamkeit sich so passiv verhalten?

Ihre Scham über ihre eigene Geschichte war tief.“

Dabei waren ihre Eltern nicht einmal Nazis gewesen, anders als die der Patientin Frieda, deren Stiefvater bei der SS gewesen war, deren Mutter noch in den sechziger Jahren pronazistisch eingestellt war, und die selber als Kind (sie war kurz vor dem Krieg geboren worden) eine Version des Cowboy-und-Indianer-Spiels gespielt hatte, bei dem die Juden die Indianer waren. Ihre Schuldgefühle basierten bei ihr auf dem Gefühl, dass sie ohne die Niederlage Deutschlands und ohne die Emigration ganz selbstverständlich ebenfalls ein Nazi geworden wäre.

„Jetzt erst konnte sie ihre unbewusste Identifikation mit den Juden besser verstehen. Sie selbst war nach einem verschwundenen jüdischen Mädchen benannt worden. Ihre sadomasochistischen Phantasien kamen jetzt klarer in den Blick. Sie begriff, dass sie unbewusst alle ihre Beziehungen durch eine Nazi-Juden-Linse gesehen hatte. Sie konnte es nicht ertragen, auf der Seite der Nazis zu sein, und war so gezwungen, ihre eigenen aggressiven Gefühle zu verstecken und zu leugnen, während sie andererseits das Opfer sein konnte, indem sie in ihren Phantasien sich Aggression von anderen vorstellte; dies war aber auch keine Position, die stabil und aushaltbar war. Die Unmöglichkeit, mit sich selbst einen Pfad durch diese beiden Extreme auszuhandeln, führte zu einer Art von fixierter psychischer Kreisbewegung, die sie dazu zwang, beständig ein Nazi-Juden-Szenario zu inszenieren, abwechselnd als unbewusster Täter und dann als bewusstes Opfer.

Zur selben Zeit, als wir die Dynamik dieses Aspekts ihres Charakters herausarbeiteten, konnte ich auch selbst meine Ambivalenz hinsichtlich ihres deutschen Hintergrunds besser erkennen und damit auch, dass die Fragen, die ich mir verboten hatte zu stellen (´Was haben Ihre Eltern und deren Eltern während des Krieges gemacht?´), mich dazu gebracht hatten, die Art und Weise, in der sie mich provozierte, zu übersehen. (Sie war sehr geschickt in der subtilen Kunst der unbewussten Provokation.) Als ich nun zu sehen begann, wie sie mich provozierte, konnte ich auch besser meine eigenen Impulse, ihr gegenüber grausam zu sein, als das begreifen, was sie waren, nämlich Teil der Inszenierung ihrer aus der Familiengeschichte hergeleiteten unbewussten Phantasien.

Gudrun war eine lebenserfahrene, schöne, intelligente Frau, sprach fünf Sprachen fließend, ein talentiertes und bezauberndes Beispiel einer aufgeklärten Nachkriegseuropäerin, sie spürte jedoch, dass sie einen ernsthaft kranken Kern hatte. Gudrun hatte versucht, Europa zu entkommen, indem sie nach Amerika ging, und war damit teilweise erfolgreich, nachdem sie die Krankheit in ihr identifizieren konnte.

Wie es ihr gelang, diese aus ihrer Familiengeschichte resultierenden lang andauernden Konflikte zu lösen, und was die möglichen Implikationen daraus für Europa sind, wird in einem kommenden Posting erkundet werden.

Teil II :

(29. März 2006)

Gestern habe ich angefangen, die Geschichte von Gudrun zu erzählen, die Mitte zwanzig war, als sie wegen ihrer chronischen Schwierigkeiten, mit ihren Mitmenschen auszukommen, zu mir zur Behandlung kam. Sie war eine begabte attraktive Deutsche, die oft einen jüdischen Stern am Hals trug, als sie achtzehn war, ein Jahr in Israel gelebt hatte, und einen nicht unbeträchtlichen Teil der Zeit damit verbrachte, den Übertritt zum Judentum in Betracht zu ziehen. Sie fand in ihrer Therapie heraus, dass sie nach der besten Freundin ihrer Mutter in deren Kindheit benannt worden war, einem jüdischen Mädchen namens Giselle, die in den Konzentrationslagern Nazideutschlands in den späten Dreißigern verschwunden war, um nie wieder gesehen oder erwähnt zu werden.
[In meinem vorigen Posting hatte ich vergessen, darauf hinzuweisen, dass Gudruns Namensgebung durch die Mutter entsprechend der Tradition der aschkenasischen (osteuropäischen) Juden erfolgt war, die Verbundenheit mit einem geliebten Verstorbenen durch den Gebrauch des gleichen Anfangsbuchstabens auszudrücken.]

Ungeachtet dessen, was Gudrun an Wissen über sich selbst gelernt hatte, was ihr eine große Hilfe war, die Art und Weise zu verstehen, in der sie unbewusst andere dazu provozierte, sie anzugreifen, war sie nicht in der Lage, eine passende Dauerbeziehung zu finden oder aufrechtzuerhalten. Dies war verwirrend, denn wir beide dachten, wir verstünden im wesentlichen, was ihre Beziehungen in der Vergangenheit gestört hatte, und häufig machten ihr Männer den Hof, die, soweit zu erkennen war, durchaus zu ihr zu passen schienen.

Schließlich aber fanden wir heraus, dass es einen unlösbaren Konflikt gab, der es Gudrun verwehrte, jemals die dauerhafte Beziehung zu finden, nach der sie sich sehnte.

Sogar nach mehreren Jahren therapeutischer Arbeit konnte Gudrun die Enormität dessen, was ihre Eltern durchgemacht hatten und wie sie mit ihrer eigenen Rolle in den mit dem Holokaust verbundenen Ereignissen umgegangen war, nicht gänzlich einschätzen. Obwohl sie nicht religiös war und nur ein Minimum an religiöser Unterweisung (in einem protestantischen Bekenntnis) erhalten hatte, hatte sie das Gefühl, dass der Makel des Holokaust, der auf ihrer Familie lastete, eine Ursünde sei, für die es ihr niemals möglich sein werde, völlige Wiedergutmachung zu leisten. Während Christen fühlen, dass sie von ihrer „Ursünde“ durch das Opfer Jesu Christi erlöst sind, gab es in der säkularen Welt der Europäer nach dem Krieg und dem Holokaust keine gleichartige Erlösung. Es dauerte eine sehr lange Zeit, bis es Gudrun möglich war, ihr tief empfundenes Gefühl in Worte zu fassen, dass der beschämende Makel in ihrem Kern niemals ausgelöscht werden könne.

Gudruns Empfindung war, dass sie wegen der Mittäterschaft ihrer Familie an den Schrecken des Holokaust es nicht verdient habe, von einem anständigen Menschen geliebt zu werden; sie wusste zwar, dass sie eine Person war, die von anderen gemocht wurde, und konnte sich sogar dazu überreden, dass sie liebenswert sei, aber in ihrem tiefsten Inneren fühlte sie, dass sie nicht liebenswert sei. Die Kluft zwischen dem, was ihr intellektueller Verstand ihr sagte (dass sie für das, was geschehen war, nicht verantwortlich sei) und dem, was ihr Gefühl ihr sagte (dass sie ein Abkömmling des Bösen sei), war unüberbrückbar. Wir haben dies eine sehr lange Zeit bearbeitet. In dieser Zeit gründete sie ihre eigene Firma, kaufte ein Haus und engagierte sich gesellschaftlich, aber sie konnte nie die Art von Zuneigung eines Mannes ertragen, nach der sie sich mehr als nach allem anderen sehnte. Darüber hinaus war die Vorstellung, ein Kind in die Welt zu setzen, in dem möglicherweise dasselbe Übel wie in ihr steckte und auf der Lauer lag, um eines Tages wiederum Gestalt anzunehmen, eine Quelle unvorstellbaren Schreckens für sie. Es war ihr nicht möglich, das Gefühl ins Wanken zu bringen, dass, was an Gutem sie auch immer in der Welt tat, sie doch von Menschen abstammte, die zu den schrecklichsten Dingen in der Lage gewesen waren, und so konnte sie es nicht riskieren, auch nur im geringsten Maße dafür verantwortlich zu sein, dass dieses Böse wiederum auf die Welt losgelassen würde. Es ist kaum möglich zu beschreiben, wie tief sie diesen Schrecken empfand und wie stark er war.

Ich kann nicht genug betonen, dass diese Frau die empfindsamste aller Seelen war; schon der Gedanke, dass sie eine andere Person verletzen könnte, machte sie physisch krank. Dennoch konnte sie nie das Gefühl ins Wanken bringen, dass in ihrem Kern sich etwas Schreckliches befinde. Letztendlich traf sie die bewusste Entscheidung, ihre Gene nicht weiterzugeben. Sie entsagte ihrer eigenen Zukunft und der Möglichkeit, geliebt zu werden. Nichtsdestoweniger hatte sie das Gefühl, dass die Therapie äußerst hilfreich war und dass sie die disparaten Gefühle, von denen sie den größten Teil ihres Lebens geplagt worden war, geklärt hatte. Sie hatte es nicht länger nötig, andere so wie in der Vergangenheit zu provozieren und konnte jetzt gut mit anderen zusammenarbeiten. Die Menschen wurden nicht mehr von ihr vor den Kopf gestoßen und waren nicht mehr wütend auf sie, sondern sie wurde von ihnen aufrichtig gemocht. Sie konnte ihren Freunden und Kollegen zwar nicht erklären, warum sie die ganze Zeit allein blieb, aber sie wusste, warum sie sich für ihren Lebensweg entschieden hatte.“

Da sie ihren Selbsthass ihrer Zugehörigkeit zu einem Kollektiv verdankt – nämlich zum deutschen Volk, sind ihre Emigration, überhaupt ihr betonter Kosmopolitismus Mittel, dieser Zugehörigkeit zu entkommen. Für die, die im Lande bleiben, ist diese Nichtidentifikation schwerer zu demonstrieren; aber auch für sie gibt es Wege, den Hass auf das eigene Volk auszuleben. Mit der Entscheidung, keine Kinder zu bekommen, bestrafen sie sich nicht nur selbst, für ihre empfundene „Schuld“, sondern auch das Volk, dem sie diese „Schuld“ verdanken. Der Wunsch, dass das eigene Volk nicht existieren möge, schlägt sich sowohl im Reproduktionsverhalten nieder als auch in Ideologien, die diese Existenz in Abrede stellen („dekonstruieren“), als auch in sozialen und politischen Leitbildern, die ihm auf dem schnellsten Wege zum Exitus verhelfen.

(Eines sollte ich klarstellen: Wenn ich politische Ideen unter psychologischen Gesichtspunkten betrachte, dann treffe ich keine Aussage darüber, ob man nicht auch auf rationalem Wege zu diesen Ideologien gelangen kann. Anders gesagt: ich erkläre ihre Anhänger nicht für verrückt – obwohl ich bisweilen durchaus glaube, dass sie das sind; nur ist das eben keine Diskussionbasis. Politische Ideologien – welche auch immer – psychologisch zu interpretieren heißt vielmehr die Frage beantworten: Angenommen, diese Ideologien wären aus unbewussten Motiven entstanden, welche Motive müssten das dann sein? Während eine ideologiekritische Argumentation auf die entgegengesetzte Frage antworten würde: Angenommen, diese Ideologien hätten keinen psychologischen Hintergrund, sondern wären rational entwickelt worden, welche Logik stünde dahinter? Man muss die psychologische von der ideologiekritischen Ebene trennen, um auf jeder Ebene sauber zu argumentieren; Aussagen über die Vernunft oder Unvernunft von Ideologien lassen sich auf der Basis solcher Annahmen selbstverständlich nicht begründen.)

„Obwohl immer Vorsicht angebracht ist, wenn man vom Einzelfall auf das Generelle schließt,  frage ich mich doch, ob das, was ich in Gudrun gesehen habe, nicht eine unbewusste Dynamik repräsentiert, die insgesamt im heutigen Europa am Werk ist. Das schmutzige Geheimnis, zu dem sich Europa nie bekannt hat, ist das große Ausmaß an Mittäterschaft am Holokaust, nicht nur der Mehrheit der Deutschen, sondern auch der Franzosen, der Polen, der Bulgaren, Ungarn und anderer. Die osteuropäischen Länder haben in einer gewissen Weise dafür Buße getan, dadurch dass ihre Nachkriegsgenerationen von den totalitären Kommunisten gefangen gehalten wurden: die Kommunisten versuchten bewusst, alle Zeichen der Mittäterschaft ihrer Völker am faschistischen Holokaust, der vor allem gegen die Juden gerichtet war, zu beseitigen. Sogar in Westeuropa ist die Mittäterschaft versteckt worden, wenn auch nicht völlig beseitigt. Weil man dies nicht direkt angepackt hat, hat das schändliche Geheimnis im Inneren Europas wie ein Geschwür weiter geeitert, wie alle schändlichen Geheimnisse.“

Ich hatte mich schon immer gewundert, warum die Erscheinungen des kollektiven Selbsthasses, die wir in Deutschland mit den Nachwirkungen des Dritten Reiches erklären, in vielen anderen westlichen Ländern ebenfalls zu beobachten sind.

Wenn ich allerdings bedenke, dass zumindest der ideologische Selbsthass auch und sogar besonders ausgeprägt in den angelsächsischen Ländern zu beobachten ist, die gegen Deutschland gekämpft haben, dann frage ich mich, ob Shrinkwrappeds Erklärung ausreicht. Gewiss haben auch England und Amerika sich mitschuldig gemacht, z.B. durch ihr Verhalten bei der Konferenz von Evian 1938, als sie die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge explizit ablehnten bzw. nur unter großen Einschränkungen akzeptierten; durch ihre Neutralitäts- bzw. Appeasementpolitik; nicht zuletzt durch ihre Weigerung, ihre Militärmacht direkt zur Behinderung des Holocausts einzusetzen (z.B. durch Bombardierung der Bahnstrecken zu den Vernichtungslagern). Trotzdem sind solche Unterlassungssünden doch weit entfernt von dem Ausmaß an Verstrickung der Völker im besetzten Europa, geschweige denn des deutschen.

Allem Anschein aber nach identifizieren sich praktisch alle westlichen Völker mit dem deutschen, und zwar gerade im Hinblick auf den Holocaust! Sie sehen sich als potenzielle Täter (nicht anders als die beiden Patientinnen), nicht als potenzielle Opfer. Dazu passt auch die latente – oder gar nicht so latente – Deutschfeindlichkeit in vielen westlichen Ländern, die mir weit über das hinauszugehen scheint, was man zwischen ehemaligen Kriegsgegnern normal finden wird. Womöglich ist diese Deutschfeindlichkeit deshalb so intensiv, weil die mit ihrer Hilfe verdrängte Täteridentifizierung so stark ist.

Warum aber identifiziern sie sich mit den Deutschen, nicht etwa mit den Juden? Weil sie keine Juden sind, wohl aber mit den Deutschen einen Antisemitismus teilen, der in wesentlichen Zügen zu den Grundannahmen des kollektiven Weltbildes in christlich geprägten Gesellschaften gehört. In muslimisch geprägten natürlich auch, aber heute schreibe ich (ausnahmsweise mal 😀 ) nicht über den Islam.

Bleiben wir bei der Psychologie: Das Verhältnis des Christentums zum Judentum ist nicht unähnlich dem von nominell erwachsenen Kindern, bei denen die Ablösung vom Elternhaus nicht geklappt hat, zu ihren Eltern. Das Volk Israel ist zugleich die „Wir“-Gruppe des Alten Testaments und die Feindgruppe des Neuen.  Der christliche Antisemitismus entspricht dem Hass auf Eltern, von denen man nicht loskommt, weil man es nicht geschafft hat, ein von ihnen unabhängiges Selbst aufzubauen. Und die Völker, die diesen Hass teilen, fühlen sich mitschuldig am Holocaust – ganz unabhängig vom Maß der tatsächlichen eigenen Beteiligung. Das scheint mir einleuchtend. Es würde auch erklären, warum der Massenmord an den Zigeunern nicht dieselben Schuldgefühle auslöst: Die Zigeuner sind im Gegensatz zu den Juden die völlig Anderen, sie spielen keine Rolle für die kollektive Selbstdefinition.

„Scham ist das unerträglichste aller Gefühle, weil es das Selbst betrifft. Dr. Sanity hat sehr Erhellendes über Scham und ihre Wirkungen im öffentlichen Raum geschrieben:

Übermäßige oder unangemessene Scham ist etwas völlig anderes, sie sagt dem Individuum mit großer Eindringlichkeit, dass er oder sie wertlos ist. Scham kann eine außerordentlich zerstörerische und schmerzhafte Erfahrung sein. Kinder, die beständiger Feindseligkeit und Kritik ausgesetzt sind, lernen, sich gegen die schlechten Gefühle und die Scham in ihrem Inneren zu wehren und nach außen hin anderen den Grund dafür vorzuwerfen. Projektion und Paranoia, die beide Schuldzuschreibungen nach außen sind, sind psychische Verteidigungsmechanismen gegen die Scham. Oft wird versucht der Betreffende, mit dieser übermäßigen Scham umzugehen, indem er jemanden, den er als schwächer oder noch wertloser wahrnimmt, demütigt (z. B. ein Haustier, eine Frau, Schwule oder Außenseiter erfüllen diese Funktion sowohl für einzelne als auch für kulturelle Gruppen).

Ein Schuldgefühl entsteht nach einem Verstoß gegen die persönlichen Werte oder die der eigenen kulturellen Gruppe. Das Gefühl der Schuld bezieht sich auf Handlungen, auf das Verhalten, während das Gefühl der Scham sich auf das Ich bezieht. Wenn jemandem gesagt wird, sein Verhalten sei schlecht, ist das in seiner psychologischen Wirkung etwas deutlich anderes als wenn man jemandem sagt, er sei schlecht. Jenes führt zu einem Gefühl der Schuld, dieses zu einem Gefühl der Scham.

Zu Scham und Erniedrigung gehört aber auch, dass sie oft zu Wut führen. Wenn die Wut nicht nach außen abreagiert wird, wird sie oft gegen das Ich gerichtet und kann Verzweiflung bis hin zum Suizid bewirken (von dieser Verzweiflung ist Gudruns Lebensentwurf eine weniger schlimme Variante); wenn die Wut nach außen gerichtet ist, kann sie für eine andere Person tödlich sein. Oft stehen beide Formen auch im Zusammenhang. Der Selbstmordbomber vernichtet sich selbst und den verhassten (meistens auch beneideten) anderen, der als die Ursache der Scham gesehen wird.

In der Kultur der europäischen Eliten zeigt sich ein beträchtliches Maß an Pathologie. Sie versuchen, ihr Gefühl der Scham dadurch zu verarbeiten, dass sie das attackieren, was sie als ihren Ausgangspunkt ansehen. Wenn die Juden nur verschwinden würden, könnte die Erinnerung an den Holokaust der Vergangenheit anheim gegeben und für immer vergessen werden. Dies hat nicht für Gudrun funktioniert und es kann auch nicht für Europa als Ganzes funktionieren. Mit ihrem Bemühen, ihre Mittäterschaft vergessen zu machen, drohen sie die Verbrechen der Vergangenheit zu wiederholen. Die schändlichen Angriffe auf die Legitimität Israels sind nichts weiter als kaum verhüllter Antisemitismus, das zentrale Übel, das Gudrun niemals völlig verarbeiten konnte.

(…)“

Das eigene Volk ist nur  eines von zwei Völkern, denen man seinen Selbsthass zu verdanken glaubt, und die man deshalb aus der Welt schaffen will. Das andere sind die Juden. Das makabre Bonmot, dass die Deutschen den Juden Auschwitz nicht verzeihen werden, ist nicht nur zutreffend; es gilt sogar, wenn auch abgestuft, für alle westlichen Völker.

Nehmen wir an, das Verhältnis zum eigenen Volk und das zu den Juden respektive Israel sei die Grundlage politischer Weltbilder in westlichen Ländern, dann gibt es vier mögliche Grundeinstellungen:

(Ich beziehe mich konkret auf Deutschland.)

