Aus aktuellem Anlass, nämlich wegen der unsäglichen Predigten von Margot Käßmann auf dem evangelischen Kirchentag und der auch hier zitierten Kritik an ihr und ihrem Geistesverwandten Küng, zitiere ich mich selbst, genauer: Auszüge aus Kapitel V.10.1. des Dschihadsystems, „Synkretismus als Kern westlicher Religiosität“. (Für die, die „Das Dschihadsystem“ schon kennen und den Text daher schon gelesen haben: Lest ihn eben nochmal. 😀 ):
„Ob man die Tolerierung, Legalisierung, bisweilen sogar Propagierung von Dingen wie Abtreibung, Ehebruch, Pornographie, Prostitution oder öffentlicher Zurschaustellung von Homosexualität nun als Befreiung begrüßen möchte oder nicht: Sie zeigen an, dass das tradierte, am Christentum orientierte gesellschaftliche Normensystem in Auflösung begriffen ist. Die Individualisierung und Subjektivierung des Glaubens auf Kosten seiner sozialen, seiner objektiven und institutionellen Komponente ist so weit fortgeschritten, dass selbst vielen jener Menschen, die sich noch als Christen verstehen (und das ist in manchen europäischen Ländern inzwischen eine Minderheit), der Gedanke fremd ist, dass etwa das Trinitätsdogma zum Kern christlichen Glaubens gehören, oder dass überhaupt das Christentum Wahrheiten verkünden könnte, wo andere Religionen möglicherweise im Irrtum sind.
Überspitzt könnte man sagen, das Zentraldogma heutiger europäischer Christen sei nicht mehr die Trinität oder die Inkarnation (=Menschwerdung Gottes in Christus), sondern die Gleichwertigkeit aller Religionen. Wer heute öffentlich sagen wollte, der Islam oder irgendeine andere Religion sei eine Irrlehre, würde sich sich in weiten Teilen unserer Gesellschaft unmöglich machen – auch, ja sogar besonders, in kirchennahen Kreisen. Dabei ist diese Behauptung unabweisbar die notwendige Kehrseite des Glaubens an die jeweils eigene Religion, hier also das Christentum. Wer alle Religionen für gleichwertig erklärt, gibt implizit den Wahrheitsanspruch der eigenen auf.
Hans Küngs Motto „Kein Weltfriede ohne Religionsfriede“, das ich im zweiten Kapitel schon einmal kritisiert habe, weil es die politischen Probleme, die im Zusammenhang mit dem Islam auftreten, zu Problemen der Religion schlechthin erklärt, schiebt der Religion als solcher, genauer: dem jeweils exklusiven Wahrheitsanspruch der einzelnen Religionen, die Schuld am Unfrieden in der Welt zu. Abgesehen davon, dass der Politikwissenschaftler über derart apodiktisch formulierte Patentrezepte für den Weltfrieden den Kopf schütteln möchte, läuft Küngs Diagnose in der Praxis darauf hinaus, eigene Glaubensartikel dort abzuschwächen oder gar zu ändern, wo sie in den Augen Andersgläubiger irgendwie anstößig sein könnten.
Dabei wird ganz nebenbei ein politisches Projekt, nämlich der Weltfriede, zum Maßstab für die Gültigkeit theologischer Aussagen gemacht. Unter solchen Prämissen muss es niemanden wundern, wenn christliche Gemeinden mit muslimischen den Geburtstag Mohammeds feiern. Die Ablehnung von dessen Lehre ist für Christen zwar theologisch zwingend, aber wenn der „Religionsfriede“ und dessen vermeintliche Voraussetzungen jeden anderen Gesichtspunkt verdrängen, d.h. unter politischen Vorgaben, scheint derlei theologische Inkonsequenz nachrangig zu sein.
Weite Teile der Öffentlichkeit, auch viele Christen (und nicht etwa nur die Protestanten unter ihnen) hängen einem Religionsverständnis an, wonach „alle Religionen dasselbe wollen“ – nämlich Liebe und Frieden – und die Unterschiede zwischen ihnen die mehr folkloristische Drapierung dieses „gemeinsamen“ Kerns darstellten. Eine solche Gemeinsamkeit lässt sich nicht anders fingieren als dadurch, dass man all diejenigen Wesenszüge der eigenen Religion, durch die diese sich von anderen unterscheidet, zum nebensächlichen Beiwerk erklärt und die verschiedenen Religionen gleichsam nur als unterschiedliche Benutzeroberflächen für ein und dasselbe „Weltethos“ auffasst. Übrig bleibt eine banalisierte und infantile „Theologie“, die sich im wesentlichen auf ein „Seid nett zueinander!“ beschränkt, und die ihrer Plattheit wegen kaum jemandem wird mehr sein können als ein dekoratives Accessoire des eigenen Lebens – ungefähr so bedeutsam wie der Blumenstrauß auf dem Tisch, und kaum dauerhafter.
Wahrscheinlich ist es denen, die so denken, kaum bewusst, aber diese Reduzierung der je eigenen Theologie auf ein global anschlussfähiges Minimum, auf ein „Weltethos“, das einer Gottheit oder überhaupt eines übernatürlichen Bezuges im Grunde nicht mehr bedarf, ist der vorletzte Schritt vor der Abschaffung von Religion überhaupt.
