Nachklatsch zur Europameisterschaft

So, nun wissen wir also, wo unsere Nationalmannschaft steht; und ich hoffe, niemand beim DFB bildet sich ein, sie sei die zweitbeste Europas. So aussagekräftig ist das Classement bei einer EM nicht. Der inoffizielle Titel eines „Vizeweltmeisters“ macht noch etwas her (obwohl wir ja 2002 gesehen haben, dass man zu so einem Titel auch kommen kann wie die Jungfrau zum Kinde) – „Vizeeuropameister“ dagegen ist so etwas Ähnliches wie die Goldene Ananas. Jedenfalls spricht wenig dafür, dass unsere Mannschaft gegen Holland oder Russland, oder selbst gegen Italien, wesentlich besser ausgesehen hätte als gegen Spanien.

 

Dieses Finale war die Stunde der Wahrheit, und zwar gerade für den, der sich vergegenwärtigt, was alles nicht verkehrt war: Es fehlte nicht an der Einstellung, nicht an der Kampfmoral, nicht an der richtigen Taktik. Man kann auch nicht behaupten, dass die Spieler die Taktik nicht verstanden oder sich nicht redlich bemüht hätten, sie umzusetzen. Sie konnten es einfach nicht!

 

Diesen schnellen, offensiven, flüssigen modernen Kombinationsfußball (War eigentlich jemals etwas Anderes „modern“?), den beherrschen sie durchaus – solange der Gegner sie lässt und nicht versucht, durch aggressives Stören den Spielfluss der Deutschen zu unterbrechen. Ein solch freundlicher Gegner war zum Beispiel Portugal, und ich wette, die Portugiesen beißen sich jetzt in den Allerwertesten, wo sie nun wissen, wie sie hätten spielen müssen. Die Kroaten, weiß Gott keine galacticos, hatten schon gezeigt, dass die Deutschen sich gegen einen robusten Destruktionsfußball nicht durchsetzen können; im Rückblick wird deutlich, dass das Kroatienspiel nicht der Ausrutscher war, für den wir es halten wollten, sondern eine tiefer liegende Schwäche aufgedeckt hat. Die Spanier, eleganter, aber nicht weniger entschlossen, haben diese Lehre auf höherem Niveau bestätigt.

 

Mehr noch: Sie haben gezeigt, dass eine wirklich große Mannschaft sich auch gegen einen Gegner behauptet, der es darauf anlegt, ihr Spiel zu zerstören, so wie die Deutschen es versuchten. Sie haben ferner gezeigt, dass man seinerseits das Spiel des Gegners zerstören kann, ohne selber Rumpelfußball zu spielen.

 

Unsere Mannschaft dagegen verliert den Faden, sobald sie unter Druck gerät – da werden reihenweise Fehlpässe gespielt, und sogar die Ballannahme sieht abenteuerlich aus. Da braucht es schon Gegner wie Österreich oder schlimmstenfalls die Türkei, damit man sich mit Ach und Krach in die nächste Runde rettet.

 

Das Problem unserer Mannschaft ist, dass in ihr kein einziger Weltklassespieler steht (in der spanischen aber mindestens fünf oder sechs). O, sie hat gute Spieler: Ein Mann wie Ballack hat sich bei Chelsea bestimmt nicht durch Fehlpässe durchgesetzt. Nur spielt er bei Chelsea in einer Mannschaft, in der er seine unbestrittenen Stärken zur Geltung bringen kann, ohne dass Irgendeinem auffallen müsste, dass er nicht der geniale Spielmacher ist, als der er in der deutschen Nationalelf gefordert ist, weil er dort als Einäugiger unter Blinden spielt.

 

Was aber ist mit den anderen Spielern, die 2006 noch Weltklasseformat zu haben schienen? Hatten sie das wirklich und haben jetzt nur unter ihren Möglichkeiten gespielt? Für einen wie Philipp Lahm könnte das zutreffen. Seine Genieblitze bei der EM konnten zwar seine Aussetzer nur bedingt kompensieren, aber immerhin hatte er welche – die Genieblitze nämlich.

 

Wenn wir von Lukas Podolski und Bastian Schweinsteiger absehen, die nicht ohne Durchhänger, aber im Großen und Ganzen eben doch die Leistungen von 2006 bestätigt haben, dann drängt sich für den Rest der Mannschaft der Verdacht auf, das wir sie jetzt in ihrer Normalform gesehen haben. Ich fürchte, sie haben genau das gezeigt, was man von ihnen erwarten kann, wenn nicht gerade ein Sommermärchen-Rausch sie befeuert. Und dabei haben wir, da bin ich sicher, tatsächlich die besten Spieler gesehen, die Deutschland aufzubieten hat, und können uns ausmalen, wie die nächst besten sich und uns blamiert hätten.

 

Nehmen wir allein – pars pro toto – die Innenverteidigung, Metzelder und Mertesacker, die 2006 noch auf Augenhöhe mit Leuten wie Cannavaro spielten. Gut, Metzelder hatte jetzt wenig Spielpraxis. Nur ist es erstens bezeichnend, dass Löw ihn trotzdem spielen lassen musste, weil er keinen adäquaten Ersatz hatte, zweitens kommt man ins Grübeln, wenn man sieht, dass ein solcher Spieler bei Real Madrid entbehrlich zu sein scheint, in der deutschen Nationalmannschaft aber nicht, und drittens sollte sich das Argument der fehlenden Spielpraxis spätestens beim sechsten Turnierspiel in Folge relativiert haben. Und Mertesacker, der sich auf die Entschuldigung respektive Ausrede mangelnder Spielpraxis überhaupt nicht berufen kann, stakste zeitweise im Strafraum herum wie der Storch im Salat.

 

Was verheißt das für die WM 2010? Nichts Gutes. Aber das muss nicht heißen, dass wir nicht Vizeweltmeister werden.

James Sheehan: „Kontinent der Gewalt. Europas langer Weg zum Frieden“

(Kurzrezension)

James Sheehan beschreibt „Europas langen Weg zum Frieden“ als einen Umweg: Der Zustand eines nach innen und außen weitgehend befriedeten Europa, den wir heute genießen, war nämlich vor 1914 schon einmal erreicht gewesen. Man ist sich heute dessen gar nicht mehr so bewusst, weil man ja weiß, was danach kam. Stefan Zweig hat in seinen Lebenserinnerungen („Die Welt von Gestern“) die Zeit vor 1914 „das Zeitalter der Sicherheit“ genannt.

 

Ich fasse Sheehans Argumentation zusammen:

 

Das Jahrhundert vom Wiener Kongress 1815 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs war das friedlichste in der Geschichte Europas gewesen; seit 1871 hatte es überhaupt keinen Krieg der Großmächte mehr gegeben, und die Abschaffung des Krieges überhaupt schien erstmals eine reale Möglichkeit zu sein.

 

Freilich war sie auch eine Notwendigkeit: Die hochtechnisierten Massenheere der europäischen Großmächte, das sahen hellsichtige Analytiker schon im 19. Jahrhundert, konnten den Krieg gegeneinander nur als totalen Krieg führen, der eine entsprechend umfassende Zerstörung hinterlassen würde.

 

Genau so kam es. Der Erste Weltkrieg vernichtete nicht nur Menschenleben, Staaten und Kapital. Er zerstörte die friedfertige Zivilität, die bis dahin die Völker Europas ausgezeichnet hatte. Die Gewaltideologien des Faschismus und des Kommunismus verhinderten die Rückkehr Europas zu einer rationalen und friedlichen Politik, die zumindest in den westlichen Staaten angestrebt wurde.

 

Dort erwuchs aus der apokalyptischen Erfahrung des Weltkriegs ein leidenschaftlicher Pazifismus, der die speziell vom Nationalsozialismus ausgehende Gefahr bagatellisieren zu können glaubte. Die daraus resultierende Appeasement-Politik ermöglichte Hitler erst die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs und die Zerstörung Europas.

 

Paradoxerweise war es gerade der Kalte Krieg, der zur Entmilitarisierung der europäischen Politik führte. Unter dem eisernen Panzer der Supermächte verloren die europäischen Staaten de facto die Fähigkeit zur autonomen Kriegführung und zugleich jedes Interesse daran.

 

Die westeuropäischen Staaten der Nachkriegszeit waren und sind zivile Staaten in dem Sinne, dass sie das Ziel maximalen Wohlstands für ihre Völker verfolgen und in Institutionen wie der EU in einem Maße zusammenarbeiten, das vor 1914 unvorstellbar gewesen wäre.

 

Sogar im Ostblock war das Maß an Repression in der Ära nach Stalin bei weitem nicht vergleichbar mit den Gewaltexzessen der Revolution und des Stalinismus, und so erscheint es wie der folgerichtige Abschluss dieser Entwicklung, dass Gorbatschow den sowjetischen Imperialismus kassierte, Osteuropa freigab und auf friedliche innere Reform setzte.

 

Wer freilich die zivile, ja pazifistische Disposition des heutigen Europa zum Modell machen und als solches dem amerikanischen „Militarismus“ polemisch entgegensetzen will, verkennt, dass Europa nach wie vor in einer hochgradig gefährlichen Welt existiert und auf eigene Gewaltanwendung nur deshalb verzichten kann, weil die USA nach wie vor zur Kriegführung fähig und gegebenenfalls auch bereit sind.

 

Europa, das hat sich spätestens beim Zerfall Jugoslawiens gezeigt, ist ein amerikanisches Protektorat, das unfähig ist, seine eigenen vitalen Interessen zu wahren, zumindest dann, wenn dazu die Anwendung militärischer Gewalt erforderlich ist.

 

Dies wird auch so bleiben, sofern Europa sich nicht zu einem Bundesstaat mit eigenem Militär und eigener Außenpolitik mausert. Ein solcher Staat wäre eine Supermacht; aber er wird nicht entstehen, weil es für die Europäer wesentlich bequemer ist, den Schutz Amerikas in Anspruch zu nehmen, an dem festzuhalten, was von der nationalen Souveränität noch übrig ist, und die Abhängigkeit von den USA als notwendiges Übel in Kauf zu nehmen.

 

Soweit Sheehan. Ich kann nicht behaupten, dass mir seine Schlussfolgerung gefällt, aber wenn ich einen größeren Betrag wetten müsste, würde ich seiner Prognose realistischerweise eine größere Chance auf Verwirklichung einräumen als meiner eigenen Hoffnung, dass Europa wieder lernt, seine eigenen Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen und seine eigenen Interessen selbst zu vertreten.

 

Es ist nun einmal einfacher, auch bequemer, auch billiger, die eigene Sicherheit einem Anderen anzuvertrauen, und den Preis in Gestalt von Abhängigkeit zu bezahlen. Solange dieser Andere ein freundlicher Hegemon ist wie Amerika, der Europa seine Abhängigkeit nur gelegentlich und nur mäßig spüren lässt, mag das alles angehen.

 

Was aber, wenn Amerika sich zurückzieht? Was, wenn es zum unfreundlichen Hegemon wird? Was, wenn es den Preis erhöht? Was, wenn es nicht mehr stark genug ist, seine Protektorenrolle zu spielen?

Die Obama-Lotterie

Ich lege mich fest: Der vierundvierzigste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wird Barack Hussein Obama heißen. Obama hat drei Schwächen, auf die die Republikaner sich einschießen werden: Seine Unerfahrenheit, sein Gutmenschentum und seine Hautfarbe.

Letztere ist zwar nicht an sich eine Schwäche – wenn die Republikaner Colin Powell oder Condoleezza Rice nominiert hätten, hätten wohl nur eingefleischte Rassisten ein Problem damit gehabt -, sie wird aber zur Schwäche durch seine Herkunft aus einem politischen Milieu, in dem Rassismus gegen Weiße und Hass gegen das eigene Land zum guten Ton gehören. Die Predigten seines väterlichen Freundes Jeremiah Wright sprachen Bände, zumal Obama solchen Reden Jahre um Jahre zugehört haben muss, ohne zu protestieren oder sich abzuwenden. Allein Wrights letzter Auftritt in Washington hätte Obama das Genick brechen müssen. Hat er aber nicht. Ähnlich wie Ronald Reagan scheint Obama teflonbeschichtet zu sein – alles gleitet an ihm ab.

Das Gutmenschentum – also die Neigung zu Dialog, Diplomatie, Multilateralismus: Kann so jemand ein Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte sein? Ich fürchte, nach acht Jahren Bush lässt sich aus solchen Überlegungen kein Wahlkampfknüller mehr gewinnen.

Seine Unerfahrenheit: Die hat schon Hillary Clinton auszuschlachten versucht („Nachts um drei im Weißen Haus klingelt das Telefon. Irgendwo auf der Welt braut sich eine bedrohliche Krise zusammen. Wer, meinen Sie, sollte jetzt im Weißen Haus den Hörer abnehmen?“), mit einem gewissen Erfolg, der aber nicht durchschlagend war.

Schwächen also hat er, aber sie scheinen seine Stärken nicht aufzuwiegen: Obama ist ein phantastischer Redner, einer, dem durchaus so etwas wie eine Gettysburg address zuzutrauen ist; er hat das Charisma eines Messias; und seine Botschaften – change! Yes, we can! – sind so uramerikanisch, dass sie auf eine Nation wie die amerikanische mit ihrer unerschöpflichen Bereitschaft, Neues zu wagen und sich selbst neu zu erfinden, einfach unwiderstehlich wirken müssen. McCain sieht dagegen buchstäblich alt aus.

Der vierundvierzigste Präsident der Vereinigten Staaten wird also Barack Obama heißen. Ist das eine gute oder eine schlechte Nachricht?

Zunächst wird dem Antiamerikanismus eine Weile das Maul gestopft werden: Ein Amerika, das von einem Schwarzen regiert wird, genießt allein deshalb schon den Schutz der Political Correctness, wenigstens eine Zeitlang. Und wahrscheinlich haben auch die Kommentatoren Recht, die glauben, dass Amerika unter den Bewohnern der Dritten Welt ebenso an Sympathien gewinnen wird wie in Europa. In der Dritten Welt, weil der US-Präsident dann aussieht „wie wir“ und vielleicht weniger „imperialistisch“ sein könnte. In Europa, weil man dort genau das erwähnte Gutmenschentum schätzt.

Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder enttäuscht er diese Erwartungen, dann wird die Sympathie schnell dahin sein. Oder er erfüllt sie. Dann wäre das die schlechte Nachricht.

Den meisten Europäern ist nicht bewusst, dass sie sich ihren eigenen Pazifismus nur deshalb leisten können, weil Amerika eben nicht pazifistisch ist. Obama will mit Allen reden: mit dem Iran, mit Syrien, wahrscheinlich auch mit der Hamas und der Hisbollah. Ist er sich wirklich bewusst, dass diese Leute Feinde seines Landes sind? Ist er sich darüber im Klaren, dass Israel die Zwölf auf deren Zielscheibe ist? Dass es die exponierte weiche Kinnspitze des Westens ist, ungefähr das, was im Kalten Krieg West-Berlin war? Weiß er, dass der, der eine Politik des „Wandels durch Annäherung“ versucht – etwa gegenüber dem Iran -, an einem Abgrund namens „Appeasement“ balanciert, und dass es großer Staatskunst bedarf, da nicht abzustürzen? Und verfügt er über diese Staatskunst – Stichwort „Unerfahrenheit“? Eine Annäherung an den Iran liegt im Bereich des Möglichen, aber nicht in dem des Erfreulichen. (Siehe auch meinen Artikel „Wie vertrauenswürdig ist Amerika?“)

Barack Obama ist bisher nicht mehr als eine Projektionsfläche. Wir wissen nicht, was er tun wird, wir wissen nur, was er symbolisiert: Antirassismus, Multilateralismus, Multikulturalismus, multireligiösen Hintergrund. Ich gebe zu, dass mir nicht wirklich wohl bei dem Gedanken ist, dass der mächtigste Mann der Welt ausgerechnet Hussein heißt und in seiner Kindheit in Indonesien eine islamische Schule besucht hat. In der islamischen Welt wird ihm das Sympathien einbringen – wahrscheinlich wird in Kürze irgendwo eine Fatwa auftauchen, die ihn zum Muslim erklärt, wie Goethe und Wilhelm II. -; hoffen wir, dass er nichts tut, sich diese Sympathien zu verdienen.

Antirassismus ist auch so ein Punkt, bei dem ich nachdenklich werde: Der „Kampf gegen den Rassismus“ wird mittlerweile zur Parole, unter der in Wirklichkeit ein Kampf gegen die westliche Demokratie geführt wird. (Und wieder verweise ich auf einen meiner Artikel: „Ist das schon rassistisch?“). Was, wenn nicht mehr die Ohnmacht der UNO, sondern die Macht der USA hinter Kampagnen steht, mit denen europäische Staaten eingeschüchtert werden sollen?

Obama ist ein ungewöhnlich sympathischer Politiker, und er ist Idealist. Ein Mann, der das gute Amerika verkörpert. Wie Woodrow Wilson. Wie Jimmy Carter. Es könnte sein, dass ein weniger sympathischer US-Präsident besser für die Welt wäre.