  • projüdisch-prodeutsch: Teile des konservativen Spektrums (mainstream- und rechtskonservativ)
  • projüdisch-antideutsch: die antideutschen Linken
  • antijüdisch-prodeutsch: traditionell Deutschnational-Rechtskonservative, außerdem Rechtsextremisten
  • antideutsch-antijüdisch: die Mehrheit, und zwar im Zentrum wie auf der Linken

Der Hass auf das eigene wie auf das jüdische Volk, der aufgrund von Shrinkwrappeds Argumentation als Mehrheitseinstellung zu erwarten ist, ist tatsächlich die Einstellung der Mehrheit. Die drei Alternativen werden von Leuten gewählt, die sich mit dem eigenen Volk identifizieren – das gilt auf vertrackte Weise auch für die Antideutschen, für deren Deutschfeindlichkeit das gelten dürfte, was ich oben über die der westlichen Völker gesagt habe: dass sie nämlich Ausdruck einer mit großem psychischem Aufwand verdrängten Identifikation ist.

„Antisemitismus ist eine Krankheit, die einen Menschen und eine Kultur von innen zerstören kann (siehe auch Pity the Poor Anti-Semite); sie kann natürlich ihren ausersehenen Opfern, den gefürchteten, beneideten und idealisierten Juden, schrecklichen Schaden zufügen, aber sie höhlt eben auch den Kern desjenigen aus, der an dieser Krankheit leidet. Vielleicht hat Gudrun ein Beispiel für die Wege aufgezeigt, auf denen diese Krankheit ihre Wirkungen durch die Generationen hindurch zeitigt.

Teil III:

(30. März 2006)

(…)

Meine Patientin wuchs im Nachkriegsdeutschland auf, in einer Umgebung, in der die gesamte Bevölkerung sich verabredet hatte, alle Erinnerungen an ihre Mittäterschaft am Holokaust (bei vielen eine aktive, aber bei den meisten eine passive) zu begraben. Die beste Kindheitsfreundin ihrer Mutter war ein jüdisches Mädchen von nebenan; eines Tages war sie mitsamt ihrer Familie verschwunden und wurde nie wieder gesehen oder auch nur erwähnt. Gudruns Mutter behielt fast 40 Jahre lang dieses Geheimnis bei sich selbst, d. h. der Mutter war es nicht wirklich bewusst gewesen, dass es ein Geheimnis war, sie hatte einfach nie daran gedacht, es ihrer Tochter gegenüber zu erwähnen, bis Gudrun sie direkt damit konfrontierte, als sie – nun schon fast dreißig – bei ihr zu Besuch war.

Die Analogie zwischen Europas allgemeiner Leugnung und der der Einzelperson liegt in der Verdrängung.

Eine von Freuds großen Einsichten war, dass, wenn traumatische Erinnerungen „vergessen“ oder „verdrängt“ und so dem Gedächtnis entzogen werden, sie dennoch beständig danach drängen, an die Bewusstseinsoberfläche zurückzukehren. Die Kräfte, die das „Vergessen“ bedingen, kämpfen darum, das Trauma nicht bewusst werden zu lassen, und aus diesem Kampf resultieren Krankheitssymptome und Charakterdeformationen. Das klassische Beispiel hierfür, das wir in der jetzigen komplexeren Gesellschaft nicht mehr sehen, wäre die hysterische Konversionssymptomatik. Bei einem Patienten, der sich in einer Konfliktsituation wegen seiner Aggression (er hat Angst, sich oder andere zu verletzen) befindet, könnte sich z. B. eine hysterische Lähmung seines Armes entwickeln. Mit seinem gelähmten Arm wäre er nicht mehr in der Gefahr, irgendjemanden zu verletzen, allerdings sind die resultierenden Symptome der hysterischen Konversion oft schlimmer als die Impulse, die sie auslösen. Freud nannte eine solche Symptombildung eine „Rückkehr des Verdrängten“.

[Unser heutiges Verständnis einer solchen Symptombildung ist ein gutes Stück differenzierter und komplexer, aber der grundlegende Rahmen für das Verständnis hat den Test der Zeit bestanden.]

In der gleichen Weise nun haben die europäischen Eliten sich vorgestellt, sie könnten die Verwicklung Europas in die Grausamkeiten des Holokausts vergessen, ohne einen Preis dafür zu zahlen. Jedoch zahlt Europa einen sehr hohen Preis dafür, und es könnte sein, dass es im Begriff ist, die Bühne für eine „Rückkehr des Verdrängten“ zu bereiten.

Der Mann mit dem gelähmten Arm, den ich mir gerade vorgestellt habe, ist Europa. Seit dem Zweiten Weltkrieg, als das ganze Ausmaß des Schreckens des Holokaust zutage trat, haben die Europäer versucht, ihre aggressiven Impulse zu leugnen. Sie sind friedliebender geworden als die blutdürstigen Amerikaner und haben sich deswegen selbst entwaffnet, sie sind moralischer als der Cowboy aus Crawford, viel gescheiter und differenzierter im Denken als die Tölpel von der anderen Seite des großen Teichs. Aber während dieser ganzen Zeit, in der sie den Anschein verfeinerter Urbanität aufrechterhielten, gab es in ihrem Kern eine Krankheit.

Meine Patientin löste ihre auf Aggression, Scham und Schuld basierenden Konflikte durch Selbstbestrafung, Zerstörung ihrer Zukunft und durch die Selbstverpflichtung, niemals Mittäterin bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu sein. Man ist versucht, im demographischen Versagen der hochzivilisierten Europäer eine ähnliche Selbstverpflichtung zu sehen. Ich möchte jedoch behaupten, dass es in diesem Fall nicht so leicht ist, das Verdrängte im Unbewussten unter sicherem Verschluss zu halten. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben die Europäer, außer Lippenbekenntnissen, nichts getan, um neue Völkermorde zu verhindern oder zu stoppen, jetzt in Darfur, vorher in Bosnien, in Kurdistan (durch Saddam Hussein) und unter den Schiiten im Irak. Durch ihre Angst vor Aggression und ihre Unfähigkeit zu moralischen Differenzierungen haben sie sich im Angesicht wirklicher Brutalität selbst entwaffnet. Sie haben sich sogar vehement bemüht, jene zu entwaffnen, die sie als ihr böses Spiegelbild sehen, die Israelis. (Dies wäre ein Beispiel für den „Narzissmus der kleinen Unterschiede“, der eigentlich einen gesonderten Beitrag verdient; man beachte, dass die deutschen Juden vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus die erfolgreichsten und am stärksten assimilierten Juden in ganz Europa waren. Dazu hat jemand gesagt, dass die Deutschen den Juden den Holokaust niemals verzeihen werden. Und auch nicht die Franzosen.)

Die ganze Kultur der Political Correctness und des Multikulturalismus beruht auf der Marxschen Dialektik der Unterdrücker und der Unterdrückten… In der politisch-korrekten Welt können nur Weiße und ihre Handlanger die bösen Unterdrücker sein. Saddam Hussein kann Millionen von muslimischen Glaubensgenossen töten, und dies regt niemanden auf; Hafis el-Assad kann Hama zerstören und 20.000 Menschen töten [Bombardement der Stadt Hama, um eine Zentrale der Muslimbrüder auszuschalten, Febr. 1982; Anm. des Ü.], und das ohne ein Wort der Missbilligung vonseiten der Europäer; die saudische Königsfamilie kann Sklaverei praktizieren und mittelalterliche Strafen für Apostasie verhängen, ohne ein Wort der Missbilligung (bedauerlicherweise auch nicht von unserer Regierung); der Iran ermordet Vergewaltigungsopfer und arbeitet fieberhaft daran, Nuklearwaffen herzustellen, um sie gegen ihre Feinde, einschließlich der Juden, einzusetzen, und die Europäer jammern und ringen die Hände, weil sie sich vor ihrer eigenen Aggression derartig fürchten, dass die Anwendung von Gewalt zur Entwaffnung des Irans für sie unvorstellbar ist. Dies ermöglicht es den Europäern, die Welt einzuteilen in jene, die die Freiheit zur Aggression haben, und in jene, denen Aggression verwehrt werden muss. Dies ist die Erklärung dafür, dass die Amerikaner und die Israelis immer im Unrecht sind, und die Moslems nie. Zugleich fühlen sie sich immer sicher, die Amerikaner und die Israelis verbal zu attackieren, aber nicht ganz so sicher, wenn es darum geht, Moslems verbal anzugreifen.“

Es ist zugleich die Erklärung dafür, dass man glaubt, den Menschen vorschreiben zu dürfen und zu müssen, was sie zu denken und sogar zu empfinden haben. Das gefährliche Monstrum „Volk“, das sich in Deutschland an so schrecklichen Orten zeigt wie „dem Stammtisch“ (oder dem Kommentarbereich von PI), dessen barbarische Mordlust nur durch die strenge Zucht von Verhaltens-, Sprach- und Denkregeln gezügelt werden kann, dieses groteske Zerrbild des wirklichen Volkes ist das getreue Spiegelbild dessen, was die Sprachregler in ihrem eigenen Inneren vermuten. Es ist eine weitere Form, den Selbsthass zur politischen Ideologie zu erheben und gesellschaftlich verbindlich zu machen.

„Diesen Konflikt haben sie nun zunehmend in ihren eigenen Hinterhof importiert, und es ist kein Zufall, dass die Europäer angesichts der Aggressivität vonseiten der unter ihnen lebenden Muslime sich gelähmt wiederfinden. Ihre anfängliche Reaktion darauf, abgesichert durch ihre reflexhafte Politische Korrektheit, war, diese Aggression in ihren eigenen Ländern zu leugnen; dies jedoch funktioniert nicht sonderlich gut.

Gateway Pundit hat Fotos von den französischen Unruhen in dieser Woche; dies sind keine Unruhen wegen Karikaturen, sondern Proteste von französischen Studenten und Gewerkschaften gegen Pläne der Regierung, die marode Wirtschaft durch die Schaffung von nicht ganz so abgesicherten Jobs in Schwung zu bringen. Diese Proteste waren wieder einmal der Grund für die muslimischen Jugendlichen, deren ethnische und religiöse Zugehörigkeit in der französischen Presse niemals erwähnt wird, gegen die privilegierten Franzosen zu randalieren, die sie als Dhimmis ansehen. Aber die Moslems, in der törichten Überschätzung ihrer eigenen Macht, laufen wiederum Gefahr, sich zu übernehmen. Wenn sie zu früh auf die Barrikaden gehen, könnten die Moslems im Herzen Europas jenen von so vielen gefürchteten und von so vielen herbeigewünschten Zusammenstoß der Zivilisationen auslösen, bevor die Europäer ihren demographischen Selbstmord vollendet haben.“

So weit die Diagnose. Ich finde sie hochgradig bestürzend und beunruhigend, weil mir keine rechte Therapie dazu einfällt. Wie erhält man Völker am Leben, die nicht mehr existieren wollen?

Deutsche und Nazis

 

Meine beiden letzten Artikel sind auf heftigen Widerspruch gestoßen. In dem einen („Der mekkanische Koran: Eine Themenanalyse“) habe ich die These vertreten, dass muslimische Gesellschaften auch heute noch von den Wertentscheidungen des Korans geprägt sind, die als vorbewusste Selbstverständlichkeiten die Weltauffassung und damit auch das politische Verhalten von Muslimen prägen.

In dem anderen („Opa war kein Nazi“) habe ich den Nationalsozialismus als Gemeinschaftsprojekt der deutschen Nation interpretiert, was unter anderem bedeutet, dass das NS-Regime sich auf die Loyalität einer breiten Massenbasis stützen konnte.

In beiden Artikeln geht es um die Beschreibung von Großkollektiven, und beide wurden aus einer individualisierenden Perspektive angefochten: Flowerkraut warf mir vor, zu wenig zu berücksichtigen, wie Muslime heute den Koran subjektiv interpretieren; nicht alle seien Islamisten, die den Koran als leitende Ideologie akzeptierten, und und LePenseur bestand darauf, nicht alle Deutschen der NS-Zeit, höchstens eine Minderheit, seien Nazis gewesen

in jener Bedeutung, wie heute “Nazi” verstanden wird — hart, zackig, unbarmherzig, Knobelbecher, mordlüstern, fanatisch vernagelt“ (LePenseur zu „Opa war kein Nazi“).

Beide Kritiken sind aus ihrer jeweiligen Perspektive richtig, nur ist diese Perspektive nicht die, die meiner Argumentation zugrundeliegt. Mir geht es nicht darum, ob dieser oder jener Opa persönlich ein Nazi war, und auch nicht darum, wie viele Muslime potenzielle Terroristen sind. Die wenigsten, vermute ich.

Ich will erklären, warum Großkollektive sich verhalten, wie sie es tun. Und das kann ich nur, wenn ich mich von der Erziehung freimache, die wir fast alle durchlaufen haben, und die jede generalisierende Aussage über Personengruppen als ein Vorurteil abstempelt. An diesem Prinzip ist natürlich richtig, dass Menschen individuell verschieden sind, auch wenn sie derselben Gruppe angehören.

Was ich aber beschreibe, wenn ich von einem Kollektiv spreche, ist nicht die Gesamtheit seiner Mitglieder, also etwa alle Deutschen oder alle Muslime, sondern das System der zwischen diesen Mitgliedern bestehenden Erwartungen, insbesondere ihrer Vermutungen darüber, was innerhalb dieses Kollektivs als anerkannter Wert und als geltende Norm unterstellt werden. Dass Menschen soziale Wesen sind, ist eine Binsenweisheit. Diese Binsenweisheit hat aber Implikationen, die nicht Allgemeingut sind: Gewiss sind Menschen verschieden, und daran kann auch das totalitärste System gottlob nichts ändern. Das heißt aber nicht, dass jeder sich ohne weiteres so verhalten würde, wie es seinem persönlichen Charakter entspricht; was die Gesellschaft von ihm erwartet, spielt eine mindestens ebenso große Rolle, und es gibt nur wenige radikale Individualisten, die sich jederzeit benehmen wie sie wollen, notfalls auch wie die Axt im Walde, ohne Rücksicht auf das, was „man“ tut.

Was für die Normen und Werte gilt, gilt in mindestens ebenso hohem Maße für das Verständnis von „Wahrheit“. Ein einzelner Mensch könnte unmöglich unbeeinflusst von der ihn umgebenden Gesellschaft, allein auf sich und seinen Verstand gestellt, definieren, was für ihn „wahr“ ist. Bereits die Begriffe, in denen er denkt, sind soziale Konstrukte, erst recht die Werte, die in sein Denken einfließen.

Weil das so ist, kann man das Verhalten eines Kollektivs nicht als Aggregat von individuellem Verhalten auffassen; der Einzelne findet die handlungsleitenden Parameter als Gegebenheiten bereits vor, und muss sich dann in irgendeiner Weise dazu verhalten. Deshalb kann ein Sozialwissenschaftler, der einen gesellschaftlichen Vorgang erklären will, nicht vorgehen wie ein Kriminalist, der einen „Schuldigen“ sucht, und er kann auch nicht die Gesellschaft einteilen in gute und böse Menschen, um dann den Bösen die Schuld an allen unerwünschten Entwicklungen zuzuschieben.

Zumal die „Bösen“ oft persönlich gar nicht so böse sind. Ein Ziad Jarrah, der am 11.September 2001 das Flugzeug entführte, das dann über Pennsylvania abstürzte, wäre mir, nach allem, was ich weiß, persönlich vermutlich sympathisch gewesen, wenn ich ihn gekannt hätte. Ebenso wie die Veteranen der 1.Gebirgsdivision, die ich während meines Wehrdienstes als Ordonnanz zu bedienen hatte. Das waren wirklich ganz reizende alte Herren, die sich bestimmt nicht als Nazis fühlten, die aber überhaupt keinen Zweifel daran hegten, dass ihr Kriegseinsatz notwendig und sinnvoll gewesen war – wobei wir heute wissen, dass die Geschichte gerade der Ersten Gebirgsdivision vor Blut nur so trieft; und damit meine ich keineswegs das Blut feindlicher Soldaten.

Damit ein Kollektiv sich „böse“ verhält, muss es keineswegs aus bösen Menschen bestehen. Im Gegenteil: Gerade das, was wir schnöde „Konformismus“ nennen, also die Bereitschaft, den Erwartungen der Gesellschaft zu entsprechen, ihre Normen zu erfüllen und zu ihrem Gedeihen beizutragen, ist das, was wir normalerweise das „Gute“ nennen; und wir müssen auch so nennen, weil es die Voraussetzung dafür ist, dass so etwas wie menschliche Gesellschaft überhaupt existieren kann.

Wenn also ein Großkollektiv gigantische Verbrechen begeht, dann habe ich zur Erklärung dieses Vorgangs zwei Möglichkeiten:

Ich kann, wie vermutlich der geschätzte LePenseur, davon ausgehen, dass zwanzig Prozent des Volkes die restlichen achtzig Prozent gezwungen haben, höchst engagiert etwas zu tun, was sie nicht wollten. Das würde bedeuten, dass achtzig Prozent des deutschen Volkes innerlich Nonkonformisten waren, die bloß aus Angst mitgemacht haben. Dabei stoße ich aber auf das Problem der kognitiven Dissonanz: Menschen empfinden es als unangenehm, wenn Denken und Handeln auseinanderklaffen. Normalerweise versuchen sie diese Lücke zu schließen, indem sie entweder ihr Handeln, oder aber, wenn das nicht möglich ist, ihr Denken anpassen. Die katholische Kirche wusste das schon immer zu nutzen: „Erst mal beten, dann stellt sich der Glaube von selbst ein.“ Jeder Einzelne kann natürlich ein Doppelleben führen, also sich im Dauerspagat zwischen Denken und Handeln einrichten. Dass aber ein ganzes Volk das schafft, halte ich für hochgradig unwahrscheinlich.

Wahrscheinlicher scheint mir, dass Sebastian Haffner Recht hatte, als er das Umschwenken großer Teile der Gesellschaft nach März 1933 sinngemäß so beschrieb: Man machte mit, zunächst aus Angst. Nachdem man aber schon einmal mitmachte, wollte man es nicht nur aus Angst tun – das wäre ja verächtlich gewesen -, und so lieferte man die zugehörige Gesinnung nach. Also Aufhebung der kognitiven Dissonanz durch Anpassung des Denkens.

(Es gibt noch eine zweite Strategie dieser Aufhebung; man konnte sie in der DDR beobachten: Man lieferte dem Regime augenzwinkernd die geforderten Lippenbekenntnisse auf Parteichinesisch, vor allem bei Gelegenheiten, wo solche erwartet wurden, und redete sonst anders. Ein kollektives Doppelleben ist also möglich, machte sich aber dadurch als solches bemerkbar, dass dem Regime nicht nur verbal, sondern überhaupt nur das Nötigste gegeben wurde, also durch massive Leistungsverweigerung. Davon kann aber 1933-1945 nicht wirklich die Rede sein.)

Wenn also die Doppelleben-Hypothese, soweit man sie auf die Mehrheit des deutschen Volkes anwenden will, als unwahrscheinlich zu gelten hat (für eine Minderheit kann sie durchaus zutreffen), dann bleibt nur die Vermutung, dass die meisten Deutschen das Regime aus Überzeugung gestützt haben. Wobei die einen früher, die anderen später (und einige wenige überhaupt nicht) zu dieser Überzeugung gekommen (bzw. gegen Kriegsende davon abgekommen) sind.

Das heißt ja nicht, dass Alle den Nationalsozialismus in jeder Hinsicht großartig fanden; irgendetwas hatte wahrscheinlich Jeder auszusetzen, die Korruption von Parteibonzen zum Beispiel, auch die Verfolgung der Juden fanden Viele abstoßend (auch nach damaligen Zeugnissen), und die riskante Außenpolitik war vielen Menschen unheimlich (wurde aber, wenn es wieder einmal gutgegangen war, umso frenetischer bejubelt; irgendwann so um 1940 glaubte wahrscheinlich jeder Deutsche, der Führer habe den direkten Draht zu Gott). Es heißt aber, dass sie das Regime im Großen und Ganzen guthießen, wenn auch sicherlich mit wechselnden Konjunkturen: 1938 waren es bestimmt mehr als 1933 oder nach Stalingrad; die geheimen Lageberichte des SD geben einigen Aufschluss darüber.

Erklärungsbedürftig ist nicht so sehr, warum viele Menschen nach März 1933 zu den Nazis überschwenkten, und zwar durchaus auch im ideologischen Sinne; Konformismus – wie gesagt, nicht nur äußerer, sondern auch innerer – dürfte ein ausreichender Grund gewesen sein, wenn auch vielleicht nicht der einzige. Ich kann ihn auch nicht per se verwerflich finden, denn, wie gesagt: Er ist menschlich. (Verwerflich finde ich höchstens, dass es im Nachhinein keiner gewesen sein will, und äußerst gefährlich finde ich ein optimistisches Menschenbild, das die menschliche Verführbarkeit ebenso unterschätzt wie die Kraft totalitärer Heilslehren, und auf dessen Basis man sich ein Regime wie den Nationalsozialismus daher nicht anders erklären kann als durch die Machenschaften einer bösartigen Minderheit, die die Mehrheit der Guten unterjocht.)

