Das Wort des Jahres

Nachdem ich den „Krippengipfel“ als „Unwort des Jahres“ vorgeschlagen habe, nun mein Vorschlag für das „Wort des Jahres“:

BUNDESTROJANER

Die Verknüpfung von „Bundes-„, gleichsam dem sprachlichen Inbegriff der Amtlichkeit, mit „-trojaner“, dem Inbegriff der Hinterlist, ist genau die treffende Umschreibung für das, was das Innenministerium vorhat: Die Polizei soll in Zukunft fingierte Behörden-E-Post mit angehängtem Trojaner versenden, um die Zielrechner auszuspähen.

In welchem Land glaubt Schäuble eigentlich zu leben? Im Kongo?

Versteht mich richtig: Ich bin sehr dafür, zur Bekämpfung des Terrorismus der Polizei alle rechtsstaatlich vertretbaren Kompetenzen zu geben. Aber bestimmte Dinge gibt es, die können sonstwo gemacht werden, aber nicht in Deutschland. Jedenfalls nicht, ohne dass die Welt einstürzt. Und über die man deshalb auch nicht diskutiert, schon gar nicht als Konservativer. (Was für eine Art Konservatismus ist das eigentlich, die Schäuble da vertritt?).

Deutsche Behörden fälschen keine amtlichen Dokumente. Punkt.

Ein exotischer Vorschlag

So, nun werden die südkoreanischen Geiseln in Afghanistan also freigelassen. Gott sei Dank, aber der Preis ist hoch: eine unbekannte Geldsumme und das Versprechen, dass keine christlichen Aufbauhelfer mehr geschickt werden, jedenfalls keine, die von ihrer Glaubensfreiheit Gebrauch machen.

Natürlich ist jede Regierung, deren Bürger verschleppt werden, in einem Dilemma: Vorausgesetzt, sie schafft es nicht, die Geiseln gewaltsam zu befreien – und in Ländern wie Afghanistan oder dem Irak ist das meist nicht möglich -, steht sie vor der Wahl, die Entführten entweder ihrem Schicksal zu überlassen oder irgendeinen Preis zu zahlen. Tut sie das letzte, lädt sie die nächsten Entführer geradezu ein. Tut sie das erste, handelt sie nicht nur unmenschlich gegenüber dem Opfer, sondern wird es auch schwer haben, noch irgend jemanden zu einem zivilen Engagement in solchen Ländern zu bewegen. Was also tun?

Zur Zeit der Schleyer-Entführung, als ein toter Punkt erreicht zu sein schien, versammelte Helmut Schmidt seinen großen Krisenstab zu einer Denkrunde und bat „ausdrücklich um exotische Vorschläge“. Franz Josef Strauß schlug daraufhin vor, den Terroristen ein Ultimatum zu stellen: Entweder Ihr lasst Schleyer frei, oder wir erschießen jede Stunde einen der einsitzenden Terroristen, deren Freilassung Ihr erzwingen wollt. Natürlich ein unmöglicher Vorschlag. So weit kommt das, dass ein Rechtsstaat seine Strafgefangenen abknallt.

Aber die Grundidee war ja nicht blöd: auf die Erpressung mit einer Gegenerpressung antworten. Sollte man den Taliban androhen: Wenn die deutsche Geisel stirbt, bombardieren wir Eure Basen in Pakistan, einschließlich der Koranschulen, wo Euer Nachwuchs ausgebildet wird? Hm, das wäre wohl nicht sehr glaubwürdig. Unter den Opfern wären Zivilisten, rechtlich wäre es auch schwierig – ein solcher Militärschlag würde womöglich als verfassungswidriger Angriffskrieg gewertet, außerdem bedarf es eines Parlamentsmandats; im übrigen ist den Taliban durchaus zuzutrauen, dass sie einen solchen Angriff billigend in Kauf nehmen würden, weil dessen Opfer ja dann als Märtyrer für Allah direkt ins Paradies kämen. Das Problem besteht letztlich darin, dass uns das menschliche Leben heilig ist, der Gegenseite aber nicht. Denen ist doch höchstens der Koran heilig…

Und wenn das die Lösung wäre? Den Koran als Geisel zu nehmen? Die Gegendrohung aufzustellen: Wenn die deutsche Geisel stirbt, versenken wir vor laufenden Fernsehkameras eine Prachtausgabe des Koran in einem Trog Schweinegülle? Natürlich gäbe das einen Aufschrei. Na und? Es würde zugleich dazu führen, dass alle wichtigen islamischen Würdenträger ihre Kontakte zu den Taliban spielen lassen würden, der Geisel nichts zu tun, um diesen Frevel zu verhindern. Die gewonnene Zeit könnte man in die Vorbereitung einer gewaltsamen Befreiung investieren. Und die Taliban würden es sich in Zukunft schwer überlegen, ob sie wirklich Deutsche entführen wollen.

 

 

Aktuelle Literatur zum Thema „Islam“

What’s Left III – „Dialektik der Aufklärung“

Der Zufall wollte es, dass ich vor kurzem im Kontext einer Diskussion über den Nahostkonflikt  wieder auf die „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno gestoßen wurde, einen Basistext des linken Nachkriegsdiskurses, gerade passend zu meiner Beschäftigung mit den Grundlagen linken Denkens. Es stellte sich als eine ungemein fesselnde Lektüre heraus, viel spannender als vor 20 Jahren, als ich sie das erstemal gelesen hatte. Fesselnd und spannend deshalb, weil sie das dialektische Umschlagen von Aufklärung in Herrschaft, das sie an der bürgerlichen Gesellschaft kritisieren zu müssen glaubt, tatsächlich selbst enthält, ja sogar ein Musterbeispiel dafür ist, wie emanzipatorisches in totalitäres Denken umschlägt!

Ich fasse die Argumentation kurz zusammen (Vergröberungen der überaus komplexen Theorie nehme ich dabei in Kauf, weil es mir nicht darum geht, ein Adorno-Seminar abzuhalten, sondern linke Denkstrukturen herauszuarbeiten; in den linken Ideologiehaushalt ist die „Dialektik“ ohnehin nur in vergröberter Form eingedrungen, in dieser aber umso mächtiger):

Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass Aufklärung nicht nur, wie von Kant postuliert, „der Ausgang des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit“ ist, sondern wesenhaft ein Moment von Herrschaft enthält: Für das aufgeklärte Denken erweist sich ja die Wahrheit einer Aussage an ihrer Anwendbarkeit, d.h. daran, dass er uns zur Manipulation befähigt; zur Manipulation zunächst der Natur, aber eben auch des Mitmenschen und schließlich der Gesellschaft. Aufklärung ist ein Herrschaftsinstrument und damit ein Instrument der Herrschenden, die es im Zuge monopolkapitalistischer Machtkonzentration immer weniger nötig haben – und es sich auch immer weniger leisten können -, ihre Herrschaft liberal und demokratisch zu bemänteln. Am Ende dieses Prozesses steht der Faschismus – als die nackte brutale Herrschaft über den Menschen, der nur noch Herrschaftsobjekt ist. Der Faschismus ist die letzte Konsequenz der Aufklärung. Dieser Konsequenz kann die Aufklärung nur dadurch entgehen und ihr emanzipatorisches Potential nur entfalten, wenn sie den Herrschaftscharakter gesellschaftlicher Verhältnisse entlarvt und die gegebene Gesellschaft nicht als das Gegebene hinnimmt und auf dem berühmten Boden der Tatsachen bloß interpretiert und damit legitimiert, sondern als das zu Überwindende kritisiert. So weit Horkheimer/Adorno.