(…)
Ein Weltethos, also die gemeinsame Bezugnahme unterschiedlicher Religionen auf einen synkretistischen Kern, kann nur befürworten, wer zwei Prämissen bejaht, die Viele für selbstverständlich halten, die aber in Wahrheit in hohem Maße ideologisch aufgeladen sind.
Die eine lautet, alle Religionen wollten im Grunde dasselbe. Wenn damit nur gemeint wäre, dass alle Religionen versuchen, auf Grundfragen der menschlichen Existenz eine Antwort zu geben: D’accord. Wenn man aber diesen Satz, wie es meist geschieht, so gebraucht, als wären diese Antworten dieselben, so dürfte allein die Korananalyse gezeigt haben, dass diese Behauptung haltlos ist.
Die zweite ideologische Prämisse wird uns in letzter Zeit in kampagnenartiger Form nahegebracht – ich denke hierbei an Bestseller wie Richard Dawkins‘ „Der Gotteswahn“ oder die massive öffentliche Werbung für Atheismus. Sie besagt im Großen und Ganzen, dass Religionen prinzipiell intolerant und gewalttätig seien, und dass ihre Abschaffung zum Weltfrieden führen werde. Theoretisch ist diese zweite Prämisse zwar unvereinbar mit der ersten (Wenn alle Religionen dasselbe wollen, woher sollte dann die Intoleranz kommen?), praktisch aber liefern sie einander ergänzende ideologische Rechtfertigungen für ein und dasselbe Projekt.
Dabei lässt sich diese zweite Prämisse bereits unter Rückgriff auf elementare Geschichtskenntnisse widerlegen: Die totalitären Systeme des zwanzigsten Jahrhunderts – Kommunismus und Nationalsozialismus – haben mehr Menschen getötet als alle Religionen der Weltgeschichte zusammen.
Diese totalitären Systeme aber tauchten genau in dem Moment auf, wo das Christentum durch die spektakulären Erfolge von Aufklärung und Wissenschaft in seiner gesellschaftlichen Verbindlichkeit und Deutungsmacht erstmals ernsthaft erschüttert war, und sie erhoben von Anfang an den Anspruch, das Christentum als ein das Leben des Einzelnen transzendierendes sinnstiftendes System, sprich: als Religion, abzulösen.
Der Versuch, Gott aus der Gesellschaft zu verbannen, kann also gelingen, nicht aber der Versuch, die Frage zu verbannen, auf die Gott die Antwort war, nämlich die Sinnfrage. Der Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts ist der denkbar stärkste empirische Beleg dafür, dass der Platz, den Gott verlässt, nach seinem Abgang nicht etwa leer bleibt, sondern sehr schnell wieder gefüllt wird, und sei es mit einem totalitären Wahnsystem. Die empfindlichste Achillesferse des Atheismus ist die Tatsache, dass er als die linke Ideologie, die er ist, die Herrschaft Gottes ebenso abschaffen will wie jede andere Herrschaft; dass er nie begriffen hat, wie sehr Herrschaft – und ganz gewiss diese! – den Bedürfnissen der „Beherrschten“ entspringt; und dass er deshalb stets aufs Neue überrascht sein muss, wie schnell der Totalitarismus von gottverlassenen Gesellschaften Besitz ergreift.
Wenn man bedenkt, wie sehr offenbar gerade religionsfeindliche Ideologien dazu tendieren, selber zur Religion zu werden, dann erscheint der Synkretismus als erstklassiger Kandidat für einen künftigen Religionsersatz. Zumindest ein wesentliches Kriterium erfüllt er bereits, nämlich die Bezugnahme auf eine eigenständige Definition von Gut und Böse. „Böse“ ist demnach jede Religion, die ihre theologische Integrität behält und sich weigert, in einem „Weltethos“ aufzugehen. Betroffen von der rapide um sich greifenden Intoleranz gegenüber jeder einigermaßen ernstgenommenen Religion sind sogenannte christliche Fundamentalisten, einschließlich des Papstes.
Betroffen ist aber auch der Staat Israel, weil und soweit er auf seiner jüdischen Identität beharrt. Überhaupt haben die Juden alle Aussichten, in der sich abzeichnenden neuen synkretistischen Weltreligion die Rolle des Teufels einzunehmen: Eine Religion wie die jüdische, deren Grundgedanke der Bund des Volkes mit Gott ist, und der eine Entgrenzung und Einschmelzung schon deshalb nicht möglich ist, weil diese auf einen Autogenozid hinausliefe, eine solche Religion muss für den Synkretismus ein ebenso existenzielles Ärgernis darstellen wie schon zuvor für das Christentum und den Islam. Die Juden werden also die Ideologen des Synkretismus in derselben Weise enttäuschen, wie sie schon den Propheten Mohammed und den Reformator Martin Luther enttäuscht haben (vgl. Kap. III), und sie werden damit über kurz oder lang das Verdikt des „Fundamentalismus“ auf sich ziehen.