Natürlich kann es sein, dass ich Gespenster sehe. Vielleicht hält Obama wirklich die Balance zwischen Idealismus und Realismus. Vielleicht schwächt er wirklich die antiwestliche Feindschaft weltweit, und damit auch die Feinde des Westens. Vielleicht verändert er wirklich die Welt zum Guten.

Ich meine das gar nicht so hypothetisch, wie es vielleicht klingt. Er ist ein Politiker von außergewöhnlichem Format. Er hat die Chance, der beste Präsident zu werden, den die USA jemals hatten.

Oder der schlechteste.

Seyran Ateş: „Der Multikulti-Irrtum“

(Rezension)

  

Die Berliner Rechtsanwältin Seyran Ateş ist bekannt als engagierte Kritikerin der Zustände in türkischen und kurdischen Parallelgesellschaften in Deutschland; als Kritikerin von Ehrenmorden, Zwangsverheiratungen, ehelichen Vergewaltigungen, Verschleppungen von Frauen und Kindern und der schier allgegenwärtigen körperlichen Gewalt innerhalb muslimischer Zuwanderungsfamilien. Sie hat vor Gericht unzählige Opfer solcher Praktiken, meist Frauen, vertreten.

Entsprechend oft bekommt sie Morddrohungen aus dem Milieu, hat körperliche Angriffe, darunter einen Mordanschlag, überlebt, sah sich massiven Hetzkampagnen der türkischen Presse (speziell „Hürriyet“) ausgesetzt und wird von sogenannten Migrationsforschern verleumdet, die die Ursachen für migrationsbedingte Probleme überall suchen, nur nicht bei den Migranten selbst.

In ihrem Buch „Der Multikulti-Irrtum“ setzt sie sich mit den genannten Missständen auseinander, wobei die Situation muslimischer Frauen im Mittelpunkt steht. Sie führt die Probleme zurück auf

– patriarchalisch-autoritäre Familienstrukturen die vom Herrschaftsanspruch des Patriarchen ausgehen, den dieser auch mit Gewalt durchsetzen darf, ja beinahe muss,

– den sozialen Druck, der von der Großfamilie, aber auch vom türkischen Milieu insgesamt ausgeht und die Einhaltung traditioneller Normen erzwingt,

– einen ihrer Meinung nach falsch verstandenen, in jedem Falle aber unzeitgemäßen Islam,

– den geringen Bildungsstand der meisten Türken in Deutschland,

– einen mittelalterlich anmutenden Jungfräulichkeitskult, der muslimische Männer geradezu verpflichtet, ihre Frauen, Töchter und Schwestern wegzusperren, zu kontrollieren oder ihnen zumindest das Kopftuch aufzuzwingen und

– eine auf die Spitze getriebene „Mannesehre“, die von der Unterdrückung der Frau abhängt und sich in ihr äußert.

Sie behauptet natürlich nicht, dass es in allen Familien so zugeht; genaue Zahlen sind schwer zu bekommen, nicht zuletzt wegen der segensreichen Tätigkeit besagter „Migrationsforscher“; immerhin lassen die vorhandenen Daten den Schluss zu, dass die obige Beschreibung auf mindestens ein Drittel des Milieus zutrifft, und das ist noch optimistisch geschätzt.

Dabei zeigt sich eine deutliche Tendenz zur Verfestigung dieser Parallelgesellschaften. Ateş kritisiert vehement die Bereitschaft der deutschen Gesellschaft, insbesondere der Behörden und Gerichte, solche Missstände hinzunehmen oder aus falsch verstandener kulturrelativistischer Toleranz zu verharmlosen. (Multikulti-Ideologen sind ihre Lieblingsfeinde, daher der Titel des Buches).

Sie behauptet allerdings auch, der Rückzug in die Parallelgesellschaft sei nicht nur der Gleichgültigkeit der deutschen Gesellschaft anzulasten, sondern auch ihrem Mangel an Bereitschaft, Menschen ausländischer Herkunft, speziell Moslems, überhaupt als Teil der deutschen Gesellschaft zu akzeptieren („Wann kehren Sie in ihre Heimat zurück?“).

Sie plädiert dafür, dass Migranten sich an dem orientieren, was sie die „europäische Leitkultur“ nennt – sprich an Menschenrechten, Demokratie, Toleranz, Gleichberechtigung der Geschlechter, Trennung von Politik und Religion. Und dafür, dass der deutsche Staat alle Register zieht, um sowohl mit gesetzlichem Zwang (einschließlich des Kopftuchverbotes) als auch mit umfassenden Hilfsangeboten von Lehrern, Sozialarbeitern, Beratungsstellen usw. die Respektierung dieser Normen zu erzwingen.

Von muslimischen Migranten sei zu verlangen, ihren Islam zu reformieren, ihn zeitgemäß in einem rein spirituellen Sinne zu leben und speziell diejenigen islamischen Normen über Bord zu werfen, die mit der Demokratie unvereinbar seien. Es komme für sie darauf an, eine „transkulturelle Identität“ zu entwickeln – also gleichermaßen Europäer wie türkische Muslime zu sein, wobei von der islamischen Identität eben die illiberalen und gewalttätigen Züge abzuziehen seien, wohingegen es gelte, die türkische bzw. kurdische Muttersprache zu pflegen.

Der aufmerksame Leser, der meine sonstigen Texte kennt, wird schon an diesem lustlosen Referat gemerkt haben, dass ich von Ateşs Thesen nicht gerade erbaut bin.

Natürlich hat sie mit vielem Recht: mit ihrer Polemik gegen Multikulti-Ideologen, ihrer Kritik an der Unterdrückung muslimischer Frauen, ihrem Plädoyer für die Auflösung der Parallelgesellschaften, ihrem Insistieren darauf, dass ein demokratischer Staat die Menschenrechte zu verteidigen hat, auch die von muslimischen Frauen, und dass er nicht die Einführung der Scharia durch die Hintertür dulden darf. Auch die Vielzahl der von ihr angeführten Beispiele macht das Buch allemal lesenswert, und manch einer fragt sich vielleicht, was ausgerechnet ich gegen eine so profilierte Islamkritikerin einzuwenden habe.

Im Unrecht ist sie nicht mit ihrer Kritik, sondern mit dem, was ihr positiv vorschwebt. Das beginnt mit ihrem Selbstverständnis:

„‚Deutschländer‘, so werden … die in Deutschland lebenden Türken in der Türkei genannt. Der Begriff war in erster Linie negativ gemeint, ich finde ihn allerdings sehr zutreffend für Menschen, die in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt haben, ohne auf eine lange Familiengeschichte in Deutschland zurückzublicken. Man könnte ja anfangen, ihn positiv zu besetzen. ‚Deutschländer‘ gefällt mit jedenfalls um einiges besser als alle anderen Varianten. Ich persönlich kann mich recht gut mit ihm identifizieren – auch wenn es eine Würstchensorte gibt, die so heißt. In dem Begriff ‚Deutschländer‘ ist Deutschland enthalten, das Land, in dem wir leben, und er betont die Zugehörigkeit zu diesem Land, zu seiner Gesellschaft.“ (S.26 f.)

Zum Land ja. Zur Gesellschaft ja. Zur Nation – nein!

Deutschland, das sagt sie oft genug, ist ihre Heimat, aber die Deutschen, das sagt sie, indem sie es nicht sagt, sind nicht ihre Nation. Sie wird lieber mit einem Würstchen verwechselt als für eine Deutsche gehalten. (Meinetwegen auch für eine türkischstämmige Deutsche – in Zusammenhängen, in denen es darauf ankommt.)

Seyran Ateş leistet rühmenswerte Arbeit, und das seit Jahrzehnten. Sie kämpft für die Menschenrechte und für die Werte „unseres Grundgesetzes“ (Ja, sie sagt „unser Grundgesetz“). Sie riskiert sogar ihr Leben dafür. Ohne Zweifel gereicht sie unserer Gesellschaft zur Zierde. Wenn so eine partout keine Deutsche sein will – wer eigentlich dann?

(Komplementär dazu verwendet sie den Begriff „Urdeutsche“ für

„die Deutschen, die vor der Gastarbeiteranwerbung in den 60er Jahren bereits seit mehreren Generationen in Deutschland lebten“ (Anm. 2, S.277)

Ungeachtet der präzisen Definition finde ich dies sprachlich reichlich verunglückt. Unter einem „Urdeutschen“ stelle ich mir eine pittoreske, knorrig-romantische Figur vor, mit der man Grimms Märchen verfilmen könnte, und fühle mich leicht veralbert, wenn man mich so tituliert.)

Ähnliche Bauchschmerzen bereitet mir der Begriff der „europäischen Leitkultur“. So etwas gibt es zwar, aber die kulturelle Sprache Europas kennt mindestens ebenso viele Dialekte, wie es europäische Nationen gibt, und sie existiert auch nur in Gestalt dieser Dialekte, nicht etwa als Hochsprache. Mehr noch: Zur europäischen Leitkultur gehört unabweisbar der Gedanke der Nation! Unsere Staaten sind Nationalstaaten und nicht bessere Verwaltungseinheiten, deren Grenzen man ebensogut auch anders hätte ziehen können.

Eine Nation aber ist nicht etwa die Summe ihrer Staatsbürger, sondern die zwischen ihnen bestehende Solidarität, die – zumindest als Idee und als Norm – der Demokratie im europäischen Sinne zugrundeliegt. Die Nation ist ein politischer Solidarverband. Sie ist ein Wir.

Da hilft es auch nicht, sich nach „Europa“ zu flüchten: Selbst ein europäischer Bundesstaat, wenn er denn von den Völkern gewollt würde, könnte nur die Solidarität zwischen den europäischen Nationen organisieren und institutionalisieren, nicht aber die innerhalb der Nation ersetzen. (Und die Europäische Union wird keine Zukunft haben, wenn sie die Nationen weiterhin als lästiges Relikt aus der Vergangenheit behandelt; Nationalismuskritik war nach den Exzessen des zwanzigsten Jahrhunderts weiß Gott angebracht, aber sie darf einen nicht dazu verleiten, das Kind mit dem Bade auszuschütten.)

Mit „Kultur“ hat die Zugehörigkeit zu einer Nation zunächst nicht viel zu tun: Die Alemannen dies- und jenseits des Bodensees unterscheiden sich kulturell so gut wie gar nicht, gehören aber verschiedenen Nationen an. Umgekehrt gibt es allein schon aufgrund der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Lebensstile große kulturelle Unterschiede innerhalb einer Nation, ohne dass deren Charakter als Wir-Gruppe dadurch in Frage gestellt würde.

So gesehen wäre auch gegen Ateşs Konzept der „transkulturellen Identität“ – also gegen das Zuhausesein in verschiedenen Kulturen – nichts einzuwenden, wenn sie nicht ihren türkischen Identitätsanteil gegen die Zugehörigkeit zur deutschen Nation ins Feld führte, und dies nicht als private Einstellung, sondern als gesellschaftliches Leitbild. Und wenn – ja, wenn die ihrer Meinung nach zu pflegende Herkunftskultur nicht ausgerechnet eine islamische wäre:

Seyran Ateş beschreibt ebenso anschaulich wie eindrucksvoll, dass viele Muslime unter dem Diktat der öffentlichen Meinung ihrer Gesellschaft bzw. Parallelgesellschaft leben; da muss schon mal die Frau weggesperrt werden, weil der Clan oder der Nachbar sonst denken könnte, man sei kein „richtiger Mann“. Und tragikomisch ist, wenn sie schreibt, wie auf Seiten ihrer Mandanten wie auch der Prozessgegner ganze Großfamilien, Freunde, Nachbarn in den jeweiligen Fall hineinreden.

Was sie nicht wahrzunehmen scheint, ist die Verankerung solchen Verhaltens in der islamischen Ethik, die – juristisch formuliert – ein objektivrechtliches Normensystem ist: Verwerflich ist nicht, was einem Anderen schadet – so würden wir das sehen -, sondern was gegen objektive Normen, letztlich gegen den Willen Allahs, verstößt.

Ein solcher Verstoß geht dann in der Tat Jeden etwas an, und Jeder muss sich auch zuvörderst Gedanken darüber machen, „was die Leute sagen“. Ateş argumentiert wortreich, dass man den Koran in vieler Hinsicht – etwa bei der Verschleierung oder beim Alkoholverbot – auch liberaler auslegen könnte, als es traditionell geschieht. Das ist richtig, ist aber nicht der springende Punkt. Kulturell entscheidend ist, dass nicht die ethische Einsicht des Einzelnen, sondern die gesellschaftlich vorherrschende Interpretation des Islam – und sei sie noch so liberal – den Maßstab dafür abgibt, was verwerflich ist und was nicht.

Daran wird m.E. auch ihre Forderung scheitern, den Islam auf seine rein spirituellen Dimensionen zurückzustutzen. Jeder Einzelne für sich kann das natürlich tun – sofern er eine starke Persönlichkeit wie Seyran Ateş ist. Kann man sich aber ernsthaft vorstellen, dass eine solche Interpretation, die den Koran als Richtschnur des Handelns zur Disposition stellt und deshalb von neunzig Prozent aller Muslime weltweit als Kufr abgelehnt werden dürfte, von der Mehrheit der hiesigen Muslime als Leitbild akzeptiert wird?

Wenn es dafür überhaupt eine Chance geben soll, dann ist die Identifikation mit der deutschen Nation und das Ende der Identifikation mit der Herkunftskultur geradezu die Voraussetzung dafür: Wer sich – und sei es nur „unter anderem“ – als Angehöriger der türkischen Kultur fühlt, schaut immer mit einem Auge in den Rückspiegel. Einem muslimischen Deutschen kann es völlig egal sein, ob man ihn in Anatolien für einen „Ungläubigen“ hält, einem „Deutschländer“ aber nicht.

Die meisten Menschen haben ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einem Großkollektiv. Und wer seine Identität nicht in der Zugehörigkeit zur Nation sucht und findet, der sucht und findet sie eben anderswo, notfalls in der Umma.

Dabei ist kaum zu erkennen, was von der türkisch-islamischen Kultur eigentlich übrigbleibt, wenn man alles abzieht, was Ateş gerne abgezogen sehen möchte, nämlich die Dominanz der Familie über den Einzelnen, den türkischen Nationalismus, die Verbindlichkeit islamischer Normen, den Machismo, die Bereitschaft zur privaten Gewaltanwendung.

Was bleibt da übrig?

Orientalische Musik, Lammhaxe statt Schweinshaxe, Interesse an türkischer Literatur und Geschichte, ein wenig Folklore. Nichts, was nicht auch einem aufgeschlossenen Deutschen einfallen könnte. Nichts, was man nicht als Privatsache behandeln könnte. Und vor allem nichts, was die Verrenkungen rechtfertigen würde, die Ateş aufführt, um nur ja keine Deutsche zu sein.

Selbstverständlich erwartet kein Mensch von eingebürgerten Ausländern, vom Moment der Einbürgerung an deutsch zu tümeln, oder rund um die Uhr „dessen eingedenk zu sein, dass sie Deutsche sind“ – das tun wir doch Alle nicht. Dass sie sich aber als Teil der Nation verstehen, sprich als Deutsche, und nicht als Gruppe mit Sonderstatus in der Nation, sprich als „Deutschländer“: Das ist – zumindest als Norm – eine Selbstverständlichkeit. Es ist so selbstverständlich, dass es einem kaum noch bewusst ist. Ateş aber, die sonst den gesamten Katalog westlicher Werte akzeptiert, lässt ausgerechnet das Konzept „Nation“ unter den Tisch fallen.

Das gibt zu denken. Möglicherweise haben die Islamisten wieder einmal auf ihre Art Recht, wenn sie den säkularen Nationalismus als unislamisches Importgut ablehnen. Zwar hat der Nationalismus auch in der islamischen Welt Fuß gefasst – wir kennen ihn etwa als türkischen, persischen, pakistanischen und (pan-)arabischen Nationalismus.

Dies alles sind aber Völker mit überwältigender muslimischer Mehrheit. Dagegen ist mir kein einziger Fall bekannt, wo Muslime als Minderheit sich mit der Nation als primärer politischer Gemeinschaft identifizieren. Ich vermute, dass die Prägung durch islamische Wertvorstellungen, insbesondere durch das Gebot der innermuslimischen Solidarität, so dominant ist, dass es selbst für säkulare und liberale Muslime wie Ateş buchstäblich undenkbar ist, einer nichtmuslimischen politischen Wir-Gruppe anzugehören und diese Zugehörigkeit als Teil der eigenen Identität aufzufassen.