Hier werden also Demokratie und Liberalismus als raffinierte Maskerade kapitalistischer Herrschaft, mithin als bloße Vorstufe zum Faschismus, eingeordnet, und die Unterschiede zwischen Demokratie und Faschismus scheinen bloß gradueller, nicht aber qualitativer Natur zu sein. Ein erstaunlicher Standpunkt für zwei Autoren, denen die Unterschiede zwischen Faschismus und Demokratie doch qualitativ bedeutsam genug gewesen waren, um vor dem einen in die Arme der anderen zu flüchten. Zugleich eine Denkfigur, die von Gruppen wie der RAF aus der akademischen Theorie in blutige Praxis übersetzt wurde, und die mitverantwortlich dafür sein dürfte, dass die Linke bis heute außerstande ist, Rechtsradikalismus als solchen zu erkennen, wenn er nicht aus einer „aufgeklärten“ westlichen Gesellschaft erwächst, sondern etwa aus einer islamischen. Logisch: Wenn Faschismus das Ergebnis einer sich selbst ad absurdum führenden Aufklärung ist, dann kann er von nichtwestlichen Gesellschaften definitionsgemäß nicht hervorgebracht werden, mögen deren Ideologien auch noch so antirational, antidemokratisch, frauenfeindlich und antisemitisch sein.

Die Kritik beschränkt sich auf kapitalistische Gesellschaften, der Kommunismus bleibt ausgespart. Und das ist verblüffend, denn wenn es je eine Ideologie gegeben hat, für die Horkheimer/Adornos Rechnung ohne Rest aufgeht, dann ist es gerade der Kommunismus: Der Anspruch des Marxismus, die Bewegungsgesetze der Gesellschaft aufgedeckt zu haben, um auf der Basis dieses Wissens Armut und Unterdrückung durch zielgerichtetes politisches Handeln zu überwinden, ist so aufklärerisch wie nur irgend möglich. Genau dieser Anspruch aber legitimierte die aufgeklärte Elite, organisiert in der kommunistischen Partei, mit totalitärer Gewalt der Gesellschaft die Richtung vorzuschreiben, immer glaubend oder vorgebend, damit die wissenschaftlich überprüfbaren Gesetze der Geschichte zu vollstrecken. Der Kommunismus ist der blinde Fleck bei Horkheimer und Adorno. Und das kann auch nicht anders sein, war doch die marxistische Gesellschaftsanalyse die Basis ihrer Theorie. (Zur Ehre der Autoren sei angemerkt, dass sie über den engstirnigen ökonomischen Determinismus der meisten gelernten Marxisten erhaben waren.)

Sehr erhellend ist in diesem Zusammenhang der Abschnitt über die „Kulturindustrie“: Sie sei ein Mittel, mit dem die Herrschenden das Volk in ihrem eigenen Interesse manipulierten, nicht so sehr durch im strengen Sinne unwahre Informationen, sondern indem das Gesamtangebot, speziell an Unterhaltung, gesellschaftskritische Reflexion unmöglich mache. Dem Konsumenten werde die Freiheit der Wahl bloß vorgegaukelt, damit er sich umso williger an das Gängelband der Herrschaftsinteressen legen lasse. Erhellend ist das deshalb, weil hier idealtypisch und auf höchstem Niveau eine zentrale linke Denkfigur entwickelt wird, nämlich die des „falschen Bewusstseins“. Schon Marx und Engels waren sich darüber im klaren gewesen, dass das, was das Volk von sich aus will, nicht unbedingt identisch ist mit dem, was die Linke für das Volk will, und sie hatten deswegen den „Blitzschlag des Gedankens in den naiven Volksboden“ und die Erziehungsaufgabe der Partei postuliert; das Proletariat sollte befähigt werden, seine Interessen zu erkennen und selbständig wahrzunehmen. Bei Lenin findet sich dieser Gedanke schon radikalisiert: Da das Proletariat von sich aus bestenfalls zu einem gewerkschaftlichen Bewusstsein komme, könne die Diktatur des Proletariats – Voraussetzung für die Entwicklung zu Sozialismus und Kommunismus – nicht durch die Arbeiter selbst ausgeübt werden, sondern durch die Partei, in der die historische Mission der Arbeiterklasse gleichsam objektiviert sei.

Dieser Umschlag von herrschaftskritischem in herrschaftslegitimierendes Denken, zeigt in der Tat eine „Dialektik der Aufklärung“ – aber eben nicht der bürgerlichen und systemimmanenten Aufklärung, die die Autoren kritisieren, sondern der herrschaftskritischen, systemtranszendierenden linken Aufklärung, weil die nur ihre eigenen Maßstäbe, d.h. den Blick durch die Brille der Herrschaftskritik, gelten lässt (weil alles andere ja zum Faschismus führen würde, siehe oben) und deshalb auch in liberalen, demokratischen Gesellschaften nur das Element der Herrschaft erkennen kann. Wer sich – obwohl weder reich noch mächtig – in einer solchen Gesellschaft subjektiv „frei“ fühlt, kann demgemäß nur ein „falsches“, weil bestehende Herrschaftsverhältnisse nicht reflektierendes Bewusstsein haben. Ein äußerst gefährlicher Gedanke, dessen Tragweite den meisten Linken wahrscheinlich gar nicht bewusst ist: Wenn nämlich das, was subjektiv „Freiheit“ zu sein scheint, „objektiv“ Unterdrückung ist, dann spricht kein rationales Argument dagegen, dass das, was subjektiv, z.B. aus der Sicht eines verfolgten Dissidenten, Unterdrückung zu sein scheint, „objektiv“ Emanzipation ist.

So führt der herrschaftskritische Ansatz, der die linke Identität konstituiert, ganz von selbst zu Legitimierung der totalitären Diktatur – dass Teile der Linken diese Schlussfolgerung nicht akzeptieren, ändert daran nichts: Solche Linken sind nur inkonsequent, und werden daher gegenüber konsequenten, d.h. radikalen, Linken stets die schlechteren Argumente haben.