Erklärungsbedürftig ist, dass Hitler durch Wahlen an die Macht kam – ein buchstäblich beispielloser Vorgang! Weder Mussolini noch Franco, auch nicht Lenin oder Mao oder Khomeini verdankten ihre Macht einer Wahl. Man hat viel Tinte vergossen, um zu beweisen, dass Hitler nie eine Mehrheit in freier Wahl errungen hätte, aber das stimmt einfach nicht. Im März 1933 wusste Jeder, der die Deutschnationalen wählte, dass seine Stimme eine für Hitler war; und so muss man nicht nur die NSDAP-Stimmen (mit knapp 44 Prozent ein nie dagewesenes Ergebnis – ein Erdrutsch), sondern auch die DNVP-Stimmen als Hitlerstimmen werten. Hitler hatte rund 51 Prozent – eine klare Mehrheit!

Es stimmt schon, dass der Wahlkampf 1933 von einer Welle an politischem Terror der Nazis begleitet war, der selbst für die krisengeschüttelte Weimarer Republik ungewöhnlich war: Da wurden sozialistische Zeitungen verboten, Versammlungen gesprengt (sofern sie überhaupt stattfinden durften), Funktionäre verhaftet und gefoltert. Das ist alles richtig, beweist aber das Gegenteil von dem, was es beweisen soll. Wenn die Deutschen nämlich ein besonders freiheitsliebendes Volk gewesen wären, so wäre ihnen allerspätestens jetzt klargeworden, was eine Naziherrschaft bedeuten musste. Und sie hatten noch die winzige Chance, in der Einsamkeit der Wahlkabine den Nazis einen Strich durch die Rechnung zu machen. Sie taten das Gegenteil davon.

Warum?

Man kann natürlich auch rein situationsbezogen argumentieren: Deutschland steckte mitten in der Weltwirtschaftskrise, und diese Krise war – nach Weltkrieg, Revolution und Inflation – die vierte existenzielle Gesellschaftskrise innerhalb von zwanzig Jahren. Da mussten die Nerven ja blank liegen, und die Neigung, Jeden zu wählen, der sich wenigstens selber zutraute, den Karren aus dem Dreck zu ziehen, ist durchaus nachvollziehbar; das waren außer den Kommunisten (die ebenfalls von der Krise profitierten) eben nur die Nazis.

Wenn man will, kann man sich damit zufrieden geben und die Ursachenforschung einstellen: Bis 1933 war es Verzweiflung, danach Konformismus (und eine durch Hitlers durchschlagende Erfolge, speziell auf wirtschaftlichem Gebiet, genährte abergläubische Führerverehrung).

Die Frage ist nur, warum der Aufstieg der NSDAP in den Reichstagswahlen schon 1930 anfing, als erste Wirkungen der Krise zwar schon spürbar waren, aber von einer Katastrophe bei weitem nicht die Rede sein konnte. Und die erste demokratische Institution, in der es reichsweit eine braune Mehrheit gab, und zwar schon 1929 (!), waren – die ASten der deutschen Universitäten!

Ausgerechnet die Institution also, in der der Geist zu Hause sein sollte, ergab sich dem Ansturm als erstes, vor der Wirtschaftskrise und bevor Hitler irgendwelche Erfolge vorweisen konnte (und die Professorenschaft war weit davon entfernt, ihren Studenten Paroli zu bieten). Der Nationalsozialismus eroberte zuerst die Eliten, dann die Massen.

Womit ein Teil seines späteren Erfolges zu erklären ist: Welcher Normalbürger, der selbst vielleicht nur Volksschulbildung hat, widerspricht schon einer Ideologie, die von den geistigen Eliten seines Landes formuliert und unterstützt wird? Die Bereitschaft der Deutschen der dreißiger Jahre, Nazi-Ideologie zu akzeptieren, wirkt viel weniger merkwürdig, wenn wir unsere heutige Gesellschaft betrachten und uns bewusst machen, wie tief seit 1968, also beginnend mit der Studentenbewegung, linke Ideologeme – vom „gender mainstreaming“ bis zur „kulturellen Bereicherung“ – in die Gesellschaft eingedrungen sind: so sehr, dass kaum noch einer merkt, dass an ihnen irgendetwas „links“ sein könnte.

Wenn aber nun ausgerechnet geistige Eliten den Nationalsozialismus attraktiv fanden, so ist dies ein Indiz dafür, dass er konsequent etwas auf den Punkt brachte, das in der Geistesverfassung der Gesellschaft schon angelegt war und nach ideologischer Ausformulierung schrie. Sechs Punkte scheinen mir hier maßgeblich zu sein:

Erstens: Mit Ausnahme der beiden liberalen Parteien hatten alle Parteien der Weimarer Republik ein religiöses Politikverständnis, das heißt, sie fassten Politik nicht als ein Dienstleistungsunternehmen auf, das den Bürgern größtmöglichen Nutzen bringen sollte, sondern fußten auf Prinzipien, von deren Verwirklichung sie sich die schlechthin „gute“ Gesellschaft erwarteten. Sie waren säkularisierte Kirchen. Dieser Ansatz konnte relativ pragmatisch daherkommen, wie beim Zentrum und den Sozialdemokraten, wo die Utopie mehr einen geistigen Horizont markierte als ein konkret zu verwirklichendes Ziel, oder als revolutionärer Utopismus wie bei den Kommunisten.

Diese Auffassung von Politik als der Verwirklichung eines überzeitlichen Ideals versteht sich nicht von selbst, und zu liberalen Verfassungsstaaten passt er schon vom Ansatz her nicht: Deren unausgesprochenes Politikverständnis ist, dass jeder Einzelne seinen Interessen folgt, dass das „Volk“ nur das Aggregat dieser Einzelnen darstellt, und dass es die Regierung auswechselt, wenn sie die Interessen des gedachten Kollektivindividuums „Volk“ nicht verwirklicht. Das Verhältnis der meisten Deutschen zur Politik hatte mit diesem trockenen Pragmatismus wenig zu tun; es war religiöser Natur. Konservative etwa, die der vermeintlichen Herrlichkeit des Kaiserreichs nachtrauerten, warfen der Republik geradezu vor, kein erhebender Anblick, kein mächtiger Bau zu sein, sondern bloß eine Firma. Damit fassten sie das Wesen einer demokratischen Republik in der Tat zutreffend zusammen. (Man sollte diese Kritik auch nicht leichtfertig als reaktionär oder faschistisch abtun; ob religiös aufgeladene Gemeinwesen auf die Dauer den demokratischen Verfassungsstaaten nicht doch überlegen sind, ist eine immer noch offene Frage.)

Am zum Schluss geradezu sturzartigen Niedergang der liberalen Parteien, deren Politikverständnis dem „Firmen“-Ideal am nächsten kam, lässt sich ablesen, wie weitgehend die religiöse Politikauffassung in Deutschland Fuß gefasst hatte.

Zweitens: Eng verwandt mit diesem religiösen ist das militante Politikverständnis, ablesbar bereits an der Selbstdarstellung der Parteien. Es kam in der damaligen Politik in einem heute kaum noch vorstellbaren Ausmaß darauf an, „die Straße“ zu beherrschen; Demonstrationen waren keine Betroffenheitslatschdemos wie heute, sondern militärische Aufmärsche mit Fahnen, Uniformen, Marschmusik, und das sozialdemokratische Reichsbanner unterschied sich in dieser Hinsicht nicht vom Stahlhelm, dem Roten Frontkämpferbund oder der SA; selbst das Zentrum bemühte sich um ein martialisches Gepräge, eine wirkliche Ausnahme stellten – auch hier – allenfalls die liberalen Parteien dar. Die Symbolik entsprach dem Selbstverständnis der Parteien, die sich als Armeen ihrer Sache auffassten, die einen Feind zu vernichten hatten. Mit einem demokratischen Politikverständnis, zu dem notwendig auch der Kompromiss, meinetwegen auch die Kungelei gehört, hatte dies – auch bei den Sozialdemokraten – nichts zu tun.

Es spricht Bände, welche Rolle das Wort „Führer“ schon in den zwanziger Jahren spielte; es kam selbst beim Zentrum niemandem merkwürdig vor, wenn der Prälat Kaas auf Parteitagen nicht etwa als „unser Vorsitzender“, sondern als „unser Führer“ angekündigt wurde. Wenn man sich als Quasi-Armee versteht, ist das konsequent: Eine Armee braucht einen, der zumindest symbolisch vorangeht – ein „Vorsitzender“ kann das nicht leisten, weil er, nun ja, ein Sitzender ist.

Drittens: Schon im Kaiserreich, erst recht nach der Erfahrung des Weltkriegs, war das Ordnungsideal der Deutschen das Militär gewesen: eine straff zentralisierte, hierarchisch gegliederte, auf Befehl und Gehorsam basierende Großorganisation – ein Ideal, das in der Wirtschaft so selbstverständlich galt wie in den Parteien und Gewerkschaften. Es ist nicht einmal besonders boshaft zu behaupten, dass die sozialistischen Parteien und Gewerkschaften zur Militarisierung der Arbeiterschaft mindestens ebenso viel beigetragen haben wie die preußische Armee. Was wir uns heute unter „Zivilgesellschaft“ vorstellen und als Voraussetzung von Demokratie betrachten, wäre damals kaum verstanden worden – wiederum mit Ausnahme der Liberalen -; allein das Wort „zivil“ klang schon schlapp. Das „Führerprinzip“ war für große Teile der deutschen Gesellschaft der Sache nach schon ein Ideal gewesen, lange bevor die Nazis es so nannten.

Viertens: Im Verlauf des Ersten Weltkriegs waren die Kriegsziele (nicht etwa nur der Obersten Heeresleitung, sondern wiederum großer Teile der Gesellschaft) immer weiter ausgeufert; am Ende konnte niemandem verborgen bleiben, dass Deutschland um die Errichtung eines europäischen Imperiums kämpfte. Was ich übrigens nicht kritisiere; ich glaube, dass Europa bis heute besser dran wäre, wenn Deutschland den Ersten Weltkrieg gewonnen hätte – aber das ist ein anderes Thema. Das Erbe dieser Zeit war eine Auffassung von Außenpolitik als eines Machtkampfes der Nationen, das heißt eines Kampfes um Herrschaft. Selbst die Sozialisten machten da keine Ausnahme: Sie kritisierten zwar leidenschaftlich den „Imperialismus“, aber indem sie ihn als unvermeidliche Folge des Kapitalismus deuteten, also als etwas, was im Grunde nur durch eine Weltrevolution (sprich: überhaupt nicht) zu überwinden war, bestätigten sie letztlich nur die sozialdarwinistischen Auffassungen ihrer Gegner.

Sebastian Haffner hat eindrucksvoll beschrieben, wie dieses Denken sich während des Krieges gerade in den Köpfen der 1900 bis 1910 Geborenen festsetzte, die zu jung waren, um am Krieg teilzunehmen, aber alt genug, um den täglichen Heeresbericht zu lesen. Sie waren, schreibt er sinngemäß, auch später außerstande, in Nationen etwas anderes zu sehen als gigantische Sportvereine, die um den „Endsieg“ kämpfen. Es war diese Generation, aus der die Nazis ihre ersten, meisten und leidenschaftlichsten Anhänger rekrutierten.

Fünftens: Franz Janka hat in seiner zu Unrecht wenig beachteten, brillanten Studie „Die braune Gesellschaft. Ein Volk wird formatiert… “ die Idee der „Volksgemeinschaft“ als die zentrale Idee des Nationalsozialismus herausgearbeitet: zentral auch im Hinblick auf seine Fähigkeit, Massenunterstützung zu mobilisieren. Die Idee der „Gemeinschaft“ war schon vor 1914 als Gegenbild zur schnöden „Gesellschaft“ entwickelt worden, in der jeder egoistisch seinen Interessen folgt. Was ursprünglich eine Kategorie soziologischer Analyse gewesen war, wurde sehr schnell politisch aufgeladen und als Utopie gegen die liberale Gesellschaft in Stellung gebracht. Das Erlebnis des Ersten Weltkriegs, speziell des zum nationalen Mythos erhobenen August 1914 illustrierte diese Utopie einer verschworenen (Krieger-)Gemeinschaft auf eine für Viele so eindrucksvolle Weise, dass das bloße Wort „Volksgemeinschaft“ genügte, bei jedem Einzelnen eine Kaskade von meist positiven Bildern und Assoziationen in Gang zu setzen, die alle etwas mit nationaler Solidarität, mit Heldentum und der Überwindung von Klassen- und Konfessionsschranken zu tun hatten. Einer genauen Begriffsbestimmung schien es bei einem emotional so hochgradig aufgeladenen Wort gar nicht zu bedürfen, und selbst sozialistisch geprägten Arbeitern, die den nationalen Mythen noch am skeptischsten gegenüberstanden, schien eine „Volksgemeinschaft“ wenn schon keine materielle Gleichheit, so doch wenigstens gleichen Anspruch auf soziale Anerkennung zu verheißen. Hinzu kam, dass auch die massenwirksamen Gegenideale des Christentums und des Sozialismus letztlich Gemeinschafts-Ideale waren. Kurz und gut: Die Sehnsucht nach „Gemeinschaft“ war die Basisutopie der Deutschen, und nachdem die Nationalsozialisten ihre „Volksgemeinschaft“ erst einmal etabliert hatten, war es auch für viele Christen und Sozialisten nur noch ein kleiner Schritt, ihre alten Gemeinschaftsideale über Bord zu werfen und sich in die „Volksgemeinschaft“ einzufügen.

Sechstens: Wenn ich den Antisemitismus als sechsten Faktor anführe, so muss ich zunächst einem denkbaren Missverständnis vorbeugen: Ich vertrete nicht die Goldhagen-These, wonach die Ermordung der Juden ein deutsches Nationalprojekt gewesen sei, das die Billigung einer Mehrheit gefunden hätte (was nichts daran ändert, dass in einem rein objektiven Sinne praktisch Alle in irgendeiner Form darin verstrickt waren – auch ein Vernichtungslager stand ja nur so lange, wie die Front hielt). Ich halte die Goldhagen-These für überzogen, weil es keine empirischen Anhaltspunkte dafür gibt, dass auch nur der Boykott vom April 1933 oder die Nürnberger Gesetze breite Billigung gefunden hätten – von der Ermordung der Juden ganz zu schweigen, die dementsprechend so geheim wie möglich vollzogen wurde. Auch an den Verbrechen der Reichskristallnacht beteiligten sich meines Wissens nur diejenigen, die dazu abkommandiert waren (weswegen ich auch nicht den politisch korrekten Ausdruck „Reichspogromnacht“ verwende – für mich ein klassisches Beispiel für die unvermeidliche Dummheit von Political Correctness: Das Wort „Pogrom“ enthält ein Moment spontaner Massengewalt, und wer es in Bezug auf den 9.November 1938 verwendet, übernimmt praktisch die Goebbelssche Lesart, wonach es sich um einen spontanen Ausbruch des Volkszorns gehandelt habe). Auf sehr viele Deutsche, vielleicht eine Mehrheit, wirkten sie ausgesprochen abstoßend.

Andererseits war die wüste antisemitische Propaganda der NSDAP für die Mehrheit der Deutschen kein Grund, Hitler nicht zu wählen, und taten der Judenboykott, die Arierparagraphen, die Nürnberger Gesetze der Popularität Hitlers keinen merklichen Abbruch, auf die Dauer auch nicht die Kristallnacht. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass die deutsche Gesellschaft sehr wohl bereit war, der Ermordung der Geisteskranken Einhalt zu gebieten, nicht aber der der Juden. Und es gibt aus der Zeit vor Hitler ungezählte Zeugnisse dafür, dass Antisemitismus im Sinne einer allgemeinen (nicht unbedingt gegen Einzelpersonen gerichteten) Abneigung gegen Juden, sehr weit verbreitet, ja fast schon selbstverständlich war. Ich vermute, dass es sich um die Einstellung einer Mehrheit handelte.

Ganz sicher die Einstellung einer Mehrheit war aber, dass die Juden nicht zu „uns“, also zur Wir-Gruppe der Deutschen gehörten, und wenn sie zehnmal mit dem Eisernen Kreuz dekoriert waren. Unter dieser Voraussetzung musste es spontan einleuchten, wenn die starke Position von Juden in Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst von den Nationalsozialisten als eine Art „Fremdherrschaft“ gebrandmarkt wurde, von der es das deutsche Volk zu „befreien“ gelte. Die Bereitschaft, antisemitische Ideologie zu akzeptieren, war also durchaus vorhanden. Sie ist nicht einfach dasselbe, wie die Bereitschaft einen Massenmord zu begehen oder auch nur zu billigen, wohl aber die Voraussetzung dafür, ein antisemitisches Regime, das solches tut, zu dulden und ungeachtet seines Antisemitismus zu unterstützen.

Fassen wir zusammen: Die überwältigende Mehrheit der Deutschen, einschließlich der Sozialisten und engagierten Christen, hielt Politik für die Verwirklichung religiöser oder quasi-religiöser Ideale, fand es selbstverständlich, dass man zu diesem Zeck politische Gegner physisch bekämpfte, betrachtete das Führerprinzip als Ordnungsideal, hielt internationale Politik essenziell für einen Machtkampf von Nationen, betrachtete Juden als fremde Eindringlinge und sehnte sich der Volksgemeinschaft.

Und nun frage ich: Welche Ideologie und welches politische System passte zu einem solchen Volk?

Die Frage stellen heißt sie beantworten.

 

Harald Welzer: „Opa war kein Nazi“

(Rezension) 

[Sämtliche Bücher von Harald Welzer gibt es HIER]

2002 erschienen, ist „Opa war kein Nazi“ bereits heute ein Klassiker, an dem niemand vorbeikommt, der wissen möchte, wie die Deutschen sich zu ihrer braunen Vergangenheit stellen. Tatsächlich stellen. Denn offiziell gibt es ja keinerlei Unklarheiten: Die „nationalsozialistische Gewaltherrschaft“, wie der politisch korrekte Terminus immer noch lautet, war ein durch und durch verbrecherisches und unmenschliches System. Der einzig zulässige Umgang damit ist eine Politik des „Nie wieder!“, die Lehre, die aus der Geschichte zu ziehen ist, lautet, konsequent für Demokratie, Frieden und Menschenrechte einzutreten. So weit das offizielle Geschichtsbild.

Wer in Deutschland lebt, weiß, dass dies nur die Vorderseite der Medaille ist, und dass auf der Rückseite vielleicht kein genau gegenteiliger, aber doch ein anderer Text steht. Als Eva Herman 2007 meinte, die vermeintlich „guten Seiten“ des Nationalsozialismus thematisieren zu müssen, wurde sie vom wissenschaftlichen, politischen und Medien-Establishment geprügelt, von vielen Normalbürgern aber vehement in Schutz genommen. Von Normalbürgern, deren Geschichtsbild ziemlich genau dem von Eva Herman entsprach, und die dieses Bild nicht (mehr) aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzt sehen wollten.

Wie derart unterschiedliche Versionen ein und derselben Geschichte zustande kommen – eine Elitengeschichte, eine Volksgeschichte -, darüber hat Harald Welzer eine grundlegende Hypothese entwickelt, die durch die Ergebnisse der Studie „Opa war kein Nazi“ erhärtet wurde: Er vermutet

einen Unterschied im Bewusstsein über die Geschichte, der allzu oft übersehen wird, einen Unterschied zwischen kognitivem Geschichtswissen und emotionalen Vorstellungen über die Vergangenheit. Auf der Ebene emotionaler Erinnerungen scheinen sich Bindungskräfte und Faszinosa gegenüber der nationalsozialistischen Vergangenheit entfalten und erhalten zu können, die merkwürdig unverbunden mit dem Wissen über diese Zeit sind, und zwar über die Generationen hinweg. Metaphorisch gesprochen, existiert neben einem wissensbasierten ‚Lexikon’ der nationalsozialistischen Vergangenheit ein weiteres, emotional bedeutenderes Referenzsystem für die Interpretation dieser Vergangenheit: eines, zu dem konkrete Personen – Eltern, Großeltern, Verwandte – ebenso gehören wie Briefe, Fotos und persönliche Dokumente aus der Familiengeschichte. Dieses ‚Album’ vom ‚Dritten Reich’ ist mit Krieg und Heldentum, Leiden, Verzicht und Opferschaft, Faszination und Größenphantasien bebildert, und nicht, wie das ‚Lexikon’, mit Verbrechen, Ausgrenzung und Vernichtung.

