Berlusconi, Sarkozy und ihr Freund Gaddafi

Ein Kommentator hat die Sorge geäußert, das Video, in dem Berlusconi Gaddafi die Hand küsst, sei verschwunden. Keine Angst, ich habe es bei Youtube gefunden, heruntergeladen und mit passender Musik untermalt:

Dabei ist Berlusconi ja nur einer der vielen sauberen Freunde Gaddafis, denen dies heute peinlich ist:

Man fragt sich, was man an diesen jämmerlichen Schmierlappen ekelhafter finden soll: die lakaienhafte Eilfertigkeit, mit der sie dem Verbrecher Gaddafi in den After krochen und ihn ihren Freund nannten, als es opportun zu sein schien, oder die fluchtartige Eile, mit der sie aus besagtem After hinausstürzten, mit ihren Kampfflugzeugen Jagd auf ihn machen ließen und ihn schließlich seinen Mördern überantworteten.

Griechenland bittet zur Kasse

Nun hat sich also auch die griechische Regierung einer italienischen Klage angeschlossen, die von Deutschland Entschädigung für Geiselerschießungen im Zweiten Weltkrieg fordert. Man zerrt denselben Staat vor den internationalen Kadi, von dem man gleichzeitig im Zusammenhang mit der Eurokrise fordert, er solle für die Konsequenzen der griechischen Misswirtschaft aufkommen. Ich glaube nicht, dass man die Schamlosigkeit eines solchen Vorgehens noch mit parlamentsfähigen Ausdrücken beschreiben kann.

Ich glaube aber, dass es Zeit ist, darauf hinzuweisen, dass Geiselerschießungen durch deutsche Truppen damals in der Regel die Reaktion auf Anschläge von Partisanen waren, und dass solche Anschläge ihrerseits Kriegsverbrechen waren.

Das Kriegsvölkerrecht basiert nämlich auf der strikten Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten. Das muss auch so sein, weil irreguläre Kämpfer (Partisanen, Guerilleros, Terroristen usw.) die davon betroffenen regulären Streitkräfte zum Counterguerillakrieg zwingen; ein solcher wird regelmäßig besonders grausam geführt, nicht nur von deutschen, sondern ebenso von amerikanischen, russischen, französischen und anderen Streitkräften.

Damit genau dies nicht geschieht, ist irreguläre Kriegführung vom Kriegsvölkerrecht geächtet! Ein Staat, der nichts getan hat, diese Art von Kriegführung zu unterbinden; der auch nachträglich niemanden für völkerrechtswidrigen Partisanenkrieg zur Verantwortung gezogen hat; der die ehemaligen Partisanen vielmehr belobigt hat, obwohl sie überhaupt erst die Bedingungen herbeigeführt haben, unter denen die Zivilbevölkerung so furchtbar zu leiden hatte: Ein solcher Staat hat überhaupt keine Ansprüche zu stellen!

AFP: Harsche Kritik in der EU an Luftangriff in Afghanistan

AFP: Harsche Kritik in der EU an Luftangriff in Afghanistan.

Unter anderem die Außenminister von Frankreich, Luxemburg, Großbritannien und Italien sowie die unvermeidliche Außenkommissarin Ferrero-Waldner kritisierten beim EU-Außenministertreffen den Sieg deutscher Streitkräfte bei Kundus. Widerspruch des deutschen Außenministers? Fehlanzeige. Und dieser Mensch hat den Ehrgeiz, in  naher Zukunft die Richtlinien der deutschen Politik zu bestimmen.

Warum Josef Scheungraber wirklich verurteilt wurde

Das Urteil gegen den ehemaligen Gebirgspionierleutnant Josef Scheungraber – lebenslang wegen vierzehnfachen Mordes – gehört zu jener Sorte von Fehlurteilen, die der Schriftsteller Manès Sperber „symbolträchtiges Unrecht“ genannt hat: Es wirft ein Schlaglicht auf die geistige Verfassung unserer Gesellschaft, ihrer Medien und ihrer Justiz. Ein Schlaglicht, das für die Zukunft nichts Gutes ahnen lässt.