[Und hier noch ein hervorragender Aufsatz zum Thema: Michael Holmes, Zur Kritik der Kritischen Theorie]

Babylon II – Semantische Lügen

„Nationalsozialistische Gewaltherrschaft“: Stammt aus dem kanonischen Vokabular der deutschen Gedenkkultur, wird aber auch von Journalisten immer gerne genommen. Eine semantische Lüge ist es nicht deshalb, weil es die Nazis als gewalttätig beschreibt; natürlich haben die Nazis Gewalt in einem bis dahin in Europa unvorstellbaren Ausmaß angewendet. Die Lüge aber besteht darin, dass der Begriff der „Gewaltherrschaft“ suggeriert, ihre Herrschaft habe im Wesentlichen auf Gewaltanwendung beruht; so kann man sich daran vorbeimogeln, dass Hitler durch Wahlen an die Macht gekommen ist und Neuwahlen, wenn er sie denn zugelassen hätte, noch bis ins Jahr 1945 hinein spielend gewonnen hätte. Die Rede von der „nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ ist die Ausrede einer Gesellschaft, die bis heute nicht wahrhaben will, dass sie selbst den Nationalsozialismus hervorgebracht und Hitler vorbehaltlos unterstützt hat.

„Unrechtsstaat“ (Unrechtssystem, Unrechtsregime) DDR: Sagt nicht einfach aus, dass die DDR kein Rechtsstaat war – das war sie ja in der Tat nicht -, sondern, dass sie von vornherein auf Unrecht basiert und auf die Verwirklichung von Unrecht abgezielt habe. Nun wird das Begriffspaar Recht/Unrecht in zwei Kontexten verwendet: Einmal in einem positivistischen Sinne („Recht ist, was Gesetz ist“) im Hinblick auf die Frage der Legalität. In diesem Kontext von einem „Unrechtsstaat“ zu sprechen, ist blanker Unsinn. Mit der Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 war die Souveränität über Deutschland auf die Siegermächte übergegangen, und die übten sie in ihrer jeweiligen Besatzungszone aus. Die Gründung der DDR wie auch ihre innere Struktur als kommunistische Diktatur entsprach dem Willen der Besatzungsmacht und war damit legal. Von „Unrecht“ im Sinne von „Illegalität“ kann daher nur dort gesprochen werden, wo die DDR ihr eigenes Recht verletzte. Der zweite Bezugsrahmen im Gegensatz zur Legalität ist die politisch-moralische Frage nach der Legitimität. Die DDR war ein Staat, dessen bloße Existenz von seiner Bevölkerung abgelehnt wurde, erst recht seine diktatorische Ordnung; vom demokratischen Standpunkt der Volkssouveränität war er damit ein Unrechtsstaat. Schon wahr. Nur ist das Volk, von dessen Souveränität hier die Rede ist, das deutsche Volk. Zum Zeitpunkt der Gründung der DDR war es gerade vier Jahre her, dass das deutsche Volk von seiner Souveränität so verheerenden Gebrauch gemacht hatte, dass ganz Europa in Schutt und Asche lag. War es vor diesem Hintergrund wirklich „Unrecht“, Deutschland zu teilen? Außerhalb Deutschlands sah man das jedenfalls nicht so (sah es selbst 1989 nicht so), und mit dem Kalten Krieg wurde die Aufrechterhaltung dieser Teilung sogar die Voraussetzung für die Stabilität Europas. Und die Voraussetzung für die Teilung war der Fortbestand der Diktatur in der DDR. Kann man da wirklich ohne Einschränkung von einem „Unrecht“ sprechen, zumal wenn man berücksichtigt, dass Instabilität in Europa möglicherweise in einen Atomkrieg geführt hätte? Ja, das kann man, wenn man sich auf den Standpunkt stellt: „Demokratie – um jeden Preis“! Nur sollte man dann nicht beanspruchen, nüchtern und objektiv zu urteilen.

„Irakische Aufständische“: Wer gegen den irakischen Staat und die ihn kontrollierende Besatzungsmacht kämpft, ist im technischen Sinne ein „Aufständischer“. So weit, so gut. Der Ausdruck wird aber auch in Bezug auf Terroristen verwendet, die sich auf Marktplätzen in die Luft jagen. Gegen wen stehen denn die auf? Gegen Marktfrauen und Schuhputzer?

Rechts: Demagogischer Kampfbegriff der Linken, bei dem auf den Zusatz „-radikal“ oder „-extremistisch“ bewusst verzichtet wird, um den Unterschied zwischen Konservativen und Faschisten unter den Tisch fallen zu lassen. Dürfte dafür verantwortlich sein, dass sich nur noch 11 % der deutschen Bevölkerung als „rechts“ bezeichnen; das sind sogar weniger, als nach sozialwissenschaftlichen Analysen rechtsextrem eingestellt sind. Die Mehrheit ordnet sich der „Mitte“ zu, als wenn das irgendetwas aussagen würde. Dass es eine demokratische Rechte geben könnte, scheint niemandem mehr in den Sinn zu kommen. Wieder ein Begriff, der analytisch nicht mehr brauchbar ist, weil er zum politischen Kampfbegriff gemacht wurde. Siehe auch „What’s Left II“.

„Internationale Gemeinschaft“: Sinnentstellende Scheinübersetzung von „international community„, was soviel bedeutet wie „Gesamtheit“ (der Staaten), (internationale) „Allgemeinheit“. Das deutsche Wort „Gemeinschaft“ bezeichnet aber eine Gruppe, deren Mitglieder einander zu einem hohen Maß an Solidarität verpflichtet sind: vom Rechtsbegriff der „Versichertengemeinschaft“ über „verschworene Gemeinschaft“, „Gemeinschaft der Gläubigen“ bis hin zur „Volksgemeinschaft“. Besonders akzentuiert wird der Begriff in der deutschen Geistesgeschichte durch die Gegenüberstellung von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“, wobei der Begriff der „Gemeinschaft“ einen romantischen Beiklang hat: Der „Gemeinschaft“ zu dienen gilt traditionell als erhabener und edler als bloß in der „Gesellschaft“ seine schnöden Interessen zu verfolgen. Eine „Internationale Gemeinschaft“ in diesem Sinne existiert nicht, der Begriff ist durch und durch verlogen, passt aber natürlich hervorragend zu einer deutschen Außenpolitik, die sich grundsätzlich hinter dieser „Gemeinschaft“ versteckt, und enthält ein unausgesprochenes „Pfui“ gegenüber allen Staaten, die das nicht tun.

