Die Narodniki. Geschichte eines Geheimbundes

von Thatcher

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Ermordung Zar Alexanders II.

Die Narodniki

Geschichte eines Geheimbundes

Die Narodniki („Volkstümler“, „Volksfreunde“) traten in den 1860er Jahren in Russland in Erscheinung. Ausgangspunkt dieser sozialrevolutionären Bewegung war ein marxistischer Geheimbund, der auf das Intellektuellenmilieu in den Städten einwirkte und bewirkte, dass sie sich den einfachen Arbeitern und der Landbevölkerung zuwandten, um ihre Botschaften im russischen Volk zu verbreiten. Später kam es dann über die Frage des Terrorismus zur Aufspaltung und zur völligen Dominanz der Narodniki durch den terroristischen Flügel. Die Grundsätze, die diese „Narodnaja wolja“ aufstellte, sind zum Muster für alle terroristischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts bis heute geworden (RAF, Al-Fatah, ETA, IRA, Al-Qaida).

Grundlegend für das Verständnis der frühen Form der Narodniki ist die marxistisch-revolutionäre Ausrichtung der Bewegung. Marx hatte ein ökonomistisch-deterministisches Geschichtsbild vertreten, demnach der Weg von der landwirtschaftlichen zur industriellen Wirtschaftsform zwangsläufig sei und ebenso zwangsläufig mit einer Verelendung der Arbeiterschaft einhergehe, die irgendwann, wenn diese Verelendung unerträglich geworden sei, in eine gewaltsame Revolution übergehe. Diese werde den ganzen gesellschaftlichen „Überbau“ (damit ist alles gemeint, was außer der Arbeiterschaft auch noch eine Gesellschaft, also ein Volk ausmacht: Kulturbetrieb, Behördenapparate, Militär, Herrscher, Kirche, Künstler, Universitäten u.v.m.) umstürzen und eine Diktatur des Proletariats errichten, die als quasi diesseitiges Paradies vorgestellt werden muss. Marx hat auch erstaunlich präzise vorhergesehen, dass diese sozialistische Diktatur ihrerseits extrem repressiv sein müsse:

„Frieden ist die Abwesenheit von jeder Opposition gegen den Sozialismus“,

und daher die umwertende Sichtweise postuliert, dass es einen „Dienst an der Arbeiterschaft“ darstelle, mit revolutionärem Eifer alles kleinzuschlagen, was der ohnehin feststehenden historischen Entwicklung im Wege stehe oder auch nur theoretisch in Opposition treten könne.

Die Narodniki sahen für Russland die Möglichkeit, den langen Gang von der ländlichen Wirtschaft, die das Land noch weitgehend im Griff hatte, ohne den Weg über die Industrialisierung und Massenverelendung direkt in Richtung „Sozialismus“ abzukürzen.

In Russland hatte Zar Alexander II. (herrschte 1855 – 1881) eine Modernisierung des Wirtschaftslebens durchgesetzt, indem er die Leibeigenschaft aufhob, die Industrialisierung in die Wege leitete und den Bau eines Eisenbahnnetzes in Angriff nehmen ließ. Für die einfache russische Landbevölkerung, an autoritäre Herrschaftsformen gewöhnt, waren diese Umbrüche verwirrend, und in genau diese Verunsicherung hinein traten die Volkstümler, indem sie den einfachen Bauern sagten, dass die Landgemeinde einen Sonderfall der Geschichte darstelle, der einzigartig sei, dass die Reformen des Zaren eine Verelendung mit sich bringen würden und dass es besser sei, auf der Basis der russischen Landgemeinde einen Sozialismus zu gründen.



Die Spaltung

Das war jedoch nur Propaganda, um die russische Bevölkerung in Opposition zum Zaren und zum „gesellschaftlichen Überbau“ zu bringen und unter ihnen eine sozialrevolutionäre Stimmung aufkommen zu lassen. Diese Bemühungen waren jedoch weitgehend erfolglos; das Volk weigerte sich, von den „Volkstümlern“ mit Revolution und Sozialismus beglückt und „erlöst“ zu werden. Diese Trägheit wurde manchmal damit begründet, dass die Bevölkerung noch in zu guten Verhältnissen lebe, die sich zunächst verschlechtern müssten, bevor das Volk revolutionär werden würde, manchmal aber auch damit, dass die Verhältnisse, in denen das Volk lebe, bereits zu ärmlich und verzweifelt seien, als dass es sich erheben könne. Egal was nun der Grund dafür war – einigen der Narodniki schien der Weg der „Volksbildung“ nicht erfolgversprechend genug. Eine radikale Fraktion wollte statt dessen mittels Terroranschlägen gegen die Obrigkeit die revolutionären Ziele verfolgen. Die repressive Reaktion des zaristischen Regimes kalkulierten sie dabei mit ein: diese würde dem Volk dessen unterdrückerische Natur bewußt machen. Es kam zur Spaltung der Narodniki in diejenigen, die den bisherigen Weg weitergehen wollten und diejenigen, die jetzt ausschließlich zum Terror greifen wollten. Diese nannten sich fortan „Narodnaja wolja“ (Wille des Volkes) und wurden von einem zentralen „Vollzugskomitee“ angeleitet. Jedoch war diese terroristische Fraktion der Narodniki so „erfolgreich“ mit ihrer Strategie, dass man in Russland unter dem Begriff „Narodniki“ bald nur noch „Terroristen“ verstand und sie diesen Namen bald auch offiziell wieder führten.