Bezeichnend ist auch, dass sie es nicht für erforderlich hält, uns „Urdeutsche“ mit Argumenten davon zu überzeugen, dass wir ein Interesse haben sollen, den „Deutschländern“ die politische Gleichberechtigung zuzuerkennen, wenn deren Loyalität unserer Nation gegenüber bestenfalls zweifelhaft ist, sie einer Religion angehören, die man nur unter erheblicher Geistesakrobatik halbwegs verfassungskonform zurechtbiegen kann, aus deren Mitte daher immer wieder Extremisten und Verfassungsfeinde hervorgehen werden, und von denen zu erwarten ist, dass sie vor allem untereinander solidarisch sind – gegebenenfalls in Form einer Solidarität der „Transkulturellen“ – gegen die Mehrheitsgesellschaft.

Dies auch dann, wenn der von Ateş favorisierte Euro-Islam tatsächlich die dominierende Option unter hiesigen Muslimen wäre.

Ohne uns „Urdeutsche“ also davon zu überzeugen, dass wir daran ein Interesse haben, fordert sie, Deutschland solle sich nicht nur als „Zuwanderungsgesellschaft“, sondern als „Einwanderungsgesellschaft“ definieren, so wie die USA und Kanada, damit auch Muslime sich willkommen fühlen und nicht die Hürde nehmen müssen, sich als Deutsche zu verstehen.

Wenn sie die nordamerikanischen Länder als Vorbild heranzieht, dann übersieht sie einen wesentlichen Punkt: Deren Selbstverständnis als Einwanderungsgesellschaft ist Teil ihrer nationalen Identität (weil diese Nationen ohne Einwanderung gar nicht existieren würden). Wer aber von den Deutschen (oder irgendeiner anderen europäischen Nation) fordert, ihr nationales Selbstverständnis zu korrigieren und sich als „Einwanderungsgesellschaft“ zu verstehen, sollte sich darüber im Klaren sein (und so ehrlich sein zuzugeben), dass die Änderung einer Kollektividentität kaum anders zu bewerkstelligen ist als durch die ideologisch motivierte und politisch oktroyierte Vergewaltigung der Mehrheitsgesellschaft.

Das Ergebnis dieser Vergewaltigung – das hat gerade Ateşs Argumentation deutlich genug gezeigt – wäre nicht eine neue nationale Identität, sondern eine nichtnationale Identität der Nation, also ein Widerspruch in sich. Die deutsche Nation, darauf läuft es hinaus, soll als solche aufhören zu existieren.

 

Glückwunsch, FC Bayern!

Ich glaube schon einmal irgendwo erwähnt zu haben, dass ich zwar seit zwanzig Jahren Wahlberliner bin, aber aus München stamme. Viel verbindet mich mit meiner alten Heimatstadt nicht mehr, nicht einmal der Akzent verrät noch, wo ich herkomme; bei Bedarf berlinere ick wie’n altjedienter Weddinger.

 

Nur in einem Punkt bin ich Münchner geblieben: beim Fußball. Ich kann mich beim besten Willen nicht für die Hertha erwärmen; mein Verein ist und bleibt – na welcher wohl? Richtig!

 

1860.

 

Ich bin also nicht nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet, die Bayern zu hassen. Und mich damit in das große Heer der FC-Bayern-Hasser einzureihen, der Feinde des unbeliebtesten Vereins der Republik.

 

Nun gerate ich aber in einen Gewissenskonflikt: Gegen die Bayern zu sein gilt als politisch korrekt. Man ist für St. Pauli, Freiburg, Nürnberg, Kaiserslautern oder eben Sechzig – aber doch nicht für Bayern! Warum? Weil die Bayern ihre Erfolge mit Geld erkaufen, dadurch alle anderen Vereine in die zweite Reihe drängen, nicht in der Heimaterde verwurzelt sind, sondern Fans weltweit haben, weil sie arrogant sind und auf dem Feld nur das Nötigste tun. Außerdem haben sie Uli Hoeneß.

 

Nur kann man das alles auch ganz anders lesen: Es stimmt schon, dass der Erfolg im Fußball Geld bringt und das Geld den Erfolg begünstigt. Das wissen auch Alle, und Alle verhalten sich danach. Die Vereine, die die Chance hatten, zu den Bayern aufzuschließen, Dortmund zum Beispiel, Bremen, Leverkusen – die haben es alle nicht geschafft. Sie haben nicht die höhere Moral, sie haben nur weniger Erfolg. Wer weltweit Fans hat, muss wohl ziemlich guten Fußball spielen; und Uli Hoeneß mag schlecht erzogen sein – wenn auch schwerlich schlechter als Rudi Assauer – aber er versteht sein Handwerk, was man nicht von allen Bundesliga-Managern behaupten kann. (Und was die Verwurzelung in der Heimaterde angeht, so hat die durchaus ihre problematischen Seiten, wie sich 1933 zeigte, als – peinlich, peinlich – 1860 sich gar nicht genug SA-Leute in den Vorstand holen konnte, während die Bayern so lange wie irgend möglich an ihrem jüdischen Präsidenten festhielten.)

 

Was also wirft man den Bayern vor? Den Erfolg, und dass sie guten Fußball spielen. Der Deutsche Gutmensch zieht es nämlich vor, in zugigen alten Stadien eine schlechte Mannschaft null zu fünf untergehen zu sehen, und hält dies für den Beweis seiner überlegenen Sportmoral. Der Masochismus eines mittelalterlichen Flagellanten: Lieber einen schlechten Fußball als einen – Pfui! – kapitalistischen. Das ist nichts anderes als Political Correctness, kombiniert mit linker Sozialromantik.

 

Nachdem ich alles über Bord geworfen habe, was irgendwie links ist, täglich einen Gutmenschen frühstücke und gegen die PC wettere: Wäre es da nicht konsequent, auch als Fußballfan Nägel mit Köpfen zu machen und zu den Bayern zu konvertieren?

 

Ja, das wäre konsequent. Aber beim besten Willen: Das bringe ich nicht!

 

Es ist eine Sache zuzugeben, dass die Bayern sich ihre Erfolge redlich verdient haben. Auch ein Fußballfan darf gelegentlich sportlich fair sein. Eine ganz andere Sache wäre es, in einer Fankurve zu stehen und „Bayern, Bayern!“ zu rufen.

 

Ein Fußballfan wird schon als Kind auf seinen Verein geprägt wie ein Entenküken auf seine Mama. Dieses Herzklopfen und Bauchkribbeln, wenn die eigene Mannschaft aufläuft – das kann man nicht willkürlich manipulieren und auf eine andere übertragen. Fan sein heißt nicht, eine Religion zu haben (von der man abfallen kann), sondern ein Schicksal zu erleiden, mit dem man leben muss.

 

Nur ist das ja kein Grund, die zu hassen, deren Schicksal leichter ist.

 

In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch, FC Bayern, zu Pokal und Meisterschaft, und viel Erfolg in der kommenden Champions-League-Saison!

Tote Hosen

Campino, der Sänger der Toten Hosen, hat sich meine bleibende Antipathie dadurch gesichert, dass er sich während der Fußball-WM 2006 als England-Fan offenbart hat.

England! Nur Oranje wäre noch perverser gewesen.

Halten wir ihm zugute, dass er einer Gesellschaft entstammt, in der man sich eher mit bedrohten Fledermäusen als mit bedrohten Mitmenschen solidarisiert. In einer Gesellschaft, in der die Kleine Hufeisennase ein Bauprojekt zu Fall bringen kann, der dafür zuständige Bürgermeister aber nicht und die UNESCO schon gar nicht, ist die Solidarisierung mit der englischen Nationalmannschaft eine Verschrobenheit der harmloseren Art. Immerhin beweist Campino damit, dass er ein Herz für Verlierer hat, deren einziger Titel älter ist als ihre ältesten aktiven Nationalspieler und zudem durch die Blindheit respektive Deutschfeindlichkeit eines sowjetischen Linienrichters zustandegekommen ist.

Zumindest diese Eigenschaften haben die Toten Hosen mit besagtem Linienrichter gemein. Ihr neuester Hit hat den Refrain:

„Es gibt 1000 gute Gründe,
auf dieses Land stolz zu sein.
Warum fällt uns jetzt auf einmal
kein einziger mehr ein?“

Tja. Wenn ich es mir recht überlege, habe auch ich erhebliche Zweifel, ob man auf Deutschland wirklich stolz sein kann. Ob man wirklich stolz darauf sein sollte, einer Gesellschaft anzugehören, zu deren prominentesten Künstlern Leute wie die Hosen gehören, die gegen das eigene Land Stimmung machen, oder wie Herbert Grönemeyer, der uns vorschnulzt, es gebe keinen Feind (und schon gar keinen Sieg), und der sich „Kinder an die Macht“ wünscht. Oder wie die Prinzen, die im Gegensatz zu Grölemeyer zwar singen können, dieses Talent aber zu Liedern wie diesem missbrauchen:

…Wir sind besonders gut im auf die Fresse hauen/Auch im Feuer legen kann man uns vertrauen./Wir stehen auf Ordnung und Sauberkeit./Wir sind jederzeit für ’nen Krieg bereit./Schönen Gruß an die Welt — seht es endlich ein:/Wir können stolz auf Deutschland sein./Schwein, Schwein, Schwein …/Das alles ist Deutschland…

Merken diese Leute eigentlich noch, was für einen Stuss sie von sich geben? „Jederzeit für ’nen Krieg bereit“? Ach, wenn es doch nur so wäre! Die afghanischen Zivilisten, deren Zukunft davon abhängt, dass die Taliban geschlagen werden, würden es uns sicherlich danken, und auch um das eigene Land müsste man sich weniger Sorgen machen als jetzt, wo es sich in der eigenen Wehrlosigkeit suhlt.

Interessant – und für den Zustand unserer Gesellschaft aufschlussreich – ist, dass solch mutwillig und gehässig gegen das eigene Land gerichtete Lieder anstandslos im Radio gespielt werden, ohne dass irgendeiner meckert (was allein schon die Texte ad absurdum führt), während vermutlich Zigtausende auf die Straße gingen, wenn es einem Radiosender einfiele, die Böhsen Onkelz oder sonst eine rechte Rockgruppe zu spielen.

Es geht mir nicht darum, ob man dies oder jenes zulassen oder verbieten sollte. Es geht mir um die Wertematrix, die hinter der Akzeptanz des einen bei gleichzeitiger Ablehnung des anderen steht, also um die kuriose Prioritätensetzung, die offenbar so tief verinnerlicht ist, dass kaum noch einer sie irgendwie merkwürdig findet.

Was gilt denn im politischen Bereich als moralisch gut? Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber folgende Dinge dürften dazugehören:

Entwicklungshilfe, Internationalismus, Gewaltlosigkeit, Respekt vor fremden Kulturen und Religionen, verbunden mit Kritik gegenüber der eigenen.

Und was gilt als böse?

Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Diskriminierung, Imperialismus, Nationalismus, kulturelle Arroganz.

Als „gut“ gilt, was Anderen nützt, als „böse“, was Anderen schadet. Die Verfolgung der Interessen des eigenen Gemeinwesens kommt in diesem Tugendkatalog gar nicht oder mit negativer Wertung vor.

Der ideologische Code unserer Gesellschaft basiert also auf einer ausschließlich altruistischen Wertematrix. Man erkennt darin unschwer die aufs Kollektiv projizierte christliche Individualethik, die vor der Selbstgerechtigkeit warnt („Richtet nicht, auf dass Ihr nicht gerichtet werdet“) und der Liebe zum Feind einen höheren ethischen Rang zuweist als der zum Freund („Und wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Dank habt ihr davon? Denn auch die Sünder lieben ihre Freunde“ (Lk 6,32))

Es scheint niemandem (mehr) aufzufallen, dass eine solche Bevorzugung der fremden Gruppe gegenüber der eigenen Allem ins Gesicht schlägt, was seit Anbeginn der Menschheit als ethisch wertvolles Verhalten gilt, und zwar auch in den christlichen Gesellschaften der ersten beiden Jahrtausende.

Noch vor einem halben Jahrhundert galten auch in westlichen Gesellschaften sowohl Familiensinn als auch Patriotismus ganz selbstverständlich als hohe Tugenden; allgemein gesprochen galt die Solidarität mit der je eigenen Gruppe – auch und gerade im Konflikt mit Fremdgruppen – von jeher als zentrale Sozialnorm. Zentral deshalb, weil eine Gesellschaft, in der sie nicht gegolten hätte, als nicht überlebensfähig eingeschätzt worden wäre.

Warum das so gesehen wurde? Nun, vielleicht bestanden die zehntausenden von Generationen, die uns vorangingen, aus xenophoben Chauvinisten respektive unaufgeklärten Dummbeuteln, und erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts fand die Menschheit, zumindest aber deren weißer, westlicher und christlicher Teil, zu einer wahrhaft humanen und aufgeklärten Ethik. Plausibel ist das nicht, aber als zumindest hypothetische Möglichkeit sei es in Betracht gezogen.

Welche ethischen Normen müssen eigentlich gelten, damit so etwas wie „Gesellschaft“ möglich wird?

Beginnen wir, de Einfachheit halber, mit der Grundnorm unseres eigenen Kulturkreises, der sogenannten Goldenen Regel:

„Wie Ihr wollt, dass die Leute Euch tun sollen, also tut Ihnen auch.“ (Lk 6,31)

Die säkulare Variante ist als Kategorischer Imperative bekannt und lautet:

„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“

Diese Normen beinhalten zunächst die Aufforderung, nicht einfach egoistisch seine persönlichen Interessen durchzusetzen, sondern sich an bestimmte Regeln zu halten, geschriebene wie ungeschriebene. Und da wir empirisch keine Gesellschaften beobachten können, die auf die Dauer auf der Basis des schieren Individualegoismus existieren, vielmehr feststellen müssen, dass in allen Gesellschaften (die nicht gerade in Auflösung begriffen sind) bestimmte Regeln gelten und vom Einzelnen verinnerlicht werden (sollen), können wir die oben genannten Prinzipien als universell gültig unterstellen.

Machen wir uns nun an ein paar einfachen Beispielen klar, dass Ethik für den Einzelnen eine Zumutung darstellt: Ein Wahlbürger verzichtet darauf, den Sonntagnachmittag auf dem Sofa zu verbringen und marschiert hunderte von Metern zum Wahllokal, womöglich bei strömendem Regen, obwohl er genau weiß, dass seine Stimme nicht die Wahl entscheidet. Ein U-Bahn-Fahrgast bezahlt sein Ticket, obwohl er weiß, dass die Gefahr, beim Schwarzfahren erwischt zu werden, denkbar gering ist, und dass die U-Bahn auch fährt, wenn er nicht bezahlt. Ein Soldat riskiert sein Leben für sein Land, wohl wissend, dass sich am Kriegsausgang nichts ändern würde, wenn er einfach nach Hause ginge und das Siegen Anderen überließe.

Ethisches Verhalten ist also geprägt durch ein deutliches, im Falle des Soldaten sogar extremes Missverhältnis zwischen den Kosten, die der Einzelne auf sich nimmt, und dem Gewinn, den er individuell überhaupt nicht und als Teil der Gesellschaft auch dann hätte, wenn er die Kosten nicht auf sich nähme. Ökonomisch gesehen bedeutet Ethik also Privatisierung der Kosten und Sozialisierung der Gewinne.

Es ist leicht zu zeigen, dass keine Gesellschaft ohne solche ethischen Normen existieren kann, und doch gibt es keinen Weg, den Einzelnen rational davon zu überzeugen, dass er sich ihnen unterwerfen sollte. Ethisches Verhalten muss, so gesehen, als außerordentlich unwahrscheinlich gelten, trotzdem ist es die Regel, nicht die Ausnahme. Wie ist dieses täglich stattfindende Wunder zu erklären?

Fragen wir kontrafaktisch: Würde der Fahrgast seine Karte auch dann bezahlen, wenn er wüsste, dass die Anderen es nicht tun? Würde der Soldat kämpfen, wenn er wüsste, dass seine Kameraden lieber davonlaufen? Die Fragen stellen heißt sie beantworten: Natürlich nicht! (Beim Wähler liegt der Fall etwas anders, denn dessen Stimme würde ja die Wahl entscheiden, wenn er als einziger zur Abstimmung ginge.)

Niemand will der Dumme sein, der als Einziger die Regeln befolgt. Werden sie befolgt, so ist dies offensichtlich auf die Erwartung des Einzelnen zurückzuführen, dass alle (oder doch die meisten) Anderen sich ebenfalls ethisch verhalten. Diese Gegenseitigkeit der Erwartung also bringt ethisches Verhalten hervor. Ethik – und damit die Existenz von Gesellschaft schlechthin – beruht auf Solidarität.

(Ein denkbarer Einwand lautet, ethisches Verhalten sei vor allem durch die Angst vor Strafe motiviert. Dieser Einwand gilt, wenn wir bei unseren Beispielen bleiben, für den Wähler gar nicht; die Strafdrohung gegen den Schwarzfahrer ist wegen der geringen Sanktionswahrscheinlichkeit wenig zwingend; und den Soldaten kann man mit Drohungen allenfalls vom Desertieren abhalten, aber nicht zur Tapferkeit zwingen. Tatsächlich spielen Sanktionsdrohungen eine wichtige Rolle; sie wirken aber auf zweierlei Weise: einmal direkt durch Abschreckung, aber wir haben gesehen, dass sie in dieser Hinsicht häufig ein stumpfes Schwert sind. Die Hauptwirkung ist indirekter Natur: Das Wissen um die Existenz der Sanktionsdrohung bestärkt jeden Einzelnen in seiner Erwartung, die Anderen würden sich an die Regeln halten, und motiviert ihn damit, es selbst ebenfalls zu tun.)