„Kriegsgefangenenlager“ Guantanamo: Guantanamo ist ein Gefangenenlager, aber seine Insassen, und daran entzündet sich die Kritik, sind gerade keine Kriegsgefangenen, jedenfalls nicht im rechtlichen Sinne. Rechtlich sind sie „feindliche Kämpfer“ – eine völlig willkürliche Konstruktion, die einzig und allein darauf abzielt, sie rechtlos zu stellen. Was die Verteidiger des amerikanischen Vorgehens aber nicht daran hindert, scheinheilig zu fragen, warum man denn – vor Ende der Kampfhandlungen – die Auflösung dieses „Kriegsgefangenenlagers“ fordere…

Mehr zum Thema Sprachkritik: Babylon I und Free Burma

What’s Left II – Linkes und konservatives Denken

Am Ende von „What’s Left“ I habe ich bezweifelt, dass die Linke wieder zur Verteidigung demokratischer und emanzipatorischer Werte zurückfinden kann. Zunächst eine Einschränkung: Natürlich kann jeder Linke sein Links-sein definieren, wie er möchte, auch im traditionellen Sinne von Demokratie, Emanzipation usw. Nur wird die Linke als einigermaßen klar definierbare politische Bewegung das nicht tun.

Es ist doch bezeichnend, dass die erfolgreichsten Politiker der demokratischen Linken, Leute wie Clinton, Blair, auch Schröder, ihre Erfolge einer Politik verdanken, die gerade nicht als „links“ erkennbar ist und deswegen auch mit dem ständigen „Verrats“-Vorwurf der Linken leben muss. Deshalb lohnt es sich, mit Cohen, aber grundsätzlicher, zu fragen: What’s Left?

Dass es eine „Linke“ nur dort geben kann, wo es auch eine Rechte gibt, ist eine Binsenweisheit; linke Identität lebt von einem Gegensatz. Und ich vermute dass es sich dabei nicht um einen Gegensatz der politischen Inhalte handelt (Was vor 150 Jahren ultralinks war, wird heute auch von Konservativen vertreten), sondern um einen des Denkstils, der Einstellung, der Vor-Urteile über das, was die Gesellschaft ausmacht und was sie sein sollte.

Es gibt – wenn wir den Rechtsextremismus mal beiseite lassen – zwei Pole, zwischen denen das politische Denken sich bewegt, nämlich den linken und den konservativen. (Eleganter wäre es natürlich, von „links und rechts“ zu reden; das scheitert leider daran, dass der Begriff „rechts“ durch die linke Propaganda zu einer Art Protofaschismus verteufelt wurde. Das Gegensatzpaar „konservativ und progressiv“ kann ich auch nicht verwenden, weil ich linke Politik ja kritisiere und mich deshalb hüten werde, sie als „progressiv“ zu adeln.) Idealtypisch kann man die beiden Grundansätze so beschreiben:

Das konservative Menschenbild ist pessimistisch. Es geht mit Hobbes davon aus, dass „der Mensch des Menschen Wolf“ wäre, wenn man ihn ließe; und das es deswegen seiner Einbindung in eine Ordnung, d.h. eine strukturierte und differenzierte, auch durch Machtungleichgewichte geprägte Gesellschaft bedarf. Staat, Recht, Hierarchie, Autorität, Sitte, Kultur und Religion bilden demnach eine komplexe Struktur, auf die der Mensch angewiesen ist, wenn er sein Bestes verwirklichen und in einer humanen Gesellschaft leben will. Diese Struktur ist aber jederzeit bedroht durch Ent-Strukturierung, Unordnung, Chaos.

Auf der Ebene der Gesellschaftsanalyse ist für den Konservativen bereits die Existenz von Ordnung als solcher das an sich Unwahrscheinliche und daher Erklärungsbedürftige. Seine Frage lautet, wie die Gesellschaft es fertigbringt, stabil und leistungsfähig zu sein, und – auf der anderen Seite – welche Faktoren diese Stabilität und Leistungsfähigkeit gefährden. Für den Konservativen ist gut, was zur Funktionsfähigkeit der Gesellschaft beiträgt. Sein Ansatz ist funktionalistisch.

Und damit das genaue Gegenteil des linken, des herrschaftskritischen Ansatzes. Der linke Ansatz bestreitet grundsätzlich und ohne Rücksicht auf Funktionalität die Legitimität jedes gesellschaftlichen Machtungleichgewichts: zwischen Reich und Arm, Staat und Gesellschaft, Herrschenden und Beherrschten, Stadt und Land, Mann und Frau, Zentrum und Peripherie, Mehrheit und Minderheit. Da solche Ungleichgewichte aber zu einem erheblichen Teil gerade die Struktur, also die Ordnung der Gesellschaft ausmachen, nimmt der linke Ansatz genau das aufs Korn, worauf es dem Konservativen ankommt. Der Linke setzt die Existenz von Ordnung schlechthin als Selbstverständlichkeit voraus und stellt nur die Frage nach der Gerechtigkeit und damit Legitimität der jeweils konkreten Ordnung – mit regelmäßig negativem Ergebnis: Die bestehende Ordnung beruht auf Machtungleichgewichten, und die sind zu beseitigen. Punkt. Das Programm der Linken tendiert daher regelmäßig zur Entstrukturierung und Entdifferenzierung der Gesellschaft.

Die Linke glaubt, sich dass leisten zu können, weil sie den Menschen für prinzipiell gut hält. Wenn die Wirklichkeit das Gegenteil nahezulegen scheint, so liegt das aus linker Sicht an den gesellschaftlichen Verhältnissen, die den Menschen unterdrücken und korrumpieren: an Kapitalismus, Imperialismus, Faschismus, Armut, Diskriminierung usw. Beseitigt man diese Verhältnisse, so der linke Glaube, dann stellt sich die gute und gerechte Gesellschaft quasi von selbst ein. Dort wo die Linke freie Bahn hatte, ihr Maximalprogramm durchzusetzen, also tatsächlich alle alten Strukturen zu zerschlagen – nicht nur Staat und Eigentum, sondern auch Familie, Religion, nationale Loyalität etc. -, blieb ihr gar nichts anderes übrig, als das von ihr zerschlagene gesellschaftliche Gefüge von oben neu zu errichten – mit dem erwartbaren Ergebnis einer totalitären Diktatur; diese ist nicht das Ergebnis irgendwelcher „Fehler“ oder unglücklicher Zufälle („Wenn doch Lenin länger gelebt hätte…“; „Wenn doch Trotzki sich durchgesetzt hätte…“; „Wenn doch Rosa Luxemburg nicht ermordet worden wäre…“), sondern die zwingende Konsequenz des linken Programms. Die Linke macht keine Fehler, sie hat welche. Ich würde sogar sagen: Sie ist einer.