Die Anklage: Im Juni 1944 gerieten Angehörige des deutschen Gebirgspionierbataillons 818 in Falzano nahe Perugia in einen Hinterhalt italienischer Partisanen. Dabei wurden zwei deutsche Soldaten getötet. Der Angeklagte soll deswegen bei der Division die Erlaubnis zu einer Vergeltungsaktion angefordert und erhalten haben. Daraufhin soll er befohlen haben, italienische Zivilisten zu töten. Die tatsächlich erfolgte Tötung von insgesamt vierzehn italienischen Zivilisten durch Schüsse und Sprengstoff soll auf diesen Befehl zurückgehen.

Die Beweislage: Die persönliche Schuld des Angeklagten konnte nicht bewiesen werden. Das wichtigste Beweisstück der Anklage war die Aussage eines ehemaligen Mitarbeiters von Scheungraber, der sich erinnerte, der Angeklagte habe in den sechziger Jahren von seiner Beteiligung an einem Vorgang dieser Art erzählt, und der diese Erzählung mit der Anklage in Verbindung brachte. Dieser Zeuge war erst lange nach dem Beginn des Prozesses aufgetaucht, der von Anfang an die Aufmerksamkeit der Medien gefunden hatte. Die Möglichkeit, dass dieser Zeuge (und zwar ohne zu lügen, einfach nur, weil das menschliche Gedächtnis erwiesenermaßen von sich aus „Erinnerungen“ produziert, um Verständnislücken zu schließen), eine relativ nebulöse Erzählung des Angeklagten mit Informationen aus Zeitungsartikeln über den Prozess gefüllt haben könnte, wurde vom Gericht allem Anschein nach nicht ernsthaft in Erwägung gezogen.

(Nach welchen Grundsätzen die vorhandenen Beweise gewürdigt wurden, illustriert die Stellungnahme des Staatsanwalts Lutz in seinem Plädoyer: „Eine absolute Gewissheit ist nicht erforderlich, es reicht ein ausreichendes Maß an Sicherheit“. Abgesehen von der dümmlichen Tautologie – „es reicht ein ausreichendes Maß“ – besagt dieser Satz entweder eine Selbstverständlichkeit, die kein Staatsanwalt in seinem Plädoyer erwähnen würde, oder umschreibt die Auffassung, dass man es bei Prozessen mit NS-Bezug mit dem Schuldbeweis nicht so genau nehmen muss.)

Allem Anschein nach. Ich habe nicht die Prozessakten studiert, sondern bin auf Medienberichte angewiesen, deren Verfasser an einer kritischen Beweiswürdigung erkennbar nicht interessiert sind.

Ich halte mich – pars pro toto – an „Spiegel online“: Dessen Schreiber Sebastian Fischer hält es nicht für wichtig zu erörtern, ob die Beweise für einen Schuldspruch tatsächlich ausreichten. Stattdessen belehrt er uns über einen der Verteidiger:

Scheungraber war nicht der erste Kriegsverbrecher, den Rechtsanwalt Goebel vertritt: Vor Gericht verteidigte er bereits Malloth. Außerdem vertrat er auch die Holocaust-Leugner David Irving und Germar Rudolf.

Wer mit dem Finger auf den anderen zeigt, weist bekanntlich mit dreien auf sich selbst zurück. Was ist das für ein Gerichtsreporter, der einem Anwalt allen Ernstes zum Vorwurf macht, dass der seinen Beruf ausübt? Ich kann mich nicht erinnern, dass der „Spiegel“ (oder sonst ein deutsches Blatt) jemals an die RAF-Verteidiger Otto Schily oder Christian Stroebele einen vergleichbaren Vorwurf gerichtet hätte. Wer solches tut, betreibt einen Kampfjournalismus, der nicht nur hochgradig unfair ist, sondern auch unprofessionell.

Es wird aber noch besser:

Der Rechtsanwalt ist in diesem Verfahren durch krude Thesen aufgefallen. Etwa als er von den „mehreren tausend deutschen Soldaten“ sprach, die Opfer italienischer Partisanen geworden seien – dabei handele es sich schließlich „um ein völkerrechtswidriges Tätigwerden dieser Partisanen“.

Halten wir fest, dass man im Jahre 2009 Gerichtsreporter beim „Spiegel“ sein kann, ohne zu wissen,
dass irreguläre Kämpfer Kriegsverbrecher sind!