(…)

Die Annahme, dass Geschichtsbewusstsein eine kognitive und eine emotionale Dimension hat, wird auch dadurch gestützt, dass das menschliche Gedächtnis mit unterschiedlichen Systemen für kognitive und emotionale Erinnerungen operiert, und nichts macht das greifbarer, als wenn man Angehörige der Zeitzeugengeneration, die ihre Vergangenheit ‚aufgearbeitet’ haben und der nationalsozialistischen Geschichte höchst kritisch gegenüberstehen, mit leuchtenden Augen über ‚ihre Zeit’ und ihre Erfahrungen bei der HJ oder bei der Luftwaffe berichten hört.“ (S.9f.)

Welzers Buch, und allein das würde es schon lesenswert machen, gibt dem Leser eine Erklärung für dessen eigene manchmal verwirrende Erfahrungen mit Zeitzeugen an die Hand. Ich erinnere mich an eine Deutschlehrerin, die uns bei jeder Gelegenheit versicherte, wie furchtbar die NS-Zeit war, und wie froh wir sein sollten, in einem demokratischen Staat zu leben. Sie war geradezu besessen von dem Thema: Egal, ob es um Schiller ging oder um Walther von der Vogelweide oder um deutsche Grammatik, irgendwie kriegte sie immer die Kurve zu ihrem Lieblingsthema. Ging es aber um ihre eigenen Erfahrungen mit dieser Zeit, dann sah man die von Welzer erwähnten leuchtenden (blauen) Augen, mit denen unsere blonde Lehrerin („Ich entsprach ja dem Ideal“) uns vom BDM erzählte und von den „feschen schwarzen Uniformen“ (der SS) vorschwärmte – nur um uns eine halbe Minute später zu versichern, „wie furchtbar das alles war“. Da tat sich eine gewisse Glaubwürdigkeitslücke auf, zumal die Dame zu Freudschen Fehlleistungen tendierte (von einer Kollegin namens „Goebel“ sprach sie immer als von „Frau Doktor Goebbels“). Es gibt nichts Garstigeres als den Humor von Gymnasiasten, und die ansonsten hervorragende Lehrerin wurde, ohne es zu ahnen, zur Zielscheibe ungezählter Witze.

Da, wie Raul Hilberg einmal formuliert hat, der Holocaust in Deutschland Familiengeschichte ist, stehen ‚Lexikon’ und ‚Album’ gleichsam nebeneinander im Wohnzimmerregal, und die Familienmitglieder haben die Aufgabe, die sich widersprechenden Inhalte beider Bücher zur Deckung zu bringen.“ (S.10)

Die Frage, auf welche Weise dies geschieht, ist Gegenstand der Studie. Welzers Forschungsteam befragte dazu zwischen 1997 und 2000 Angehörige von vierzig Familien, insgesamt 142 Personen, und zwar sowohl in Familiengesprächen als auch in Einzelinterviews. In jeder Familie war jeweils mindestens ein Angehöriger der Zeitzeugengeneration (Jg. 1906 bis 1933) sowie der Generation ihrer Kinder und Enkel vertreten.

Es ist faszinierend, zum Teil auch höchst belustigend, zu erleben, wie die Erzählungen der Zeitzeugen von ihren Kindern und vor allem Enkeln nach Art des Spiels „Stille Post“ in den Einzelgesprächen völlig anders wiedergegeben werden als sie ursprünglich erzählt worden waren. Dabei folgen die Veränderungen durchgehend demselben Schema:

Versuchen schon die Zeitzeugen selbst, sich nach Möglichkeit als Nichtnazis oder Regimegegner zu präsentieren, die gegen ihre wahre Überzeugung mitgemacht hätten, so enthalten ihre Erzählungen doch Anhaltspunkte genug, die einen kritischen Zuhörer veranlassen müssten, diese Selbstdarstellung in Frage zu stellen. Das reicht von deutlichen antisemitischen Vorurteilen über die Mitgliedschaft in SA und NSDAP bis hin zu eigenen Kriegsverbrechen (die aber als solche weder von den Erzählern selbst noch von ihren Zuhörern wahrgenommen werden, und sogar die wissenschaftlich geschulten Interviewer scheinen in der Gesprächssituation so gefangen zu sein, dass sie den Erzählern deren Selbstdarstellung abnehmen).

In den Einzelgesprächen mit Kindern und Enkeln filtern diese aus den Erzählungen der Zeitzeugen alles heraus, was auf eine damals pronazistische Einstellung ihrer Angehörigen (erst recht auf die Beteiligung an Verbrechen) hindeuten könnte; zugleich erfährt jeder Teilaspekt, der sich auch nur irgendwie dazu eignet, eine Umdeutung, die die eigenen (Groß-)Eltern, wenn schon nicht als Widerstandskämpfer, so doch als (vom heutigen Standpunkt) integre Persönlichkeiten dastehen lässt. Welzer nennt dieses Phänomen „kumulative Heroisierung“.

In diesen Gesprächen werden insgesamt 2535 Geschichten erzählt. Nicht wenige davon verändern sich auf ihrem Weg von Generation zu Generation so, dass aus Antisemiten Widerstandskämpfer und aus Gestapo-Beamten Judenschützer werden.“ (S.11)

Da das „Mitmachen“ als solches aber nicht aus den Erzählungen eliminiert werden kann, unterbreiten meist die Zeitzeugen selbst ein Deutungsangebot, das von den Nachkommen aufgegriffen und verinnerlicht wird:

wenn etwa unsere Zeitzeugen oder die Verwandten, über die sie berichten, in die Partei ‚eintreten mussten’, in den Krieg ‚gehen mussten’ oder der Verfolgung … der jüdischen Bevölkerung ‚zusehen mussten’. Das alles haben sie im Gegensatz zu den ‚Nazis’ nicht aus Überzeugung und gern getan, sondern, weil ‚man’ das damals machte oder weil man damit Schlimmeres verhüten konnte …“ (S.205)

oder weil man sonst ins KZ gekommen wäre, wie in etlichen Gesprächen wie selbstverständlich als Regelfolge jedes auch nur irgendwie nonkonformen Verhaltens unterstellt wird.

„… im Übrigen haben sie im Rahmen ihrer Funktionen stets versucht, sich wie gute Menschen zu verhalten – anders wiederum als die ‚150-prozentigen Nazis’, die in ihren Erzählungen als chronische Widersacher auftreten.“ (S.205f.)

Die Nazis sind immer die anderen.

Für das Geschichtsbild vom Nationalsozialismus und vom Holocaust bedeutet das Phänomen der kumulativen Heroisierung … eine Restauration der tradierten, aber eigentlich längst abgelösten Alltagstheorie, dass ‚die Nazis’ und ‚die Deutschen’ zwei verschiedene Personengruppen gewesen seien, dass ‚die Deutschen’ als Verführte, Missbrauchte, ihrer Jugend beraubte Gruppe zu betrachten seien, die selbst Opfer des Nationalsozialismus war.

(…)

Zwischen dem Bild eines sich zunehmend enthistorisierenden Menschheitsverbrechens auf der einen und einem sich zunehmend enthisorisierenden Nationalsozialismus auf der anderen Seite entsteht im Geschichtsbewusstsein … eine Lücke, in der der Vorgang der sozialen Erstellung des genozidalen Prozesses zu verschwinden droht – und dies bei allem faktischen Geschichtswissen, das der Geschichtsunterricht, die politische Bildung und die Gedenkstättenarbeit in den vergangenen Jahrzehnten so erfolgreich etablieren konnten.“ (S.79f.)

In besagter Lücke verschwindet aber noch einiges andere, unter anderem die mentalen Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung einer demokratischen Gesellschaft.

Die deutsche Marotte, jeden politischen Sachverhalt, der in irgendeiner Form mit Diktatur, Menschenrechtsverletzungen oder Krieg zu tun hat, mit den Verhältnissen und Praktiken des Dritten Reiches zu vergleichen, liefert einen deutlichen Hinweis darauf, dass den meisten Deutschen bis heute nicht klar ist, was den spezifischen Charakter des Nationalsozialismus ausmachte, wie er funktionierte, und wo seine Wurzeln lagen. Es ist ja bemerkenswert, dass zwar ein breiter gesellschaftlicher Konsens über die moralische Verurteilung der NS-Herrschaft besteht, nicht aber über die Frage, wie „es“ überhaupt möglich war; und das hat nicht nur mit der Komplexität des Themas zu tun. Es hat meines Erachtens – und Welzers Studie bestärkt mich in dieser Auffassung – vor allem damit zu tun, dass man das Dritte Reich nur verstehen kann, wenn man es als ein gemeinsames nationales Projekt der damaligen Deutschen auffasst; und genau vor dieser Erkenntnis wollen Viele sich drücken.

Das bedeutet nicht, dass damals alle Deutschen glühende Verfechter des Nationalsozialismus gewesen wären, (Die Bereitschaft, sich einer politischen Ideologie mit Haut und Haaren zu verschreiben, ist zu allen Zeiten die Marotte einer Minderheit gewesen), sondern dass sie die ideologischen Voraussetzungen des Nationalsozialismus als geltenden moralischen Bezugsrahmen akzeptiert (im Sinne von: nicht hinterfragt) haben – also das Projekt der Weltherrschaft, die Ideologie der Volksgemeinschaft, den Ausschluss der Juden aus dieser Gemeinschaft, die Selbstbeschreibung als Herrenvolk, um nur die markantesten Punkte zu nennen, natürlich auch die Legitimität der NS-Herrschaft selber.

Eine solche Interpretation des Nationalsozialismus muss mit den Legenden kollidieren, die in der familiären Überlieferung gesponnen werden. Wenn „Opa kein Nazi“ war (obwohl er vielleicht in der SA oder SS war), dann war eigentlich niemand einer, und die regimeloyale Haltung der Deutschen wäre kaum anders zu erklären als mit der Gewaltandrohung von Seiten „der Nazis“. Was auch die Zählebigkeit der Floskel „nationalsozialistische Gewaltherrschaft“ erklärt, über die ich mich schon an anderer Stelle mokiert habe.

Der spezifisch totalitäre Charakter der NS-Herrschaft fällt damit unter den Tisch. Natürlich haben die Nazis politische Gegner eingesperrt und getötet, wie andere Diktaturen auch, z.B. Militärregimes. Die Gewaltandrohung, Kennzeichen jeder Diktatur, kann Menschen aber nur dazu bringen, zu unterlassen, was sie an sich tun wollen. Sie kann sie unmöglich veranlassen zu wollen, was sie sollen! Genau darin liegt einer der wesentlichen Unterschiede zwischen einer ordinären Diktatur und einem totalitären Regime. Ein solches ist darauf angewiesen, die Menschen für sich und seine Projekte zu begeistern, und genau daraus resultieren die Charakteristika totalitärer Ideologien:

Totalitäre Herrschaft setzt die vollständige, und zwar nicht zähneknirschende, sondern gewollte und bejahte, Unterordnung des Einzelnen unter das Kollektiv voraus („Du bist nichts, dein Volk ist alles!“). Normalerweise sind Menschen dazu nur unter zwei Voraussetzungen bereit:

Einmal, wenn sich dieses Kollektiv im Konflikt mit einem anderen befindet. Dieser Konflikt kann sich gegen einen inneren oder äußeren Feind richten, er kann im Prinzip auch fiktiver Natur sein, aber wirklich überzeugend ist er nur als erfahrbare Wirklichkeit, also als bewaffneter Konflikt. Totalitäre Regime sind daher strukturell friedensunfähig. (Der Niedergang der totalitären Herrschaft in der Sowjetunion wie auch in China setzte in dem Moment ein, wo die Regime aufhörten, Innenpolitik als permanenten Bürgerkrieg zu inszenieren.)

Zum Zweiten muss das Kollektiv in sich eine religiöse Dimension aufweisen, die der Existenz seiner Mitglieder einen Bezug zum Transzendenten, zum Ewigen und Göttlichen – mit einem Wort: einen Sinn – verschafft. Totalitäre Ideologie und Herrschaft wird daher regelmäßig utopistischen Charakter haben: Ziel kann die Welterlösung durch den Kommunismus (oder auch den Islam) sein, oder die Errichtung des tausendjährigen Reiches einer heroischen Kriegergemeinschaft, oder was auch immer. Nur eines muss es auf jeden Fall sein: gigantisch.

Beide Aspekte des Totalitarismus erfordern, wenn sie in ein und derselben Ideologie vereint sein sollen, nicht irgendeinen, sondern den totalen Feind, dessen Vernichtung gleichbedeutend mit der Verwirklichung der Utopie ist. Totalitäre Ideologien – man erkennt sie geradezu daran – sind als Endkampf zwischen Gut und Böse konzipiert, weisen mithin eine apokalyptische Struktur auf.

Das Dritte Reich versteht man am besten, wenn man es als eine apokalyptische Massensekte auffasst: mit „Deutschland“ als Gottheit, dem „Führer“ als Messias, der „Volksgemeinschaft“ als Gemeinschaft der Gläubigen. Wie das in Religionsgemeinschaften so ist, gibt es ein Zentrum von Priestern und Theologen, und um dieses Zentrum in konzentrischen Kreisen die engagierten Laien, die frommen Kirchgänger und die im Alltag nicht ganz so Gläubigen, die aber die Theologie ihrer Kirche im Prinzip akzeptieren, jedenfalls nicht dagegen aufbegehren. Ganz am Rande die wenigen, die wirklich nur Zwangsmitglieder sind. Und außerhalb der Sekte: der Feind.

Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass die einfachen Gläubigen, die Kirchgänger und die nur ein bisschen Gläubigen genauso zur Religionsgemeinschaft gehören wie die Priester und Theologen, ja dass der Klerus ohne die Laien gar nicht existieren kann. Die „150-prozentigen Nazis“, von denen sich Welzers Gesprächspartner naserümpfend distanzieren, hätten ohne die „guten Deutschen“, die „nur ihre Pflicht taten“, keinen Moment an der Macht bleiben können, und da genügte nicht der passive Gehorsam, es bedurfte schon einer grundsätzlichen Bejahung des Nationalsozialismus.

Auf das Verhältnis beider Gruppen trifft das zu, was ich in anderem Zusammenhang über das Verhältnis von Gemäßigten und Extremisten geschrieben habe:

Man macht sich überhaupt zu wenig klar, wie sehr jeder Extremismus von den ‚Gemäßigten’ lebt: Eine Gruppe wie die RAF hätte niemals entstehen können ohne eine gemäßigte Linke, die ihr die ideologischen Versatzstücke lieferte und aus der sich der Terrornachwuchs rekrutierte. Ein Drittes Reich hätte nie existieren können ohne den ganz normalen Antisemitismus des Durchschnittsdeutschen. Eine ETA, eine IRA, eine Hamas, eine Hisbollah schwimmen in ihrem ‚gemäßigten’ Umfeld wie der Fisch im Wasser.
Alleine das Wort ‚gemäßigt’ ist bezeichnend: Gemäßigt sein kann man ja nur in Bezug auf einen Extremismus, der damit gleichsam zum Normalzustand erklärt wird, und die ‚Mäßigung’ besteht eben darin, von dessen Zielen ein paar Abstriche zu machen, eventuell auch die Methoden abzulehnen (…wobei man aber doch verstehen müsse, dass…). Ein Gemäßigter ist jemand, der die Prämissen der Extremisten teilt und nur vor den Konsequenzen zurückschreckt.“

Die Opa-war-kein-Nazi-Legende führt nicht nur zu einem schiefen Geschichtsbild. Sie führt dazu, dass man totalitäre Ideologien nicht als solche durchschauen kann. Normalerweise erkennt man sie an ihrem religiösen Charakter: an ihrer Selbstimmunisierung gegen Kritik durch Bezugnahme auf nicht hinterfragbare Prämissen, auch auf Zirkelschlüsse, an utopischen Heilslehren, an der Fingierung eines absoluten Feindes (des „Bösen“) – mit einem Wort: an ihrer Struktur, nicht an konkreten Inhalten. Was Sebastian Haffner über Hitler schrieb, nämlich dass die Prämissen seiner Weltanschauung unoriginell waren, trifft auf alle totalitären Ideologien zu. Totalitär werden diese Prämissen erst durch die immanente Logik, nach der sie verknüpft werden.

Indem die politische Linke den Begriff des Totalitären auf den Index gesetzt und stattdessen den des „Faschismus“ favorisiert hat, hat sie das Ihre dazu beigetragen, solche Zusammenhänge zu verunklaren. „Antifaschismus“ bedeutet nämlich, gerade nicht die Strukturen einer Ideologie zu kritisieren, sondern einzelne inhaltliche Versatzstücke, etwa Rassismus, Nationalismus oder Militarismus (was immer das im Einzelfall sein mag) aus dem Zusammenhang zu reißen und für per se „faschistisch“ (und das heißt: „böse“) zu erklären.

Eine solche ideologische Disposition enthält bereits in sich ein totalitäres Element, insofern politische Diskurse nicht mehr durch die Unterscheidung „Wahr/Unwahr“ strukturiert werden, sondern durch „Gut/Böse“. Wahrheiten können dann als „böse“ stigmatisiert, Unwahrheiten als „gut“ (oder auch „politisch korrekt“) für sakrosankt erklärt werden. „Antifaschistisch“ mag ein solcher Diskurs sein, antitotalitär ist er – wegen seiner religiösen Struktur – gerade nicht, und mit einem liberalen Begriff von öffentlichem Diskurs ist er schlechterdings unvereinbar.

Dabei verstärken der Gut/Böse-Diskurs und die Opa-war-kein-Nazi-Legende sich gegenseitig: Wenn der Nationalsozialismus schlicht und einfach „das Böse“ war, dann kann der gute Opa kein Nazi gewesen sein, und wenn Opa kein Nazi war, dann braucht man nach den Ursachen und der Funktionsweise des Dritten Reiches nicht mehr zu fragen, sondern kann sich darauf beschränken, „das Böse“ zu bekämpfen, indem man bestimmte Meinungen bekämpft, die man für faschistisch hält.

Wozu ein derart unredlicher Umgang mit der Vergangenheit führen kann, zeigt sich im Zusammenhang mit dem Thema „Antisemitismus“. In Welzers Studie haben die Angehörigen der Enkelgeneration den offensichtlichen und selbstverständlichen Antisemitismus ihrer Großeltern nicht nur nicht wahrgenommen (zumal letztere selbstredend betonen, dass sie ja persönlich nichts gegen Juden hätten), sie haben sie teilweise auch noch zu Judenrettern befördert.

Den Enkeln scheint dies plausibel, weil die Großeltern ja angeblich keine persönlichen Vorurteile gegen Juden hatten. Auf diese Weise wird Antisemitismus bagatellisiert als x-beliebiges soziales Vorurteil von der Sorte, wie man sie auch gegen Obdachlose oder Homosexuelle hegen kann. (Auf wissenschaftlicher Ebene findet sich diese Einstellung in Wilhelm Heitmeyers Studien zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“, die als Syndrom jede nur erdenkliche Art von sozialem Vorurteil umfasst, unter „ferner liefen“ auch den Antisemitismus). Vorurteile dieser Art gibt es aber, seit es Menschen gibt. Wenn man Antisemitismus nur deshalb bekämpft, weil er unter anderem auch gruppenbezogene Vorurteile enthält, und weil man Vorurteile schlechthin für faschistisch hält, dann verlegt man die Ursachen für gesellschaftliche Fehlentwicklungen (wie z.B. die Entstehung des Dritten Reiches) in die Köpfe der Menschen, denen es mithin das „alte Denken“ und das „falsche Bewusstsein“ auszutreiben gilt. Die politische Konsequenz aus einer solchen Ideologie ist die Forderung nach Gehirnwäsche.