Sergej Netschajew
Sergej Netschajew

Die Rolle Sergej Netschajews

Sergej Netschajew war der Prototyp eines skrupellosen, lügnerischen und zynischen Machtpolitikers. Sein jugendliches Alter (er war erst 22 Jahre alt) stellte ihn vor gewisse Probleme, die er stets dadurch löste, sich als Abgesandten größerer, einflussreicherer Revolutionäre darzustellen und seine Kontaktpersonen so darüber zu täuschen, dass er seine eigenen Pläne verfolgte. Der in Russland sehr bekannte Anarchist Bakunin befand sich im Genfer Exil und drohte seinen Einfluss in der Sozialistischen Internationale völlig an Marx zu verlieren, der, statt mit ihm zu debattieren, ihm seine Worte im Mund herumdrehte und ihn moralisch diffamierte. Netschajew erweckte unter seinen studentischen Anhängern den Eindruck, er sei verhaftet und in die Peter-und-Pauls-Festung gebracht worden. Tatsächlich reiste er aber in die Schweiz zu Bakunin und stellte sich als aus dem Gefängnis befreiter Abgesandter einer großen Gruppe russischer Revolutionäre dar, die begierig auf Anweisungen des großen Bakunin warteten. Und Bakunin tappte bereitwillig in die Falle. Mit den Bakuninschen Anweisungen, die er versandte, wollte Netschajew gegenüber dem alten Anarchisten nur den Eindruck erwecken, es gebe tatsächlich ein weitgespanntes revolutionäres Netz, auf das er Einfluss nehmen könne. Schließlich gelang es Netschajew, der mittellos war, Bakunin die Hälfte seines revolutionären Geldfonds abzujagen. Mit dem Geld finanzierte er seine Rückreise und den Aufbau seines eigenen revolutionären Netzes. Nun gab Netschajew den zahlreichen verstreuten Narodniki, von denen er wusste, den Anschein, er überbringe Nachrichten von hochgeheimen und unbekannten revolutionären Denkern, die selbstlos irgendwo im Land für die Sache arbeiteten – die Phantasie der Belogenen siegte jeweils über die triste Wirklichkeit.



Die Philosophie und die Statuten des Terrors

Im Kern wurden die Narodniki jetzt bereits zu einer Kaderpartei mit unbedingter Loyalität zur „Revolution“ geschmiedet, der sie in einem Akt der Nachahmung des Christentums sogar göttliche und erlösende Funktionen zuschrieben. Das geht aus den von Netschajew in seinem Tagebuch festgehaltenen Punkten zur Philosophie des Terrors hervor, die zur Grundsatzung des Geheimbundes der Narodniki wurden, nach einem Mordanschlag jedoch von der russischen Geheimpolizei gefunden wurden und u.a. Folgendes besagen:

1. Der Revolutionär ist ein vom Schicksal Gezeichneter. Er kennt keine persönlichen Interessen, Angelegenheiten, Gefühle, Bindungen. Er hat kein Eigentum, ja nicht einmal einen Namen.

2. Er hat in der Tiefe seines Wesens, nicht nur in Worten, sondern in der Tat, alle seine Beziehungen zu der bürgerlichen Ordnung und der ganzen Kulturwelt mit all ihren Gesetzen, Bräuchen und Sitten zerrissen. Er ist für sie ein unerbittlicher Feind, und wenn er weiter in ihr lebt, so tut er es nur deshalb, um sie desto sicherer zerstören zu können.

3. Der Revolutionär […] kennt nur eine Wissenschaft – die Wissenschaft der Zerstörung. Dafür, und nur dafür, studiert er jetzt Mechanik, Physik, Chemie, vielleicht gar Medizin. Dafür studiert er Tag und Nacht die lebendige Wissenschaft von Menschen, Charakteren, Zuständen und Bedingungen der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung in allen möglichen Schichten. Das alleinige Ziel aber ist die schnellste Zerstörung dieser üblen Weltordnung.

[…]

5. Der Revolutionär […] muss sich stählen, Foltern zu ertragen.

6. Hart zu sich selber, muss er auch hart zu den anderen sein. Alle zarten, verzärtelnden Gefühle der Verwandtschaft, der Freundschaft, der Liebe, der Dankbarkeit und sogar der Ehre selbst müssen in ihm erstickt sein von der einzigen kalten Leidenschaft für die revolutionäre Sache. […] In seinem kaltblütigen und unermüdlichen Streben nach schonungsloser Zerstörung muss er bereit sein, selber umzukommen, oder mit seinen eigenen Händen alles umzubringen, was ihr im Wege steht.

[…]

8. Das Maß der Freundschaft und Ergebenheit zu einem Mitrevolutionär wird lediglich von dem Grad seiner Nützlichkeit in der revolutionären Praxis bestimmt.

[…]

10. Jeder Kamerad muss ständig einige Revolutionäre zweiten oder dritten Grades, d.h. nicht vollkommen Uneingeweihte, zur Hand haben und sie als einen Teil des allgemeinen revolutionären Kapitals betrachten, das zu seiner Verfügung gestellt worden ist. Er muss dieses ihm anvertraute Kapital sparsam verbrauchen und sich bemühen, aus ihm den größten Nutzen zu ziehen. […]

11. Wenn ein Kamerad in Not gerät und es entschieden werden soll, ob er gerettet werden soll oder nicht, darf sich der Revolutionär nicht von persönlichen Gefühlen leiten lassen, sondern nur von dem Nutzen für die revolutionäre Sache. […]

[…]

14. Für sein Ziel der schonungslosen Zerstörung darf, ja muss oft der Revolutionär in der Gesellschaft leben und sich ganz und gar nicht als der ausgeben, der er in Wirklichkeit ist. Der Revolutionär muss überallhin eindringen: in alle niederen und mittleren Schichten, in den Kaufmannsladen, in die Kirche, in das herrschaftliche Haus, in die bürokratische, die militärische Welt, in die Literatur, ja in die III. Abteilung*) und sogar in das Winterpalais.