Die Strategie irregulärer Kämpfer – Partisanen, Guerilleros, Terroristen – zielt darauf ab, die Zivilbevölkerung in den Kampf hineinzuziehen, indem man sich in ihr versteckt. Sie zielt darauf ab, regulären feindlichen Streitkräften das Bild zu vermitteln, jeder Zivilist sei ein potenzieller Partisan und müsse entsprechend behandelt werden. Sie basiert auf der Verwischung des Unterschieds zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten ebenso, wie sie auf diese Verwischung abzielt. Es geht ihr darum, eine Eskalation zu entfesseln, in der die reguläre Truppe das Kriegsvölkerrecht gar nicht einhalten kann, weil Zivilisten dann, und nur dann, praktisch gezwungen sind, die Irregulären zu unterstützen.

(Es trifft zu, dass die Nazis die Bekämpfung von Partisanen häufig bloß zum Vorwand genommen haben, Völkermord zu legitimieren, allerdings nicht in Italien und schon gar nicht im vorliegenden Fall.)

Es wäre schön, wenn man die generelle blinde Bewunderung von Partisanen, also von Kriegsverbrechern, als bloße Marotte von Leuten abtun könnte, deren Pubertät kein Ende findet, und die deshalb ihre unverarbeitete Che-Guevara-Romantik bis ins Rentenalter mit sich herumtragen. Leider sitzen diese Leute in Positionen, in denen sie ihr in der Tat krudes Weltbild, verdichtet zur Ideologie, einem Millionenpublikum unterbreiten dürfen.

Das heißt selbstverständlich nicht, dass ich die Tötung Unbeteiligter als Vergeltung für Partisanenangriffe gutheißen oder für legal halten würde. Es handelt sich um ein Kriegsverbrechen, keine Frage. Wenn aber der „Spiegel“-Schreiber seinen Artikel mit diesem Absatz eröffnet:

Margherita und Angiola Lescai sind an diesem Tag nach Deutschland gekommen, weil sie Gerechtigkeit wollten für Vater und Großvater. Und die beiden Halbschwestern, Nebenklägerinnen in einem der wohl letzten Prozesse zu den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs, haben Gerechtigkeit gefunden: „Unser Leben wird jetzt heiter und fröhlich sein, wie werden nicht mehr diese Ängste und Beklemmungen haben.“

dann erlaube ich mir den Hinweis, dass den Angehörigen der beiden von italienischen Kriegsverbrechern ermordeten deutschen Soldaten diese Art von Genugtuung nicht zuteil werden wird, weil kein einziger der damals kriegführenden Staaten, auch Italien nicht, heute noch Kriegsverbrecherprozesse im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg gegen eigene Bürger führt (und ich traue mich sogar wetten, dass sie die letzten Verfahren schon kurz nach Kriegsende abgeschlossen haben).

Wohlgemerkt: Es geht hier nicht um Aufrechnung. Ich glaube nur einfach, dass die Anderen hier etwas richtig machen. In den Worten Sebastian Haffners:

Nach dem Kriege … pflegen … Kriegsverbrechen, soweit ungesühnt, auf allen Seiten stillschweigend amnestiert zu werden, was nur Justizfanatiker bedauern können. Es liegt Weisheit darin, die sozusagen normalen Kriegsgreuel als Begleiterscheinungen einer unvermeidlichen Ausnahmesituation zu behandeln, in der gute Bürger und Familienväter sich ans Töten gewöhnen, und sie nach dem Kriege möglichst schnell in Vergessenheit geraten zu lassen. (…) Massaker an Kriegsgefangenen in Drang und Hitze der Schlacht; Geiselerschießungen im Partisanenkrieg; Bombardierungen reiner Wohngebiete im „strategischen“ Luftkrieg; Versenkung von Passagierdampfern und neutralen Schiffen im U-Bootkrieg; das alles sind Kriegsverbrechen, fürchterlich gewiss, aber nach dem Kriege nach allgemeiner Übereinkunft besser allseits vergessen. (Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler, Taschenbuchausgabe S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1981, S.128 f.)

Genau mit dieser Art Kriegsverbrechen haben wir es hier zu tun, also nicht mit Völkermord, Vernichtungslagern und dergleichen, sondern mit dem, was Haffner die „sozusagen normalen Kriegsgreuel“ nennt.