Solidarität – so viel dürfte klar geworden sein – hat nichts mit Altruismus zu tun (mit dem sie oft verwechselt wird), also mit dem Handeln zugunsten Anderer. Sie ist als Geschäft auf Gegenseitigkeit vielmehr ein erweiterter und reflektierter Egoismus. Wie kommt Solidarität zustande? Durch altruistisches Handeln? Rein theoretisch könnte man sich das vorstellen: Ich verhalte mich altruistisch, rege dadurch einen Zweiten an, es mir gleichzutun, was wiederum einen Dritten und Vierten veranlasst, sich ebenfalls altruistisch zu verhalten und so fort, bis am Ende eine Solidargemeinschaft entstanden ist, in der man realistischerweise solidarisches Handeln Aller unterstellen kann. Ich spare mir an dieser Stelle die Mühe zu beweisen, etwa mithilfe spieltheoretischer Modelle, dass dies blankes Wunschdenken wäre; ich ziehe es vor, mich auf die Lebenserfahrung und den gesunden Menschenverstand zu berufen.

Dabei gehört kaum ein Mensch bloß einer Solidargemeinschaft, bloß einem System gegenseitiger Solidaritätserwartungen an. Diese Systeme bauen vielmehr aufeinander auf, erfüllen je spezifische Funktionen und entlasten einander, wobei die Intensität der Solidaritätserwartungen mit zunehmender Größe des Systems tendenziell abnimmt:

Meiner Familie bin ich stärker verpflichtet als meinem Land, meinem Land stärker als meinem Kulturkreis und diesem wiederum stärker als der Menschheit insgesamt. Salopp gesagt ist mir auf jeder Ebene das Hemd näher als der Rock.

Dabei können diese Systeme einander nicht substituieren: Die Familie kann nicht die Aufgaben der Nation übernehmen und die Nation nicht die der Familie; die Menschheit wiederum kennt zwar auch Solidarität – wir spenden für Flutopfer in Bangladesh – aber die ist nur schwach ausgeprägt – wir spenden vielleicht 20 Millionen, aber eben nicht 20 Milliarden -, weswegen die Menschheit nicht die Nation ersetzen kann.

Es ist wichtig zu sehen, dass die Solidarität innerhalb eines solchen Systems ihre notwendige Kehrseite im Ausschluss aller nicht dazu gehörenden Menschen von der Sorte Solidarität hat, die für das betreffende System konstitutiv ist: Wer seinem Nachbarn beim Tapezieren hilft, weil er davon ausgeht, dass dieser Nachbar sich irgendwann revanchieren wird, ist noch lange nicht bereit, Jedermann beim Tapezieren zu helfen. Oder, ins Politische gewendet: Die Westdeutschen, die – nicht ohne Murren, aber letztlich doch anstandslos – eine Billionensumme aufbrachten, um Ostdeutschland auf die Beine zu helfen, hätten es zu Recht als absurde Zumutung zurückgewiesen, dasselbe für Polen oder Russland zu tun.

Ein altruistisches Verhalten – also: Jedem beim Tapezieren zu helfen oder alle Völker zu subventionieren – wäre für den Einzelnen eine unmenschliche Überforderung und für ein Kollektiv das Ende: Es wäre nicht nur ruiniert, es würde buchstäblich aufhören, als Solidargemeinschaft zu existieren, weil der Einzelne ja wüsste, dass seine solidarisch erbrachte Leistung, in diesem Fall also seine Steuergelder, in keiner Form an ihn zurückfließen, auch nicht langfristig oder in der verwandelten Gestalt von Stabilität oder Sicherheit; sie würden einfach über die Welt verstreut – eine Welt, die eben keine Solidargemeinschaft ist.

Wir können nunmehr die oben gestellte Frage beantworten, ob unsere Vorfahren bis zurück zu Adam und Eva etwa Faschisten oder Hinterwäldler waren, weil sie den Dienst an und die Loyalität gegenüber der je eigenen Solidargemeinschaft unter Indifferenz, notfalls auch Feindseligkeit gegen alle fremden, als höchste Tugend angesehen haben: Nein, das waren sie keineswegs. Sie haben einfach instinktiv erkannt, dass menschliche Gesellschaft auf der Existenz einander ausschließender Solidargemeinschaften basiert und dass die genannten Tugenden daher zwingende Notwendigkeiten darstellen. Bezeichnend für den geistigen Zustand unserer Gesellschaft ist aber, dass ich hier und heute umständlich beweisen muss, was zu allen Zeiten zu Recht als Selbstverständlichkeit galt.

Als ob nicht Jedem, der die Geschichte kennt, klar sein müsste, dass schon unzählige Gesellschaften an ihrem Mangel an innerer Solidarität zerbrochen sind, aber noch keine einzige an so etwas wie „Fremdenfeindlichkeit“.

Mutmaßungen über Tibet

Auch wenn einige meiner Stammleser mir jetzt den Kopf abreißen: Ich bin mir nicht sicher, dass China im Unrecht ist, wenn es die Unruhen in Tibet niederschlägt.

Mir kommt die chorale Einstimmigkeit unserer Medien allzu verdächtig, weil allzu vertraut vor.

Es ist erst wenige Wochen her, da behandelte man die Unabhängigkeit des Kosovo als ein quasi selbstverständliches Recht,

– obwohl sie im Völkerrecht nicht die geringste Grundlage findet,

– obwohl die Kosovaren nicht einmal einen ausnahmsweise exkulpierenden Notstand für sich geltend machen können,

– obwohl das Milosevic-Regime schon lange gestürzt ist und

– obwohl Serbien zur Gewährung einer so weitgehenden Autonomie bereit war, dass die serbische Souveränität nur noch symbolischer Natur gewesen wäre.

Wenn unsere Medien das offensichtliche Unrecht der Abspaltung Kosovos als „Recht“ behandeln, so haben wir es mit der kombinierten Auswirkung von gleich zwei Journalisten-Unsitten zu tun:

Zum einen fragen sie nicht nach Recht im juristischen Sinne, sondern nach „Gerechtigkeit“. Was soviel bedeutet wie: Wer „Opfer“ ist, ist im Recht.

Zum anderen bleiben die Täter-Opfer- bzw. Gut-Böse-Rollen, einmal verteilt, bis ans Ende aller Tage erhalten:

Seit dem Krieg gegen Kroatien 1991 sind die Serben uwiderruflich als „Täter“ bzw. als „die Bösen“ gebrandmarkt, was es den Kosovaren bereits in den neunziger Jahren leicht machte, sich als „die Guten“ zu präsentieren, obwohl ihre UCK schon damals keinen Deut sauberer war als etwa die ETA oder die IRA. Eher schlimmer, denn die UCK war – und ist – obendrein in die Organisierte Kriminalität verstrickt. Für die Medien sind die Kosovo-Albaner trotzdem „die Guten“, aber nicht, weil sich dies aus dem Sachverhalt ergäbe, sondern weil es zur unhinterfragten Selbstverständlichkeit geworden ist, dass Interessen und Ansprüche des serbischen Staates illegitim seien.

Einem ähnlichen Medienchor sind wir täglich ausgesetzt, wenn es um den Nahost-Konflikt geht. Da werden die Palästinenser als „Opfer“ präsentiert, weil der israelische Staat seine Pflicht erfüllt, sich und seine Bürger gegen Terroristen zu verteidigen, und kaum einer fragt danach, ob diese Rollenzuweisung, die sich irgendwann in den achtziger oder neunziger Jahren durchgesetzt hat, irgendetwas mit der Realität zu tun hat; vor allem aber: welchen Maßstäben sie folgt.

Und nun also Tibet. Seit Jahren das Lieblingskind der Political Correctness, gegen das niemand etwas sagen will, weil es alle romantischen Klischees bedient – von der östlichen Weisheit bis zum Befreiungskampf des unterdrückten Volkes ist alles vertreten, was das Herz grüner Parteitagsdelegierter höher schlagen lässt.

Ich will mich über die Tibeter bestimmt nicht lustig machen (eher über ihre einheimischen Fans); ich bin mir auch keineswegs sicher, dass die chinesische Regierung im Recht ist. Trotzdem würde ich deren Perspektive gerne kennenlernen, und dies nicht nur aus dem Mund eines steifen Funktionärs, der seine Floskeln herunterbetet. So bekommen wir die chinesische Sicht nämlich präsentiert. Nach und nach sickern aber Informationen durch, die mich nachdenklich stimmen:

Aussagen und Videos von Touristen, die behaupten, die Unruhen seien ohne erkennbaren Anlass losgebrochen; es seien tatsächlich Geschäfte und öffentliche Gebäude angezündet und tatsächlich Chinesen angegriffen worden. Und warum muss der Dalai Lama seinen Rücktritt für den Fall androhen, dass seine Landsleute zu den Waffen greifen? Das kann doch nur bedeuten, dass diese Gefahr real besteht?

Angenommen, die Chinesen sagten die Wahrheit. Angenommen, die Unruhen seien tatsächlich inszeniert worden – wenn auch nicht vom Dalai Lama -, angenommen, sie hätten tatsächlich bereits vor Einschreiten der Staatsmacht bürgerkriegsartige Dimensionen erreicht, und angenommen, dabei seien tatsächlich friedliche chinesische Bürger getötet worden. Ist unter solchen Umständen nicht jeder Staat, Diktatur oder nicht, verpflichtet, solche Unruhen niederzuschlagen, notfalls auch mit eiserner Faust?

Früher war es auch in demokratischen Staaten üblich, dass die Polizei bei bürgerkriegsartigen Unruhen in die Menge schoss, um die Kontrolle zurückzugewinnen. Und üblich waren auch schwere Strafen für Unruhestifter.

Wenn das heute in Europa alles sanfter vonstatten geht, wenn regelmäßig die De-Eskalation versucht wird, so ist dies gewiss kluge Strategie. Ein Anspruch, auf den Gewalttäter sich berufen könnten, ist es aber keineswegs!

Schon gar nicht, wenn Unbeteiligte betroffen sind, wenn ihr Eigentum zerstört oder sie selbst getötet werden. Ein de-eskalierend pazifistischer Staat mag eine gute Presse haben, aber er verletzt seine Schutzpflichten gegenüber dem loyalen Bürger.

Mir scheint, dass man die Unruhen in Gang gesetzt hat, um eine PR-Schlacht gegen China zu entfesseln; mir scheint, dass man von den Kosovaren und den Palästinensern gelernt hat, wie man die Schwächen des westlichen Mediensystems für sich ausbeutet. Und allem Anschein nach haben auch die Chinesen ihre Schlussfolgerungen aus der Tatsache gezogen, dass die freie Berichterstattung (z.B. aus dem Gazastreifen) nicht die differenzierte journalistische Analyse gefördert hat, sondern die Sensations- und Meinungsmache durch spektakuläre Gewaltbilder. Kann man ihnen wirklich übelnehmen, dass sie sich das nicht antun wollen, von der Journaille auf dieselbe unfaire und verleumderische Art und Weise durch den Dreck gezogen zu werden wie Israel?

„Mir scheint“ heißt: Ich weiß es nicht. Die Informationen sind zu spärlich. Wer aber nach einem Olympiaboykott ruft, muss mir schon stärkere Argumente anbieten, als bisher erkennbar sind.

Die besondere Verantwortung

Angela Merkel stattet Israel einen großen Staatsbesuch mit sieben Ministern ab, inclusive einer Rede vor der Knesset und einer gemeinsamen deutsch-israelischen Kabinettssitzung. In Zukunft sollen regelmäßige Regierungskonsultationen stattfinden. Die Beziehungen zu Israel bekommen damit aus der Sicht Berlins den gleichen Rang wie die zu anderen strategisch wichtigen Partnern, etwa zu Frankreich.

Der Deutschlandfunk lässt indessen keine Gelegenheit vorübergehen, uns darauf hinzuweisen, dass diese undankbaren Saujuden das überhaupt nicht zu schätzen wissen.

So wird es natürlich nicht formuliert. Aber so muss es wohl gemeint sein, wenn der Reporter Sebastian Engelbrecht sich als Einstieg lang und breit darüber auslässt, dass sein israelischer Kollege Probleme damit hat, auf israelischem Boden das Deutschlandlied zu hören (als ob das politisch von Bedeutung wäre), und wenn die Moderatorin der „Informationen vor Mitternacht“ pikiert – und wiederum als Aufhänger – vermerkt, dass die israelische Öffentlichkeit sich wohl nicht sehr für den Besuch interessiere.

Wahrscheinlich würden mir solche Spitzen gar nicht weiter auffallen, würden sie nicht in einem Programmumfeld zum Besten gegeben, in dem noch das Attentat auf die Religionsschule in Jerusalem als Anlass zu kaum noch getarnten antisemitischen Gehässigkeiten herhalten muss; wo nach dem Motto, die Juden seien ja selbst schuld, tränendrüsendrückend der Attentäter bemitleidet wird, der „in seinem kurzen Leben“ (Bettina Marx) – über das man zu diesem Zeitpunkt so wenig wusste, dass noch nicht einmal klar war, zu welcher Terrorbande er eigentlich gehörte – so viel Unrecht habe erdulden müssen, unter anderem von „reichen Juden“ (dies.), weil für die in Ostjerusalem eine „Luxussiedlung“ gebaut werde. Die reichen Juden – wieso kommt mir das nur so bekannt vor?

Primär geht es mir allerdings nicht um diesen gebührenfinanzierten Antisemitismus – ich musste das nur einmal loswerden -, sondern um die deutsche Israelpolitik. Ich finde es ausgesprochen begrüßenswert, dass die deutsche Regierung die Beziehungen zu Israel so eng und konstruktiv wie möglich gestalten will. Ich zweifle auch nicht daran, dass es Angela Merkel persönlich sehr ernst damit ist.

Nur kann Israel sich von den persönlichen Gefühlen der Bundeskanzlerin wenig kaufen – auf die Taten kommt es an, und zwar vor allem auf solche Taten, die die Feinde Israels betreffen, und die darauf abzielen, die von ihnen ausgehende Bedrohung zu verringern.

Es ist nicht konsequent, zutreffend das iranische Atomprogramm mit der Aufrüstung Hitlers zu vergleichen und vor einer Appeasementpolitik im Stil der dreißiger Jahre zu warnen, sich dann aber nicht etwa der Boykottpolitik der Amerikaner anzuschließen, sondern sich hinter dem Weltsicherheitsrat zu verstecken, in dem Russland und China zuverlässig alle wirkungsvollen Sanktionen gegen den Iran verhindern – genau im Stil der dreißiger Jahre, als England und Frankreich durchgreifende Sanktionen des Völkerbundes gegen Mussolinis Abessinienkrieg trickreich abzuwenden wussten.

Natürlich würde eine solche Politik Deutschland Geld kosten: ungefähr zwei Promille (nicht Prozent!) des deutschen Bruttosozialprodukts; der Export nach dem Iran verhält sich nämlich zu Deutschlands Sozialprodukt wie ein Zwanzig-Cent-Stück zu einem Hundert-Euro-Schein. Den Iran aber würde der Fortfall der deutschen Lieferungen, vor allem von strategisch bedeutsamen Industrieausrüstungen, vor erhebliche Probleme stellen. Ist es unter solchen Umständen ungerecht zu sagen, dass die Sprüche von der „besonderen Verantwortung Deutschlands für Israel“ keine 20 Cent wert sind?

Die Israelfreundlichkeit der deutschen Politik reicht genau so weit, wie man sie politisch korrekt mit dem Hinweis auf die Shoah und auf die zitierte „besondere Verantwortung“ legitimieren kann. Jenseits davon begäbe man sich in das Sperrfeuer einer öffentlichen Meinung, die von den Medien – und der Deutschlandfunk ist keineswegs das schlimmste Beispiel – systematisch pro-palästinensisch indoktriniert wird.

Natürlich kann es nicht Aufgabe gewählter Politiker sein, Medienschelte zu betreiben; zu schnell wittert die Öffentlichkeit einen Eingriff in die Pressefreiheit, und die Medien selbst sind gegenüber der Kritik von Politikern mindestens so hartleibig wie die Europäische Zentralbank. Solange aber unsere Politiker, und sei es durch Schweigen, den Eindruck erwecken, diese Kritik zu teilen, darf man sich nicht wundern, dass der genasführte Bürger ernsthaft glaubt, Israel sei eine Gefahr für den Weltfrieden, und dass die politisch korrekten geschichtsbewussten Phrasen bei ihm so ankommen, als würde Deutschland Israel nur aus schlechtem Gewissen unterstützen, nicht aber weil Israel eine befreundete Demokratie und obendrein im Recht ist.