*) Gemeint ist die III. Abteilung der zaristischen Geheimpolizei, die damals in ganz Russland gefürchtet war wegen ihrer Brutalität.

Es folgt eine Auflistung der Komponenten der „üblen Gesellschaftsordnung“ und eine Festlegung, was mit welcher Priorität zu zerstören sei und welche Personen zu diesem Zweck zu töten seien. Abschließend heißt es:

22. Überzeugt davon, dass die Befreiung und die Erreichung des Glücks für die arbeitenden Massen nur auf dem Weg der alleszerstörenden Volksrevolution möglich sind, wird die Geheimgesellschaft mit aller Kraft und mit allen Mitteln zur Verbreitung dieser Plagen und Übel beitragen, die die Geduld des Volkes endlich brechen und es zum allgemeinen Aufstand zwingen müssen.“

Durch diesen philosophischen Ansatz ist vieles vorweggenommen, was sämtliche späteren revolutionären Bewegungen bis heute praktizieren: Netschajew hatte erkannt, dass jede tatsächliche Gesellschaft auf Wertungsmustern beruht, die für sie typisch sind und die üblicherweise religiös begründet oder zumindest befestigt werden. Will man die so begründete Gesellschaft revolutionieren, so wird man dieses Wertesystem dekonstruieren müssen. Auf direkte Weise kann das nicht geschehen, wohl aber, indem man die tatsächlichen Werte als „falsche“, als „scheinbare“ Werte diffamiert, die der Verwirklichung des „wahren“ Wertes (der Revolution) im Wege stehen und daher als „unterdrückerisch“, als „böse“ dargestellt werden müssen. Es wird der Anschein erweckt, dass höhere Werte als die tatsächlich praktizierten existieren, zu deren Verwirklichung die alten Werte, die „nebenbei“ das Fundament der Gesellschaftsordnung bilden, restlos beseitigt werden müssten. Und jede ideologische Bewegung variiert seitdem diesen Ansatz: Die Feministinnen diffamierten Familie und Mutterschaft als Unterdrückungs- und Sklavensystem, aus der die (selbstverständlich sozialistisch angehauchte) „Emanzipation“ die „Befreiung“ darstelle (dass aus dieser dann sehr schnell „das Recht, durch Arbeit eigenes Geld zu verdienen“ wurde, hat, wie wir inzwischen wissen, ganz andere Gründe). Die Frankfurter Schule richtete ihre destruktiven Theorien gegen die moderne Kulturproduktion, die den darin gefangenen Menschen ein „falsches Bewußtsein“ vorgaukele, weshalb sie die Notwendigkeit einer radikalen Revolution nicht erkennen könnten. Die RAF sprach von der tatsächlichen Welt nur als dem „Schweinesystem“, dessen handelnde Personen als „Charaktermasken“ gar keine wirklich selbstbestimmt handelnden Subjekte, sondern nur Illusionen seien, deren Persönlichkeit jedenfalls keine Sentimentalitäten auslösen dürfe, die gegen ihre Ermordung hätten sprechen können – solche Sentimentalität wäre ohne Zweifel Teil des „falschen Bewußtseins“ gewesen, das die „herrschenden Cliquen“ zwecks Unterdrückung der revolutionären Massen permanent und lückenlos über die Gehirne gezogen hätten. Auch die sogenannte „Kunst nach Auschwitz“ lebt davon, die alten Werte, die die Kunstproduktion zuvor bestimmt hatten (Ästhetik, Überhöhung, Idealisierung), „überwunden“ zu haben und folglich rostiges Eisen auf jeden öffentlichen Platz zu stellen und jeden als „ewiggestrig“ zu diffamieren, der darin eine Verschandelung des öffentlichen Raumes sieht. Für das moderne Theater, das hauptsächlich vom plakativen Bruch „überkommener Vorstellungen und Tabus“ lebt, ließe sich Ähnliches sagen, und die Aufzählung von Einkleidungen des immergleichen revolutionären Gedankenguts, das wieder und wieder die Idee der Überwindung der „falschen Werte“ zugunsten (scheinbar) „höherer“ Werte variiert, ist hiermit noch lange nicht abgeschlossen.

Auf der Basis dieses Gedankensystems wurden die „Statuten des Terrors“ für die Mitglieder formuliert, die damit verpflichtet wurden,

1. „[…] alle Geistes- und Seelenkräfte für die revolutionäre Sache hinzugeben, ihretwillen alle Familienbande, Sympathien, Liebe und Freundschaft aufzugeben,

2. wenn nötig, das Leben hinzugeben ohne Rücksicht auf sich und andere,

3. nichts zu besitzen, das nicht gleichzeitig der Organisation gehörte,

4. seinem individuellen Willen zu entsagen und ihn den Mehrheitsbeschlüssen der Organisation unterzuordnen,

[…]

6. in allen Beziehungen öffentlichen und privaten Charakters, in allen offiziellen Handlungen und Erklärungen sich nie als Mitglied, sondern sich stets nur als Beauftragter des Volkskomitees zu bezeichnen.

Auch aus diesen Statuten kommt uns einiges wieder sehr bekannt vor von moderneren Implementierungen der terroristischen Philosophie, z.B. dass das Private stets politisch und das Politische privat zu sein habe, dass Freundschaften und sogar Familienbande nichts zählen, sobald es auch nur zum Verdacht „konterrevolutionärer“ Umtriebe käme, dass man sich immer als von „höherer Stelle“ legitimiert ansieht, zumindest bezeichnet, auch ohne dies wirklich zu sein.