Natürlich haben sich die Nationalsozialisten bestehende soziale Vorurteile gegen Juden zunutze gemacht. Charakteristisch für den nationalsozialistischen Antisemitismus war aber nicht bloße Abneigung aufgrund von Vorurteilen, sondern die Konstruktion „des Juden“ als des totalen Feindes, der nicht nur aus der Gesellschaft, sondern geradezu aus Menschheit hinausdefiniert wurde. „Der Jude“ war für die Nazis die säkularisierte Version des Antichristen. Eine solche ideologische Feindkonstruktion ist aber nicht die bloß graduelle Steigerung eines Vorurteils, sondern etwas qualitativ anderes. Und es war derjenige Punkt ihrer Ideologie, an dem deren totalitärer Charakter so greifbar war wie nirgendwo sonst.

Die Deutschen, die „persönlich“ nichts gegen Juden hatten, haben die Ausgrenzung und Vernichtung der Juden, wenn nicht im Einzelfall gewollt, so doch billigend in Kauf genommen, weil die Denkfigur, wonach „der Jude“ der Feind sei, schon seit dem frühen Mittelalter eine kulturelle Selbstverständlichkeit darstellte, die die Nazis bloß noch zu aktualisieren und politisch aufzuladen brauchten.

Wer natürlich glaubt, Antisemitismus sei bloß ein Vorurteil, und wer keine Vorurteile gegen Juden habe, sei auch kein Antisemit, braucht sich weder mit Opas Antisemitismus auseinanderzusetzen noch mit dem eigenen. Da kann man durchaus der Meinung sein, die Vernichtung des Staates Israel sei der Schlüssel zum Weltfrieden, und sich einbilden, mit Antisemitismus habe das nichts zu tun – schließlich habe man persönlich ja nichts gegen Juden.

Der Fairness halber muss man natürlich eines zugestehen: Den Nationalsozialismus als deutsches Nationalprojekt zu interpretieren heißt erklären zu müssen, warum die meisten Deutschen sich damals für dieses Projekt begeisterten. Erklären heißt in einem solchen Zusammenhang aber auch: verstehen. Und vom Verstehen zum Rechtfertigen ist es nur ein kleiner Schritt.

Ich vermute, dass die Unredlichkeit, mit der in unserem Land über die damalige Zeit gesprochen wird, auch mit einem psychologisch nachvollziehbaren Abwehrbedürfnis zusammenhängt: Man will auf keinen Fall irgendeinen Gedanken hegen oder gar äußern, der sich auch nur irgendwie als Rechtfertigung des NS-Regimes lesen ließe, und nimmt lieber ein schiefes und in seinen politisch-ideologischen Implikationen hochproblematisches Geschichtsbild in Kauf.

Das ist nicht unsympathisch. Wer aber solche Anstrengungen unternehmen muss, um sich nicht selbst der Sympathie mit dem Nationalsozialismus verdächtigen zu müssen, erweckt den Verdacht, dass er etwas verdrängt. Es könnte sein, dass viele von uns Deutschen sich mit dem Deutschland Hitlers emotional viel stärker identifizieren, als sie selber wahrhaben wollen.

Glückwunsch, FC Bayern!

Ich glaube schon einmal irgendwo erwähnt zu haben, dass ich zwar seit zwanzig Jahren Wahlberliner bin, aber aus München stamme. Viel verbindet mich mit meiner alten Heimatstadt nicht mehr, nicht einmal der Akzent verrät noch, wo ich herkomme; bei Bedarf berlinere ick wie’n altjedienter Weddinger.

 

Nur in einem Punkt bin ich Münchner geblieben: beim Fußball. Ich kann mich beim besten Willen nicht für die Hertha erwärmen; mein Verein ist und bleibt – na welcher wohl? Richtig!

 

1860.

 

Ich bin also nicht nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet, die Bayern zu hassen. Und mich damit in das große Heer der FC-Bayern-Hasser einzureihen, der Feinde des unbeliebtesten Vereins der Republik.

 

Nun gerate ich aber in einen Gewissenskonflikt: Gegen die Bayern zu sein gilt als politisch korrekt. Man ist für St. Pauli, Freiburg, Nürnberg, Kaiserslautern oder eben Sechzig – aber doch nicht für Bayern! Warum? Weil die Bayern ihre Erfolge mit Geld erkaufen, dadurch alle anderen Vereine in die zweite Reihe drängen, nicht in der Heimaterde verwurzelt sind, sondern Fans weltweit haben, weil sie arrogant sind und auf dem Feld nur das Nötigste tun. Außerdem haben sie Uli Hoeneß.

 

Nur kann man das alles auch ganz anders lesen: Es stimmt schon, dass der Erfolg im Fußball Geld bringt und das Geld den Erfolg begünstigt. Das wissen auch Alle, und Alle verhalten sich danach. Die Vereine, die die Chance hatten, zu den Bayern aufzuschließen, Dortmund zum Beispiel, Bremen, Leverkusen – die haben es alle nicht geschafft. Sie haben nicht die höhere Moral, sie haben nur weniger Erfolg. Wer weltweit Fans hat, muss wohl ziemlich guten Fußball spielen; und Uli Hoeneß mag schlecht erzogen sein – wenn auch schwerlich schlechter als Rudi Assauer – aber er versteht sein Handwerk, was man nicht von allen Bundesliga-Managern behaupten kann. (Und was die Verwurzelung in der Heimaterde angeht, so hat die durchaus ihre problematischen Seiten, wie sich 1933 zeigte, als – peinlich, peinlich – 1860 sich gar nicht genug SA-Leute in den Vorstand holen konnte, während die Bayern so lange wie irgend möglich an ihrem jüdischen Präsidenten festhielten.)

 

Was also wirft man den Bayern vor? Den Erfolg, und dass sie guten Fußball spielen. Der Deutsche Gutmensch zieht es nämlich vor, in zugigen alten Stadien eine schlechte Mannschaft null zu fünf untergehen zu sehen, und hält dies für den Beweis seiner überlegenen Sportmoral. Der Masochismus eines mittelalterlichen Flagellanten: Lieber einen schlechten Fußball als einen – Pfui! – kapitalistischen. Das ist nichts anderes als Political Correctness, kombiniert mit linker Sozialromantik.

 

Nachdem ich alles über Bord geworfen habe, was irgendwie links ist, täglich einen Gutmenschen frühstücke und gegen die PC wettere: Wäre es da nicht konsequent, auch als Fußballfan Nägel mit Köpfen zu machen und zu den Bayern zu konvertieren?

 

Ja, das wäre konsequent. Aber beim besten Willen: Das bringe ich nicht!

 

Es ist eine Sache zuzugeben, dass die Bayern sich ihre Erfolge redlich verdient haben. Auch ein Fußballfan darf gelegentlich sportlich fair sein. Eine ganz andere Sache wäre es, in einer Fankurve zu stehen und „Bayern, Bayern!“ zu rufen.

 

Ein Fußballfan wird schon als Kind auf seinen Verein geprägt wie ein Entenküken auf seine Mama. Dieses Herzklopfen und Bauchkribbeln, wenn die eigene Mannschaft aufläuft – das kann man nicht willkürlich manipulieren und auf eine andere übertragen. Fan sein heißt nicht, eine Religion zu haben (von der man abfallen kann), sondern ein Schicksal zu erleiden, mit dem man leben muss.

 

Nur ist das ja kein Grund, die zu hassen, deren Schicksal leichter ist.

 

In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch, FC Bayern, zu Pokal und Meisterschaft, und viel Erfolg in der kommenden Champions-League-Saison!

Wolfgang Wippermann: „Autobahn zum Mutterkreuz: Historikerstreit der schweigenden Mehrheit“

(Rezension)

Manchmal bin ich etwas schwer von Kapee. Ich habe ein halbes Jahr gebraucht zu begreifen, dass der Fall Eva Herman mehr und etwas anderes war als nur eine kuriose Episode, bei der alle Beteiligten sich nach Kräften blamiert haben. Es war ein Ereignis, das schlaglichtartig den geistigen Zustand unserer Gesellschaft erhellt hat. In dieser Einsicht stimme ich überein mit dem Berliner Historiker Wolfgang Wippermann, dem ich sie verdanke. Allerdings ist dies auch fast der einzige Punkt, in dem ich seine Meinung teile.

Zur Erinnerung: Eva Herman war in den letzten Jahren mit betont feminismuskritischen Büchern an die Öffentlichkeit getreten („Das Eva-Prinzip“), in denen sie vehement die klassischen konservativen Familienwerte verteidigte, insbesondere die „natürliche Bestimmung“ der Frau zur Mutterschaft. Wahrscheinlich eher schlicht im Gedankengang – ich weiß es nicht, ich habe ihre Bücher nicht gelesen – traf sie doch bei vielen Lesern einen Nerv; ihre Bücher jedenfalls verkauften sich sehr gut.

Und so hätte alles laufen können, wie es immer läuft, wenn Journalisten ihr Rezept zur Rettung der Gesellschaft präsentieren: Einige empören sich (in diesem Falle also die Feministinnen), andere sind begeistert (in diesem Falle die katholische Kirche), die Leser freuen sich, endlich schwarz auf weiß zu lesen, was sie ohnehin immer schon zu wissen glaubten, und bei Verlag wie Autorin klingeln die Kassen. Und alle lebten glücklich bis an ihr seliges…

Halt!

Nun tat Eva Herman etwas, was man in Deutschland nicht tut: Sie lobte das Dritte Reich.

Bei der Vorstellung ihres Buches „Das Arche Noah Prinzip“ pries sie – wie gehabt – Ehe, Familie und Mutterschaft, fügte diesmal aber sinngemäß hinzu, diese Werte seien unter Hitler hochgehalten worden (was ja an dessen negativen Seiten nichts ändere), später aber hätten die Achtundsechziger das alles mit Füßen getreten und zerstört.

Jetzt schlug die Stunde der Öffentlichkeit: Der NDR feuerte, die NPD feierte sie, die Presse gab sich staatstragend empört und der Zentralrat der Juden wehrte den Anfängen.

Das übliche Programm also, das immer dann abläuft, wenn jemand den Teppich hebt, unter dem wir Deutschen alles entsorgt haben, was unserem Selbstbild als geläuterte Demokraten zu widersprechen scheint, die aus der Geschichte gelernt haben, und wenn jemand öffentlich ausspricht, was nicht die meisten, aber auch nicht ganz wenige Deutsche denken, und was mit dem offiziösen Geschichtsbild wenig zu tun hat.

In dieser Situation hielt es der Talkshow-Moderator Johannes B. Kerner für angemessen, mit Herman das abzuziehen, was die Bloggerkollegin Eisvogel später „die Galileonummer“ nennen sollte: „Widerrufe!“

Eva Herman widerrief nicht, obwohl Wippermann, der bei dieser Gelegenheit auf der Bildfläche erschien, ihr mit der ganzen Autorität des anerkannten NS-Experten klarzumachen versuchte, dass Hitlers Familienpolitik Bestandteil seines Projekts zur Rassenzüchtung und Kehrseite seiner Vernichtungspolitik gegen „Fremdrassige“ gewesen sei.

Sie bestand in der zunehmend hitziger werdenden Diskussion darauf, nur das auszusprechen, was die meisten Menschen dächten, was aber von der „gleichgeschalteten Presse“ in die rechte Ecke gestellt werde. Als ihr vorgehalten wurde, das Wort „Gleichschaltung“ sei ein NS-belasteter Begriff, replizierte sie, der Begriff sei zwar damals verwendet worden,

„…aber es sind auch Autobahnen damals gebaut worden, und wir fahren heute drauf.“ (S.30)

Dieses zugegebenermaßen ziemlich blöde Argument für die Verwendung des Wortes „Gleichschaltung“ (mit derselben Logik könnte man auch Ausdrücke wie „Untermensch“ rechtfertigen) wurde von den übrigen Gesprächsteilnehmern als ein erneutes „Alles war ja auch nicht schlecht“ aufgefasst und mit Empörung quittiert. Der Moderator warf sie aus dem Studio mit dem ihn selbst blamierenden Satz:

„Autobahn – das geht halt nicht.“ (ebd.)

Und Eva Herman:

„Ich muss halt lernen, dass man über den Verlauf unserer Geschichte nicht reden kann, ohne in Gefahr zu geraten.“ (ebd.)

Sprach’s und ging.

Während sich viele Leserbriefschreiber und große Teile der Blogosphäre mit Eva Herman und ihren Thesen solidarisierten, bekam Wippermann, der sie kritisiert hatte, Tausende von Zuschriften, in denen er nicht nur kritisiert, sondern auch beschimpft, beleidigt und bedroht wurde: „Volksschädling“, „Ratte“, „Judenknecht“, „widerliche Kreatur“.

Das Buch, das er jetzt über die Herman-Kontroverse vorgelegt hat, dürfte also im Zorn geschrieben worden sein – das sei dem Autor zugutegehalten. Trotzdem – oder gerade deshalb – ist dieses Buch selbst mindestens so aufschlussreich wie die Ereignisse, die es beschreibt. Man bekommt jedenfalls nur selten die Gelegenheit, die Funktionsweise der Political Correctness an einem solchen Prachtexemplar zu demonstrieren; und ich wäre nicht ich selbst, wenn ich mir diese Gelegenheit entgehen ließe.

Wippermanns Kritik gilt vor allem demjenigen Teil der deutschen Bevölkerung, den er selbst bereits im Untertitel und dann mehrere Dutzend Mal im Text „die schweigende Mehrheit“ nennt. Dabei lässt er offen, ob er damit ironisch auf das Selbstverständnis des genannten Personenkreises anspielen will, oder ob er buchstäblich eine Mehrheit meint. Solch unklare Begrifflichkeit – wir werden noch in anderen Zusammenhängen darauf stoßen – ist bei einem Wissenschaftler auch dann ein schwerwiegender Lapsus, wenn er für die breite Öffentlichkeit schreibt und nicht für das Fachpublikum.

„‚Ich muss lernen, dass man über den Verlauf unserer Geschichte nicht reden kann, ohne in Gefahr zu geraten‘, erklärte Eva Herman kurz vor ihrem Abgang in der Kerner-Show am 9.Oktober 2007: Eine unfassbare und völlig unbegründete Behauptung.“ (S.81)

Unfassbar? Völlig unbegründet?

Eva Herman hatte wegen ihrer Äußerungen bereits ihren Arbeitsplatz verloren. Solche Sanktionen kann man für gut oder schlecht halten. Wer aber behauptet, es gebe sie nicht, lügt.

Es geht aber noch weiter:

Denn wer soll sie und andere in Gefahr bringen …? Hitler ist tot, und wir leben nicht in einer Diktatur ,sondern in einer Demokratie. In ihr herrscht die in der Verfassung geschützte … Meinungsfreiheit. Wer etwas anderes behauptet, hat ein Problem mit dieser Verfassung oder weiß einfach nicht, wovon er spricht.“ (ebd.)

Das ist wahrscheinlich die Ganz Hohe Schule der Political Correctness: Bestimmte Meinungen nicht nur zu ächten („Autobahn – das geht halt nicht.“), sondern gleichzeitig zu leugnen („unfassbar!“, „Völlig unbegründet!“), dass man sie ächtet. Nicht nur zu leugnen, dass man sie ächtet, sondern jeden, der wahrheitsgemäß behauptet, sie würden geächtet, als Narren oder Verfassungsfeind abzustempeln!

(Wohlgemerkt: Es geht hier nicht darum, ob diese oder jene Ansichten, etwa die von Eva Herman, richtig oder falsch sind. Auch nicht darum, ob ihre Ächtung gut oder schlecht ist. Es geht um das Faktum der Ächtung an sich.)

Diese Ächtung nimmt dabei nur selten so handfeste Formen an wie den Verlust des Arbeitsplatzes. Die „schweigende Mehrheit“, um mit Wippermann zu sprechen, hat vielmehr das zutreffende Gefühl, bestimmte Auffassungen würden „in die rechte Ecke gestellt“, also als unseriös und unmoralisch aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzt. „Öffentlich“ ist dabei derjenige Diskurs, der von Meinungseliten geführt wird. Damit meine ich den Kreis derjenigen Personen, die von der Mediensoziologie „virtuelle Meinungsführer“ genannt werden, das heißt Personen, die den informellen Status von Repräsentanten der Gesellschaft bzw. einzelner Gesellschaftssegmente genießen; die als solche regelmäßig Zugang zu den Medien und somit die Chance auf öffentliche Artikulation haben; und die in den Medien das vollführen, was man den „öffentlichen Diskurs“ nennt. Gesellschaftliche Strömungen, die in den Meinungseliten nicht repräsentiert sind bzw. deren Repräsentanten ausgeschlossen werden, müssen als ausgegrenzt gelten. Es ist also nicht etwa so, dass der Normalbürger nicht sagen könnte, was er denkt – insofern ist das Wort „Meinungsdiktatur“ zu Kennzeichnung der Political Correctness tatsächlich irreführend -, er ist „nur“ mit bestimmten Ansichten vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossen.

Wer zur Meinungselite gehören will, tut also gut daran, geächtete Meinungen für sich zu behalten. Wer das nicht tut, bekommt bestenfalls die Chance, den Galileo zu machen – so wie Günther Oettinger. Wer diese letzte Chance verpasst, wie Martin Hohmann oder eben Eva Herman, der ist draußen. Die physische Verbannung von Eva Herman aus dem Fernsehstudio – und damit aus dem Kreise der legitimerweise Diskutierenden – hat diesen Vorgang ungewöhnlich anschaulich gemacht und ist von den Zuschauern instinktiv als symbolträchtig empfunden worden.

Der darauf folgende Aufstand der Blogosphäre hat aber eines sichtbar gemacht: dass den bisherigen Meinungseliten das Definitionsmonopol darüber entgleitet, welche Themen und Meinungen gesellschaftsfähig sind und welche nicht. War auch bisher schon die „Öffentliche Meinung“ identisch mit der veröffentlichten, so hat das Internet die Lage insofern verändert, als nun Jeder veröffentlichen kann.

Volkes Stimme gab es schon immer; an jedem Stammtisch war sie zu hören. Der kleine Kreis des Stammtisches (des Familiengesprächs, des Klönens in der Kaffeepause) stellte aber keine Öffentlichkeit dar. Erst das Internet macht aus Volkes Stimme eine öffentliche Stimme. Die „schweigende Mehrheit“ schweigt nicht mehr, und das Volk hat nicht nur eine Stimme, es weiß vor allem, dass es eine hat.

Wippermann hat diesen Sachverhalt völlig richtig erkannt und in gewissem Sinne Pionierarbeit geleistet, indem er die Reaktion der Blogosphäre auf die Herman-Affäre systematisch ausgewertet und damit ihrem wachsenden Einfluss auf die öffentliche Meinung Rechnung getragen hat.

Freilich bewertet er diesen Einfluss vom Standpunkt einer um ihre Deutungshoheit bangenden Meinungselite ausschließlich negativ. Zu fragen ist, ob er damit Recht hat.

Es stimmt ja, dass sich Fehlinformationen im Internet rasend schnell verbreiten, ohne dass es einen wirksamen Filter gäbe, und dass gerade Verschwörungstheoretiker jeder Couleur das Internet als Baukasten benutzen, aus dem sie die Klötzchen für ihre jeweiligen Wahngebäude beziehen. Wahrscheinlich gibt es keine noch so verrückte Idee, für die man im Netz nicht eine Fangemeinde zusammentrommeln könnte. Soweit Wippermann dies feststellt, liegt er durchaus richtig.

Nur richtet seine Kritik sich nicht gegen irgendwelche UFO-Sekten, sondern dagegen, dass gesellschaftlich weitverbreitete Ideen öffentlich artikuliert werden. Liberal wird man einen solchen Standpunkt nicht nennen können. Demokratisch schon gar nicht.

Deswegen allein muss er aber noch nicht falsch sein: Es ist Konsens, dass die Meinungsfreiheit eingeschränkt werden sollte, wo ihr hemmungsloser Gebrauch zur Gefährdung eben jener demokratischen Ordnung führen würde, die die Meinungsfreiheit garantiert. Unsere Verfassung kennt dieses Prinzip als das der „wehrhaften Demokratie“. Unter diesem Gesichtspunkt – aber auch nur unter diesem! – lässt es sich rechtfertigen, bestimmte Meinungen als demokratiefeindlich vom seriösen Diskurs auszuschließen.

Welche Auffassungen möchte Wippermann gerne ausgeschlossen sehen? Zunächst die, die die „guten Seiten“ des Nationalsozialismus thematisieren:

„Alles war ja auch nicht schlecht damals: Jeder hatte Arbeit, man konnte sich nachts auf die Straße trauen, für Familien wurde noch etwas getan, Mütter waren noch geachtet, es herrschte Ordnung, und außerdem hat Hitler die Autobahn gebaut.“

(Das ist kein wörtliches Zitat, sondern die Zusammenfassung von Äußerungen Eva Hermans und ihrer Sympathisanten, die Wippermann für gefährlich hält.)