Natürlich hat die Linke dort, wo sie nicht zur Diktatur gelangte, vieles erreicht, und zwar durchaus in dem von ihr intendierten Sinne der Entstrukturierung und Entdifferenzierung, positiv formuliert also Liberalisierung, Egalisierung, Demokratisierung. Machtungleichgewichte wurden, wenn nicht völlig eingeebnet, so doch gewaltig verringert. Nur waren die Fortschritte, die die Linke erzielte – vom allgemeinen Wahlrecht über die Frauenemanzipation, den breiten Zugang zu Bildungschancen bis hin zur relativ egalitären Einkommensverteilung – alle diese Fortschritte entsprachen den Bedürfnissen eines expandierenden Kapitalismus an Massenkaufkraft, politischer Stabilität, größerem und besser qualifiziertem Potenzial an Arbeitskräften. Der herrschaftskritische Ansatz der Linken konnte sich also auf vielen Feldern durchsetzen – aber eben nur dort und nur so weit, wie die angegriffenen Machtungleichgewichte selbst dysfunktional geworden waren.

Jetzt, wo der Linken endgültig die Illusion vergangen ist, mit ihren Erfolgen den Sozialismus vorzubereiten; wo sie feststellen muss, dass sie die ganze Zeit pour le Roi de Prusse gearbeitet und mit dem Kapitalismus im Bett gelegen hat, hat sie im Prinzip zwei Möglichkeiten:

Sie kann ihren freiheitlichen, demokratischen und egalitären Werten treu bleiben, dann muss sie sich auf den Boden der bestehenden freiheitlichen, demokratischen und egalitären Gesellschaftsordnung stellen und diese unter Berücksichtigung ihrer Funktionslogik fortentwickeln und auch verteidigen. Dann wird sie liberal, in mancher Hinsicht auch konservativ, rückt nahe an den konservativen Pol heran, verliert dabei in jedem Fall ihre spezifische Identität als „Linke“. Das ist der Weg Clinton/Blair/Schröder.

Oder aber sie bleibt links, d.h. herrschaftskritisch, und fährt fort, die Autonomie gesellschaftlicher Teilsysteme zu missachten und und ihr Programm der Entstrukturierung weiterzuverfolgen. Normalerweise haben gesellschaftliche Teilsysteme ihre Eigenlogik: In der Wirtschaft geht es um Profit, in der Politik um Macht, in der Wissenschaft um Erkenntnis, in der Religion um Gott, in der Kunst um Ästhetik usw. Entstrukturierung heißt, diese Eigenlogik zu missachten und die gesamte Gesellschaft auf der Basis spezifisch politischer Wertentscheidungen umzubauen: Begriffe wie „feministische Theologie“ oder „gerechte Sprache“, weisen schon durch die Wortwahl darauf hin, dass es hier nicht um Gott bzw. Kommunikation geht, sondern um die Durchsetzung einer politischen Agenda. Die Nähe zu totalitären Begriffen wie „deutsche Physik“ oder „sozialistischer Realismus“ ist keineswegs zufällig, sondern zeigt an, dass das linke Denken auf die totalitäre Unterwerfung der Gesellschaft hinausläuft. In diesem Sinne ist eine „Theologie der Befreiung“ keinen Deut weniger totalitär als ein „Deutsches Christentum“, und es ist wiederum kein Zufall, sondern Notwendigkeit, dass ein Mann wie Jean-Bertrand Aristide, der seine Karriere als engagierter Armenpriester in den Slums von Port-au-Prince begann, sie als blutrünstiger Tyrann beendete. Das Verhältnis zwischen den Befreiungstheologen und der sie unterdrückenden Kirche ist zweifellos ein Herrschaftsverhältnis. Aber mit ihrem repressiven Konservatismus nach innen schützt die Kirche die Autonomie des Religiösen nach außen, nämlich gegenüber dem Politischen; und trägt dadurch mehr zur Aufrechterhaltung einer freien Gesellschaft bei, als wenn sie dem billigen Liberalismus frönen würde, der von ihr verlangt wird.

Links sein heißt unter den heutigen Bedingungen: den demokratischen Staat noch weiter zu „demokratisieren“, d.h. zu schwächen; die friedlichsten Staaten, die Europa je gesehen hat, noch weiter zu „entmilitarisieren“, d.h. wehrlos zu machen; Gesellschaften, in denen ohnehin schon fast alles erlaubt ist, noch weiter zu „liberalisieren“, d.h. die Verbindlichkeit aller Normen in Abrede zu stellen (z.B. mit Multikulti-Ideologien), bis hin zur Duldung von Kriminalität; auf Deubel komm raus den „Imperialismus“ zu bekämpfen, und sei es im Bündnis mit Bin Laden. Da muss die Wirtschaft „Gerechtigkeit“ gewährleisten, und wenn sie zusammenbricht. Da muss die Sprache, die Wissenschaft, die Religion „politisch korrekt“ sein – zur Hölle mit der Wahrheit -, die Kunst agitieren, auch wenn keiner das mehr sehen oder hören will. Und so weiter und so fort.

Nein, wenn die Linke eine Zukunft haben sollte, dann gnade uns Gott!

"What's Left" I – Anmerkungen zu Nick Cohen

Es ist ja bemerkenswert, dass politische Feindschaften oft ein wesentlich zäheres Leben haben als die Umstände, denen sie ihre Entstehung verdanken.

Warum zum Beispiel habe ich 2005 noch einmal Rot-Grün gewählt? Aus politischer Überzeugung? Ja, doch. Schon. Auch.

Ein paar politische Gründe hatte ich schon, die dafür sprachen – aber noch mehr sprachen dagegen, und ein Fan von Angela Merkel war ich obendrein, auch damals schon. Aber Rot-Grün – das war die Konstellation, die ich immer gewollt hatte, seit ich Anfang der achtziger Jahre begonnen hatte, an einem erzkonservativen bayerischen Gymnasium als einziger die rote Fahne hochzuhalten. Als rote Insel im Schwarzen Meer sozusagen.

Was habe ich sie gehasst, diese bürgerlichen Milchgesichter. Natürlich hatte ich selbst ein Milchgesicht, aber ich tarnte es mit Stoppelbart und verwegenem Indianerlook. Was habe ich sie gehasst, diese Platitüdendreschmaschinen von der Jungen Union mit ihren nassforschen Sprüchen, ihrem präpotenten Jungmanagergetue, ihren wichtigtuerischen Diplomatenköfferchen, ihrer unerschütterlichen Überzeugung, dass ein Joschka Fischer niemals regieren könne. Und wenn ich 20 Jahre später noch einmal Rot-Grün wählte, dann sicher nicht nur, aber auch nicht zuletzt deswegen, damit meine alten Feinde nichts zu grinsen haben. Obwohl mich rein politisch nicht mehr so sehr viel von ihnen trennte.