Die Blutspur des Terrors

Mit diesen Statuten ausgestattet, konnten die Narodniki das mörderische Werk beginnen. Die Zahl der Gouverneure, Beamten und Polizeioffiziere, die ihnen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zum Opfer fielen, ist Legion. Allein siebenmal versuchten sie – jeweils ohne Erfolg – den Zaren zu ermorden, doch waren bei diesen Versuchen jedes Mal etliche Unbeteiligte getötet worden. Bei einem dieser Mordversuche hatte sich ein Mitglied der Narodniki als Tischler am Winterpalais anstellen lassen und 50 Soldaten des finnischen Wachbataillons mit einer Bombe in den Tod gerissen, doch kein Mitglied der Zarenfamilie ernsthaft verletzen können. Der achte Versuch, ausgeführt am 1. März 1881 (15. März nach gregorianischem Kalender), sollte schließlich erfolgreich sein. Er ging von einem Milchgeschäft aus, von dem aus die Narodnika Sofija Perowskaja und ihre Gruppe (es überrascht, wie viele Frauen unter den Mitgliedern der Terrororganisation waren – auch die RAF und andere Bewegungen bedienten sich des Affekts vieler westlicher Männer, in Frauen keine Gewalttäterinnen erblicken zu wollen) in langer und mühevoller Arbeit einen Tunnel unter eine Straße getrieben hatte, die der Zar gewohnheitsmäßig benutzte. In diesem Tunnel wollten sie eine Mine zur Explosion bringen. Der Plan wurde jedoch verraten, und so gerieten sie in Panik und beschlossen, den Sprengstoff als Bomben direkt auf die Zarenkutsche zu werfen. Dabei wurde einer der Attentäter selbst zerfetzt, eine unbeteiligte Person getötet und der Zar so schwer verwundet, dass er Stunden später starb.

Die Schuldigen für diese Mordtat wurden schnell gefaßt, abgeurteilt und hingerichtet. Die Reaktion des russischen Staates war hingegen so, wie sie sich die Narodniki gewünscht hatten: Weder der direkte Nachfolger, Alexander III., noch sein Enkel Nikolaus II. wollten das Schicksal Alexanders II. erleiden und wiesen die danach aufgestellte Geheimpolizei „Ochrana“ an, die politische Szene Russlands streng zu kontrollieren und mit unerbittlicher Härte jede oppositionelle Gruppe zu zerschlagen. Die Narodniki hatten einen totalen Überwachungsstaat herbeigebombt, der schließlich 1917 im Rahmen der Russischen Revolution tatsächlich auf revolutionäre Weise „überwunden“, tatsächlich jedoch nur in ein noch weit schlimmeres totalitäres System überführt wurde. Auch an diesen Vorgängen waren die Narodniki führend beteiligt – die grausame politische Philosophie und Praxis Lenins ist durch die Notizen Netschajews und die „Statuten des Terrors“ bereits weitgehend vorweggenommen.

Der bei diesem Anschlag ums Leben gekommene Attentäter hieß Grinewitzki und war Jude. Dieser Umstand führte dazu, dass den Juden, die im intellektuellen Milieu der Städte überrepräsentiert waren, eine führende Rolle innerhalb der Narodniki zugeschrieben wurde und sie im Folgenden stark sowohl unter Repressionen des zaristischen Polizeiapparates als auch unter Pogromen der einfachen Bevölkerung zu leiden hatten. Inwieweit es Juden waren, die die Gedanken der Terroristen maßgeblich geprägt hatten, und inwiefern diese Schuldzuweisung also zutreffend war, ist natürlich bis heute heftig umstritten. Unter den Bolschewiki, die später Russland revolutionieren sollten, waren sie in so starkem Maße überrepräsentiert, dass manche sogar von den Juden als einem „Tätervolk“ sprechen – was natürlich, wie jedes Abstempeln ganzer Völker für Untaten Einzelner (wie uns Deutschen schmerzhaft bewußt sein sollte), ein Irrweg ist.

Jede politische Gruppierung, die sich an Philosophie und Statuten der Narodniki – ob gewollt oder ungewollt – orientiert, kann gar nicht anders, als revolutionär zu sein, und wenn eine „gemäßigte“ Partei, wie sie z.B. die SPD lange Zeit zu sein beansprucht hat, von solchen Kräften unterwandert und umgekrempelt wird, dann wird auch sie zum nihilistischen, revolutionären Vehikel herabsinken, dem es letzten Endes auch gleich sein wird, welches Leid und welchen gesellschaftlichen Schaden die Subjekte anrichten, die man unter dem Deckmantel allgemeiner Toleranz und Wurstigkeit gewähren läßt. Einhalt gebieten kann dem, wenn überhaupt etwas, nur ein unerschütterliches Bewußtsein für diese grundlegende Achillesferse menschlicher Wertorientierung, an der die zerstörerische Philosophie des Nihilismus ansetzt.



Der Begriff des Nihilismus

Erstmals verwendete Iwan Sergejewitsch Turgenjew in seinem Roman „Väter und Söhne“ von 1862 für die von den Narodniki praktizierte politische Philosophie diesen Begriff. Damit ist jede Haltung beschrieben, die die tatsächlich fundamentalen Werte einer Gesellschaft vernichten will zugunsten eines angeblich höheren Ziels. Jede terroristische oder sozialrevolutionäre Bewegung kleidet dieses Konzept in jeweils eigene Begriffe, die jedoch alle das Ziel haben, die wertmäßige Leere ihres Denkens mit einer Maske aus schönem Schein zu umgeben, denn ohne diese wäre die Revolutionsbewegung unattraktiv für die potentiellen Anhänger.