Da stelle mer uns janz dumm und fragen: Stimmt denn dat überhaupt?

Sicher gibt es Einiges zu differenzieren, aber im Großen und Ganzen stimmt das durchaus. Um mit den Autobahnen zu beginnen, weil sie in der Debatte eine besondere Rolle gespielt haben („Autobahn – das geht halt nicht!“), und weil Wippermann hier mit Gegenargumenten aufwartet:

Es habe bereits in Amerika und Italien Highways und Autostradas gegeben; womit nur eine Behauptung widerlegt ist, die niemand aufgestellt hat, nämlich dass die Nazis die Autobahnen erfunden hätten. Außerdem habe es in Deutschland bereits die Berliner AVUS gegeben (rund zehn Kilometer lang) und die Autobahn Köln-Bonn (noch so eine gigantische Fernstrecke). Die Nazis hingegen seien hinter ihren Planungen zurückgeblieben, indem sie in den sechs Jahren bis Kriegsbeginn lediglich 3000 Autobahnkilometer fertiggestellt hätten (während des Krieges kamen dann noch einmal 800 Kilometer hinzu), während die alte Bundesrepublik

„…bereits 1980…“ (S.71)

(also 31 Jahre nach ihrer Gründung) 8000 Autobahnkilometer hatte – wobei offenbleibt, wieviel davon aus der Zeit vor 1945 stammte. Dem Autor scheint gar nicht aufzufallen, dass seine eigenen Zahlen dem Dritten Reich ein mindestens doppelt so hohes Bautempo bescheinigen wie der Bundesrepublik (3000 Kilometer in sechs Jahren versus 8000 Kilometer – minus X – in 31 Jahren) und damit genau das Gegenteil von dem beweisen, was sie beweisen sollen. Das ist durchaus kein Grund, Hitler zu feiern, wohl aber einer, dem Autor eine schlampige und willkürliche Argumentation anzukreiden.

Was den Schutz vor Kriminalität angeht: Da fehlen mir die statistischen Daten. Gut möglich, dass die drakonische Justizpolitik des Regimes, verbunden mit seiner Propaganda, dem Durchschnittsdeutschen mehr Sicherheit vorgaukelte als nach der Kriminalstatistik gerechtfertigt war; dass also das Sicherheitsgefühl größer war als die tatsächliche Sicherheit. (Was aber nichts daran ändert, dass bereits die Illusion – falls es denn eine war – von Sicherheit als wohltuend empfunden wurde).

Darüberhinaus ist es eine schlichte Tatsache, dass unter Hitler die Arbeitslosigkeit innerhalb von nur drei Jahren von sechs Millionen auf Null reduziert wurde, und zwar mithilfe einer Politik massiver kreditfinanzierter Staatsnachfrage. Diese Art Konjunkturpolitik avancierte nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Titel „Keynesianismus“ zur Hauptströmung wirtschaftspolitischer Theorie.

Und zutreffend ist auch, dass die Nazis vom Ehestandsdarlehen bis zum Mutterkreuz alle Register zogen, die Menschen zum Kinderkriegen zu animieren und dabei das Sozialprestige der Mütter zu heben.

Wippermann bestreitet das alles auch nicht direkt. Er weist nur – und zu Recht – darauf hin, dass Alles, was die Nazis taten, also auch die Autobahn, das Mutterkreuz, die Konjunkturpolitik (Aufrüstung!) im Dienste ihres monströsen Gesamtprojekts stand, eine „arische Herrenrasse“ zu züchten und gestützt auf einen totalitären Staat die Weltherrschaft zu erringen, und dass es deshalb bestenfalls naiv wäre, einzelne Aspekte als vermeintlich „gute Seiten“ des Dritten Reiches isoliert zu betrachten. Ein durchschlagendes Argument – freilich nur gegen Neonazis, die auf eine Neuauflage des Nationalsozialismus hinarbeiten.

Dagegen kann ich nicht erkennen, dass wirtschaftspolitische, bevölkerungspolitische oder verkehrspolitische Instrumente, die von den Nationalsozialisten in einem rassistischen und totalitären Zusammenhang eingesetzt wurden, diesen Kontext naturgemäß in sich trügen, deshalb niemals im Rahmen einer demokratischen und friedlichen Politik einsetzbar wären und daher für alle Zeiten tabu bleiben müssten:

Warum finanzielle oder ideelle Anreize – es muss ja nicht gerade das Mutterkreuz sein – zum Kinderkriegen etwas Schlechtes sein sollen, erschließt sich mir nicht. Zumal die Überalterung unserer Gesellschaft ein ernstes Problem darstellt, und das nicht nur für die Rentenkassen.

Oder nehmen wir die Wirtschaftspolitik: Angesichts einer seit dreißig Jahren andauernden Massenarbeitslosigkeit ist es legitim zu fragen, was von einer Politik zu lernen wäre, die eine doppelt so hohe Arbeitslosigkeit in nur drei Jahren beseitigt hat. Ich persönlich glaube zwar nicht, dass eine auf extremen Staatskonsum setzende Wirtschaftspolitik, noch dazu verbunden mit einer nicht minder extremen Verschuldung, heutzutage eine sinnvolle Option wäre. Nur ist das eine ökonomische, keine moralische Frage. (Bemerkenswert übrigens, dass die politische Linke, die ein solches Konzept verfolgt, nicht darauf hinweist, dass damit schon einmal Vollbeschäftigung erzielt wurde; offenbar verzichtet sie lieber auf ein erstklassiges Argument, als etwas Positives über Hitler zu sagen. Man könnte es beinahe edel finden, wenn es nicht so dämlich wäre.)

Und der Normalbürger, der die Autobahn lobt: Will der denn eine Neuauflage des NS-Regimes? Oder, allgemeiner gefragt: Warum spricht er über die seiner Meinung nach „guten Seiten“ der Nazizeit?

Dieses „Warum“ hat zwei Aspekte: Den objektiven – Wie kommt es, dass so viele Menschen so denken? – und den subjektiven – Was veranlasst sie, sich gerade so zu äußern?

Der Soziologe Harald Welzer hat in seiner Studie „Opa war kein Nazi“ empirisch untersucht, wie Geschichtsbilder über die NS-Zeit entstehen, und zwar an der Basis der Gesellschaft, speziell im familiären Diskurs.  

Er hat nachgezeichnet, wie dabei zwei Weltbilder aufeinandertreffen, die es aus der Sicht des Einzelnen in Einklang zu bringen gilt: Einmal das gleichsam offizielle Geschichtsbild, das auf den Ergebnissen der historischen Forschung aufbaut, die Repressivität und Grausamkeit nationalsozialistischer Ideologie und Praxis herausarbeitet und deren Totalverurteilung nahelegt. Zum anderen das Geschichtsbild der damaligen Durchschnittsdeutschen, das auf deren subjektiver Erfahrung beruht und innerfamiliär durch die Erzählungen der älteren Generation weitergegeben wird.  

Diese „Geschichte“ kann mit der der Historiker nicht übereinstimmen, weil sie aus einer ganz anderen Perspektive erzählt wird: aus der Perspektive dessen, der die Dinge nicht von oben analysiert, sondern von unten erlebte, und der dabei kein Jude, nicht schwul, kein Sozialist und kein avantgardistischer Künstler war – des Durchschnittsdeutschen eben. Und der fühlte sich, zumindest vor Kriegsausbruch, unter der Naziherrschaft alles in allem ziemlich wohl. Wäre es anders gewesen, hätten die Nazis niemals die loyale, teilweise begeisterte Unterstützung einer großen Mehrheit der Deutschen bekommen können. Warum aber fühlten die sich wohl? Nun, unter anderem wegen der Vollbeschäftigung, des Sicherheitsgefühls, der Familienförderung, der optimistischen Zukunftserwartungen (Autobahn!) usw., also aus genau den Gründen, die heute noch als „gute Seiten“ des NS-Regimes angeführt werden.  

Natürlich wusste auch der Normalbürger, dass Juden verfolgt wurden, und dass es Konzentrationslager und eine Gestapo gab – es interessierte ihn bloß nicht. Es interessierte ihn nicht, weil seinen Bedürfnissen nach Sicherheit, Ordnung und bescheidenem Wohlstand Rechnung getragen wurde. Man kann das unmoralisch finden, aber es ist genau das Verhalten, das im Normalfall von normalen Menschen zu erwarten ist. Auch wenn es einem nicht gefällt und man es nicht wahrhaben möchte: Menschen sind so.  

Problematisch wird diese Disposition in dem Moment, wo ein totalitäres regime sie ausnutzt. Sie ist aber nicht per se etwas Schlechtes: Der konformistische Bürger, der seine Steuern bezahlt, seine Familie mit eigener Arbeit ernährt, seine Kinder großzieht, der sich um seinen eigenen Kram kümmert und sich an die Gebote der konventionellen Moral hält – der ist bestimmt weniger interessant, oft auch weniger sympathisch als der Individualist, Nonkonformist, Utopist, Abenteurer, Philanthrop, Bonvivant, Künstler oder Bohemien. Aber er ist Derjenige, der die Gesellschaft funktionsfähig hält. Anders gesagt: Der Konformismus des Konformisten ist die Voraussetzung dafür, dass so etwas wie der Nonkonformist überhaupt existieren kann.  

Genau diesen Personenkreis meint Wippermann, wenn er von der „schweigenden Mehrheit“ spricht, die am Dritten Reich „gute Seiten“ findet, und der er deshalb eine faschistische Disposition unterstellt, statt nach ihren Motiven zu fragen.  

Was beinhaltet denn die Aussage, alles sei ja auch nicht schlecht gewesen, verbunden mit den einschlägigen Beispielen?  

Erstens kommt darin ein Bedürfnis nach Sicherheit, Ordnung und Wohlstand zum Ausdruck,  

zweitens die Kritik, dass diese Bedürfnisse heutzutage nicht berücksichtigt würden,  

drittens die Meinung, unter Hitler sei ihnen stärker Rechnung getragen worden.  

Beginnen wir beim dritten Punkt: Die Nazis haben dem tatsächlich Rechnung getragen, freilich nur, um die Voraussetzungen für ein Projekt zu schaffen, das mit Ordnung, Sicherheit und Wohlstand nicht das Geringste zu tun hatte, vielmehr chaotisch, riskant und ruinös war. Sie haben die braven Bürger ganz einfach hinters Licht geführt; und die wissen das auch sehr genau. Um Eva Herman zu zitieren:  

„… es war ’ne grausame Zeit, das war ein völlig durchgeknallter, hochgefährlicher Politiker, der das deutsche Volk ins Verderben geführt hat…“ (S.19)  

Wippermann scheint solche Distanzierungen (man kennt sie auch in anderen Varianten, etwa: Wenn das mit den Juden und mit dem Krieg nicht gewesen wäre…) für bloße Lippenbekenntnisse zu halten, dabei bringen sie zum Ausdruck, dass das NS-Regime in genau denjenigen Punkten abgelehnt wird, die spezifisch nationalsozialistisch waren; damit wird gerade keine ideologische Sympathie formuliert.  

Was damit aber formuliert wird, ist das Unbehagen des Normalbürgers an unserer Gesellschaft, und da Wippermann es vorzieht, dieses Unbehagen als faschistisch zu verdächtigen, statt nach seinen Ursachen zu fragen, frage jetzt ich danach:  

Es ist nämlich eine gut gesicherte soziologische Erkenntnis, ja geradezu ein Gemeinplatz, dass es in allen westlichen Gesellschaften einen Trend weg von den sogenannten „Pflicht- und Akzeptanzwerten“, hin zu den „Selbstentfaltungswerten“ gibt.  

In Deutschland begann der zunächst schleichend Anfang des 20. Jahrhunderts, erfuhr einen ersten Schub in den zwanziger und erlitt Rückschläge in den dreißiger bis fünfziger Jahren, um sich dann ab den sechziger Jahren vollends durchzusetzen.  

Dieser Trend bedeutet, dass die Menschen weniger danach fragen, was „man“ tut, sondern was sie selbst tun wollen; die persönliche Freiheit ist im Zweifel wichtiger als die soziale Pflicht. Es heißt keineswegs den damit verbundenen Gewinn an individueller Autonomie geringzuachten, wenn man auf die Kehrseite dieses Prozesses hinweist:  

Ich habe es oben schon angedeutet: Der Zusammenhalt der Gesellschaft und ihr Fortbestand hängen wesentlich nicht von der „Selbstentfaltung“ des Einzelnen ab, zumal die auch mit Egoismus und Hedonismus einhergehen kann. Sie hängen genau von den erodierenden Pflicht- und Akzeptanzwerten ab.  

Die Gesellschaft existiert als solche nur so lange, wie Steuern bezahlt, Normen respektiert, Gesetze eingehalten und Kinder großgezogen werden. Die U-Bahn lebt nicht vom Schwarzfahrer, sondern von dem, der sein Ticket bezahlt. Der Sozialstaat lebt von denen, die ihn finanzieren, nicht von denen, die ihn in Anspruch nehmen. Selbst die Toleranz – gewiss eine hohe Tugend – lebt von denen, die sie selbst üben, nicht von denen, die sie einfordern und mutwillig strapazieren. Die Demokratie lebt von Wählern, die auch unangenehme, aber notwendige Entscheidungen akzeptieren, die Wirtschaft von Arbeitnehmern, die nicht beim ersten Husten den Krankenschein nehmen.  

Die Dominanz von „Selbstentfaltungswerten“ dagegen führt dazu, dass eine wachsende Zahl von Menschen es für ihr natürliches Recht hält, Steuern zu hinterziehen, Graffiti zu sprühen, schwarzzufahren, ihre Mitmenschen anzupöbeln, die schwangere Partnerin zur Abtreibung zu nötigen, bei der ersten Ehekrise auseinander zu rennen und obendrein stolz darauf zu sein, nicht über „Sekundärtugenden“ zu verfügen, weil man mit denen „auch ein KZ leiten“ könne. Wäre Kennedys Aufforderung „Fragt nicht was Euer Land für Euch tun kann, sondern was Ihr für Euer Land tun könnt“ von einem deutschen Politiker ausgesprochen worden – wir können sicher sein, dass die als Antifaschismus getarnte Asozialität sie mit einem „Wehret den Anfängen!“ quittiert hätte.  

Die von Wippermann so genannte „schweigende Mehrheit“ – ob sie tatsächlich eine Mehrheit ist, lasse ich dahingestellt – jener rückständigen Menschen, die nicht nur ihre „Selbstentfaltung“ im Kopf haben, hat das vollkommen zutreffende Gefühl, dass sie die Zeche für die Selbstentfaltung Anderer zahlt. Dieser schweigenden Mehrheit geht es um stärkere Verbindlichkeit sozialer Normen und um größere soziale Anerkennung für diejenigen, die für diese Gesellschaft etwas leisten, und damit formuliert sie ein völlig legitimes Interesse. Ein solcher Standpunkt ist konservativ. Ihn faschistisch zu nennen ist eine bösartige Verleumdung.  

Ich spreche bewusst von Verleumdung, nicht etwa von einem Irrtum. Es geht Wippermann nämlich nachweisbar nicht um die Bekämpfung faschistischer, sondern konservativer Positionen, und zwar mit dem klassischen Mittel linker Demagogie, nämlich durch das Schwingen der Faschismus-Keule.  

(Es sei angemerkt, dass es sich für einen seriösen Wissenschaftler von selbst verstehen sollte zu tun, was Wippermann wohlweislich unterlässt: nämlich einen so schillernden Begriff wie „Faschismus“ nur zu gebrauchen, wenn man zugleich offenlegt, auf welche der vielen Faschismusdefinitionen man sich bezieht. Dann freilich wäre das Wort nicht mehr so leicht als politische Waffe verwendbar.)  

Beweise?  

Er beklagt, dass  

„…es heute mehr um konservative und faschistische ‚Werte’ geht als um ihre Kritik…“ (S.10)  

– man beachte die Gleichsetzung und, als besonderes Bonbon, die Anführungszeichen im Text. Oder wie er sich mit Artikeln von Eva Herman auseinandersetzt:  

„Noch nicht Faschismus, aber in eine bedenkliche Nähe zu ihm gerät die Argumentation im ‚biologischen Kontext’. So, wenn von der ‚Entweiblichung der Frau’ und der ‚Entmännlichung der Herrenwelt’ gesprochen … wird.“ (S.16)  

Wer auf Nummer Sicher gehen will, nicht als Faschist entlarvt zu werden, meide diese „bedenkliche Nähe“.  

„Völlig sozialdarwinistisch ist die folgende Dekadenzthese: ‚So zieht eine hochzivilisierte Kultur wie die unsere sich selbst den Boden unter den Füßen weg, die Basis, die uns Halt im täglichen Überlebenskampf geben kann: die intakte Familie.’“ (S.17)  

„Sozialdarwinistisch“ ist bereits, wenn das Wort „Überlebenskampf“ erwähnt wird. So müssen wir uns wohl das vorstellen, was Wippermann seine  

„ideologiekritische … Methode“ (S.9)  

nennt. Da werden  

„extrem rechte Politiker wie Peter Gauweiler und Otto von Habsburg“ (S.24)  

und damit auch ihre Partei, die CSU, dem rechtsextremen Spektrum zugerechnet.  

Wippermann beschreibt zutreffen die Einstellung der Achtundsechziger zu konservativen Werten – Stichwort: Sekundärtugenden – und fährt fort:  

„Auch wenn man dabei zu weit gegangen ist und in jedem Konservativen einen zumindest potenziellen Faschisten gesehen und all diese Tugenden und Werte als faschistisch oder, um ein weiteres Modewort zu gebrauchen, als faschistoid bezeichnet und verworfen hatte, im Kern trifft es dennoch zu. Konservativismus und Faschismus waren politische Bundesgenossen und hatten gleiche oder zumindest vergleichbare ideologische Ziele.“ (S.6) [Hervorhebungen von mir, M.] 

Also zuerst eine scheinbare Distanzierung von diesem unsäglichen Quatsch – natürlich, er will sich ja nicht total blamieren -, um am Ende doch zuzustimmen. Nicht die einzige Stelle übrigens, wo er diesen schmierigen Kunstgriff anwendet. Fragt sich nur, wie redlich ein Autor sein kann, der sich von seinen eigenen Thesen distanziert, um nicht auf sie festgenagelt zu werden, sie dann aber trotzdem unter die Leute bringt.

Selbstverständlich gibt es einen Zusammenhang zwischen konservativen Werten und nationalsozialistischer Ideologie. Der besteht aber nicht darin, dass sie „gleiche oder zumindest vergleichbare ideologische Ziele“ gehabt hätten, sondern dass die Nazis sich auf konservative Werte beriefen, um sie in ihr Gegenteil zu verkehren. Oder, wie ich an anderer Stelle geschrieben habe:  

„Unter den totalitären politischen Ideologien halte ich im Zweifel die rechten für gefährlicher als die linken. Die extremen Linken machen sich selber das Leben schwer, indem sie Dinge versprechen, vor denen sich Jeder mit Grausen wendet, der etwas zu verlieren hat: Weltrevolution, Tabula Rasa, der Neue Mensch – und der Normalbürger denkt: Alles, nur das nicht! 

Die extremen Rechten sind gefährlicher, weil sie es auf genau diesen Normalbürger abgesehen haben. Die muten niemandem zu, ein “Neuer Mensch” zu werden, sie greifen einfach das auf, was sie an Ressentiments, Vorurteilen, Werten, Wunschträumen, Mythen und Ideologiefetzen in der Gesellschaft vorfinden, erklären es zu den “wahren Werten” des jeweiligen Gemeinwesens, erfinden einen Feind, der diese Werte angeblich angreift, stilisieren sich zu den besseren Konservativen, weil sie konsequent diesen “Feind” bekämpfen, und propagieren eine Ideologie, in die das alles hineinpasst. (…)Verführerisch sind solche Ideologien, weil ihre einzelnen Bestandteile populär sind, und weil der Normalbürger nicht unbedingt durchschaut, wohin es führt, wenn sie zu einem ideologischen System zusammengebunden werden.“  

Es gibt also tatsächlich die Gefahr, dass konservative Ideen von totalitären Ideologen scheinbar aufgegriffen, in Wahrheit aber zur Basis eines utopisch-revolutionären Projekts gemacht und damit in ihr Gegenteil verkehrt werden. Da es sich um die Pervertierung konservativer Werte handelt, spricht man in solchen Fällen von „Rechtsextremismus“, während die analoge Pervertierung emanzipatorischer Werte „Linksextremismus“ genannt wird. Wer deswegen eine Identität von Konservatismus und Faschismus behauptet, könnte ebensogut sozialdemokratisches und sogar liberales mit stalinistischem Denken in einen Topf werfen. Wer der Gefahr einer solchen Pervertierung  begegnen will, wird zwischen Konservatismus und Faschismus sorgfältig unterscheiden und dabei ideologiekritisch argumentieren müssen. Dabei bieten sich meines Erachtens mindestens drei Unterscheidungskriterien an:

Auf der Ebene der poltischen Ziele: Handelt es sich tatsächlich um ein Projekt der Bewahrung sozialer Werte und Strukturen, oder geht es um die Verwirklichung einer Sozialutopie, zum Beispiel die Züchtung einer Herrenrasse?  