Was spräche denn dagegen, sich als offizielle deutsche Position den völkerrechtlich unangreifbaren Standpunkt zu Eigen zu machen, dass Israel etwa bei seinen Militäraktionen im Gazastreifen von seinem Selbstverteidigungsrecht gemäß der UN-Charta Gebrauch macht? Dass es bedauerlich, aber nicht rechtswidrig ist, wenn dabei Zivilisten ums Leben kommen? Dass die Verantwortung dafür bei jenen irregulären Kombattanten (sprich Terroristen) liegt, die aus der Zivilbevölkerung heraus Kampfhandlungen vornehmen? Und dass eine kriegführende Macht nicht an das Prinzip der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne gebunden ist?

Ich glaube auch, dass es hilfreich wäre, wenn den Palstinensern klargemacht würde, dass sie keinerlei Unterstützung aus europäischen Steuergeldern mehr zu erwarten haben, wenn sie nicht ihre Terrorgruppen zerschlagen. Selbst wenn wir es nicht schaffen würden, diese Haltung – „Stoppt den Terror oder fresst Gras!“ – bei der EU durchzusetzen, würde allein die Tatsache, dass ein wichtiges westliches Land sich genau dafür einsetzt, den Effekt haben, dass die israelische Politik, den Gazastreifen tatsächlich nicht zu blockieren, überhaupt wahrgenommen und dann so human aussehen würde, wie sie tatsächlich ist.

Es könnte auch gewiss nicht schaden, auf eine Ausweitung der Unifil-Mission im Libanon zu drängen, mit der die Waffenlieferungen an die Hisbollah auf dem Landwege unterbunden würden. (Unsere Marine kreuzt vor der libanesischen Küste; das heißt, sie stellt sich bis an die Zähne bewaffnet vor ein fest verrammeltes Fenster, während die Tür – eben der Landweg von Syrien her – sperrangelweit offensteht.) Da die UNO dann aber deutsche Infanteristen anfordern würde, wird das niemals geschehen. Soviel zur b.V.D.f.I.

Aktuelle Literatur zum Thema „Islam“

Aktuelle Literatur zum Stichwort „Iran“

„Demokratischer Sozialismus“

In der Diskussion über „Kurt Beck und die Schmuddelkinder“ habe ich gegenüber Emett Grogan die Auffassung vertreten, die Linkspartei sei keinen Deut schlimmer als die SPD selbst, weil ihre Ideologie auch von bedeutenden Teilen der SPD vertreten werde.

Als wollte sie meine Einschätzung illustrieren, hat die Juso-Vorsitzende Franziska Drohsel (zweifellos die zarteste Versuchung, seit es den Sozialismus gibt)

Juso-Vorsitzende Franziska Drohsel fordert utopischen Sozialismus

dem „Tagesspiegel“ ein denkwürdiges Interview gegeben, das ich hier nur auszugsweise wiedergebe, das aber in Gänze zu lesen ich empfehle:

„Frau Drohsel, seit über 140 Jahren träumt die SPD vom „demokratischen Sozialismus“. Glauben Sie, dass dieser Idealzustand noch zu Ihren Lebzeiten eintritt?

Ob ich ihn wirklich erleben werde, ist nicht die Frage. Für uns Jusos und für die SPD hat der demokratische Sozialismus eine elementare Bedeutung. Er ist das, wofür wir kämpfen. Er ist unsere Vision.

Wodurch würde sich eine Gesellschaft des „demokratischen Sozialismus“ von der heutigen unterscheiden?

Dem SPD-Grundsatzprogramm zufolge leben die Menschen im demokratischen Sozialismus in Freiheit, Gleichheit und Solidarität zusammen.

Und weiter? Für uns Jusos ist im demokratischen Sozialismus das kapitalistische System nicht mehr das vorherrschende.

Die Marktwirtschaft in ihrer jetzigen Form würde abgeschafft?

Grundsätzlich würde das natürlich schon bedeuten, dass man das Marktprinzip als gesellschaftsstrukturierendes Element aufhebt.

Und dann?

Es wäre dann so, dass auch die Wirtschaft nach demokratischen Prinzipien geführt würde, also aufgrund von Mehrheitsentscheidungen. Das heißt ja nicht, dass es keine Konkurrenz um die besten Ideen geben kann.

Sie meinen das ganz ernst, oder?

Natürlich. Wir brauchen eine andere Ordnung. Und ich glaube, dass Gesellschaft anders organisiert werden kann. Dieses System ist von Menschen gemacht und kann auch von Menschen wieder geändert werden. Es ist nicht zwangsläufig so, dass man im Kapitalismus lebt. Dieser Kapitalismus produziert massive Ungerechtigkeit, er schafft Armut und Verelendung in Deutschland und weltweit. Deshalb brauchen wir eine Alternative.

Von der Sie aber nicht so genau sagen können, wie sie aussieht und welchen Preis die Menschen dafür zahlen müssten.

Das Schöne am demokratischen Sozialismus ist doch, dass er kein fester Zustand ist, den irgendeine Organisation definiert, sondern ein Prozess, an dem alle beteiligt sind, eine Vision, für die man kämpfen kann.“

Wir brauchen also eine Alternative zum Kapitalismus, nämlich den Sozialismus, und den haben wir uns als eine Art Wirtschaftsdemokratie vorzustellen.

Ich bekenne freimütig, dass es Zeiten gegeben hat, wo ich auch solches Zeug dahergeredet habe. Aber da war ich siebzehn! Nicht siebenundzwanzig! (Und ich war auch nicht Vorsitzender einer Organisation mit mehreren zehntausend Mitgliedern.) Vielleicht ist es mehr als nur eine Äußerlichkeit, dass Franziska Drohsel mindestens zehn Jahre jünger aussieht, als sie ist.

Mit siebenundzwanzig verstand ich mich zwar auch noch als links, hatte mich aber längst von allen utopischen Sozialismusentwürfen verabschiedet. Ich kam nämlich nicht umhin, aus dem Zusammenbruch des realen Sozialismus die theoretische Konsequenz zu ziehen, dass es so etwas wie einen demokratischen Sozialismus nicht geben kann. Dass eine demokratische Gesellschaft von sich aus nicht den Sozialismus einführt, sollte als empirisch erwiesen gelten. Eine sozialistische Gesellschaft aber, die sich demokratisiert, das wissen wir seit 1989, hört in dem Moment, wo sie das tut, auf, sozialistisch zu sein. Und das kann auch nicht anders sein, weil eine demokratisch verfasste Gesellschaft niemals auf die Schnapsidee verfallen kann, sich einem System zu unterwerfen , in dem man zehn Jahre auf seinen Trabi warten muss. (Dass ich nicht schon vor 1989 auf diesen Gedanken gekommen bin, ist mir hochgradig peinlich, aber ich will meinen Lesern gegenüber ja ehrlich sein.)

Sozialismus, verstanden als „Wirtschaftsdemokratie“, heißt ja nicht etwa „Konsumentendemokratie“ – eine solche gibt es bereits, wenn auch mit nach Kaufkraft gestaffeltem Wahlrecht; man nennt so etwas auch „Marktwirtschaft“. Sondern sie bedeutet, dass man die Gebote von Effizienz und Rentabilität durch die einer wie auch immer gearteten „Demokratie“ der Produzenten ersetzt. Selbst wenn diese „Demokratie“ nicht zur Diktatur einer Planbehörde entarten würde – was sie zwangsläufig müsste, um überhaupt irgendwie zu funktionieren -, wären wir spätestens dann an dem Punkt, wo wir die Trabi-Warteliste einführen müssten.

Wirklich erschütternd ist die Ignoranz, mit der die Linke so tut, als befänden wir uns immer noch im Jahre 1975; als hätte es also den Sozialismus und seinen Zusammenbruch nie gegeben, und als könnte eine Juso-Vorsitzende im Jahre 2008 immer noch mit derselben Naivität zu Werke gehen wie ein Schüler-Revoluzzer der siebziger oder achtziger Jahre. Noch erschütternder ist, dass Drohsel nicht etwa vom allgemeinen Hohngelächter aus der Politik gespült, sondern ernstgenommen wird. Und da sie demokratisch gewählt ist, müssen wir annehmen, dass sie die Mehrheitsmeinung der Jungsozialisten, also der übernächsten Führungsriege der SPD wiedergibt.

Ich werde meine Zeit nicht darauf verschwenden, noch einmal einen Sozialismus zu zerpflücken, der historisch so widerlegt ist wie er es theoretisch immer war. Ich möchte nur auf die Denkweise aufmerksam machen, die hinter solchen Vortellungen steht:

Diesem Denken liegt keine auch nur halbwegs plausible Gesellschaftsanalyse zugrunde, auch keine kritische und erst recht keine marxistische. Hier werden einfach verschwommene Gerechtigkeitsideale in Utopien übersetzt, die Wirklichkeit an diesen Utopien gemessen, und wenn die Wirklichkeit mit ihnen nicht übereinstimmt: Umso schlimmer für die Wirklichkeit. Wir haben es mit einer holzschnittartigen, rigiden und apodiktischen Denkweise zu tun, die man normalerweise nur bei pubertierenden Jugendlichen antrifft. Zugleich mit einer für Teenager verzeihlichen asozialen Verantwortungslosigkeit, mit der man den Rest der Menschheit als eine Population von Versuchskaninchen auffasst, an denen man die eigenen Ideen testet.

Und nicht vergessen: Das sind keine autonomen Kreuzberger Kneipenbesatzungen, die nachts um drei die Weltrevolution planen. Das sind Leute, die in absehbarer Zeit unser Land regieren wollen.

Die Kollaborateure des Djihad

Wenn ich meine Spülmaschine reparieren lasse, einen Anwalt konsultiere, ein Taxi nehme, mit einem Anlageberater spreche, kurzum: wenn ich eine Dienstleistung in Anspruch nehme, die ein gewisses Expertenwissen voraussetzt, dann bin ich darauf angewiesen, dem „Experten“ ein gewisses Vertrauen entgegenzubringen, insbesondere mich auf seine Kompetenz und Integrität zu verlassen. Einen Missbrauch dieses Vertrauens nennt man Täuschung, und, sofern strafrechtlich relevant, Betrug.

Auch die Gesellschaft als Ganze ist auf solche Dienstleistungen angewiesen, insbesondere auf solche der Medien und der Wissenschaft. Die Öffentlichkeit hat einen Anspruch darauf, nicht getäuscht oder manipuliert zu werden.

Das heißt ja nicht, dass Wissenschaftler oder Journalisten keinen politischen Standort haben oder den nicht zum Ausdruck bringen dürften. Es gibt aber eine rote Linie, jenseits derer Journalismus und Wissenschaft zu Propaganda und Meinungsmache entarten, und die wird spätestens dort überschritten, wo der geltende professionelle Standard nicht eingehalten, seine Einhaltung aber vorgetäuscht wird.

Der „Tagesspiegel“ vom vergangenen Samstag berichtete über eine Studie des amerikanischen Islamwissenschaftlers John Esposito von der Georgetown University, die, gestützt auf eine Gallup-Umfrage unter 50.000 Muslimen in 35 Ländern, unter anderem zu dem Schluss kommt, 93 Prozent aller Muslime seien „politisch moderat“, eine Mehrheit befürworte die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie die Demokratie, und die Abneigung gegen den Westen sei auf dessen mangelnden Respekt gegenüber dem Islam zurückzuführen. Der Verfasser des Artikels, Martin Gehlen, zieht daraus den Schluss, Vorbehalte gegenüber dem Islam seien „offensichtlich“ wenig begründet.

Es gehört zu den selbstverständlichen Standards sauberen Journalismus, bei der Berichterstattung über gesellschaftwissenschaftliche Studien den Leser darauf hinzuweisen, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass außerwissenschaftliche Interessen im Spiel sein könnten. So ist es zum Beispiel üblich, bei wirtschaftswissenschaftlichen Veröffentlichungen die Arbeitgeber- bzw. Gewerkschaftsnähe des betreffenden Instituts zu erwähnen.

Entsprechend wäre es Gehlens Pflicht gewesen, den Leser (der das nicht wissen kann) darauf aufmerksam zu machen, dass Esposito an der Georgetown University das „Prince Alwaleed bin Talal Center for Muslim Christian Understanding“ leitet; und wenn er besonders gründlich recherchiert hätte, wäre er auch darauf gestoßen, dass dieses Institut seinen Namen sowie Finanzmittel in Höhe von 20 Mio. Dollar einem Mitglied der saudischen Königsfamilie verdankt, dass Esposito und sein Institut seit Jahren eine politische Agenda verfolgen, und dass diese Agenda darin besteht, den Islam möglichst gut aussehen zu lassen. Diesen sachlich relevanten Hintergrund nicht einmal anzudeuten ist eine Irreführung, die kaum weniger schwer wiegt als eine direkte Lüge.

Ein vierspaltiger (!) Artikel auf Seite 2 (!) erweckt den Eindruck, der Autor habe die Studie gelesen und sich mit ihrem Inhalt auseinandergesetzt. Auch dies eine Irreführung, die einer Lüge gleichkommt: Tatsächlich ist die Studie erst am vergangenen Dienstag (drei Tage vor Redaktionsschluss 29.02.08) veröffentlicht worden, im Internet nicht verfügbar und wird erst im März im Buchhandel erhältlich sein; Gehlen kann sie gar nicht gelesen haben. Die verfügbaren Informationen beruhen allem Anschein nach auf der Eigenwerbung Espositos und der Georgetown University und den darauf bezogenen Pressemitteilungen. Nichts hätte dagegen gesprochen, das Erscheinen der Studie abzuwarten und sie dann gründlich zu besprechen; die Vorab-Lobhudelei ist das journalistische Äquivalent des vorzeitigen Samenergusses.

Ungefähr die Hälfte des Artikels ist mit – durchweg zustimmenden – Stellungnahmen von Islamwissenschaftlern gefüllt; hier wird – wiederum irreführend – der Eindruck erweckt, es habe eine breite wissenschaftliche Rezeption der Studie gegeben, die es nicht gegeben haben kann, siehe oben, und es bestehe ein zustimmender Konsens der Wissenschaft. Letzterer Eindruck wird dadurch erzeugt, dass kein einziger Gelehrter mit islamkritischem Profil befragt wird. Auch dies eine Täuschung des Lesers.

Dabei weisen schon die wenigen bekannten, teilweise von Gehlen selbst aufgeführten Ergebnisse Espositos Studie als ein wissenschaftlich zweitklassiges Machwerk aus:

So seien 7 Prozent der Muslime „politisch radikalisiert“, während 93 Prozent „politisch moderat“ seien. Unter den „Extremisten“ liege die Zustimmung zur Demokratie aber bei 50 Prozent. Einem Kind muss auffallen, dass ein „demokratischer Extremist“ ein schreiender Widerspruch in sich ist! (Herrn Gehlen fällt es nicht auf.) Hier stellt sich die Frage, ob die Begriffsdefinitionen überhaupt der gängigen politikwissenschaftlichen Begrifflichkeit von „Demokratie“ bzw. „Extremismus“ entsprechen. Aus anderen Quellen erschließt sich, dass als „extremistisch“ eingestuft wird, wer Terrorismus, insbesondere die Terroranschläge des 11. September gutheißt. Nach einer solchen Definition aber wären nicht einmal Kommunisten als extremistisch einzustufen! Die großen marxistischen Parteien nämlich haben Terrorismus als Mittel der Revolution traditionell immer abgelehnt. Es handelt sich offensichtlich um eine Ad-hoc-Definition, die von ideologischen Inhalten völlig absieht. Gerade auf diese Inhalte kommt es aber bei der Definition von „extremistischen“ im Unterschied und Gegensatz zu demokratischen Positionen entscheidend an.

Mehr noch: Es wird der Eindruck erweckt, als sei von „Extremismus“ in unserem westlichen Verständnis des Wortes die Rede, während der Definition in Wahrheit das islamische Verständnis zugrundeliegt. Nach islamischem Verständnis ist selbstverständlich kein Extremist, wer die Steinigung von Ehebrecherinnen, die Diskriminierung von Christen, die Todesstrafe für Apostaten und die Ermordung islamkritischer Schriftsteller – mit einem Wort: die Geltung der Scharia – befürwortet.

Was würde man eigentlich von einem Antisemitismusforscher halten, der die Verbreitung antisemitischer Einstellungen daran messen wollte, ob die Frage „Sind sie Antisemit?“ mit „Ja“ beantwortet wird, und der aus den Ergebnissen schließen würde, 99 Prozent der Deutschen hätten keine antisemitischen Vorbehalte? Man würde ihn für einen einfältigen Narren halten, der das Abfragen von Lippenbekenntnissen mit Wissenschaft verwechselt. Für den Sozialwissenschaftler kommt es aber gerade darauf an, solche Bekenntnisse kritisch zu hinterfragen. Also nicht, wie offenbar Esposito, zu fragen: „Sind Sie für die Demokratie?“, sondern zu fragen: „Soll der Gesetzgeber an Koran und Scharia gebunden sein?“, „Sollen Andersgläubige ihren Glauben frei praktizieren dürfen?“. Nicht zu fragen: „Sind Sie für die Gleichberechtigung von Mann und Frau?“, sondern „Sind Sie für die Gleichberechtigung auch dann, wenn es dem islamischen Recht widerspricht?“ oder „Wären Sie damit einverstanden, dass Ihre eigene Frau berufstätig ist?“. Nur einmal als Beispiele dafür, wie ein kritischer Sozialwissenschaftler fragen würde.