Es ist doch im Wesentlichen immer so: Jede „richtige“, auf spezifischen Werten und deren Ordnung beruhende Gesellschaft pflanzt sich aus eigenem Antrieb fort, indem Männer und Frauen harmonisch zusammenleben und -wirken, indem sie grundsätzlich zu den fundamentalen Werten und der von diesen begründeten Ordnung Ja sagen, indem eine Offenheit für Kinder besteht, indem ausreichend Kinder geboren werden, die in das bestehende Wertemuster hineinerzogen werden, es annehmen und verteidigen und weitergeben und weitertragen. Jede umstürzlerische Bewegung, die die dafür notwendigen Wertmuster („Familienwerte“) aufgibt, hat schon mal das grundsätzliche Problem, dass kein Nachwuchs auf natürliche Weise zustandekommt – die Frage der Rekrutierung kommt auf, und sie wird durch Parasitierung an den Menschen, die in der umzustürzenden Ordnung leben, gelöst. Diese werden manipuliert, beeinflusst und der Ordnung, der sie entstammen, überdrüssig gemacht, so dass sie sich der revolutionären Bewegung, die mit ihren „besseren“, „edleren“, „höheren“, „vom Establishment unterdrückten“ Scheinwerten natürlich kräftig hausieren geht, anschließen. Im Falle der deutschen ’68er gelang dies beim maßgeblichen, wenn nicht gar beim größeren Teil einer ganzen Generation; der Feminismus, der sich an den Frauen schadlos hält, war gleichfalls so erfolgreich, dass er bis heute den jungen Frauen die – seiner Ansicht nach korrekten – Gewichtungen von Familie und Beruf diktieren kann.

Doch diese Propaganda ist nur Tünche über einer wertmäßigen Leere, die von den einfacheren Geistern niemals, von den intelligenteren meist zu spät erkannt wird, und ehe man sich versieht, ist ein großer Batzen wertvoller, nicht gelebter Lebenszeit verloren an ein zukunftloses, nicht nachhaltiges Gedankenkonstrukt. Zum Glück scheint es so zu sein, dass die Töchter von Feministinnen die Nase gestrichen voll vom Feminismus haben und die Kinder von ’68ern nichts mehr mit dieser zerstörerischen pseudointellektuellen Philosophie am Hut haben wollen. Sie haben den Nihilismus, der ihnen implizit gepredigt wurde, überwunden – aber nicht, wie Nietzsche es wollte, durch Schaffung tatsächlich neuer Werte, sondern dadurch, dass sie zu der Einsicht gelangt sind, dass nur auf der Basis der alten Werte Familie, Vaterland, Gemeinwohl, Solidarität, Transzendenz (Gott) ein nachhaltiges Leben möglich ist, das sich selbst auch durch eine neue, selbst gezeugte und geborene Generation als tragfähig erweist. Und wenn diese Überwinder des Nihilismus gegen die letzten Vertreter der leeren Scheinbarkeit die Stimme erheben, dann schallen ihnen zwar zunächst heftigste Ablehnungen, moralische Diffamierungen und Einschüchterungen entgegen. Diese sind aber letzten Endes nur Bestätigungen dafür, dass die um ihre Lebenszeit Betrogenen genau das doch noch erkennen; sie stemmen sich nur noch gegen die Erkenntnis, dass sie Betrogene sind.



Bedeutung für heutige Sozialisten, Sozialdemokraten und Revolutionsbewegungen

Daher kann auch keine „revolutionäre“ Bewegung, die sich zu radikal gegen die notwendigen Bedingungen menschlichen Lebens wendet, länger als eine Generation bestehen bleiben. Der Nihilismus tritt zwar immer wieder in Erscheinung, doch die nihilistischen Bewegungen sterben – im wahrsten Sinne des Wortes – bald aus. Eine nachhaltigere Bewegung kann durchaus ihre revolutionären Absichten haben, doch muss sie ein Minimum an Kompromissen mit der menschlichen Natur eingehen, um sich halten zu können. Stalin etwa war als Sozialist immer noch einer der menschenverachtendsten Schlächter der Weltgeschichte, doch kam er dem russischen Volk insofern entgegen, als dass er die orthodoxe Religion etwas mehr gewähren ließ – insbesondere in der Zeit des II. Weltkrieges – und den Reproduktionsbedingungen in den Familien nicht auch noch Hindernisse zumutete. In der Öffentlichkeit riskierte zwar sein Leben, wer auch nur den Verdacht erregte, gegen Väterchen Stalin zu sein, doch das Private war in seinem Reich nicht politisch. Und auch wenn er ganze Volksgemeinschaften innerhalb der Sowjetunion zwangsumsiedeln ließ, so tat er dies doch unter Wahrung ihrer Eigenschaft als Völker – nur dass diese dann eben woanders als Völker lebten. Dass Stalin versucht hätte, durch Vermischung der einzelnen Nationen den Sowjetmenschen herbeizuzüchten, ist mir nicht bekannt.

Von dem Russen Lenin weiß man, dass er die nichtrussischen Sowjetrepubliken durch die Ansiedlung russischer Familien zu russifizieren versuchte, doch strebte er nicht ein Aufgehen des russischen Volkes in einem „Sowjetvolk“ an. Stalin vergrößerte als Georgier den Einfluss Georgiens innerhalb der Sowjetunion, indem er Abchasien und Südossetien der georgischen (grusinischen) SSR angliederte. Beide Sowjetführer waren als Angehörige ihres jeweiligen Volkes viel nationalistischer, als sie vermutlich selber ahnten.