Warum erzähle ich das alles? Weil ich in diesen Tagen Nick Cohen’s „What’s Left?“ gelesen habe. Cohen fragt sich, wie es geschehen konnte, dass Teile der Linken die Intervention westlicher Länder gegen den Irak 1991 und 2003, in Bosnien 1995, im Kosovo 1999, in Afghanistan 2001 und im Libanon 2006 reflexartig mit pazifistischen und „anti-imperialistischen“ Sprüchen verurteilten, nicht aber die ihnen zeitlich und kausal vorausgehenden Angriffskriege, Völkermorde und Terroranschläge durch rechtsradikale Regime und Bewegungen. Eine seiner Erklärungen lautet, dass politisch engagierte Menschen dazu neigen, sich wie Sportfans zu verhalten, für die der Gegner der eigenen Mannschaft das fleischgewordene Böse ist, und die hell empört sind, wenn dieser Gegner foult, dopt oder den Schiedsrichter schmiert, aber ziemlich nachsichtig, wenn die eigene Seite das tut.

Ins Politische gewendet: Wer sich einmal, z.B. während des Vietnamkriegs, entschieden hat, in Amerika (oder auch dem Imperialismus) die Wurzel allen Übels zu sehen, womöglich Jahre seines Lebens in den „Kampf gegen den Imperialismus“ investiert hat, der wird sich schwertun zuzugeben, dass Amerika irgendetwas richtig machen oder dass jemand, der gegen Amerika kämpft, im Unrecht sein könnte. Feindschaften können eben langlebig sein. Ich kenne das. Siehe oben.

Es ist aber ein erheblicher Unterschied, ob man solche Feindschaften, wie ich, als eine Art Hobby pflegt, das man sich leistet, solange es politisch, moralisch, intellektuell vertretbar ist, oder ob man alle emanzipatorischen Grundsätze, alle geistige Redlichkeit bis hin zur Formallogik über Bord wirft, wenn sie einen daran hindern, den „Feind“ zu verteufeln. Wenn solche Feindschaft zum Selbstzweck wird, wird Links-Sein zum Nihilismus, und genau das ist der Vorwurf, den Cohen gegen die Linke erhebt und eindrucksvoll untermauert.

Mit der Linken meint Cohen ausdrücklich nicht die alte, sozialdemokratisch-gewerkschaftliche, sondern die neue Linke der akademischen Mittelschichten. Vielleicht ist diese Unterscheidung für den englischen Sprachraum, auf den Cohen sich vor allem bezieht, relevanter als für Kontinentaleuropa. In Deutschland etwa gab es diese Spaltung durchaus auch, politisch repräsentiert durch die Rivalität von SPD und Grünen; aber spätestens seit Letztere sich ihres Fundi-Flügels Ende der achtziger Jahre entledigt haben, war der Gegensatz mehr einer des Habitus als der politischen Inhalte.

Für Cohen ist beispielsweise die EU-Freundlichkeit der britischen Linken ein Zeichen für ihre elitäre Mentalität, die sie in Gegensatz zu einer nationalbewussten Arbeiterklasse gebracht habe, und die sie verleitet habe, die europäische Integration als Projekt von Eliten über die Köpfe der einfachen Menschen hinweg zu forcieren – eine Politik, die man bereits wegen ihres antidemokratischen Ansatzes kaum als links bezeichnen könne.

Nun lässt es sich gewiss kaum bestreiten, dass die EU ein Elitenprojekt ist. Das gilt aber für jede Zusammenlegung politischer Einheiten, von der Eingemeindung über die Länderfusion bis eben zur europäischen Integration. Das Volk ist konservativ und hängt am Vertrauten selbst dann, wenn es ihm Nachteile bringt. Dass der Fortbestand nationalstaatlicher Fragmentierung der Politik bei gleichzeitiger Globalisierung der Ökonomie Gift ist für die Fähigkeit demokratisch legitimierter Politik, den gesellschaftlichen Wandel sozialverträglich, also „links“, zu gestalten; dass es deswegen der Stärkung übernationaler Politik bedarf, wenn man sinnvoll „linke“ Politik machen will, sollte offensichtlich sein, und nicht zufällig ist es gerade die rechte Murdoch-Presse, die am entschiedensten gegen die EU Sturm läuft. Für die Linke ist es daher, anders als Cohen meint, durchaus konsequent, europafreundlich zu sein.

Aber diese Gleichsetzung der Linken mit proeuropäischer und der Konservativen mit nationalorientierter Politik, die für England zutreffen mag, gilt für das kontinentale Europa eben nicht. Hier gibt es linke Nationalisten (Lafontaine, Fabius) genauso wie konservative Europafreunde (Kohl, Merkel), rechte Nationalisten (Berlusconi, Kaczynski) ebenso wie linke Berufseuropäer (Fischer, Zapatero). Es geht also querbeet, und die Haltung zur europäischen Integration lässt sich einem Links-rechts-Schema nicht sinnvoll zuordnen.

Cohens Hauptthema ist aber etwas anderes, nämlich der schon erwähnte Nihilismus: Man hat es ja schon fast vergessen, dass es einmal eine Zeit gab, da alle Linken sich einig waren, dass Saddam Hussein ein faschistisches Monster sei, und da die Unterstützung des Westens für den Irak in den achtziger Jahren als Beweis bestenfalls für die Heuchelei, schlimmstenfalls für den „faschistischen“ Charakter der amerikanischen Außenpolitik galt. Diese Zeit endete am 2.August 1990 mit Saddams Einmarsch in Kuweit. Damit schwenkte die amerikanische Irakpolitik um 180 Grad. Und die Linke? Freute sie sich, dass es dem Tyrannen endlich an den Kragen ging? Nein, sie schwenkte ebenfalls um 180 Grad. Es ist eindrucksvoll, wie Cohen die unappetitlichen Einzelheiten dieser Rochade in Erinnerung ruft, und deprimierend, sich zu erinnern, wie einige Zeit später die extreme Linke daranging, angesichts der Balkankriege Milosevic weißzuwaschen – mit Methoden, die sie sich von Holocaustleugnern abgeguckt hat.

Cohens Diagnose lautet, die Linke habe spätestens seit dem Ende der Sowjetunion ihren inneren Kompass verloren. Selbst wenn nur dogmatische Kommunisten das Sowjetsystem wirklich unterstützten, so sorgte doch seine schiere Existenz dafür, dass der Sozialismus eine ernstzunehmende politische, der Marxismus eine ernstzunehmende intellektuelle Alternative zum liberalen Kapitalismus anbot.

Der Zusammenbruch des realen Sozialismus stellte die Linke vor die Wahl, entweder das bestehende System im Großen und Ganzen zu akzeptieren und nur noch graduelle Verbesserungen anzustreben – oder mit jedem ins Bett zu gehen, der den Westen zu bekämpfen versprach: auch mit Saddam, Milosevic und Bin Laden. Er zitiert Antonio Negris und Michael Hardts Anti-Globalisierungsbibel „Empire“, wo über den Fundamentalismus steht:

„It is more accurate and more useful … to understand the various fundamentalism [sic] not as the re-creation of a pre-modern world, but rather as a powerful refusal of the contemporary historical passage in course.“

Tja, das mag wohl stimmen. Den Autoren scheint nur nicht aufzufallen, dass sie dasselbe über die NSDAP hätten schreiben können.