Auf der Ebene der eingesetzten Mittel: Ist die gewaltsame Zerstörung des Bestehenden Voraussetzung für die Verwirklichung der Utopie, gibt es also ein apokalyptisches Moment?  

Auf der Ebene der Ideologie: Handelt es sich um ein totalitäres Gedankensystem, das heißt um eines, das den Anspruch auf umfassende Gesellschaftsdeutung und –gestaltung erhebt und sich gegen rationale Kritik durch seine Struktur immunisiert – etwa durch Bezugnahme auf religiöse Prämissen oder durch Zulassung von Zirkelschlüssen?  

Selbstverständlich ist es legitim, auch ganz andere Kriterien zu entwickeln, allerdings nur, sofern man dies begrifflich sauber, logisch widerspruchsfrei und intellektuell diszipliniert tut. Die von Wippermann betriebene plumpe Diffamierung missliebiger Meinungen jedenfalls gehört gottlob noch nicht zu den anerkannten Methoden wissenschaftlicher Ideologiekritik.  

Wir sehen also, dass es bei der Political Correctness, die Wippermann uns geradezu in Reinkultur vorführt, nicht darum geht, die Demokratie zu schützen (was allein die Ausgrenzung bestimmter Meinungen von einem liberalen Standpunkt aus rechtfertigen könnte), sondern darum, die ideologische Vorherrschaft der Linken dadurch abzusichern, dass man den von ihr missachteten Interessen des konservativen Normalbürgers die Legitimität abspricht und den politischen Ideen, in denen diese Interessen zum Ausdruck kommen, den Zugang zum Elitendiskurs verwehrt.

Problematisch daran ist nicht, dass überhaupt bestimmte Themen und Positionen aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen werden. Die gesellschaftliche Funktion sowohl der Medien als auch der Wissenschaft besteht vielmehr gerade darin, die Flut der anfallenden Informationen zu filtern und zu verarbeiten, und zwar nach jeweils systemeigenen Kriterien.

Dabei sortiert die Wissenschaft nach dem Kriterium „wahr/unwahr“ (wobei die Unterscheidung nach wissenschaftsspezifischen Regeln erfolgt), die Medien nach dem des öffentlichen Interesses: Was Keinen interessiert, wird nicht gesendet.

Normalerweise.

Die Kriterien aber, nach denen die etablierten Meinungseliten den Zugang gewähren bzw. verweigern, zeichnen sich gerade durch ihre Systemwidrigkeit aus: Es geht nämlich gar nicht darum, ob eine Meinung wahr oder unwahr bzw. von öffentlichem Interesse ist oder nicht.

Es handelt sich vielmehr um politische oder auch moralische, in jedem Fall aber systemfremde Kriterien, deren Anwendung zwangsläufig dazu führt, dass die Medien ihre gesellschaftliche Funktion, nämlich die der Selbstverständigung der Gesellschaft, nur noch eingeschränkt erfüllen.

Wir haben es hier, um es deutlich zu sagen, mit mutwilliger, politisch motivierter Sabotage eines zentralen gesellschaftlichen Funktionsbereiches zu tun: Die Meinungseliten missbrauchen ihre Monopolstellung und ihre Fähigkeit zur Selbstrekrutierung zum Zwecke politisch-ideologischer Herrschaft.

Es ist nur folgerichtig, dass diejenigen Teile der Gesellschaft, die auf diese Weise vom öffentlichen Diskurs ausgegrenzt werden, auf alternative Strukturen ausweichen, speziell auf das Internet, und dort einen Gegendiskurs führen. Und folgerichtig ist auch, dass dieser Gegendiskurs normalerweise weder wissenschaftlichen Wahrheitskriterien genügt noch in derselben Weise fundiert ist, wie es bei Positionen der Fall ist, die sich im Feuer der öffentlichen Kritik bewähren müssen.

Wie auch? Das Netz ist anarchisch, wie es übrigens auch der frühe Buchdruck war, und die leistungsfähigeren, weil differenzierteren Systeme Wissenschaft und Medien, die eine höhere Qualität hervorbringen könnten – die stehen ja nicht zur Verfügung!

Genau diesen Sachverhalt aber macht Wippermann der „schweigenden Mehrheit“ zum Vorwurf (als ob sie daran schuld wäre und nicht die ihre Macht missbrauchenden Meinungseliten, also Leute wie er!), wenn er wortreich beklagt, dass die Ausgrenzung von Eva Herman mit Vokabeln wie „Meinungsdiktatur“, „Gleichschaltung“ und – dies vor allem – „Verschwörung“ gegeißelt wird. Er sieht darin den Ausdruck einer massenhaft verbreiteten – na was wohl? – faschistischen Gesinnung.

Es scheint ihm durchaus nicht einzufallen, dass die Ursache der Kritik in den kritisierten Verhältnissen liegen könnte und nicht im schlechten Charakter der Kritiker – für einen Linken ein bemerkenswerter Standpunkt!

Dabei haben die genannten Ausdrücke mit Ideologie normalerweise wenig bis nichts zu tun; sie sind schlicht der Versuch, die beobachtete ideologische Konformität der Meinungseliten auf den Begriff zu bringen und zu erklären. Der konservative Normalbürger sieht sich der kafkaesken Situation gegenüber, dass Wahrheiten für unwahr und Unwahrheiten für wahr erklärt werden, dass Konservatismus als Faschismus denunziert wird, dass Zweifel daran als verwerflich zurückgewiesen werden, und dass seine Auffassungen im öffentlichen Diskurs nicht vorkommen – kurz und gut: dass die Selbstbeschreibung unserer Gesellschaft als „pluralistisch“ offensichtlich nur eingeschränkt der Wahrheit entspricht, dies aber von den Meinungseliten geleugnet wird.

Und nun steht er vor dem Problem, sich auf diesen mysteriösen Sachverhalt einen Reim zu machen, wobei ihm, auch wenn er gebildet ist, normalerweise nicht die analytischen Instrumente des Soziologen zur Verfügung stehen. Was tut er? Er greift zu den sich aufdrängenden Erklärungsmustern, und die sind naturgemäß verschwörungstheoretischer Natur. 

In einer solchen Situation, in der Verschwörungstheorien die scheinbar einzig adäquaten Erklärungsmodelle darstellen, kann es nicht ausbleiben, dass auch der Klassiker aller Verschwörungstheorien, nämlich die „jüdische Weltverschwörung“ bemüht wird – gerade in einer Gesellschaft, in der antisemitische Weltdeutungen über Jahrhunderte hinweg in immer neuen Varianten verinnerlicht worden sind, und in der solche Interpretationsmuster daher tief im kollektiven Unbewussten verankert sind.

Wippermann zitiert denn auch ausführlich aus antisemitischen Ergüssen, die im Zusammenhang mit der Herman-Affäre geschrieben worden sind. Er hat schon Recht: Sowohl die Akzeptanz von Verschwörungstheorien überhaupt, als auch deren besonders giftige antisemitische Version sind ernsthafte Gefahren für ein demokratisches Gemeinwesen, und ich selbst habe viele Seiten geschrieben, um zu zeigen, dass verschwörungstheoretisches Denken dem Totalitarismus Tür und Tor öffnet.

Was Wippermann aber nicht sieht, ist, dass Verschwörungstheorien nur dort benötigt und akzeptiert werden, wo die Welt undurchschaubar wird. Eine „Elite“, die die Menschen belügt statt sie aufzuklären, die zum Zwecke ideologischer Dominanz ihre Deutungsmacht missbraucht, die nicht mit Argumenten überzeugen, sondern mithilfe inquisitorischer Verdammungsurteile herrschen will, führt die Undurchschaubarkeit der Welt mutwillig herbei und darf sich nicht wundern, wenn sie die giftigen Früchte ihres Wirkens in Gestalt von Verschwörungstheorien und Antisemitismus erntet. Wippermanns Buch ist die larmoyante Bankrotterklärung einer Elite, die ihre Glaubwürdigkeit verspielt hat und sich nun beklagt, dass ihr niemand mehr glaubt.

Christlicher Fundamentalismus

Die Weihnachts- und Neujahrspause ist vorüber, sogar der Schreibtisch ist wieder geordnet, das Arbeitsjahr hat begonnen. Zeit, mich wieder meinem Blog zu widmen. Ach ja: Frohes Neues Jahr allerseits!

Wieder ist es einer meiner Kommentatoren, diesmal Flash, der mich zu einigen grundsätzlichen Überlegungen herausfordert, und zwar durch seine Kommentare zu meinen Beiträgen über die christlichen Wurzeln der Demokratie und über den Untergang des Römischen Reiches.

Flash ist ein fundamentalistischer Christ, und, soweit ich das beurteilen kann, einer der sympathischen, in jedem Fall aber der geistreichen Sorte. Er vertritt eine Reihe von Thesen, die ich unmöglich unkommentiert stehen lassen kann; da aber die Replik jeden Kommentarstrang sprengen würde, mache ich gleich einen Beitrag daraus.

Es gibt einfach keine Höherentwicklung von Lebensstandard und Zivilisation ohne damit einhergehende Degenerationserscheinungen, die am Ende zu heftigen Umwälzungen führen. Wir erleben m.E. zur Zeit wieder genau das: ein Anschwellen des Wohlstandes mit einhergehendem Verlust von ethischen Prinzipien.

(…)

Ein kulturell-religiöses Vakuum, das der Islam mit wachsendem Erfolg ausfüllt, wo er mit Verve hineindrängt. Es wäre schön, wenn es wenigstens christlichen Fundamentalismus gäbe, der diesem Prozeß Widerstand entgegensetzen würde – den gibt es aber nicht. Mir wäre es echt lieber, wenn im Biologieunterricht die Schöpfungsgeschichte behandelt würde und dafür der Islam chancenlos ist…“

Und an anderer Stelle:

Hier liegt eine der Ursachen für den Niedergang des Christentums in Europa: Selbstdemontage der jahrhundertelang unveränderten Schriftgrundlage durch bibelkritische Theologie.

Insofern ist das eine extrem fundamentalistische Position, die aber nicht “schädlich” oder aggresiv ist, aus dem einfachen Grund, weil eben das zugrundeliegende schriftliche Fundament nicht schädlich und aggressiv ist! Das sollte jeder Fundamentalismus-Kritiker dreimal lesen und auch begreifen. Biblischer Fundamentalismus ist ja eben gerade *pazifistisch, *geschlechterneutral, *gewaltablehnend, *legalistisch, *wissenschaftsfreundlich, *tolerant, *demokratieermöglichend, *bildungs- und leistungsfördernd etc. pp.“

Einige Zeilen zuvor:

Es wäre sicherlich lohnend, einmal von dir erklärt zu bekommen, worin das Schädliche und sogar Denkfeindliche der Schöpfungsgeschichte für die moderne Gesellschaft besteht, lieber Manfred. Das dürfte ein lohnendes, weil brandaktuelles Thema sein.“

Das ist es in der Tat, und ich bin der Meinung, dass eine Gesellschaft, die die biblische Schöpfungsgeschichte als gleichrangige und gleichartige Alternative zur Evolutionstheorie behandelt, über kurz oder lang aufhören wird, eine demokratische Gesellschaft zu sein.

Damit wir uns richtig verstehen: Ich liebe das Buch Genesis. Nur betrachte ich es nicht als naturwissenschaftliches Werk, sondern als Allegorie, die das Verhältnis Gottes zur Welt und zum Menschen in literarischer Verfremdung und Verdichtung beschreibt. Die Wahrheit, die in ihr liegt, hat mit empirischer Wirklichkeit nichts zu tun. Es handelt sich um eine Glaubenswahrheit.

Solche Glaubenswahrheiten, genauer: religiöse Aussagen, unterscheiden sich fundamental von empirischen Aussagen, d.h. solchen über die äußere Wirklichkeit. Letztere können unter Berufung auf Tatsachen in Verbindung mit der formalen Logik angefochten oder bestätigt werden – das Prinzip wissenschaftlicher und überhaupt rationaler Argumentation. Entscheidend ist, dass über die Wahrheit oder Unwahrheit solcher Aussagen nach objektiven, sprich von der Willkür des Einzelnen unabhängigen Kriterien entschieden werden kann.

Es gibt allerdings Dimensionen der menschlichen Existenz – Seele, Ewigkeit, Schöpfung -, über die sich nichts aussagen lässt, was mit empirischen Argumenten gestützt werden könnte, zu denen man sich aber ungeachtet dessen verhalten muss, und denen man sich daher gar nicht anders als durch den Glauben nähern kann – worin auch immer dieser Glaube besteht: Die Grundaussage des Atheismus, Gott existiere nicht, ist ihrem Wesen nach nicht weniger religiös als die, er sei der Schöpfer des Himmels und der Erde. Beweisen oder widerlegen lässt sich weder das eine noch das andere.

Wahrheiten dieser Art haben notwendig einen anarchistischen Zug: Sie sind nicht von objektiven Gegebenheiten abhängig, und für jeden Gläubigen gilt: Was Wahrheit ist, bestimme ich!

Daran ändert sich auch prinzipiell nichts, wenn dieser Glaube von Anderen, und wären es Millionen, geteilt wird. Was sich aber dadurch ändert, ist, dass der Glaube in Gestalt der Religion sozial institutionalisiert wird, und dass das Recht, „Wahrheit“ zu dekretieren, auf ein soziales System übergeht. Dagegen ist so lange nichts einzuwenden, wie das System bereit ist, die sprichwörtliche Kirche im Dorf zu lassen, seinen Wahrheitsanspruch also auf den Bereich zu beschränken, wo Wahrheiten naturgemäß Glaubenswahrheiten sein müssen.

Welche Folgen es aber haben muss, wenn empirische Aussagen auf diesem Wege getroffen, also par ordre du Mufti dekretiert werden, und eben nicht im Wege tatsachenbezogenen rationalen Argumentierens, und welche Implikationen es hat, wenn die Gesellschaft das akzeptiert, wird klar, wenn man nach der Bedeutung des rationalen Diskursmodus für das Funktionieren einer offenen Gesellschaft fragt. Das, was ich den „rationalen Diskursmodus“ nenne, ist ein einfaches System von Spielregeln, mit deren Hilfe Konsens darüber erreicht wird, ob ein System von Aussagen wahr sein kann:

1. Es muss mit bekannten Tatsachen übereinstimmen.

2. Es muss in sich logisch sein.

3. Es muss prinzipiell durch Tatsachen widerlegbar sein.

Man kommt auf diesem Wege nicht etwa zu der Wahrheit schlechthin; mit den bekannten Fakten können durchaus mehrere konkurrierende Aussagesysteme kompatibel sein, die jeweils in sich schlüssig und prinzipiell falsifizierbar sind. Es kann auch sein, dass kein einziges der „auf dem Markt“ befindlichen Aussagesysteme wahr ist (weil noch keiner auf die Wahrheit gekommen ist). Und es ist theoretisch sogar möglich, dass prinzipiell nichtfalsifizierbare Aussagen, die man auf rein spekulativem Wege gewonnen hat (Etwa: Der liebe Gott hat einen langen weißen Bart), trotzdem wahr sind. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, aber möglich ist es. In einem solchen Fall könnten sie, ungeachtet ihrer inhaltlichen Richtigkeit, wegen ihres Verstoßes gegen Kriterium 3 niemals als potenzielle Wahrheiten sozial anerkannt werden.

Wozu also taugt der rationale Diskursmodus, wenn nicht dazu, zu garantiert wahren Aussagen zu gelangen? Gewiss zur Eliminierung von garantierten Irrtümern – aber dazu würden schon die Kriterien 1 und 2 genügen. Wozu also Kriterium 3? Und zwar nicht im wissenschaftlichen, sondern im allgemeingesellschaftlichen, speziall politischen Kontext, d.h. dort, wo es darum geht, allgemeinverbindliche Entscheidungen zu treffen, die die Freiheit des Einzelnen beschränken? Es dient dazu, zu verhindern, dass solche Entscheidungen auf der Basis von Wahrheitsansprüchen getroffen werden, die einer Überprüfung nicht zugänglich sind, sondern von partikularen Gruppen aus eigener Machtvollkommenheit erhoben werden!

Aussagesysteme, die dem Kriterium 3 nicht entsprechen, sind ihrer Struktur nach, d.h. unabhängig von ihrem Inhalt, Glaubenssysteme; ihre Nichtüberprüfbarkeit ist gleichbedeutend mit Nichtkritisierbarkeit, mit dem Anspruch auf absolute Wahrheit, und ist damit die ideologische Grundlage totalitärer Herrschaft.

Beispiele gefällig?

Der Islamismus beruht auf der Annahme, der Koran sei unmittelbar Gottes Wort; weswegen es geboten sei, jeglichen Widerstand gegen seine sozialen und politischen Forderungen mit Gewalt zu brechen.

Der Marxismus beruht auf der Annahme, das Proletariat habe die historische Mission, den Kommunismus zu errichten, und habe deshalb alle anderen Klassen zu vernichten.

Der Nationalsozialismus beruht auf einer antisemitischen Verschwörungstheorie. (Eine Verschwörungstheorie ist niemals falsifizierbar, weil sie alle ihr widersprechenden Tatsachen als Blendwerk eben der behaupteten Verschwörung abtut, also zirkulär argumentiert.)

(Und wenn man die Political Correctness als totalitäre Ideologie bezeichnet, so liegt dies im Kern daran, dass sie Tatsachenbehauptungen nicht nach dem Kriterium von „wahr“ und „unwahr“, sondern nach dem von „gut“ und „böse“ beurteilt, sich also der tatsachengestützten Kritik durch apriorische willkürliche Setzung entzieht.)

Solche Ideologien kann man nicht dadurch bekämpfen, dass man sie mit ihnen widersprechenden Tatsachen konfrontiert; gegen Tatsachen haben sie sich ja gerade immunisiert. Ich kann die Nichtexistenz der  Verschwörung der Weisen von Zion genausowenig beweisen wie die Nichtinspiration des Korans durch Gott oder die Unrichtigkeit marxistischer Axiome.

Was ich aber beweisen kann, ist die Selbstimmunisierung solcher Ideologien gegen Tatsachen durch systematisch herbeigeführte prinzipielle Nichtfalsifizierbarkeit, also durch Verletzung der Regeln des rationalen Diskurses. Diese an sich schärfste Waffe antitotalitärer Ideologiekritik muss stumpf werden, wenn diese Regeln nicht mehr als allgemein geläufig vorausgesetzt werden können. Dabei kommt es nicht darauf an, dass sie jedermann explizit bekannt sind: Die Regeln der Grammatik sind es ja auch nicht, trotzdem wenden wir sie richtig an. Diese Fähigkeit ist die Voraussetzung dafür, Glaubenssysteme als solche zu erkennen und von rational begründeten empirischen Aussagesystemen zu unterscheiden. Sie ist gleichbedeutend mit der Fähigkeit, totalitäre von nichttotalitären Ideologien zu unterscheiden, und eine Gesellschaft, die diese Fähigkeit verliert, hat beste Aussichten, irgendeinem Totalitarismus zum Opfer zu fallen.

Womit die Frage beantwortet sein dürfte, warum ich überhaupt nichts davon hielte, wenn der demokratische Staat selbst, noch dazu in seinen Bildungseinrichtungen (!) sich über diesen Unterschied hinwegsetzte und ihn verwischte, indem er den „Kreationismus“ in seine Lehrpläne aufnähme.