Warum tut Deutschland nicht dasselbe, was seine Kriegsgegner auch tun, nämlich diese Art von Kriegsverbrechen außer Verfolgung zu setzen? Warum wird gegen einen ehemaligen Wehrmachtsoffizier ein Schuldspruch verhängt, der bei vergleichbarer Beweislage in keinem normalen Strafverfahren zustandekäme? Was treibt ein deutsches Gericht dazu, wenn es ihn schon schuldig, alle mildernden Umstände außer Betracht zu lassen (die man DDR-Tätern, z.B. Mauerschützen, gerne zugute gehalten hat)? Warum wird ein Neunzigjähriger (!) zu lebenslanger Haft verurteilt, was bedeutet, dass er keine realistische Chance mehr hat, noch einmal freizukommen – und was deshalb vermutlich sogar verfassungswidrig ist? Wieso diese für die deutsche Justiz doch ganz untypische Gnadenlosigkeit?

Weil die deutsche Gesellschaft Sündenböcke braucht. Das tief eingefressene kollektive Misstrauen gegen sich selbst, der kollektive Selbsthass, das kollektive Schuldgefühl, das in diesem Ausmaß nur noch als krankhaft und neurotisch zu qualifizieren ist, sind nur zu ertragen, wenn man sie projizieren kann – auf Einzelpersonen oder auf Gruppen. Die maßlose, völlig irrationale Brutalität und Gehässigkeit gegen einen Greis, verbunden mit der mutwilligen Missachtung professioneller Standards durch Justiz und Medien, haben mit dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit nichts zu tun.

Indem sie auf einem hinfälligen alten Mann herumtrampelt, vergewissert sich die deutsche Gesellschaft ihres eigenen „Antifaschismus“, vergewissert sich das deutsche Volk, dass es mit jenem anderen deutschen Volk, das bis 1945 hier wohnte, nichts zu tun hat. Mit der Jagd auf „Nazis“ täuscht sich das Volk darüber hinweg, dass es auf der Flucht vor sich selbst ist.

Kriegsverbrecherprozesse wird es in wenigen Jahren nicht mehr geben, weil die potenziellen Angeklagten aussterben. Was aber nicht ausstirbt, sind die Bedürfnisse einer Gesellschaft, die es zum eigenen psychischen Überleben nötig hat, auf sogenannte oder auch Nazis einzudreschen.

Sie wird immer welche finden. Oder erfinden.

Gelesen: Bryan Ward-Perkins, Der Untergang des Römischen Reiches und das Ende der Zivilisation

…und was das mit uns zu tun hat

Jahrhundertelang haben im Westen nur Wenige bezweifelt, dass das Ende des (west-)römischen Reiches die größte Katastrophe war, die jemals das Abendland heimgesucht hat -und dies auch im Vergleich zu den Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts.

„In Europa gehen die Lichter aus“, sagte der britische Außenminister Sir Edward Grey bei Kriegsausbruch 1914, „und wir werden es nicht mehr erleben, dass sie angezündet werden“. Das stimmte für ihn und seine Generation, aber einige Jahrzehnte später – im Westen nach 1945, im Osten nach 1989 – war Europa so weit, die Lichter wieder anzuknipsen, und musste dafür tatsächlich nicht viel mehr tun, als einen Schalter umzulegen.

Der Untergang Roms dagegen bedeutete, dass es fast tausend Jahre dunkel blieb.

So zumindest lautet seit Renaissance und Aufklärung das vorherrschende Geschichtsbild gebildeter Europäer. Völlig unangefochten war es nie: Christliche, speziell katholische, Historiker hatten schon immer nach Kräften versucht, das „finstere Mittelalter“ zu rehabilitieren – war es doch zugleich die Zeit unangefochtener Herrschaft der Kirche gewesen. Deutschnationale Historiker wiederum schwelgten geradezu in der Kaiserherrlichkeit des Mittelalters, sahen in der Zerstörung der römischen Zivilisation ein Zeichen der Überlegenheit des Germanentums und verklärten als „germanische Lebenskraft“, was vordem zu Recht als Barbarei gegolten hatte.

Ob aus christlicher oder nationalistischer Sicht: Die Verachtung des spätkaiserlichen Rom und die Verklärung des Mittelalters war immer das Geschichtsbild der Reaktion und der Gegenaufklärung gewesen.