(Und man sollte auch ins Grübeln kommen, wenn Muslime ihre Abneigung gegen den Westen mit dessen „Mangel an Respekt gegenüber dem Islam“ begründen. Wenn dreitausend Moscheen allein in Deutschland gegen null Kirchen in Saudi-Arabien ein Zeichen von mangelndem Respekt sind: Wie haben wir uns den von Muslimen erwarteten „Respekt“ dann eigentlich vorzustellen? Und welches Verständnis von Meinungsfreiheit und individueller Autonomie offenbart ein Sozialwissenschaftler, der „mangelnden Respekt“, also ein Gefühl, als etwas Böses brandmarkt, das es zu bekämpfen gelte? Und schließlich: Was um alles in der Welt soll ich denn am Islam respektieren?)

Und nicht zuletzt zeigt sich die ideologische Disposition der Befragten, aber auch der sie befragenden Wissenschaftler, am Verhältnis zum Existenzrecht Israels (weil dieses Existenzrecht eben unter Berufung auf islamisches Recht bestritten wird). Wenn man schon die Zustimmung zu Terrorismus zum Lackmustest für Extremismus macht, warum dann nur die Anschläge des 11. September? Warum stellt man nicht die Frage, ob der Befragte Terrorismus gegen Israel befürwortet? Offensichtlich deshalb, weil dann Ergebnisse herauskommen würden, die zum Bild des „moderaten Islam“ nicht passen würden. Die Ermordung von Juden zu befürworten ist in den Augen Espositos und seiner Claqueure offenbar kein hinreichendes Indiz für „politischen Extremismus“.

Im übrigen ist es ein allgemein bekanntes Problem der Umfragesoziologie, dass Befragte dazu neigen werden, diejenigen Antworten zu geben, von denen sie glauben, dass der Interviewer sie hören möchte, und es gehört zur wissenschaftlichen Sorgfalt, diesen Störfaktor so weit wie möglich auszuschalten. Methodenlehre, zweites Semester.  Und nun stelle ich mir vor, ein Interviewer stellt sich als Vetreter eines amerikanischen Meinungsforschungsinstituts vor (eben Gallup), und fragt: „Befürworten Sie die Anschläge des 11. September?“ Da erübrigt sich jeder Kommentar.

Auf dieser Linie etwa wird sich die wissenschaftliche Kritik bewegen. Der deutsche Zeitungsleser wird davon aber nichts mehr erfahren. Was ihm im Gedächtnis haften bleiben wird, ist, dass 93 Prozent aller Muslime politisch moderat und Vorbehalte gegen den Islam offensichtlich unbegründet seien.

 

 

Aktuelle Literatur zum Thema „Islam“

Aktuelle Literatur zum Stichwort „Djihad“

Kurt Beck und die Schmuddelkinder

Scheinbar war es eine Überraschung, dass ausgerechnet Kurt Beck vor ein paar Tagen durchblicken ließ, die hessische SPD-Vorsitzende Y werde sich mit den Stimmen der Linkspartei zur Ministerpräsidentin wählen lassen. Ausgerechnet Beck, dem schon die Grünen zu weit links waren, um in Rheinland-Pfalz mit ihnen zu koalieren! Dieses Urgestein der konservativen SPD vergisst alle heiligen Eide, man werde niemals mit den Linken zusammengehen, und kündigt an, den Schmuddelkinderstatus der Linkspartei aufzuheben.

Die Empörung des politischen Gegners, aber auch der neutralen Kommentatoren ließ nicht auf sich warten: Wahlbetrug! Wortbruch! Ja, das ist es. Und zugleich ist es die einzig richtige Entscheidung.

Damit man mich richtig versteht: Ich bin gegen alle linken Parteien, auch gegen die SPD. Von deren Vorsitzenden kann ich aber nicht fairerweise erwarten, dass er meinen Standpunkt teilt.

Rein sachlich drängt sich eine Zusammenarbeit der beiden sozialistischen Parteien geradezu auf: Die SPD hat mit den Linken größere programmatische Schnittmengen als sie mit den Grünen jemals hatte, zumal die Linken bei der SPD abschreiben und die SPD sich ihnen beim letzten Parteitag deutlich angenähert hatte. Zudem besteht die Linkspartei im Westen überwiegend nicht aus linksradikalen Sektierern, sondern aus Gewerkschaftern und Ex-Sozialdemokraten – das ist Fleisch vom Fleische der SPD.

Und machtpolitisch hat Beck nicht die kleinste praktikable Alternative: Die Linke hat sich etabliert, daran wird sich nichts mehr ändern, und deswegen wird es für Rot-Grün nur noch in Ausnahmefällen reichen. Die Sozialdemokraten können also entweder mit den Linken zusammenarbeiten, oder ihre einzige Regierungsperspektive ist die Große Koalition, und das heißt: der Selbstverschleiß und der Verlust von noch mehr Wählern an die Linkspartei.

Vor einer solchen Situation stand die SPD schon einmal, als in den achtziger Jahren die Grünen aufkamen. Auch da wurden regelmäßig heilige Eide geschworen, niemals mit denen…

Und regelmäßig wurden sie gebrochen: In den achtziger Jahren in Hessen(!), 1989 in Berlin, 1995 in Nordrhein-Westfalen. Auch zugunsten der Linkspartei bzw. PDS ist die SPD schon einmal umgefallen: 1994 in Sachsen-Anhalt. In solchen Dingen ist die SPD also die Umfallerpartei par excellence. Es mag sein, dass es in Hessen Menschen gegeben hat, die die SPD wegen ihres Versprechens gewählt haben, nicht mit den Linken zusammenzugehen, und die wirklich geglaubt haben, diesmal würde die SPD aber nicht umfallen – pardon, aber solche Einfaltspinsel gehören betrogen!

Die SPD hat keine Wahl. Und der kaltschnäuzige Macchiavellismus, mit dem Beck aus dieser Erkenntnis die Konsequenzen zieht, sichert ihm meinen Respekt. Mehr noch: Er macht sich damit um die Republik verdient.

Was wäre denn, wenn die SPD sich dauerhaft in der Großen Koalition einrichten würde? Wenn die Erfahrungen der letzten beiden Jahre irgendetwas beweisen, dann doch dies: dass in einer Großen Koalition beide Partner an Profil und Mobilisierungsfähigkeit verlieren, dass beide sich auf die politische Mitte konzentrieren und in ihr präsent sein müssen; dass die CDU nicht rechts sein kann, wenn die SPD nicht links ist. Und dass dem Wähler dauerhaft die reale Chance verwehrt wird, die gerade amtierende Regierung abzulösen.

Orientiert sich die SPD dagegen auf ein Linksbündnis, dann lösen sich die verkrampften Blockaden, die gegenwärtig die Regierungsbildung in Hessen erschweren (und die deutschlandweit zum Dauerzustand würden, wenn die Linken weiterhin als Schmuddelkinder ausgegrenzt würden), und der Wähler bekommt wieder die Wahl zwischen Links und Rechts.

Bleibt nur ein Problem: Das Aufkommen der Linkspartei hat die politische Linke nicht etwa geschwächt, sondern gestärkt. Zum einen erreicht diese Partei Wähler, die sonst wahrscheinlich zuhause geblieben wären oder irgendwelche Protest-Splitterparteien gewählt hätten, zum anderen werden durch sie spezifisch linke Positionen in einer Klarheit und Prägnanz öffentlich artikuliert, die die SPD selbst sich gar nicht leisten könnte, von der sie aber profitiert, weil die öffentliche Meinung auch in der Mitte dadurch beeinflusst wird.

Statt sich darüber aufzuregen, täte die konservative Rechte gut daran, sich zu fragen, ob man von Lafontaines Erfolgsrezept nicht etwas lernen kann. Auf der politischen Rechten, etwa im christlich-konservativen oder nationalkonservativen Spektrum gibt es viele Wähler, die sich von der CDU so wenig vertreten fühlen wie linke Sozialdemokraten von der SPD, und mit Roland Koch haben sie eine ihrer letzten Identifikationsfiguren verloren. Wenn das bürgerliche Lager mit dem linken wieder gleichziehen und nebenbei verhindern will, dass rechte Protestwähler sich bei der NPD sammeln, dann sollte es das rechtskonservative Spektrum mit einer eigenen Partei bedienen. Entweder durch bundesweite Ausdehnung der CSU, oder, wenn die sich das nicht traut, durch Gründung einer neuen Partei. Die Preisfrage lautet: Wer macht den rechten Lafontaine?

Gelesen: Karl-Heinrich Bette/Uwe Schimank, Die Dopingfalle

Wenn – wieder einmal – ein Dopingsünder entlarvt wird, teilt sich die sportinteressierte Öffentlichkeit regelmäßig in zwei Fraktionen, nennen wir sie die idealistische und die zynische. Die Idealisten empören sich über „dieses Schwein“, die Zyniker gehen davon aus, dass ohnehin jeder erfolgreiche Sportler gedopt sei und dass die  gedopten sich von den angeblich sauberen nur dadurch unterschieden, dass sie dumm genug gewesen seien, sich erwischen zu lassen.

Beide Fraktionen stellen fest, dass ein schwerer Verstoß gegen offiziell geltende Normen, nämlich gegen das Gebot der sportlichen Fairness, vorliegt; während die Idealisten glauben, dass solche Vertstöße auf charakterliche Defekte zurückzuführen seien, halten die Zyniker die Normen des sauberen Sports bereits als solche für raffiniert inszenierte Heuchelei, die allenfalls der Sozialromantik des Publikums entgegenkommen will.

In jüngster Zeit haben die Zyniker deutlich Oberwasser bekommen, seit sich der gesamte Profiradsport als just der Augiasstall entpuppt hat, für den nicht nur Zyniker, sondern überhaupt alle kritischen Zuschauer ihn immer gehalten haben.

Bette/Schimank haben mit „Die Dopingfalle. Soziologische Betrachtungen“ (Bielefeld 2006) eine soziologische Analyse vorgelegt, die auf den ersten Blick den Zynikern Recht zugeben scheint. Sie stellen nüchtern fest, dass Doping zu weit verbreitet ist, um noch mit bloßen Charakterschwächen Einzelner erklärt werden zu können. Die von Sportfunktionären gern bemühte Metapher von den „schwarzen Schafen“ ist bestenfalls naiv.

Doping, dies die These von Bette/Schimank, wird von den sozialen Strukturen, in denen moderner Spitzensport stattfindet, nicht nur begünstigt, sondern geradezu herausgefordert:

Da ist zunächst der Athlet selbst: Will er zur Weltspitze gehören, so muss er sein gesamtes Leben den Anforderungen des Sports unterordnen, sich mit Haut und Haaren der Athletenrolle verschreiben und auf außersportliche Berufsoptionen ebenso verzichten wie auf ein normales Privatleben. Auch wenn es ein wenig überspitzt ist: Im Prinzip ist das tatsächlich so.

Der Athlet geht damit ein enormes biographisches Risiko ein: Scheitert er nämlich als Sportler – und gescheitert ist bereits, wer es nicht unter die weltweit besten Zwanzig oder Dreißig seiner Sportart schafft -, dann steht er als Dreißigjähriger vor dem Nichts.

Alle Athleten stehen daher unter dem Zwang, das Scheitern zu vermeiden (wobei es in der Natur der Sache liegt, dass Viele scheitern müssen), und alle Athleten wissen das auch voneinander. Was sie nicht wissen, ist, ob der jeweils Andere sich auf die legalen und erwünschten Mittel zur Leistungssteigerung verlässt, oder ob er dopt. Je größer die Zweifel an der Ehrlichkeit der Konkurrenz, desto größer der Anreiz, dem unterstellten Doping Anderer durch eigenes Doping, also defensiv, zu begegnen. Da dies wiederum Alle voneinander wissen („Er glaubt, ich dope, also dopt er, also muss ich ebenfalls dopen“) kann Doping buchstäblich aus dem Nichts entstehen und selbst von solchen Sportlern praktiziert werden, die solche Praktiken an sich ablehnen.

(Eine solche Analyse ist typisch für die Denkweise von Soziologen, und wer möchte, kann die Studie durchaus als Einführung in das soziologische Denken lesen. Der Stil ist übrigens weit entfernt von dem berüchtigten „Soziologenlatein“; natürlich sollte man eine gewisse Erfahrung im Umgang mit abstrakt analytischen Texten haben und nicht schon vor Worten wie „System“, „Akteur“ oder „Komplexität“ kapitulieren, wenn man das Buch mit Gewinn lesen will, aber für den gebildeten Laien ist es gut verständlich.

Die Soziologie betrachtet soziale Strukturen als Strukturen gegenseitiger Erwartungen. Sie sind also nicht einfach die Summe individueller Absichten und Handlungen, sondern diese Absichten und Handlungen sind bereits vor-entschieden durch die Erwartungen darüber, was Andere tun bzw. erwarten, während sie selbst zugleich auf ebendiese Erwartungen einwirken. Typischerweise stabilisieren sich solche Erwartungen wechselseitig – wie eben im Fall des defensiven Dopings. Ein anderes Beispiel ist die Stabilität politischer Macht: An sich ist es doch erstaunlich, dass sogar höchst unpopuläre Diktaturen sich oft über Jahrzehnte an der Macht halten und nicht einfach einem Volksaufstand zum Opfer fallen. Natürlich ist die Diktatur bewaffnet und das Volk nicht, aber es sind wenige Bewaffnete, die vielen potenziellen Aufständischen gegenüberstehen. Nur glaubt von denen jeder Einzelne, die Anderen würden sich nicht erheben, daher tut er es selbst ebenfalls nicht und bestätigt damit unfreiwillig die Erwartung jedes Anderen, der glaubt, die aus seiner Sicht Anderen würden sich nicht erheben. Das Ergebnis dieser wechselseitigen Erwartungen ist, dass das Volk ruhig und die Diktatur stabil bleibt.)

Dabei ist der Sportler nur das letzte Glied einer Kette von Akteuren, die alle dazu beitragen, den strukturellen Zwang zum Doping zu verfestigen, die aber den Sportler („das schwarze Schaf“) als Sündenbock benutzen, wenn er erwischt wird:

Da ist zunächst das unmittelbare Umfeld – Trainer, Vereine, Mediziner usw., die vom Erfolg des Athleten selbst abhängig sind und entsprechenden Erfolgsdruck aufbauen. Da ist der Verband, der nur die erfolgreichen Sportler fördert. Dieser Verband steht seinerseits unter Druck: Spitzensport funktioniert nur, solange Sponsoren zahlen, Politiker knappe Haushaltsmittel lockermachen, das Fernsehen überträgt und die Zuschauer jubeln. Dies alles geschieht nicht, wenn die Erfolge ausbleiben. Der Sportler, der glaubt, dopen zu müssen (weil die anderen auch…), der Verband, der das dulden zu müssen glaubt (weil die konkurrierenden Verbände auch…), kann die Aufforderung (der Wirtschaft, der Politik, der Medien, des Publikums) gleichzeitig erfolgreich und sauber zu sein, nur als stillschweigende Aufforderung verstehen: „Betrügt uns!“ – ist doch der Misserfolg in jedem Fall mit massiven Sanktionen bedroht, Doping dagegen nur, sofern es auffliegt (und auch dann nur für den Athleten selbst). Die sich aufdrängende Strategie ist in einer solchen Situation die Heuchelei. Der Verband versichert, alles gegen Doping zu unternehmen, lässt es aber bei Scheinaktivitäten bewenden – also bei bloßen Appellen oder bei Verschärfungen der Kontrollen, die gerade ausreichen, damit die Dümmsten – aber eben nur die! – den Kontrolleuren ins Netz gehen, was dann wiederum der „Beweis“ ist, „dass die Kontrollen greifen“, während die raffinierteren Betrüger weiterdopen.

Wer durchaus will, kann „Die Dopingfalle“ als Bestätigung der Zynikerthese lesen, einen sauberen Spitzensport gebe es nicht. Nur wird diese These von den Autoren explizit zurückgewiesen: Sie weisen darauf hin, dass in den ZGS-Sportarten (Zentimeter-Gramm-Sekunde, also alles, wo man Rekorde aufstellen kann) das Leistungsniveau nach Verschärfung der Dopingkontrollen in den neunziger Jahren deutlich zurückgegangen ist; und sie führen eine Reihe von Faktoren an, die dem Doping entgegenwirken:

Es gibt nach wie vor Athleten von so herausragendem Talent, dass sie Doping einfach nicht nötig haben; es gibt die Abschreckungswirkung von Dopingkontrollen (die ja nicht nur Heuchelei sind); es gibt die Angst vor Gesundheitsschäden; es gibt Sportler, die nicht um jeden Preis gewinnen müssen, weil ihnen alternative Karriereoptionen offenstehen. Und es gibt Sportmilieus, in denen Doping geächtet ist und Verbände, die den Kampf dagegen ernstnehmen, in denen gedopte Athleten jedenfalls nicht auf stillschweigende Duldung spekulieren sollten.