Zwei Punkte muss ich allerdings klarstellen:

Erstens: Ich habe nur von empirischen, nicht aber von normativen Aussagen gesagt, dass sie nicht religiös begründet sein dürfen; für moralische Wertentscheidungen gilt dies selbstverständlich nicht; die können als höchst individuelle Entscheidungen sehr wohl religiös begründet sein – wahrscheinlich müssen sie es sogar. Wertvorstellungen, die z.B. direkt aus der Bibel abgeleitet sind, können zwar im Einzelfall mit demokratischen Normen unvereinbar sein (Wer etwa die Todesstrafe für Homosexualität fordert, kollidiert natürlich mit dem Grundgesetz.), aber eben nur aufgrund ihres konkreten Inhalts, nicht etwa schon deshalb, weil sie religiös begründet sind.

Zweitens: Wenn ich sage, dass jede totalitäre Ideologie notwendig ein Glaubenssystem ist, so lässt das bereits aus Gründen der Formallogik nicht den Umkehrschluss zu, jedes Glaubenssystem sei totalitär.

Flash (s.o.) argumentiert so: Da sich aus der Bibel keine politischen Herrschaftsansprüche ableiten ließen, vielmehr Friedfertigkeit, Humanität und Toleranz gepredigt würden, sei gegen ein fundamentalistisches Bibelverständnis nichts einzuwenden, im Gegenteil. Motto: Das schlechthin Gute kann man gar nicht fundamentalistisch genug vertreten!

Tja, wenn es denn so einfach wäre. In mindestens zwei Punkten führt ein wörtliches Schriftverständnis bzw. der Glaube an die Verbalinspiration der Bibel und der Verzicht auf die historisch-kritische Lesart zu äußerst problematischen Konsequenzen:

Da ist zum einen die antijüdische Tendenz des Neuen Testaments. Historisch erklärbar ist sie aus der Notwendigkeit der Profilierung des frühen Christentums und seiner Abgrenzung gegen die jüdische Mutterreligion. Fasse ich die Bibel aber einfach ohne Einschränkung als Gottes Wort auf, so habe ich es mit einer angeblich göttlichen Legitimation des Antisemitismus zu tun. Der Satz „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ ist dann kaum anders zu verstehen denn als Aufruf zum Pogrom  – und genau so wurde er ja auch oft genug verstanden.

Zum anderen enthält das Neue Testament nicht nur die Bergpredigt, sondern auch die Johannesapokalypse (das neutestamentliche Gegenstück zum Buch Daniel), die Vision des Endkampfs zwischen Gut und Böse, nach der das Reich Gottes durch Vernichtung des Bösen, das bis dahin die Welt beherrscht, errichtet wird. Nicht zufällig konnte gerade dieser Text nur gegen härteste innerkirchliche Opposition durchgesetzt werden, wurde er von der Ostkirche jahrhundertelang abgelehnt, und meinte noch Martin Luther, er hätte niemals kanonisiert werden dürfen. Dieses von Anfang an weitverbreitete Unbehagen hat seinen Grund darin, dass die Apokalypse direkt an dunkle Zerstörungs- und Vernichtungstriebe appelliert, das fünfte Gebot zur Disposition stellt und dazu einlädt, Feinde nicht zu lieben, sondern mit dem „Antichristen“ zu identifizieren.

Kein Zufall ist auch, dass gerade totalitäre Ideologien eine apokalyptische Struktur aufweisen: Die Welt wird vom Bösen (den Juden/dem Kapitalismus/den Ungläubigen) beherrscht, dessen Vernichtung, gern auch im Wege des Massenmords, zur Herrschaft des Guten (der Arier/des Kommunismus/des Islam) führt. Ich will damit nicht behaupten, dass das Christentum für den Totalitarismus verantwortlich sei, wohl aber, dass in vielen Menschen eine psychische Disposition schlummert, ihr Leiden und ihre Verzweiflung an der Welt auf einen Feind zu projizieren, dessen Vernichtung die Erlösung herbeiführen soll – und da der Feind weltbeherrschend gedacht wird, vernichtet man diese Welt, das eigentliche Objekt der Furcht und des Hasses, möglichst gleich mit.

Dieser Zusammenhang zwischen Apokalyptik und Totalitarismus ist der Grund dafür, warum ich stets sehr hellhörig werde, wenn ich auf Verschwörungstheorien nach Art der Eurabia-These stoße (die ja nicht weniger behauptet als die Herrschaft des Bösen, also des Islam und der ihm angeblich konspirativ in die Hände arbeitenden europäischen Eliten), und warum ich diese Theorien mit allen Mitteln rationalen Argumentierens bekämpfe – freilich ohne nennenswerten Erfolg: Es handelt sich um ein Glaubenssystem, und wer ihm anhängt, ist, so fürchte ich, nicht nur für die Demokratie verloren, sondern für die säkulare Vernunft überhaupt.

Wenn ich nun sehe, dass sich gerade in fundamentalistischen (evangelikalen, pfingstlerischen, freikirchlichen) Kreisen die johanneische Tradition, und hier wiederum ganz besonders die Apokalypse, größter Beliebtheit erfreut, dann kann ich kaum anders, als dem christlichen Fundamentalismus mit tiefstem Misstrauen gegenüberzustehen, und dies ganz unabhängig davon, dass manche seiner Vertreter mir menschlich sympathisch sind.

Mit alldem ist allerdings nicht die Frage vom Tisch, ob eine glaubenslose Gesellschaft auf die Dauer überlebensfähig ist, und wenn Flash behauptet, dass mit der Höherentwicklung einer Gesellschaft zwangsläufig Degenerationserscheinungen verbunden seien – er verweist unter anderem auf den Zerfall der Familie -, die letztlich zum Niedergang führen müssten, dann hat er starke Argumente auf seiner Seite. Ziemlich starke sogar.

Höherentwicklung, das sagt die historische Erfahrung wie die soziologische Überlegung, geht einher mit Aufklärung und Rationalität – was für mich Grund genug ist, für Aufklärung und Rationalität einzutreten. Sie bedeuten freilich zugleich, dass Alles, auch ethische Normen, unter Begründungszwang gerät, weil sie dem primären Fundament der Ethik, der Religion, seine unhinterfragte Selbstverständlichkeit und soziale Verbindlichkeit nehmen, und Religion zu einer Frage der mehr oder minder willkürlichen individuellen Entscheidung machen – ich selbst habe ja oben gezeigt, dass jede andere Auffassung von Religion mit den Grundlagen einer offenen Gesellschaft unvereinbar ist.

Gesellschaft funktioniert, wenn die Goldene Regel beachtet wird: „Wie Ihr wollt, dass die Leute Euch tun sollen, also tut ihnen auch.“(Lk 6,31). Eine rationale Reformulierung dieser Forderung hat Kant mit seinem kategorischen Imperativ geliefert. Dass diese Regel gelten und wenigstens im Großen und Ganzen befolgt werden muss, weil die Gesellschaft sonst nicht existieren kann, lässt sich rational begründen – nicht aber, dass der Einzelne sie befolgen soll. Der kategorische Imperativ impliziert, dass man unter Umständen erhebliche individuelle Opfer in Kauf nehmen soll, um einen winzigen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten; diese Opfer reichen von der Steuerehrlichkeit bis zum Heldentod fürs Vaterland. Aus der Sicht des Einzelnen ein schlechtes Geschäft: Rationaler ist es für ihn, das von Anderen getragene Gemeinwohl in Anspruch zu nehmen, selbst aber nichts dazu beizutragen. Die Mentalität des Schwarzfahrers.

Zur Aufrechterhaltung allgemeiner sozialer Tugenden wie der Ehrlichkeit, denen man mit relativ geringem persönlichen Aufwand folgen kann, mag der menschliche Hang zum Konformismus noch hinreichen – Nutzenkalkül hin oder her -, zumindest solange der Ehrliche den Eindruck hat, nicht der Dumme zu sein.

Sobald aber dieses Minimum an geforderter sozialer Solidarität überschritten wird, sobald wirkliche Opfer zur Debatte stehen, schrumpft die Bereitschaft dazu dramatisch. Wo Solidarität selbst in der kleinsten denkbaren Gemeinschaft von Menschen, der Ehe, nicht mehr als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt werden kann und kaum noch ein Problem nichtig genug ist, um nicht einen Scheidungsgrund abzugeben, braucht man nach der Bereitschaft nicht mehr zu fragen, für eine Großgemeinschaft, etwa das eigene Land und dessen Freiheit – oder gar für den „Westen“ – das eigene Leben zu riskieren.

In stabilen Zeiten von Frieden und Prosperität, gleichsam im Normalbetrieb, fällt diese Schwäche kaum auf. Solange von den Bürgern bloß passive Loyalität gefordert wird, ist diese Loyalität in liberalen Demokratien vermutlich größer als anderswo. Wie aber sieht es im Fall einer existenziellen Bedrohung aus, wenn der Staat mit seinen administrativen und militärischen Bordmitteln nicht mehr auskommt und nicht nur den Geldbeutel seiner Bürger strapazieren, sondern sogar deren Leben einsetzen muss, um sich zu verteidigen? Anders gefragt: Wie konfliktfähig sind offene Gesellschaften?

Man sollte meinen, dass diejenige politische Ordnung, die ihren Bürgern das höchste Maß an Freiheit, Sicherheit und Wohlstand beschert, die liberale Demokratie also, auch das größte Maß an Unterstützungs- und Opferbereitschaft zu mobilisieren imstande ist. So ist es aber nicht.

Wenn man beispielsweise die Verlustlisten des Zweiten Weltkriegs anschaut, so fällt auf, dass die totalitären Staaten Deutschland, Sowjetunion und Japan an die zwanzig Millionen eigene Soldaten geopfert haben, die Westmächte dagegen „nur“ einige hunderttausend. Natürlich hängt das auch mit dem Kriegsverlauf zusammen – Frankreich brach früh zusammen, und bis die Westmächte in Europa wieder eingreifen konnten, hatten die Russen die Hauptarbeit bereits erledigt und zogen weiterhin das Gros der deutschen Truppen auf sich. Und selbstverständlich bin ich nicht so zynisch, die Verlustraten einer Armee als Maß ausschließlich für die Opferbereitschaft eines Volkes anzusehen; nicht selten sind sie eher ein Maß für die Brutalität und Inkompetenz ihrer Führer – eigene Soldaten draufgehen zu lassen ist in jedem Fall weder eine politische noch eine militärische Tugend.

Aber selbst wenn man diese Relativierungen berücksichtigt, bleibt der Unterschied doch frappierend, und man sollte nicht nur bedenken, dass am Beginn des Krieges die Frage stand, ob es sich wirklich lohne, für Danzig zu sterben, sondern auch, dass die Verlustquoten, die der Westen in Kauf nahm, im Zweiten Weltkrieg bereits geringer waren als im Ersten, und seitdem kontinuierlich fallen: In Vietnam warfen die USA nach 50.000 Toten das Handtuch, heute im Irak genügen schon 3.000 eigene (amerikanische) Gefallene, um den Krieg zu delegitimieren. Oder nehmen wir Deutschland: Dasselbe Volk, das sich von Hitler noch eine Verlustquote von 25 Prozent bieten ließ, ohne wirklich zu murren, stellt heute bei einer Quote noch unter der Promille(!)-Grenze bereits den Sinn von Militäreinsätzen überhaupt in Frage.

Warum und wie schaffen es totalitäre Systeme, Millionen von Menschen zum Selbstopfer zu bewegen? Durch Terror? Sicher, auch durch Terror. Überschätzen sollte man diesen Faktor aber nicht. In der Praxis des Dritten Reiches zum Beispiel spielte der Terror zwar eine bedeutende Rolle, soweit er sich gegen das Ausland oder gegen vorab ausgegrenzte Minderheiten, speziell Juden, richtete; aber er hatte den Zweck, diese Menschen zu ermorden, nicht ihr Wohlverhalten zu erzwingen. Gegen die eigenen „Volksgenossen“ war das Dritte Reich nicht wesentlich gewalttätiger als irgendeine Militärdiktatur, vermochte aber ein Maß an Begeisterung und Opferbereitschaft zu wecken, von dem etwa ein Pinochet kaum hätte träumen können.

Nein, die Sträke der totalitären Regime lag darin, dass sie in der Lage waren, den Menschen einen das eigene Leben transzendierenden Sinn zu vermitteln – wer am Bau eines „Tausendjährigen Reiches“ oder des welterlösenden Kommunismus mitzubauen glaubt, wird sich der Teilhabe an der Ewigkeit ziemlich nahe fühlen. Ihre Ideologien waren säkulare Religionen, deren gemeinschaftsstiftende und motivierende Kraft den klassischen Religionen mindestens gleichkam. Man versteht das damalige Deutschland, Russland und Japan am besten, wenn man sie als apokalyptische Massensekten auffasst, die eine ungeheure Dynamik und Leistungsfähigkeit zu entfesseln fähig waren.

Was also vom erkenntnistheoretischen oder liberalen politischen Standpunkt eine Kritik an totalitären Ideologien ist – nämlich dass sie Glaubenssysteme sind – und eine Kritik an Glaubenssystemen – nämlich dass sie eine totalitäre Schlagseite haben – ist kein zwingendes Argument gegen die Überlebensfähigkeit der von ihnen geprägten Gesellschaften, schon gar nicht, soweit ihr Überleben von ihrer Konfliktfähigkeit abhängt.

Ich bin nicht überzeugt davon, dass diese Schwäche westlicher Gesellschaften am Ende tödlich sein muss – zu deutlich und gewichtig sind die sie kompensierenden Stärken. Aber eine Schwäche ist es allemal, und insofern geht der Punkt an Flash.

Dessen Argument zielt allerdings tiefer als auf die bloße Konfliktfähigkeit westlicher Gesellschaften. Er behauptet, dass eine säkulare, aufgeklärte, rationale und liberale Gesellschaft auch ganz unabhängig von äußeren Konflikten auf die Dauer nicht existenzfähig sei, weil das von ihr erzeugte Vakuum an Spiritualität und Moral das grundlegende religiöse Bedürfnis der Menschen nach einem transzendenten Sinn vernachlässige, und dass dieses Bedürfnis sich über kurz oder lang Bahn brechen müsse, sodass wir auf die Dauer nur die Wahl zwischen einer Islamisierung und einer Re-Christianisierung hätten. Einem islamischen Fundamentalismus aber sei ein christlicher allemal vorzuziehen.

Dass eine säkulare Gesellschaft auf die Dauer dem Ansturm der Religiosität erliegen müsse, ist eine These, die ich stark anzweifle:

Es ist schon richtig, dass es diese religiösen Bedürfnisse gibt, und dass ein säkularer Rationalismus sie nicht befriedigen kann. Noch in der moralisierenden Ideologie der Political Correctness – deren Verfechter man ja nicht umsonst als „Gutmenschen“ veralbert – drückt sich ein Bedürfnis nach „Heiligkeit“ aus, das bei einem soliden Fundamentalismus zweifellos besser aufgehoben wäre als bei einer linken Ideologie. Allerdings zeigt dieses Beispiel auch, wohin es führt, wenn man religiöse Kategorien – wie verkappt oder pervertiert auch immer – in die Politik einführt.

Ich kann aber überhaupt nicht erkennen, dass eine Rückbesinnung auf den christlichen Glauben – die ich für wünschenswert halte – zwangsläufig dazu führen müsste, dass man in Fundamentalistenmanier mit der Bibel in der Hand in Politik und Wissenschaft herumfuhrwerkt und die Grundlagen der säkularen Demokratie und der rationalen Wissenschaft angreift. Wozu sollte man das tun? Um die Islamisierung zu stoppen? Die beruht nicht darauf, dass der Islam irgendwelche vom Christentum vernachlässigten spirituellen Bedürfnisse erfüllen würde; das tut vielleicht der Buddhismus. Im Hinblich auf Humanität, Spiritualität, erlösende Kraft und theologische Tiefe, d.h. als Religion, ist der Islam selbst einem verwässerten Christentum oder Judentum so hoffnungslos unterlegen, dass er sich ihnen gegenüber nie anders als mit Gewalt durchsetzen konnte und kann. So gefährlich der Islam als politische Ideologie ist, so armselig ist er als Religion.

Das Christentum spielt eine wichtige Rolle beim Kampf gegen die Islamisierung, aber nur, wenn es seine Stärken ausspielt – seine religiöse Tiefe und Kraft -, nicht, wenn es fundamentalistisch versucht, die Bibel zur Basis politischer Programme und wissenschaftlicher Thesen zu machen.

Keine Regel freilich ohne Ausnahme: Wo es darum geht, den Islam frontal anzugreifen, also Muslime zu missionieren, oder, in der Sprache der entsprechenden Kreise: ins 10/40-Fenster einzudringen, können Christen, die sich das vornehmen, gar nicht fundamentalistisch genug sein. Mit ihrem wörtlichen Bibelverständnis, ihrer konservativen Sozial- und Sexualmoral, überhaupt ihrer starken Betonung sozialer Normen und nicht zuletzt ihrem – Pardon! – Fanatismus dürften gerade evangelikale Fundamentalisten unter allen christlichen Glaubensrichtungen am besten für die Mission aufgestellt sein, weil ihre Auffassung von Religion der von Muslimen am nächsten kommt. So gesehen, wäre es doch ein Fortschritt, wenn im Biologieunterricht die biblische Schöpfungsgeschichte behandelt würde.

In Saudi-Arabien.

Was der Fall Dejagah uns lehrt

Ein, sagen wir, Chinese wird in Amerika eingebürgert und nimmt seinen neuen Pass entgegen. Nach allem, was wir über US-Einwanderer wissen, fühlen sie sich vom ersten Moment an als Amerikaner, sind stolz darauf und empfinden sich als quasi nachträgliche Mitkämpfer von George Washington und Abraham Lincoln. Mit anderen Worten: Sie identifizieren sich mit ihrem Land und empfinden dessen Geschichte als ihre eigene.

Für einen frischgebackenen Deutschen ist diese Art Identifikation sicher nicht unproblematisch – so wenig wie für die gebürtigen Deutschen. Identifikation – das heißt für einen Deutschen ja nicht nur: Wir haben Goethe und Thomas Mann hervorgebracht, wir sind das Volk von Leibniz und Schopenhauer, wir haben das Wirtschaftswunder geschafft und sind dreimal Fußballweltmeister geworden. Es heißt eben leider auch: Wir haben sechs Millionen Juden gekillt.

Ich verstehe Jeden, der damit nichts zu tun haben möchte. Wenn sich aber jemand „Deutscher“ nennt und daraus Ansprüche ableitet, dann kann ich ihm nicht das Recht zugestehen, so zu tun, als ginge ihn die deutsche Geschichte nichts an. Auch nicht, wenn er aus Teheran stammt.

Der deutsche U-21-Fußballnationalspieler Ashkan Dejagah, der neben seinem deutschen auch einen iranischen Pass hat, hat es bekanntlich abgelehnt, zu einem Länderspiel in Tel Aviv anzutreten, und er hat durchblicken lassen, dass für diese Entscheidung politische Gründe maßgeblich waren.

Mir geht es nicht darum, diesen jungen Kerl an den Pranger zu stellen, mit geht es um das Exemplarische dieses Falls – es gibt viele Dejagahs, denen man einen deutschen Pass in die Tasche gesteckt hat, ohne zu fragen, ob sie das Selbstverständnis der Nation teilen oder auch nur begriffen haben, ob sie Deutschland wirklich als ihr Land empfinden, und ob sie bereit sind, für die Werte einzutreten, für die Deutschland steht.

Man hat ganz juristisch-technokratisch die Einbürgerung zu einem Anspruch jedes Menschen gemacht, der bestimmte objektive Voraussetzungen erfüllt, ja man wirbt sogar für die Einbürgerung. Müssen wir uns da wundern, dass viele der so Eingebürgerten sich auf den Standpunkt stellen, nicht sie schuldeten unserem Land und seinen Werten Loyalität, sondern wir, die Mehrheitsgesellschaft, schuldeten ihnen Toleranz, und sei es für ihren Antisemitismus und sonstige Fanatismen? Müssen wir uns wundern, dass die einen sich zu Terroristen ausbilden lassen und die anderen ihren privaten Judenboykott ausrufen? Dass ihre Loyalität nicht Deutschland gilt, sondern ihrem Heimatland, ihre Solidarität nicht der bedrängten israelischen Demokratie, sondern der iranischen Theokratie, und dass sie nichts dabei finden, noch einmal sechs Millionen Juden in Rauch aufgehen zu lassen?

 

 

Aktuelle Literatur zum Stichwort „Iran“