Ich selbst bin kein Geschichtswissenschaftler und deshalb über die Debatten unter Althistorikern nicht auf dem Laufenden; daher bin ich erst durch das Buch des Archäologen und Historikers Bryan Ward-Perkins darauf aufmerksam geworden, dass es in den letzten Jahrzehnten Mode geworden zu sein scheint, den Untergang der römischen Zivilisation zu einem freundlichen „Übergang“ zu stilisieren und das enorme Zivilisationsgefälle zwischen Antike und Mittelalter kleinzureden.

Nach diesem – von Ward-Perkins heftig kritisierten – Geschichtsbild waren die Germanen nicht etwa als brutale Eroberer und Plünderer ins Römische Reich eingefallen, sondern friedlich „eingewandert“ und hätten sich „integriert“. Die Verträge, mit denen die Römer die gewaltsame Landnahme bisweilen legalisierten (und die von den Germanen regelmäßig gebrochen wurden), seien nicht etwa die Ausnahme, sondern die Regel gewesen; und Rom habe sie auch keineswegs unter dem Druck militärischer Niederlagen geschlossen (um sich gegenüber den brandschatzenden Horden wenigstens Atempausen zu verschaffen), sondern im Zuge einer wohlüberlegten und vorausschauenden Integrationspolitik (die gleichsam nur versehentlich zum Ende des Reiches geführt habe). Der dramatische Verfall der Baukunst im frühen Mittelalter deute lediglich auf veränderten architektonischen Geschmack hin, das Ende der Geldwirtschaft sei bloß eine gewisse Umstrukturierung gewesen, das antike Geistesleben, Kunst und Philosophie, sei nur christianisiert worden usw.

Ward-Perkins überprüft diese Thesen, indem er eine Reihe von Indikatoren untersucht, die der historischen und archäologischen Forschung zugänglich sind: Von der Verbreitung des Schriftgebrauchs über die Nutzung hochwertiger Güter (insbesondere Keramik), die Größe und Qualität von Bauten, die Nutzung von Münzen bis hin zur Schulterhöhe von Rindern.

Er interpretiert seine Befunde durchaus zurückhaltend, gibt auch zu, wo die Daten eine alternative Interpretation zulassen. Überhaupt bestechen die Fairness der Darstellung ebenso wie ihre Anschaulichkeit und der leichtfüßige Stil – die klassischen Tugenden der angelsächsischen Geschichtsschreibung machen Ward-Perkins‘ Buch zu einer nicht nur informativen, sondern auch ausgesprochen angenehmen Lektüre.

Bei aller Abgewogenheit ist das Ergebnis doch eindeutig: Während des 5. und 6. Jahrhunderts verschwanden auf dem Gebiet des weströmischen Reiches alle Güter, deren Produktion von einem komplexen System gesellschaftlicher Arbeitsteilung abhängt – von hochwertigem Essgeschirr bis zur Philosophie, vom Ziegeldach bis zur Kanalisation, von der Kupfermünze bis zur öffentlichen Sicherheit. Die Wirtschaft zerfiel in kleinräumige Einheiten bis hin zur Subsistenz- und Tauschwirtschaft. Der Lebensstandard gerade armer Menschen fiel auf vorantikes Niveau.

Was da verschwand, war schlicht und einfach: die Zivilisation.

Den Prozess, der zu diesem Ergebnis führte, beschreibt Ward-Perkins als eine Abwärtsspirale nach Art eines Teufelskreises: Das Römische Reich besaß eine Berufsarmee, seine Sicherheit war mithin von Steuereinnahmen abhängig. Steuern konnten nur von Provinzen aufgebracht werden, die nicht verwüstet waren. Diese gegenseitige Abhängigkeit – der Sicherheit von den Einnahmen, der Einnahmen von der Sicherheit – war die Achillesferse des Reiches. Kleinere Einbrüche konnte das System verkraften, nicht aber die immer schnellere Abfolge germanischer Plünderungsfeldzüge, die ab 401 nacheinander mehrmals Italien (gipfelnd in der Plünderung Roms 410), Gallien, Britannien, Spanien und schließlich Afrika heimsuchten:

„Historiker debattieren darüber, wann genau die militärische Stärke der römischen Armee abnahm. Meiner Meinung nach wird das Chaos im ersten Jahrzehnt des 5. Jahrhunderts einen plötzlichen und dramatischen Abfall der Leistungsfähigkeit verursacht haben. Einige der verlorenen Gebiete erlangte man im zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts zeitweise zurück; aber viele (ganz Britannien und ein großer Teil Galliens und Spaniens) wurden niemals mehr wiedergewonnen, und selbst zurückeroberte Provinzen brauchten viele Jahre, um steuerlich wieder vollständig zu gesunden – wie wir gesehen haben, musste die Steuererleichterung [von achtzig Prozent! d.Verf.], die den Provinzen Italiens 413 bewilligt worden war, 418 verlängert werden, obwohl Italien in den Jahren dazwischen von weiteren Angriffen verschont geblieben war. Darüber hinaus war die Erholung des Imperiums nur kurzlebig; im Jahr 429 wurde ihr durch die erfolgreiche Überfahrt der Vandalen nach Afrika und die Verwüstung der letzten verbliebenen sicheren Steuerbasis des Westreiches ein endgültiges Ende gesetzt. Bis 444, als Valentinian III. eine neue Umsatzsteuer einführte, hatte die Situation gewiss ein prekäres Stadium erreicht. In der Präambel zu diesem Gesetz erkannte der Kaiser die dringende Notwendigkeit an, die Stärke der Armee durch Extragelder zu erhöhen, beklagte aber die augenblickliche Lage, in der ‚weder für die neu rekrutierten Truppen noch für die alte Armee genug Mittel von den ausgelaugten Steuerzahlern erhoben werden können, um sie mit Nahrung und Kleidung zu versorgen.'“ (S.52f.)

Wenn der Befund, dass das Ende des Römischen Reiches den Zusammenbruch nicht nur einer Zivilisation, sondern – für Europa – der Zivilisation schlechthin bedeutete, wie kommt es dann, dass in den letzten Jahrzehnten ein Paradigma Raum gewinnen konnte, vielleicht sogar vorherrschend geworden ist, das etwas ganz Anderes nahelegt?

Ward-Perkins führt mehrere Gründe an, die alle etwas mit den politisch-ideologischen Trends der Nachkriegszeit zu tun haben:

Erstens hat das Image der alten Germanen etwas mit der Einstellung zu Deutschland zu tun. Je weiter der Zweite Weltkrieg zurückliegt, desto beliebter wird Deutschland, und je beliebter Deutschland ist, desto besser sehen die Goten aus. Das ist zwar sachlich absurd, aber psychologisch irgendwie nachvollziehbar.

Zweitens benötigt das sich einende Europa so etwas wie einen historischen Mythos, und den liefert eher das nachrömische christliche Abendland (speziell das Frankenreich) als das Imperium Romanum, zu dem weite Teile des heutigen EU-Gebietes gar nicht gehörten, wohl aber Nordafrika und der Nahe Osten.

Drittens ist mit dem Niedergang des Marxismus auch das Interesse an Wirtschaftsgeschichte zurückgegangen, und überhaupt sind für eine „postmoderne“, „postmaterialistische“ Gesellschaft religions- und kulturgeschichtliche Fragen offenbar interessanter als die „harte“ Politik-, Wirtschafts- oder gar Militärgeschichte.

Viertens aber – und hier wird es brisant und hochaktuell – haben wir es hier mit den Auswirkungen einer kulturrelativistischen Political Correctness zu tun (Ward-Perkins selbst benutzt diesen Ausdruck allerdings nicht), die prinzipiell von der Gleichwertigkeit aller Kulturen ausgeht, das Wort „Zivilisation“ auf keinen Fall im wertenden Sinne verwenden will – also wenn überhaupt, dann nur im Plural und auf keinen Fall als Gegensatz zur Barbarei. Barbarei gibt es nicht, es gibt höchstens „andere Kulturen“. Und gar Imperien! Na, die sind doch von vornherein bäbäh.

„Ich denke auch, es liegt eine wirkliche Gefahr für die Gegenwart in einer Vorstellung der Vergangenheit, die sich explizit vornimmt, jede Krise und jeden Niedergang auszuradieren. Das Ende des römischen Westens erlebte Schrecken und Verwerfungen einer Art, von der ich ehrlich hoffe, sie nie durchleben zu müssen; und es zerstörte eine komplexe Zivilisation, wobei die Bewohner des Westens auf einen Lebensstandard, der typisch für prähistorische Zeit war, zurückgeworfen wurden. Die Römer waren vor dem Untergang genauso wie wir heute sicher, dass ihre Welt für immer im Wesentlichen unverändert bleiben würde. Sie lagen falsch. Wir wären gut beraten, nicht so selbstgefällig zu sein.“ (S.190)

Ward-Perkins beschließt sein Buch mit diesen vorsichtigen Andeutungen, ohne sie weiter auszuführen. Das ist sein gutes Recht, schließlich schreibt er als Historiker, nicht als politischer Essayist, erst recht nicht als Agitator.