Dieser letzte Punkt ist sehr wichtig: Bette/Schimank analysieren Doping als Effekt einer sozialen Konstellation; sie weisen zugleich darauf hin, dass es soziale Konstellationen gibt, die Doping unwahrscheinlich machen. Diesen Punkt führen sie aber nicht weiter aus, weil er jenseits ihres Erkenntnisinteresses liegt; sie wollen ja die Existenz von Doping erklären, nicht die von Dopingabstinenz. Verständlich, aber ein wenig schade.

Denn gerade die Frage, wo Doping wahrscheinlich nicht vorkommt, ist für Sportfans von besonderem Interesse. Wozu ist man denn Fan, wenn nicht dazu, ab und zu Kind sein und sich ganz naiv für etwas begeistern zu dürfen? Da man aber kein Kind ist und deshalb weiß, dass im Spitzensport viel betrogen wird, steht man vor der Wahl, davor entweder die Augen zu schließen – was einem Erwachsenen schwerfallen dürfte – oder sich ganz nüchtern und kritisch zu fragen: Wem kann man trauen? An dieser Stelle verlasse ich die Rezension des Buches und frage selber weiter.

Wer Doping freilich für die unschlagbare Wunderwaffe hält, gegen die kein Kraut gewachsen sei, wird die Frage müßig finden; allerdings müsste er diese seine These erst einmal hieb- und stichfest begründen. Ich kann jedenfalls nicht erkennen, warum die legalen und erwünschten Mittel der Leistungssteigerung den illegalen und unerwünschten von vornherein unterlegen sein sollten. Das wären sie allenfalls, wenn alle Athleten dasselbe Talent hätten, wenn sie gleiche Trainingsmethoden anwendeten, wenn alle Trainer gleichermaßen kompetent wären, wenn Alle die gleiche psychologische Vorbereitung erführen und gleichermaßen perfektionistisch arbeiteten, wenn alle Verbände das gleiche Nachwuchspotenzial, die gleiche Sportförderung, den gleichen trainingswissenschaftlichen Erkenntnisstand und die gleichen Trainingsmöglichkeiten hätten – kurz und gut: Doping bietet den alles entscheidenden Vorteil nur unter Ceteris-paribus-Bedingungen, die in der Realität niemals gegeben sind. Gedreht werden kann an vielen Schrauben; die illegalen sind nicht notwendig die entscheidenden, und der gedopte Athlet muss erst einmal den psychologischen Nachteil kompensieren, dass sein innerer Schweinehund ihm zuflüstert: „Was strengst Du Dich so an, Du hast doch Deinen Zaubertrank…“

Die Frage „Wem kann man trauen?“ ist also weder müßig noch naiv. Natürlich ist niemand Hellseher, aber es gibt schon ein paar Faustregeln, an denen man sich orientieren kann. Es ist sogar bemerkenswert einfach zu entscheiden, zu wem man Vertrauen haben kann und zu wem nicht.

Während ich „Die Dopingfalle“ las, wurde diese Frage plötzlich hochaktuell, als in der vergangenen Woche eine auf einer anonymen Strafanzeige basierende Liste mit den Namen deutscher Biathleten erschien, die angeblich bei einer Wiener Blutbank Blutdoping betrieben haben sollen. Meines Erachtens ist an dieser Beschuldigung kein wahres Wort.

Ich habe bereits in einem der vorherigen Beiträge erwähnt, dass ich Biathlonfan bin. Ich habe also Vertrauen zu den Athleten. Aber nicht deshalb, weil ich Fan bin, sondern umgekehrt: Ich bin Fan, weil ich Vertrauen habe. 

Im Folgenden werde ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Zum einen werde ich das tun, was ich sowieso vorhatte, also die erwähnten Faustregeln entwickeln und begründen; zugleich aber werde ich die Gelegenheit nutzen, die deutschen Biathleten gegen eine offensichtlich aus der Luft gegriffene Verleumdung in Schutz zu nehmen.

(Zu der genannten Anzeige nur ganz kurz, denn sich mit solchem Dreck auseinanderzusetzen ist eigentlich unter meiner Würde: Erstens ist sie anonym; so etwas kann von Jedem nach Belieben in die Welt gesetzt werden. Zweitens enthält sie kein einziges belastbares Indiz. Drittens führt sie als Kronzeugen den österreichischen Skirennläufer Stefan Eberharter an, der das umgehend als völligen Blödsinn dementiert hat – und woher hätte er auch die Namen von dreißig Sportlern wissen sollen, die Kunden bei dieser Blutbank sind? Viertens stehen außer den deutschen Biathleten nur noch solche Sportler auf der Liste, bei denen ohnehin Jeder davon ausgeht, dass sie gedopt sind, nämlich Radrennfahrer und österreichische Biathleten – man denke an Turin 2006. Komisch, nicht wahr? Wie müsste denn eine Liste aussehen, die darauf angelegt wäre, einer Verleumdung den Schein von „Glaubwürdigkeit“ zu verleihen? Genau so!)

Faustregel Nummer eins lautet, dass der Vorteil von gedopten Athleten umso größer und Doping daher umso wahrscheinlicher ist, je stärker eine Sportart die Grenzen menschlichen Leistungsvermögens schlechthin ausreizt: Über einen gedopten Gewichtheber wird man sich weniger wundern als über einen gedopten Fechter.

Die zweite Faustregel besagt, dass Doping umso weniger wahrscheinlich ist, je komplexer die Sportart ist. Da kein Athlet alle Komponenten einer komplexen Sportart gleichermaßen gut beherrscht, steht ihm als Alternative zum Doping stets die Option zur Verfügung, seine Leistung bei denjenigen Komponenten zu verbessern, bei denen er die Möglichkeiten der legalen Leistungssteigerung noch nicht ausgeschöpft hat; natürlich kann er trotzdem gedopt sein, aber der strukturelle Zwang ist geringer. Beispiel: Ein Langläufer, der merkt, dass er auch unter Ausschöpfung aller legalen Mittel keine Chance hat, an die Weltspitze zu kommen, steht vor der Alternative, sich damit entweder abzufinden oder eben zu dopen. Ein Biathlet dagegen hat die Option, seine Schießleistungen zu optimieren; und es gibt etliche Athleten – Martina Glagow zum Beispiel -, die gar keine herausragenden Läufer, aber dafür so phantastische Schützen sind, dass sie allein dadurch regelmäßig Erfolge einheimsen.

(Fasst man diese beiden Faustregeln zusammen, so muss man dem Biathlon als Sportart eine mittlere Dopinganfälligkeit bescheinigen: Es ist nicht so, dass Doping überhaupt nichts bringen würde, und es hat auch schon spektakuläre Dopingfälle gegeben – Pylewa, Rottmann, Perner, Varis -, aber der strukturelle Zwang ist deutlich geringer als bei Marathonläufern, Langläufern oder Schwimmern.)

Die Theorie, wonach bereits die bloße Gelegenheit zum Doping – bei kalkulierbarem Risiko – zwangsläufig dazu führen müsse, dass Jeder dopt, krankt bereits daran, dass sie der Alltagserfahrung widerspricht. Es gibt im Leben jedes Menschen Gelegenheiten, sich durch Verletzung von Sozialnormen Vorteile zu verschaffen: durch Zechprellerei, Schwarzfahren oder Steuerhinterziehung zum Beispiel. Da aber weder die Gastronomie noch die öffentlichen Verkehrsbetriebe noch der Staat pleite sind, drängt sich der Schluss auf, dass die meisten Menschen von diesen Gelegenheiten keinen Gebrauch machen.

Warum? Ich vermute, dass die meisten Menschen ein Bedürfnis danach haben, mit geltenden Sozialnormen nicht in Konflikt zu geraten (und dies gilt erst recht für Sportler, die aus einem konservativen ländlichen Milieu stammen). Natürlich gibt es den gewissenlosen Kriminellen, der auf jede Norm pfeift, aber dieser Typus dürfte selbst unter Gefängnisinsassen nicht die Regel sein. Genauso selten freilich ist der makellose Heilige, der eher verhungert, als ein Stück Brot zu stehlen. Die meisten Menschen (achtzig Prozent? neunzig Prozent? Ich weiß es nicht.) sind weder das eine noch das andere; sie sind schon fähig, Normen zu übertreten, aber sie fühlen sich nicht wohl dabei, versuchen es zu vermeiden und legen sich, wenn sie es doch tun, Rechtfertigungen zurecht – dieser Punkt wird weiter unten noch eine Rolle spielen.

Am leichtesten fällt daher die Normübertretung innerhalb von Gruppen, die die gesellschaftlich gültigen durch gruppenspezifische Normen ersetzt haben. Ein Extrembeispiel hat Harald Welzer am Beispiel deutscher Polizeieinheiten analysiert, die Massaker an Juden begingen. Diese Männer orientierten sich durchaus an sozialen Normen – nur eben nicht an denen der Gesellschaft, sondern an vor Ort entwickelten (durch das NS-System freilich abgesegneten) Gruppennormen, zu denen das Tötungsverbot nicht mehr gehörte.

Selbstverständlich will ich Doping nicht mit Massenmord moralisch gleichsetzen. Es geht mir darum zu zeigen, wie groß der Einfluss des Umfeldes ist. In einem Milieu, in dem Doping stillschweigend oder offen als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird, fällt dem Athleten die Normübertretung leicht – ist sie doch eine bloß scheinbare Übertretung, denn die für ihn geltenden Normen, die seines Umfeldes, übertritt er ja nicht.

Die Bedeutung des Umfeldes dürfte sich in den vergangenen Jahren sogar noch erhöht haben, weil der Kontrolldruck seit Mitte der neunziger Jahre sukzessive verstärkt wurde: Konnte ein Athlet noch in den achtziger Jahren mit geringem Risiko praktisch einwerfen was er wollte, so braucht er heute zunehmend medizinische Expertise, teure Präparate und organisatorischen Aufwand – kurzum: Wer ohne Unterstützungsnetz dopt, fliegt wahrscheinlich auf. Individuelles Doping wird zunehmend unwahrscheinlich. Wenn gedopt wird, dann im Rahmen von Mannschaften, Verbänden, ganzen Sportarten.

Aus diesen Sachverhalten ergeben sich für Doper eine ganze Reihe von typischen Problemen, denen er mit ebenso typischen Lösungsstrategien begegnet; an diesen Lösungsstrategien kann man sie mit hoher Trefferwahrscheinlichkeit erkennen.

Ist denn überhaupt schon einmal jemand des Dopings überführt worden, von dem ein halbwegs kritischer Zuschauer gesagt hätte: „Na, von dem hätte ich mir das aber überhaupt nicht vorstellen können“? Soweit ich mich erinnern kann, sind bisher nur solche Sportler als Doper enttarnt worden, von denen man entweder wenig wusste, oder denen man, wenn man etwas über sie wusste, ohnehin misstraut hatte.

(Die einzige Ausnahme war der Fall Dieter Baumann, und hier machen die besonderen Umstände es wahrscheinlich, dass er tatsächlich, wie von ihm behauptet, einer Intrige zum Opfer gefallen war: Ihm war die Einnahme von Nandrolon nachgewiesen worden, und dieses Mittel fand sich schließlich in seiner Zahnpasta. Der naheliegende Verdacht, er habe das Nandrolon selbst in die Zahnpasta gespritzt, um Sabotage vorzutäuschen, scheitert daran, dass er nicht wissen konnte, dass es überhaupt möglich ist, einem Menschen Nandrolon auf diese Weise zuzuführen. Wissen konnte das nur, wer Zugang zu einer geheimen DDR-Studie hatte, in der genau das bewiesen worden war. Bedenkt man des weiteren, dass Baumann ein früher profilierter Verfechter eines strikten Anti-Doping-Kurses war, so liegt das Motiv für diese Intrige ebenso auf der Hand wie die Parallele zu der aktuellen Affäre im Biathlon.)

Wir haben es beim Doping mit einem Vergehen zu tun, das normalerweise eine Mehrzahl von Beteiligten, zumindest aber Mitwissern voraussetzt. Damit stellt sich schon einmal das Problem, dass Alle dichthalten müssen, auch und gerade gegenüber Journalisten. (Damit sind jetzt nicht solche Journalisten gemeint, deren Arbeitgeber eigene Interessen an sportlichen Erfolgen haben; in Deutschland sind dies insbesondere die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, denen man bescheinigen muss, beim Radsport die Öffentlichkeit jahrelang getäuscht und betrogen zu haben, um sich ihre Einschaltquoten nicht zu versauen. Wenn ich sage, dass ich zu den deutschen Biathleten Vertrauen habe, dann jedenfalls nicht deshalb, weil ich so einfältig wäre, an die journalistische Unabhängigkeit der ihre Rennen übertragenden Sender ARD und ZDF zu glauben.)

Es bleibt nicht aus, dass Journalisten, die nahe am Geschehen sind, Wind davon bekommen, wenn in einer Sportart etwas nicht stimmt: Ein vielsagendes Schweigen hier, ein Augenzwinkern dort, und man weiß Bescheid, auch wenn man keine belastbaren Belege hat. Ein aufmerksamer Leser findet entsprechende Hinweise zwischen den Zeilen und weiß sie zu deuten. Eine Zeitschrift wie der „Spiegel“, der als investigatives Organ einen Ruf zu verlieren hat, der Doping oft thematisiert, und der die unschönen Seiten auch des deutschen Biathlons unter die Lupe nimmt – Stasi-Verstrickungen von Funktionären zum Beispiel – würde, wenn er solche Hinweise hätte, sie in Gestalt von Andeutungen zwischen die Zeilen streuen. Er tut es nicht, also hat er sie nicht.

Ferner können wir am Beispiel des Radsports lernen, dass eine Krähe der anderen kein Auge aushackt, überhaupt, dass gedopte Sportler dem ganzen Thema auch dann ausweichen, wenn Verdächtigungen sich gar nicht gegen sie persönlich richten; typisch ist das unwirsche aggressive Abbürsten des Themas. Das hat auch seine Logik, denn wie gesagt: Doper verstehen die Signale der Öffentlichkeit als Aufforderung: „Betrügt uns!“ und halten kritische Nachfragen deshalb unwillkürlich für einen Ausdruck von Heuchelei.

Folgerichtig hat es auch noch nie einen überführten Doper gegeben, der vor seiner Entlarvung Andere des Dopings bezichtigt hätte. Nicht nur, um der anderen Krähe kein Auge auszuhacken, sondern auch, um keine schlafenden Hunde zu wecken (Meine Güte, heute habe ich’s aber mit den abgedroschenen Redensarten!). Ich sage nicht, dass das nicht geschehen kann – Motto: „Haltet den Dieb!“ – nur ist es eben bis jetzt nie geschehen.

Es kommt allerdings überhaupt selten vor, dass Sportler ihre Konkurrenten öffentlich des Dopings verdächtigen; in der Regel tun sie das allenfalls bei überwältigend starken Verdachtsmomenten, man will ja niemanden zu Unrecht beschuldigen. Wenn es aber doch geschieht, wenn also etwa Kati Wilhelm durch die Blume die inzwischen tatsächlich überführte Finnin Kaisa Varis verdächtigt, dann spricht die empirische Erfahrung dafür, dass der, der den Verdacht ausspricht, selber sauber ist.

Wie schon gesagt, Doper sind meist keine amoralischen Zyniker, sondern legen sich für sich selbst Rechtfertigungen für ihr Handeln zurecht, und die spiegeln sich in ihren Statements.

„Ich habe nie jemanden betrogen“ (Jan Ullrich) sagt der, der davon ausgeht, dass auch alle Konkurrenten gedopt sind.

„Es hat nie eine positive Dopingprobe gegeben“ sagt der, der sein Gewissen damit beruhigt, Doping sei nur, was auch nachweisbar sei.

„Ich wäre ja schön dumm, wenn ich dopen würde“ (Kaisa Varis kurz vor ihrer Überführung) sagt, wer Doping nicht für verwerflich, sondern höchstens für riskant hält.

Und aufschlussreich ist auch die Reaktion auf die Überführung anderer Athleten. Dass Jan Ullrich gedopt war, wusste man spätestens in dem Moment, als Lance Armstrong aufflog, der ihm mehrfach den Sieg bei der Tour de France weggeschnappt hatte. Ein sauberer Jan Ullrich hätte sich empört, statt es, wie Ullrich es tatsächlich tat, ziemlich gleichmütig wegzustecken (und bezeichnend ist wiederum der Kontrast zu der Reaktion etwa von Ricco Groß auf den Rottmann-Perner-Skandal).