Zu einem bestimmten „linken“ Persönlichkeitstypus, auch darauf weist Cohen hin, hat dieser „revolutionäre“ Nihilismus freilich schon immer gepasst: Zu denen, die sich von der Revolution gerade deswegen angezogen fühlten, weil sie ein chaotischer, blutiger, apokalyptischer Vorgang war oder zu werden versprach. Zu denen also, denen Demokratie und Reform schlicht zu langweilig sind.

Denen, die sich als Revolutionäre verstanden, war das revolutionäre Subjekt, die Arbeiterklasse, allerdings schon lange vor dem Kollaps des Sozialismus abhanden gekommen. Je konservativer die Arbeiter wurden, desto mehr suchte sich die akademische Linke „Ersatzproletariate“ und fand sie in Frauen, Schwulen, ethnischen und religiösen Minderheiten; der Diskurs, der sich bis dahin um Gleichheit gedreht hatte, wandte sich nun Fragen der „Identität“ zu. Es begann die Karriere der „political correctness“, eines Codes, innerhalb dessen selbst Wahrheiten nicht mehr ausgesprochen werden können, wenn sie dem Selbstbild einer der geschützten Minderheiten widersprechen. Wer dabei aber zu den „falschen“ Minderheiten gehörte, hatte es schwer. Juden zum Beispiel gehören zumindest im englischen Sprachraum nicht dazu, und man liest einigermaßen fassungslos, wie die skrupulöse Beachtung der „political correctness“ mit krassem Antisemitismus einhergehen kann:

„The moment when my bewilderment settled into a steady scorn came when the Guardian’s online talkboards carried a discussion about me and another supporter of the war [im Irak] from the Left with a Jewish name, which was entitled: ‚David Aaronovitch and Nick Cohen Are Enough to Make a Good Man Anti-Semitic.‘ The political incorrectness was too much for one contributor. Rightly, she protested that naked bigotry infused the debate. The Guardian reader should have headlined it ‚David Aaronovitch and Nick Cohen Are Enough to Make a Good, Man, or Woman, Anti-Semitic.'“

Juden sind offenbar die einzige Minderheit, auf der man als Linker ungestraft, d.h. ohne von der Linken exkommuniziert zu werden, herumtrampeln darf. Natürlich rein verbal. Vorerst.

Cohens Buch ist äußerst informativ und detailreich – für meinen Geschmack zu detailreich, wenn etwa die Balkanpolitik der konservativen Major-Regierung ausführlich dargestellt wird, oder die Wirrungen der WRP, einer britischen K-Gruppe der siebziger Jahre mit ihrer Irak-Connection, in einem ganzen Kapitel abgehandelt wird. Was mir fehlt, ist die Moral von der Geschicht‘: die Antwort auf die Frage, warum die Linke auf solchen Abwegen wandelt. Cohen begnügt sich mit den oben genannten pragmatischen Antworten. Am Ende drückt er seine Hoffnung aus, dass die Linke irgendwann ihre demokratischen und emanzipatorischen Werte wiederentdecken wird. Ich fürchte, das wird ein frommer Wunsch bleiben. Ich glaube nicht, dass „Liberals lost their way“, wie der Untertitel des Buches lautet. Ich glaube, der scheinbare Irrweg der letzten Jahrzehnte ist genau und sehr folgerichtig „their way“. Die Begründung liefere ich aber erst beim nächsten Mal; für heute ist meine Zeit um.

Babylon I

Eines der meistgelesenen, zumindest aber meistgekauften Sachbücher der letzten Jahre trägt den Titel „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ und rechnet mit all dem falschen, schlechten, schiefen, sinnentleerten und sinnentstellenden Deutsch ab, das täglich aus den Medien quillt. Mittlerweile ist die dritte Folge erschienen, auch die in stattlicher Auflage. Offensichtlich bin ich also nicht der einzige Mensch, den dieses Deutsch stört. Nur bei seinen Urhebern, namentlich Journalisten, scheint die Kritik nicht angekommen zu sein. Vielleicht muss sie aber auch spurlos an ihnen vorübergehen; vielleicht können sie einfach nicht richtig Deutsch.

Ich bin berufsbedingt viel im Auto unterwegs und höre daher oft Radio. Wahrscheinlich fallen mir Fehlleistungen deshalb besonders auf: Im Radio lenkt mich die unmögliche Krawatte des Moderators nicht ab, und ich kann auch über Fehler nicht einfach hinweglesen. Die im Folgenden zitierten Beispiele stammen deshalb fast alle aus Sendungen von Info-Radio und solchen des Deutschlandfunks – also aus weiß Gott seriösen Medien, und aus Texten, die vorgelesen, also nicht aus dem Stegreif formuliert wurden.

Was geht zum Beispiel im Kopf eines Journalisten vor, der den folgenden Satz formuliert:

„Die Krankenschwestern prangerten die systematische Folter in dem libyschen Gefängnis an, um Geständnisse zu erpressen.“

Aha, die Krankenschwestern wollten Geständnisse erpressen. Wird es sich irgendwann – wieder – herumsprechen, dass Finalsätze, also Sätze, die mit „um (…) zu“ eingeleitet werden, nicht irgendjemandes Absichten wiedergeben, sondern die des Subjekts, hier also die der Krankenschwestern?

Das Subjekt eines passiv konstruierten Satzes bezeichnet nicht den, der etwas tut, sondern den, mit dem etwas getan wird. Klarer Fall? Von wegen:

„In China werden Dissidenten gerne einmal ins Gefängnis gesteckt.“

„… dass der tote US-Soldat triumphierend durch die Straßen von Mogadischu geschleift wurde.“

Na und, wird mancher sagen, da werden die Opfer zwar verhöhnt, aber was soll’s? Es ist doch klar, was gemeint ist. Gewiss, nur das die Sprache ihre eigenen Gesetze hat, und wenn die irgendwann keiner mehr kennt, weil keiner sie mehr beachtet, dann taugt die Sprache nur noch als Instrument der Demagogie. — Um Himmels willen, was habe ich getan??? Ich habe in elitärer Weise meine Leser überfordert: Ich habe den GENITIV verwendet!