Es ist ja auch so eine Sache mit den „Lehren aus der Geschichte“ – oft genug lernt man genau das Falsche (wie Ludwig XVI. von Frankreich zu seinem Leidwesen erfahren musste, der auf keinen Fall wie Karl I. von England auf dem Schafott enden wollte, und gerade deshalb eine wankelmütige Politik trieb, die ihn schließlich auf eben dieses Schafott brachte). Das heißt aber nicht, dass es überhaupt nichts aus der Geschichte zu lernen gäbe. Wenn ich auch keinem Historiker unterstelle, die Geschichte direkt fälschen zu wollen, so ist es doch verblüffend, wie passgenau das neue „postmoderne“ Paradigma eines sanften Übergangs von der Antike zum Mittelalter auf die Bedürfnisse einer ganz bestimmten politischen Agenda zugeschnitten zu sein scheint:

Was dem Reich in der letzten Phase seiner Existenz fehlte, war militärische Stärke. Das ist offensichtlich und wird von niemandem bestritten. Bestritten wird, dass es diese Stärke überhaupt benötigte. Die römisch-germanischen Ansiedlungsverträge, z.B. mit den Goten 382 und 419, seien kluges Konfliktmanagement gewesen und hätten militärische Gewalt überflüssig gemacht.

Was es tatsächlich mit diesen Verträgen auf sich hatte, habe ich oben schon beschrieben: Sie waren das Ergebnis militärischer Niederlagen, wurden von den Germanen zuerst mit Gewaltandrohung erzwungen und dann nach Belieben verletzt. Natürlich fehlte es schon damals nicht an Schönrednern, die das militärische Versagen der Kaiser zu humanitären Großtaten umlogen; wenn aber anderthalb Jahrtausende später Historiker derlei groteske Propaganda ernstnehmen, so ist die Vermutung naheliegend, dass hier die Auswirkungen eines ideologisch verinnerlichten Pazifismus zu besichtigen sind, der niemals und unter keinen Umständen konzedieren kann, dass militärische Stärke und die Bereitschaft, von ihr Gebrauch zu machen, jemals etwas Gutes sein könnten.

Wer so denkt, braucht auch keinen Gedanken daran zu verschwenden, dass es problematisch sein könnte, wenn eine komplexe Gesellschaft so vollständig entmilitarisiert wird wie die römische – und unsere heutige. Das, was wir heute die „postheroische“ Mentalität nennen, existierte unter römischen Zivilisten auch damals schon. Zur Aufstellung größerer Truppenverbände fehlte den Römern nicht nur das Geld – es fehlten Soldaten! Wohl wollte der römische Bürger beschützt werden – aber selber in der Armee dienen? Um Gottes willen! An eine Wehrpflicht, wie sie bis zum Ende des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts existiert hatte, war nicht zu denken, und so mussten die Kaiser teils auf ausländische (wiederum: Germanen!), teils auf minderwertige Truppen zurückgreifen, auf Sklaven zum Beispiel.

Jahrhundertelang hatten die Legionen nur die Grenze zu schützen gehabt, und so lange hatte ihre qualitative Überlegenheit die geringe Mannschaftsstärke kompensiert. Tödlich wurde diese Schwäche erst, als es im späten 4. und im 5. Jahrhundert darum ging, die Fläche zu verteidigen und die staatliche Ordnung als solche aufrechtzuerhalten.

Der moderne Westen ist mit solchen Problemen nur – aber immerhin schon! – insofern konfrontiert, als sie es ihm erschweren, fremdes Territorium zu kontrollieren (Irak, Afghanistan). Die innere Sicherheit können wir noch getrost der Polizei überlassen. Sollte sich dies eines Tages ändern, könnte sich die postheroische Mentalität nicht nur, wie bisher schon, als problematisch, sondern als fatal entpuppen.