Im Gegensatz dazu kennt die sozialrevolutionäre Betätigung, die heute sämtliche politischen Parteien und gesellschaftlichen Strömungen unterwandert und durchdringt und die wir heute allerorten in den westlichen Ländern verspüren, derartige nationalen Restbestände nicht. Hier wird auch das Private noch restlos politisch gemacht: Die Schwulenbewegung arbeitet sich in Parteien, Kirchen und Medien zu immer einflussreicheren Positionen hoch und verbreitet eine Propaganda, die bereits Grundschulkinder vom Weg der gesunden Entwicklung des Geschlechtstriebes abbringen soll. Alle Dinge, die die (z.T. ungewollte, aber dennoch zur Selbsterhaltung benötigte) Fortpflanzung der weißen, westlichen Völker – wie auch aller anderen Völker, die in den Einflussbereich dieser Ideologie geraten – unterdrücken, werden nach Kräften mit Unmengen öffentlichen Geldes gefördert: Frühaufklärung, Verhütungspillen, Kondome, Nidationshemmer, Abtreibungspillen, Saugglocken, Ausschabungen, Absaugungen, Spätabtreibungen und dergleichen mehr. Was von den Völkern übrig bleibt, wird gezielt mit Angehörigen fremder Kulturkreise angereichert und demnächst anscheinend noch gezwungen, sich mit diesen auch geschlechtlich zu vermischen, so dass der Neue Mensch – wie von Graf Coudenhove-Kalergi „vorausgesehen“ – nicht nur durch mediale Dauermanipulation, sondern auch genetisch, durch Vermischung der Erbsubstanz, zustandekommt. Als Belege genügen hier die uns bekannte Rede von Nicolas Sarkozy vom Dezember 2008 sowie die bekannte Äußerung von Herrn Geißler, in der multikulturellen Zukunft müsse es „Hans nicht mehr länger mit der Grete treiben“.



Warum man wertkonservativ sein muss

Um diesen Artikel zu verfassen, musste ich mich eingehender mit der russischen Geschichte beschäftigen, was für mich ein völlig neues Gebiet ist. Dennoch stellen die Narodniki ein brauchbares Beispiel dafür dar, dass eine konkrete Gesellschaftsform stets auf tatsächlichen Wertsetzungen beruht. Wenn man diese tatsächlichen, lebbaren Werte zu Scheinwerten, zu Illusionen erklärt, wie dies sämtliche linken Bewegungen bis in unsere Tage hinein tun, und behauptet, die „wahren Werte“ müssten erst noch zu Tage treten, oder müssten, nachdem sie verdrängt worden wären, wieder „freigelegt“ werden, oder eine Reihe von – unlebbaren – Werten müsse an ihre Stelle gesetzt werden, dann wird mit einem bombastischen Anspruch, der sich um seine klaffende Diskrepanz zur Wirklichkeit nicht mehr zu kümmern braucht, die auf den tatsächlichen Werten beruhende Gesellschaftsform zerstört und vernichtet, und eine willkürliche Schreckensherrschaft tritt statt dessen ihr Regiment an.

Daher möchte ich diesen Artikel abschließen mit einem deutlichen Plädoyer gegen alle Scheinwerte, die nur zwecks Abspenstigmachung der Menschen von wahren, gesellschaftsstabilisierenden oder Gesellschaft überhaupt erst ermöglichenden Werten postuliert werden. Auch wenn man nicht sein ganzes Leben lang auf sie hereinfällt, so stehlen sie dem Individuum doch wertvolle Lebenszeit und wesentliches Lebensglück. Und eine nicht unerhebliche Zahl an reflexionsunfähigen Menschen bleibt in diesen nihilistischen Scheinwerten ihr Leben lang gefangen und sorgt dafür, dass die jeweilige nihilistisch-revolutionäre Bewegung auch dann, wenn ihr Ende gekommen ist, noch weitermachen und vielleicht Rache an den unwilligen, revolutionsträgen Menschen nehmen kann.

Es soll auch ein Plädoyer an die jungen Menschen sein, die in Schulen und Universitäten, in Ausbildung und im Beruf mit Situationen konfrontiert werden, in denen sie zum Schweigen gebracht werden sollen, wenn sie einen nihilistischen Scheinwert als solchen erkannt haben. Macht den Mund auf, bringt Euresgleichen zum Nachdenken und schweigt nicht! Wenn man Euch davon abbringen möchte, auf eigenen Beinen zu stehen, selbst zu denken und natürlicherweise eine Familie zu gründen – macht es bitte. Gebt Euren Kindern eine Reihe grundlegender, sinnstiftender und Gesellschaft ermöglichender Werte mit auf den Weg, warnt sie aber vor all jenen, die von vermeintlich höheren Werten reden: Jeder höhere Wert als das menschliche Leben an sich ist kein Wert, sondern ein nihilistischer Fallstrick und Irrweg!



Quellen

[1] Klaus-Rüdiger Mai, Geheimbünde – Mythos, Macht und Wirklichkeit. Bastei-Lübbe Verlag Bergisch Gladbach, 2006

"What's Left" I – Anmerkungen zu Nick Cohen

Es ist ja bemerkenswert, dass politische Feindschaften oft ein wesentlich zäheres Leben haben als die Umstände, denen sie ihre Entstehung verdanken.

Warum zum Beispiel habe ich 2005 noch einmal Rot-Grün gewählt? Aus politischer Überzeugung? Ja, doch. Schon. Auch.

Ein paar politische Gründe hatte ich schon, die dafür sprachen – aber noch mehr sprachen dagegen, und ein Fan von Angela Merkel war ich obendrein, auch damals schon. Aber Rot-Grün – das war die Konstellation, die ich immer gewollt hatte, seit ich Anfang der achtziger Jahre begonnen hatte, an einem erzkonservativen bayerischen Gymnasium als einziger die rote Fahne hochzuhalten. Als rote Insel im Schwarzen Meer sozusagen.