Einem professionellen Journalisten (der sich selbst natürlich als „journalistischen Profi“ bezeichnen würde), wäre dergleichen niemals unterlaufen. Der hätte nicht von einem „Instrument der Demagogie“, sondern von einem „demagogischen Instrument“ gesprochen, denn merke: Wenn Du einen Genitiv ersetzen kannst, dann ersetze ihn: durch ein Adjektiv, durch ein zusammengesetztes Wort, am besten aber durch beides. Sprich niemals vom Programm der Großen Koalition, sprich vom „großkoalitionären Programm“! Und wenn Du schon dabei bist: Sprich von der „großkoalitionären Einigkeit“, wenn Du die Einigkeit in der Großen Koalition meinst. Und das Unbehagen der Bürger an der Großen Koalition, wie nennst Du das? Richtig: „Großkoalitionäres Unbehagen“!

Kurz und gut: Wenn Du zwei Dinge, egal wie, aufeinander beziehen willst, nimm ein Adjektiv, und Du brauchst Dir keine Gedanken mehr zu machen, was Du eigentlich aussagen willst. Eine Sorge weniger!

Na und, wird mancher wieder einwenden. Das klingt zwar hässlich, aber auch hier ist doch klar, was gemeint ist.

Ja? Es ist noch gar nicht so lange her, da nannte man Adjektive „Eigenschaftswörter“ – also Wörter, die nicht irgendeinen Bezug, sondern die Eigenschaften von Dingen ausdrücken sollten. Ich bin gar nicht der Purist, als der ich jetzt vielleicht erscheine – meinetwegen kann man hilfsweise ein Adjektiv verwenden, um einen Genitiv zu vermeiden oder ein bürokratisches „bezüglich“ zu vermeiden. Hilfsweise kann man das tun – wenn man denn weiß, was man tut.

Weiß es aber der Journalist, der von „Russlands demokratischen Defiziten“ sprciht? Donnerwetter, denkt der Hörer, so durch und durch demokratisch ist Russland, dass sogar seine Defizite noch demokratisch sind! – Nein, das denkt er natürlich nicht. Aber es hätte bestimmt nicht geschadet, wenn der Sprecher gesagt hätte, „dass Russland nicht so demokratisch ist, wie wir uns das im Westen wünschen“. Damit hätte er offengelegt, mit welcher Elle er Russland eigentlich misst – und er hätte es vermieden, in die Rolle des sauertöpfischen Buchhalters zu schlüpfen, der anderen ihre „Defizite“ vorrechnet.

Der gedankenlose Missbrauch von Adjektiven ist zuerst schlampig, dann hässlich und zum Schluss sinnentstellend: Wenn es in einer Buchbesprechung des DLF heißt, im Oktober 1914 habe das Osmanische Reich „den deutschen Feinden den Djihad erklärt“ – gemeint waren aber die Feinde Deutschlands, also das Gegenteil! -, dann wird’s babylonisch!

Und dann gibt es die schmierige Unsitte, sich beim Publikum mit einer Sprache anzubiedern, die umgangssprachlich leger sein soll, und die doch nur schlecht und falsch ist: Wenn der normale Berliner sagt „Ick hab mir mal’n Reichstach anjekiekt“, dann verwendet er das Wort „Reichstag“ völlig korrekt als Bezeichnung für ein Gebäude. Was aber ist gemeint, wenn es heißt „Außenminister Fischer kritisierte im Reichstag…“? Hat er dann eine Regierungserklärung vor dem Bundestag abgegeben oder einfach in dessen Caféteria vor sich hin gestänkert? Wenn von einer „Reichstagssitzung“ die Rede ist- Ja, auch das ist schon vorgekommen! – dann kann das nur heißen, es gebe eine Institution dieses Namens. Und da ist es nur konsequent zu sagen: „Im Jahr 2009 will die NPD in den Reichstag einziehen.“ Klar: Die NPD selber hätte es genau so formuliert. Und das ist das Ärgerliche: Am Anfang will man nur ein bisschen locker sein – am Ende bringt man rechtsradikale Ideologie unter die Leute!

Politisch weniger bedenklich, aber nicht weniger verwirrend ist die Marotte, Bundesinstitutionen als „Berliner“ Institutionen zu bezeichnen: „Berlin will die Bürger entlasten“, und wir können raten, ob wir uns bei Angela Merkel oder bei Klaus Wowereit zu bedanken haben. Mit dem „Berliner Parlament“ ist manchmal tatsächlich das Berliner Parlament, also das Abgeordnetenhaus gemeint, manchmal aber auch der Bundestag, und wieder können wir raten. Eine „Berliner Abgeordnete“ doziert über die Probleme von Weinbauern – und irgendwann kapieren wir, dass es sich um eine Bundestagsabgeordnete aus Rheinland-Pfalz handelt.

Dasselbe Wischiwaschi bei Amts- und Funktionsbezeichnungen. Offenbar ist es irgendwie uncool, Begriffe wie „Präsident“, „Ministerpräsident“, „Minister“, „Bürgermeister“, „Vorsitzender“, „Geschäftsführer“, „Mannschaftskapitän“ oder „Leiter“ zu verwenden – vom „Führer“ ganz zu schweigen. Es gibt nur noch Chefs: den Staatschef, den Stadtchef, den Bahnchef, den Landeschef, den Co-Chef, den Palästinenserchef, den Außenamtschef, den Mannschaftschef (nicht zu verwechseln mit dem Teamchef), den Gewerkschaftschef (Ob ein aufrechter Gewerkschafter wohl begeistert ist, wenn man ihn „Chef“ nennt?), den Kremlchef (Kremlchef!!! Man fragt sich, wann der Papst „Vatikanchef“ genannt wird!), den Südwestchef (Was ist schon ein baden-württembergischer Ministerpräsident, verglichen mit einem „Südwestchef“?) und die NRW-Chefin. Die NRW-Chefin? Wird Nordrhein-Westfalen jetzt von einer Frau regiert? Mitnichten; aber der Unterschied zwischen einem Ministerpräsidenten und einer Landesvorsitzenden ist mitsamt dem Duden, dem Grundgesetz und dem gesunden Menschenverstand im Redaktionspapierkorb gelandet.

Zum Schluss mein Vorschlag für den Titel „Unwort des Jahres“: Vor einigen Monaten trafen sich führende Politiker der großen Koalition … äh, pardon, ich meinte natürlich: fand ein großkoalitonäres Berliner Cheftreffen statt, bei dem es darum ging, wie man das Angebot an Kinderkrippenplätzen verbessern könne. Findige Journalisten tauften dieses Ereignis ohne eine Spur von Ironie:

KRIPPENGIPFEL

Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Zusammenkunft von zwei oder mehr Potentaten „Gipfel“ genannt wird. Woran denken wir dabei? An die Spitze des Olymp, majestätisch aus den Wolken ragend, wo der Rat der Götter über das Schicksal der Sterblichen befindet. Eine durchaus angemessene Metapher, wenn zum Beispiel von einem Nahost-Gipfel die Rede ist, bei dem es ja wirklich um Krieg und Frieden geht, um Leben und Tod. Aber ein

KRIPPENGIPFEL?

Das ist doch lächerlich!