Überhaupt bestand das Problem der Römer nicht so sehr darin, dass die Barbaren ihnen die eine oder andere Provinz abgeknöpft hätten, um sie selbst zu beherrschen: Britannien etwa den Angelsachsen zu überlassen hätte schwerlich den Bestand des Reiches gefährdet. Das Problem war vielmehr, dass die Germanen innerhalb des Reiches eine Provinz nach der anderen verwüsteten. Die Germanen waren in erster Linie am Kampf an sich, in zweiter an Beute und erst dann an Herrschaft über ein abgrenzbares Territorium interessiert. Das Reich ähnelte daher in seiner Endphase eher einem heutigen „failed state“ vom Schlage Somalias als einer kriegführenden Macht. Wieder so eine Parallele, die dem postmodernen Gutmenschen übel aufstoßen muss.

Man ist im Westen – durchaus zu Recht – stolz darauf, dass die moderne Demokratie vielfältige Mechanismen entwickelt hat, gesellschaftliche Konflikte und Probleme friedlich und ohne direkte staatliche Gewaltanwendung zu lösen. Vergessen wird oft, dass diese Mechanismen nur deswegen und nur so lange funktionieren, wie der Staat notfalls Gewalt anwenden kann.

Auch dies gehört nämlich zu den Lehren aus der römischen Geschichte, die gewisse Menschen nicht zur Kenntnis nehmen möchten, weil sie jeglichem pazifistischen Illusionismus den Garaus machen würden: Die Ansiedlungsverträge mit den Germanen hätten als freundliches Entgegenkommen durchaus eine Befriedungswirkung haben können – wenn Rom in der Lage gewesen wäre, ihre Einhaltung zu erzwingen; so aber waren sie wertlos.

Nun ist die Auflösung der Staatsgewalt ein Prozess, der durchaus nicht nur Länder wie Somalia betrifft. Speziell die Großstädte – nicht nur der Dritten, sondern auch der Ersten Welt – weisen wachsende weiße Flecken auf, in denen die Staatsgewalt faktisch nicht mehr vertreten ist, und die in vielen Ländern bereits existierenden Reichen-Gettos, wo sich die Wohlhabenden gleichsam auf Inseln der Ordnung im Meer des Chaos verschanzen, haben eine frappierende Ähnlichkeit mit römischen Garnisonsstädten, die von ihren Besatzungen oft jahrelang gehalten wurden, während in dem sie umgebenden Land die Barbaren tobten. Man sollte sich also keineswegs darauf verlassen, dass solche Zustände „bei uns nicht möglich wären“.

Wenn die brutalen Raubzüge der Germanen als „Integration“ und „Immigration“ verniedlicht werden, so erkennt man schon an der Wortwahl, woher der Wind weht. Einer der entscheidenden Fehler der römischen Reichspolitik – der aus ebenso naheliegenden wie höchst aktuellen Gründen nicht als solcher benannt werden darf – war, dass man die Germanen überhaupt in großen Massen auf das eigene Territorium gelassen hat; kleine Gruppen hatte man schon früher aufgenommen und dezentral angesiedelt – was schnell dazu führte, dass sie sich an die vorherrschende „Romanitas“ anpassten und loyale Bürger wurden. Beim Gotenvertrag von 382 ging es aber darum, ein Großkollektiv aufzunehmen – mit eigenen politischen Führern und umfassender – sogar militärischer – Autonomie.

Eine Anpassung an die Romanitas fand unter diesen Umständen nicht statt und konnte auch nicht stattfinden. Vielmehr wurde die Mentalität des germanischen Kriegers konserviert, der Kriegführen und Beutemachen als eine Frage der „Ehre“ ansah und für die unheroische Lebensweise der Römer nur Verachtung übrig hatte. Konserviert wurde sie dadurch, dass es den Germanen erlaubt war, als kompakte Einheit, als Staat im Staate, als Gesellschaft in der Gesellschaft zu existieren. Es gab für sie keinen Grund, sich anzupassen. Im Gegenteil: Als „heroische“, an Begriffen der „Ehre“ orientierte Gesellschaft, in der Gewaltanwendung als Tugend, zumindest aber nicht als Makel galt, konnten sie mit der postheroischen römischen Gesellschaft machen, was sie wollten; und das wussten sie auch.

Kommt uns das irgendwie bekannt vor?

[Siehe zu diesem Thema auch das Interview des Deutschlandfunks mit dem Archäologen Michael Schmauder]