Was habe ich sie gehasst, diese bürgerlichen Milchgesichter. Natürlich hatte ich selbst ein Milchgesicht, aber ich tarnte es mit Stoppelbart und verwegenem Indianerlook. Was habe ich sie gehasst, diese Platitüdendreschmaschinen von der Jungen Union mit ihren nassforschen Sprüchen, ihrem präpotenten Jungmanagergetue, ihren wichtigtuerischen Diplomatenköfferchen, ihrer unerschütterlichen Überzeugung, dass ein Joschka Fischer niemals regieren könne. Und wenn ich 20 Jahre später noch einmal Rot-Grün wählte, dann sicher nicht nur, aber auch nicht zuletzt deswegen, damit meine alten Feinde nichts zu grinsen haben. Obwohl mich rein politisch nicht mehr so sehr viel von ihnen trennte.

Warum erzähle ich das alles? Weil ich in diesen Tagen Nick Cohen’s „What’s Left?“ gelesen habe. Cohen fragt sich, wie es geschehen konnte, dass Teile der Linken die Intervention westlicher Länder gegen den Irak 1991 und 2003, in Bosnien 1995, im Kosovo 1999, in Afghanistan 2001 und im Libanon 2006 reflexartig mit pazifistischen und „anti-imperialistischen“ Sprüchen verurteilten, nicht aber die ihnen zeitlich und kausal vorausgehenden Angriffskriege, Völkermorde und Terroranschläge durch rechtsradikale Regime und Bewegungen. Eine seiner Erklärungen lautet, dass politisch engagierte Menschen dazu neigen, sich wie Sportfans zu verhalten, für die der Gegner der eigenen Mannschaft das fleischgewordene Böse ist, und die hell empört sind, wenn dieser Gegner foult, dopt oder den Schiedsrichter schmiert, aber ziemlich nachsichtig, wenn die eigene Seite das tut.

Ins Politische gewendet: Wer sich einmal, z.B. während des Vietnamkriegs, entschieden hat, in Amerika (oder auch dem Imperialismus) die Wurzel allen Übels zu sehen, womöglich Jahre seines Lebens in den „Kampf gegen den Imperialismus“ investiert hat, der wird sich schwertun zuzugeben, dass Amerika irgendetwas richtig machen oder dass jemand, der gegen Amerika kämpft, im Unrecht sein könnte. Feindschaften können eben langlebig sein. Ich kenne das. Siehe oben.

Es ist aber ein erheblicher Unterschied, ob man solche Feindschaften, wie ich, als eine Art Hobby pflegt, das man sich leistet, solange es politisch, moralisch, intellektuell vertretbar ist, oder ob man alle emanzipatorischen Grundsätze, alle geistige Redlichkeit bis hin zur Formallogik über Bord wirft, wenn sie einen daran hindern, den „Feind“ zu verteufeln. Wenn solche Feindschaft zum Selbstzweck wird, wird Links-Sein zum Nihilismus, und genau das ist der Vorwurf, den Cohen gegen die Linke erhebt und eindrucksvoll untermauert.

Mit der Linken meint Cohen ausdrücklich nicht die alte, sozialdemokratisch-gewerkschaftliche, sondern die neue Linke der akademischen Mittelschichten. Vielleicht ist diese Unterscheidung für den englischen Sprachraum, auf den Cohen sich vor allem bezieht, relevanter als für Kontinentaleuropa. In Deutschland etwa gab es diese Spaltung durchaus auch, politisch repräsentiert durch die Rivalität von SPD und Grünen; aber spätestens seit Letztere sich ihres Fundi-Flügels Ende der achtziger Jahre entledigt haben, war der Gegensatz mehr einer des Habitus als der politischen Inhalte.

Für Cohen ist beispielsweise die EU-Freundlichkeit der britischen Linken ein Zeichen für ihre elitäre Mentalität, die sie in Gegensatz zu einer nationalbewussten Arbeiterklasse gebracht habe, und die sie verleitet habe, die europäische Integration als Projekt von Eliten über die Köpfe der einfachen Menschen hinweg zu forcieren – eine Politik, die man bereits wegen ihres antidemokratischen Ansatzes kaum als links bezeichnen könne.

Nun lässt es sich gewiss kaum bestreiten, dass die EU ein Elitenprojekt ist. Das gilt aber für jede Zusammenlegung politischer Einheiten, von der Eingemeindung über die Länderfusion bis eben zur europäischen Integration. Das Volk ist konservativ und hängt am Vertrauten selbst dann, wenn es ihm Nachteile bringt. Dass der Fortbestand nationalstaatlicher Fragmentierung der Politik bei gleichzeitiger Globalisierung der Ökonomie Gift ist für die Fähigkeit demokratisch legitimierter Politik, den gesellschaftlichen Wandel sozialverträglich, also „links“, zu gestalten; dass es deswegen der Stärkung übernationaler Politik bedarf, wenn man sinnvoll „linke“ Politik machen will, sollte offensichtlich sein, und nicht zufällig ist es gerade die rechte Murdoch-Presse, die am entschiedensten gegen die EU Sturm läuft. Für die Linke ist es daher, anders als Cohen meint, durchaus konsequent, europafreundlich zu sein.

Aber diese Gleichsetzung der Linken mit proeuropäischer und der Konservativen mit nationalorientierter Politik, die für England zutreffen mag, gilt für das kontinentale Europa eben nicht. Hier gibt es linke Nationalisten (Lafontaine, Fabius) genauso wie konservative Europafreunde (Kohl, Merkel), rechte Nationalisten (Berlusconi, Kaczynski) ebenso wie linke Berufseuropäer (Fischer, Zapatero). Es geht also querbeet, und die Haltung zur europäischen Integration lässt sich einem Links-rechts-Schema nicht sinnvoll zuordnen.