Schließlich gilt für Funktionäre dasselbe wie für Sportler: Ein Verband, der auf nachgewiesenes Doping beleidigt, verstockt, als verfolgte Unschuld oder mit Winkeladvokatensophistik reagiert, der also Problembewusstsein nicht erkennen lässt, hat auch keines. Solche Verbände bemühen sich auch nicht, Transparenz herzustellen, und unternehmen gegen Doping nur genau das, wozu sie gezwungen werden. (Paradebeispiel ist der Österreichische Skiverband; und wieder fällt der Unterschied zum Deutschen Skiverband auf, der schon seit Jahren Blutprofile seiner Athleten hinterlegt, ohne dass ihn irgendjemand dazu aufgefordert oder gar gezwungen hätte.) Wenn man bedenkt, was ich oben über die Bedeutung des Umfeldes geschrieben habe, so ergibt sich von selbst, dass Sportler, die einem unsauber arbeitenden Verband angehören, hochgradig verdächtig sind.

Und so lauten die Faustregeln Nummer 3, 4, 5, 6 und 7:

Wo gedopt wird, steht in der Zeitung (wenn man sie aufmerksam liest).

Doper reden niemals freiwillig über Doping.

Doper verraten sich durch Bezugnahme auf Rechtfertigungsstrategien.

Doper empören sich nicht über das Doping Anderer.

Verbände ohne Problembewusstsein haben mit hoher Wahrscheinlichkeit gedopte Athleten.

Klar kann man einwenden, dass von den sieben Faustregeln fünf sich auf das Verhalten von Sportlern bzw. Trainern und Funktionären beziehen. Selbstverständlich kann man sich ausmalen, dass ein Doper durchtrieben genug sein könnte, sich vorzustellen, wie ein sauberer Athlet sich verhalten würde, und sich dann exakt so zu verhalten.

Dagegen, dass dies im Einzelfall so sein könnte, spricht zunächst der empirische Befund: In den letzten zehn Jahren sind derart viele Doper überführt worden, dass es gerechtfertigt ist, die dabei gemachten Erfahrungen zu verallgemeinern; kein Einziger der ertappten Sportler hat es verstanden, so raffiniert zu heucheln, wie das Gegenargument unterstellt.

Eine solche glaubwürdige Heuchelei ist auch theoretisch allenfalls als krasse Ausnahme zu erwarten, weil sie, zumal wenn sie über Jahre hinweg durchgehalten wird, eine oscarverdächtige schauspielerische Leistung darstellt; und wir haben es hier mit Sportlern und Funktionären zu tun, nicht mit geschulten Charakterdarstellern. Ganz und gar phantastisch aber ist die Vorstellung, dass ganze Mannschaften mitsamt zugehörigem Betreuerstab und vorgesetzten Funktionären kollektiv zu einer solchen Leistung imstande sein sollten.

Wer durchaus glauben möchte, die deutschen Biathleten und ihr gesamtes Umfeld hätten eine solche Leistung vollbracht – und dabei sogar den „Spiegel“ hinters Licht geführt – nun, der möge es glauben.

Er kann dann allerdings ebensogut glauben, der Papst sei evangelisch.

 

[Zum Thema „Doping“ siehe hier auch ein hochinteressantes Interview mit dem Dopingdealer Angel Heredia im „Spiegel“]

Zwischendurch ein wenig Innenpolitik…

Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit hat eine linke Partei bewiesen, dass sie nicht regierungsfähig ist, solange nicht ein strenger Zuchtmeister (Wehner, Schmidt, Schröder, Fischer) sie täglich prügelt. Vor ein paar Wochen haben sich die Grünen entschlossen, ins politische Laufställchen zurückzukehren, jetzt tut es auch die SPD.

Es gehört zu den Gemeinsamkeiten linker Parteien in Deutschland, dass ihrer jeweiligen Basis im Zweifel das eigene seelische Wohlbefinden wichtiger ist als die Zukunft unseres Landes. Dass es ihnen nicht darauf ankommt, vernünftig zu regieren, sondern darauf, sich als gute Menschen zu fühlen. Verantwortungslos. Kindisch.

Für die Linke/PDS mag das unproblematisch sein; von ihr erwartet schließlich niemand etwas anderes, als dass sie die rote Fahne hochhält und die Segnungen des Sozialismus preist. Bei den Grünen ist es schon schwieriger: Eine Partei, die sieben Jahre lang alles in allem vernünftig regiert hat, wird von ihren Wählern daran gemessen. Die Generation, die sich fast zwanzig Jahre lang mit Eselsgeduld den grünen Kindergarten bieten ließ, ist älter und anspruchsvoller geworden. Ob die sich eine Politik gefallen lässt, die auf die Zielgruppe der 2- bis 16jährigen zielt? Für die SPD, auch wenn sie es nicht wahrhaben will, ist diese Haltung einfach unmöglich. Sie ist das Flaggschiff der deutschen Linken, sie muss regierungsfähig sein. Tatsächlich regiert sie ja auch. Hat aber keine Bedenken, mit Müntefering und Tiefensee gleich zwei ihrer wichtigsten Minister wie Idioten aussehen zu lassen; die Herren Steinbrück und -meier sind diesem Schicksal nur dadurch entgangen, dass sie rechtzeitig den Mund gehalten haben. Dadurch sind sie jetzt stellvertretende Vorsitzende einer Partei, die das Gegenteil von dem will, was sie wollen.

Kurt Beck ist allzu schlau gewesen. Sein Kalkül lautet: Ich laufe der Partei hinterher, dann sehe ich aus wie einer, der sie führt. Ich laufe den Meinungsumfragen hinterher, dann habe ich das Volk auf meiner Seite. Und wenn ich das Volk auf meiner Seite habe, dann werde ich Kanzler. So stellt man sich in der großen weiten Pfalz die große Politik vor.

In seiner Bauernschläue hat Beck nur eines übersehen: Zwischen Bundestagswahlen sind die Wähler immer gegen die Politik der Bundesregierung und sind der Opposition zugetan. Man vergleiche die Meinungsumfragen der letzten vierzig Jahre jeweils sechs Monate vor einer beliebigen Bundestagswahl mit dem tatsächlichen Wahlergebnis. In der Umfrage sieht die Opposition stets wie der sichere Sieger aus. Am Wahlabend triumphiert die Regierungspartei. Die Deutschen stänkern gerne gegen die Regierung, aber wenn es zum Schwur – d.h. zur Wahl – kommt, fragen sie nicht mehr: Was missfällt mir an der Regierung? Sie fragen: Sieht der Oppositionskandidat wie ein Kanzler aus? Packt er das? Lautet die Antwort „Nein“, dann wird er auch nicht gewählt. Und sie lautet meistens „Nein“.

Beck versucht, Umfragekönig zu werden, indem er sich, obschon Vorsitzender einer Regierungspartei, wie ein Oppositionsführer benimmt. Das wird ihm bei der Bundestagswahl das Genick brechen. Und das verdient er auch.

Was der Fall Dejagah uns lehrt

Ein, sagen wir, Chinese wird in Amerika eingebürgert und nimmt seinen neuen Pass entgegen. Nach allem, was wir über US-Einwanderer wissen, fühlen sie sich vom ersten Moment an als Amerikaner, sind stolz darauf und empfinden sich als quasi nachträgliche Mitkämpfer von George Washington und Abraham Lincoln. Mit anderen Worten: Sie identifizieren sich mit ihrem Land und empfinden dessen Geschichte als ihre eigene.

Für einen frischgebackenen Deutschen ist diese Art Identifikation sicher nicht unproblematisch – so wenig wie für die gebürtigen Deutschen. Identifikation – das heißt für einen Deutschen ja nicht nur: Wir haben Goethe und Thomas Mann hervorgebracht, wir sind das Volk von Leibniz und Schopenhauer, wir haben das Wirtschaftswunder geschafft und sind dreimal Fußballweltmeister geworden. Es heißt eben leider auch: Wir haben sechs Millionen Juden gekillt.

Ich verstehe Jeden, der damit nichts zu tun haben möchte. Wenn sich aber jemand „Deutscher“ nennt und daraus Ansprüche ableitet, dann kann ich ihm nicht das Recht zugestehen, so zu tun, als ginge ihn die deutsche Geschichte nichts an. Auch nicht, wenn er aus Teheran stammt.

Der deutsche U-21-Fußballnationalspieler Ashkan Dejagah, der neben seinem deutschen auch einen iranischen Pass hat, hat es bekanntlich abgelehnt, zu einem Länderspiel in Tel Aviv anzutreten, und er hat durchblicken lassen, dass für diese Entscheidung politische Gründe maßgeblich waren.

Mir geht es nicht darum, diesen jungen Kerl an den Pranger zu stellen, mit geht es um das Exemplarische dieses Falls – es gibt viele Dejagahs, denen man einen deutschen Pass in die Tasche gesteckt hat, ohne zu fragen, ob sie das Selbstverständnis der Nation teilen oder auch nur begriffen haben, ob sie Deutschland wirklich als ihr Land empfinden, und ob sie bereit sind, für die Werte einzutreten, für die Deutschland steht.

Man hat ganz juristisch-technokratisch die Einbürgerung zu einem Anspruch jedes Menschen gemacht, der bestimmte objektive Voraussetzungen erfüllt, ja man wirbt sogar für die Einbürgerung. Müssen wir uns da wundern, dass viele der so Eingebürgerten sich auf den Standpunkt stellen, nicht sie schuldeten unserem Land und seinen Werten Loyalität, sondern wir, die Mehrheitsgesellschaft, schuldeten ihnen Toleranz, und sei es für ihren Antisemitismus und sonstige Fanatismen? Müssen wir uns wundern, dass die einen sich zu Terroristen ausbilden lassen und die anderen ihren privaten Judenboykott ausrufen? Dass ihre Loyalität nicht Deutschland gilt, sondern ihrem Heimatland, ihre Solidarität nicht der bedrängten israelischen Demokratie, sondern der iranischen Theokratie, und dass sie nichts dabei finden, noch einmal sechs Millionen Juden in Rauch aufgehen zu lassen?

 

 

Aktuelle Literatur zum Stichwort „Iran“

 

Wir sind Weltmeister!

Zur Abwechslung etwas Unpolitisches: 

Die deutschen Frauen sind wieder Fußballweltmeister, und wenn man ihren Erfolg gerecht würdigen will, muss man sich vergegenwärtigen, dass es das erste Mal seit 1962 (und erst das zweite Mal in der Fußballgeschichte überhaupt) ist, dass eine Nationalmannschaft ihren Weltmeistertitel verteidigen konnte (1962 gelang das den Brasilianern um Pelé), und dass sie der erste Weltmeister sind, der ein ganzes Turnier ohne Gegentreffer gespielt hat. Na gut, im Finale kam die Null ziemlich ins Taumeln, aber sie fiel nicht!

Trotzdem keine Fanmeile, kein Autokorso, kein Fahnenmeer in Schwarz-Rot-Gold, und die Deutsche Fußball-Liga fand auch nichts dabei, zeitgleich zum WM-Finale Zweitligaspiele anzusetzen, in der (seufz!) wahrscheinlich richtigen Annahme, dass die Fans lieber ein Zweitligaspiel Hoffenheim-Mainz sehen, als ein WM-Endspiel Deutschland-Brasilien, sofern das eine von Männern und das andere von Frauen ausgetragen wird.

Wieso eigentlich? Und warum werden Frauen-Bundesligaspiele auch weiterhin vor der überschaubaren Kulisse von einigen hundert Zuschauern stattfinden?

Manche sagen, weil Frauenfußball unweiblich sei, und die intellektuell beschlageneren formulieren es so: Frauenfußball entspreche nicht dem gesellschaftlich etablierten geschlechtsspezifischen ästhetischen Ideal. Hm. Merkwürdigerweise jubeln sie aber den Walküren zu, die im Kugelstoßen, im Diskus-, Speer- und Hammerwerfen Medaillen für Deutschland holen. Die werden ernstgenommen, Fußballerinnen nicht. Der Subtext lautet: Wenn sie schon nicht anständig spielen, sollen sie wenigstens hübsch aussehen!

Spielen sie nicht anständig? Noch vor wenigen Jahren hätten die einen von „Zeitlupenfußball“ gesprochen und die anderen politisch korrekt geantwortet,  ein Vergleich von Frauen- und Männerfußball sei ein unfairer Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen, weil Frauenfußball naturgemäß langsamer und weniger aggressiv, dafür aber spielerischer, harmonischer und insofern ästhetischer sei. Eigentlich seien es zwei Sportarten.

Diese Ansicht können wir nach dieser WM getrost zu den Akten legen. Was sich innerhalb weniger Jahre abgespielt hat, ist nicht weniger als ein Quantensprung: Der Frauenfußball ist enorm schnell und athletisch geworden. Dass Frauen nicht den Antritt und die Schusskraft von Männern haben, würde heute nur noch dann auffallen, wenn sie direkt gegeneinander spielen würden – am Bildschirm oder im Stadion merkt man es bei einer Frauenpartie nicht. Männer- und Frauenfußball sind vergleichbar geworden.

Und genau deswegen fällt jetzt auf, dass zumindest in der Spitze Männer immer noch (noch!) den besseren Fußball spielen. Ich glaube nicht, dass ich die Leistung der deutschen Mannschaft schmälere, wenn ich sage, dass sie sich während des Turniers eine Anzahl an Fehlpässen und Stockfehlern geleistet hat, mit der eine Männermannschaft kaum die Vorrunde überstanden hätte. Trotzdem beendete sie das Turnier mit einundzwanzig zu null Toren, und trotzdem musste man bis zum Finale warten, um mit Brasilien einen ihr ebenbürtigen Gegner zu sehen. Dieses Finale war denn auch die einzige Partie, in der wirklicher Spitzenfußball geboten wurde. Es gibt weltweit nur zwei Nationalmannschaften, die nach einem einigermaßen strengen Maßstab erstklassig sind, und ein paar weitere (man braucht nicht die Finger einer Hand, sie aufzuzählen), die wenigstens halbwegs mithalten können.

Das Problem des Frauenfußballs ist nicht, dass Frauen nicht spielen könnten (überhaupt eine lächerliche These, auf die in anderen Sportarten niemand käme), sondern dass die Spitze (noch!) so verzweifelt dünn besetzt ist. Man sieht das nicht nur bei Weltmeisterschaften, sondern auch im Vereinsfußball. Man sehe sich die Schlusstabelle der Saison 2005/2006 an: Turbine Potsdam beendete die Saison mit einem Torverhältnis von 115 zu 13 (!), beim Letztplazierten FSV Frankfurt ist das Verhältnis (im Negativen) noch gespenstischer: 5 zu 142! Das entspricht einer Leistungsdifferenz von sechs oder sieben Spielklassen in einer einzigen Liga, die obendrein nur zwölf Vereine umfasst.

Die Frauen, deren Fußball erst seit Mitte der siebziger Jahre vom DFB zugelassen wird, haben, je nach Rechnung, rund achtzig bis hundert Jahre Rückstand aufzuholen. Das betrifft die Anzahl der Spieler, die Infrastruktur, die Finanzierung und die Akzeptanz durch die Fans. Vereine wie Schwarz-Weiß Essen, Holstein Kiel oder Borussia Neunkirchen können in der Oberliga – viertklassig – spielen, aber sie haben einen Namen und deshalb einen Anhängerstamm, von dem selbst die Turbinen oder der FFC nur träumen können. (Für Fußballdeutschland zählt eben der Schweinsblasen-Faktor: Ein Verein wird im Zweifel nicht ernstgenommen, wenn seine Tradition nicht in die Zeit zurückreicht, wo man den Ball nur mit viel Wohlwollen „rund“ nennen konnte, weil er aus höchst eigenwilligen Naturmaterialien bestand.)

Aber das wird sich ändern (wenn auch nicht so rapide wie etwa im Biathlon, wo noch vor knapp zwanzig Jahren die Fans nach Hause gingen, wenn das Männerrennen beendet war und die Frauen starteten; zehn Jahre später war ein Biathlon-Tag ohne Uschi Disl ein verlorener Tag). Es spricht Bände, dass einige der besten Spielerinnen des Turniers (Marta, Laudehr, Bajramaj) gerade erst um die zwanzig sind: Da wächst viel nach, und die Qualität steigt dramatisch. Ich freue mich jetzt schon auf die nächsten Turniere, und in fünfzehn oder zwanzig Jahren, da gehe ich jede Wette ein, wird Frauenfußball unter den Fans dieselbe Akzeptanz haben wie der von Männern.

Übrigens: Falls Feministinnen mitlesen, die der Meinung sind, ich hätte statt von Spielern und Weltmeistern von Spielerinnen und Weltmeisterinnen sprechen sollen, hört Birgit Prinz zu: „Bei uns kämpft Jeder für Jeden.“ Nicht Jede für Jede. Frauen, die wirklich emanzipiert sind, haben political correctness nicht nötig.