Cohens Hauptthema ist aber etwas anderes, nämlich der schon erwähnte Nihilismus: Man hat es ja schon fast vergessen, dass es einmal eine Zeit gab, da alle Linken sich einig waren, dass Saddam Hussein ein faschistisches Monster sei, und da die Unterstützung des Westens für den Irak in den achtziger Jahren als Beweis bestenfalls für die Heuchelei, schlimmstenfalls für den „faschistischen“ Charakter der amerikanischen Außenpolitik galt. Diese Zeit endete am 2.August 1990 mit Saddams Einmarsch in Kuweit. Damit schwenkte die amerikanische Irakpolitik um 180 Grad. Und die Linke? Freute sie sich, dass es dem Tyrannen endlich an den Kragen ging? Nein, sie schwenkte ebenfalls um 180 Grad. Es ist eindrucksvoll, wie Cohen die unappetitlichen Einzelheiten dieser Rochade in Erinnerung ruft, und deprimierend, sich zu erinnern, wie einige Zeit später die extreme Linke daranging, angesichts der Balkankriege Milosevic weißzuwaschen – mit Methoden, die sie sich von Holocaustleugnern abgeguckt hat.

Cohens Diagnose lautet, die Linke habe spätestens seit dem Ende der Sowjetunion ihren inneren Kompass verloren. Selbst wenn nur dogmatische Kommunisten das Sowjetsystem wirklich unterstützten, so sorgte doch seine schiere Existenz dafür, dass der Sozialismus eine ernstzunehmende politische, der Marxismus eine ernstzunehmende intellektuelle Alternative zum liberalen Kapitalismus anbot.

Der Zusammenbruch des realen Sozialismus stellte die Linke vor die Wahl, entweder das bestehende System im Großen und Ganzen zu akzeptieren und nur noch graduelle Verbesserungen anzustreben – oder mit jedem ins Bett zu gehen, der den Westen zu bekämpfen versprach: auch mit Saddam, Milosevic und Bin Laden. Er zitiert Antonio Negris und Michael Hardts Anti-Globalisierungsbibel „Empire“, wo über den Fundamentalismus steht:

„It is more accurate and more useful … to understand the various fundamentalism [sic] not as the re-creation of a pre-modern world, but rather as a powerful refusal of the contemporary historical passage in course.“

Tja, das mag wohl stimmen. Den Autoren scheint nur nicht aufzufallen, dass sie dasselbe über die NSDAP hätten schreiben können.

Zu einem bestimmten „linken“ Persönlichkeitstypus, auch darauf weist Cohen hin, hat dieser „revolutionäre“ Nihilismus freilich schon immer gepasst: Zu denen, die sich von der Revolution gerade deswegen angezogen fühlten, weil sie ein chaotischer, blutiger, apokalyptischer Vorgang war oder zu werden versprach. Zu denen also, denen Demokratie und Reform schlicht zu langweilig sind.

Denen, die sich als Revolutionäre verstanden, war das revolutionäre Subjekt, die Arbeiterklasse, allerdings schon lange vor dem Kollaps des Sozialismus abhanden gekommen. Je konservativer die Arbeiter wurden, desto mehr suchte sich die akademische Linke „Ersatzproletariate“ und fand sie in Frauen, Schwulen, ethnischen und religiösen Minderheiten; der Diskurs, der sich bis dahin um Gleichheit gedreht hatte, wandte sich nun Fragen der „Identität“ zu. Es begann die Karriere der „political correctness“, eines Codes, innerhalb dessen selbst Wahrheiten nicht mehr ausgesprochen werden können, wenn sie dem Selbstbild einer der geschützten Minderheiten widersprechen. Wer dabei aber zu den „falschen“ Minderheiten gehörte, hatte es schwer. Juden zum Beispiel gehören zumindest im englischen Sprachraum nicht dazu, und man liest einigermaßen fassungslos, wie die skrupulöse Beachtung der „political correctness“ mit krassem Antisemitismus einhergehen kann:

„The moment when my bewilderment settled into a steady scorn came when the Guardian’s online talkboards carried a discussion about me and another supporter of the war [im Irak] from the Left with a Jewish name, which was entitled: ‚David Aaronovitch and Nick Cohen Are Enough to Make a Good Man Anti-Semitic.‘ The political incorrectness was too much for one contributor. Rightly, she protested that naked bigotry infused the debate. The Guardian reader should have headlined it ‚David Aaronovitch and Nick Cohen Are Enough to Make a Good, Man, or Woman, Anti-Semitic.'“

Juden sind offenbar die einzige Minderheit, auf der man als Linker ungestraft, d.h. ohne von der Linken exkommuniziert zu werden, herumtrampeln darf. Natürlich rein verbal. Vorerst.

Cohens Buch ist äußerst informativ und detailreich – für meinen Geschmack zu detailreich, wenn etwa die Balkanpolitik der konservativen Major-Regierung ausführlich dargestellt wird, oder die Wirrungen der WRP, einer britischen K-Gruppe der siebziger Jahre mit ihrer Irak-Connection, in einem ganzen Kapitel abgehandelt wird. Was mir fehlt, ist die Moral von der Geschicht‘: die Antwort auf die Frage, warum die Linke auf solchen Abwegen wandelt. Cohen begnügt sich mit den oben genannten pragmatischen Antworten. Am Ende drückt er seine Hoffnung aus, dass die Linke irgendwann ihre demokratischen und emanzipatorischen Werte wiederentdecken wird. Ich fürchte, das wird ein frommer Wunsch bleiben. Ich glaube nicht, dass „Liberals lost their way“, wie der Untertitel des Buches lautet. Ich glaube, der scheinbare Irrweg der letzten Jahrzehnte ist genau und sehr folgerichtig „their way“. Die Begründung liefere ich aber erst beim nächsten Mal; für heute ist meine Zeit um.