Protestantismus
Käßmann mischt wieder mit
So ganz war sie ja leider nie von der Bildfläche verschwunden, auch nicht nach ihrer verhängnisvollen Sauftour vom vergangenen Jahr: die ehemalige Bischöfin und EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann. Nun aber gibt sie wieder richtig Gas und fährt nach Wildbad Kreuth, um den Abgeordneten CSU auf ihrem Weg weg vom Christentum ein gutes Gewissen zu verschaffen.
Zugleich treibt sie den Niedergang der deutschen Wissenschaft voran und bekleidet für ein Jahr die „Max-Imdahl-Gastprofessur“ an der Uni Bochum:
Die Max-Imdahl-Gastprofessur bietet Persönlichkeiten, die sich um die Einheit von Wissen und Gesellschaft verdient gemacht haben, einen besonderen akademischen Wirkungsraum: Im Sinne des Namensgebers sollen sie sich nicht von Fachgrenzen einschränken lassen…
– in der Tat: Es gibt wohl kein Thema, zu dem M.K. noch nicht ihren Senf gegeben hätte, und sogar auf ihrem eigenen Gebiet, der Theologie, hat sie sich nicht von 2000 Jahren christlicher Theologie irgendwelche „Grenzen“ setzen lassen; dass die Pille ein „Geschenk Gottes“ sei, hat sie jedenfalls nicht aus der Bibel –
… sondern sich mit verschiedensten Themen befasst haben, …
– ob das gründlich und systematisch erfolgte, oder ob man aus dem Bauch heraus vom Standpunkt einer infantilen Gesinnungsethik apodiktische Werturteile im Stil pubertierender Jugendlicher abgibt, spielt in der heutigen „Wissenschaft“ ja längst keine Rolle mehr –
… unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen verbinden …
– ich muss eine ganz falsche Vorstellung davon haben, was man unter „Wissenschaft“ versteht –
… und auf aktuelle, die Gesellschaft bewegende Fragestellungen beziehen.
Und welche „aktuelle, die Gesellschaft bewegende Fragestellung“ wird sich Margotchen vorknöpfen?
„Multikulturelle Gesellschaft – Wurzeln, Abwehr und Visionen“
O Gott!
Sie lernt’s nicht mehr!
Margot Käßmann ist wieder da, noch schneller, als man dachte, und sie dokumentiert, dass sie nichts dazugelernt hat:
Der Satz „Unser tägliches Brot gib uns heute“ könne gar nicht anders als politisch verstanden werden, wenn man sich den Hunger in der Welt vor Augen führe.
Nochmal: Er kann gar nicht anders als politisch verstanden werden. Alles klar, was Christus uns damit sagen wollte? Richtig: Schiebt mal euer Geld rüber nach Afrika!
Das sind so die Platitüden, die herauskommen müssen, wenn man versucht, die schwindende Strahlkraft der christlichen Botschaft dadurch zu kompensieren, dass man ihre theologische Integrität opfert und die Bibel als linkes Parteiprogramm liest. Weltwirtschaftliche und weltpolitische Zusammenhänge werden dadurch zwar nicht klarer, man wird dadurch also nicht klüger, und trotzdem hat man ohne eigene Anstrengung das Gefühl, „Recht zu haben“. Motto: Keine Ahnung, aber die einzig richtige Meinung!
[Siehe auch meinen Artikel „Käßmann zum Letzten – vorläufig“]
Käßmann zum Letzten – vorläufig!
Ich glaube nicht, dass Rika speziell mich meinte, als sie anlässlich der Käßmann-Affäre über Zeitgenossen schrieb, die „kübelweise Spott und Häme über die Bischöfin ausschütten und alle Register ziehen von frauenfeindlich über kirchenkritisch bis links-atheistisch“, sich in „Wasser-Wein-Predigten“ ergehen, von „Vorbildfunktion“ „schwafeln“, anlässlich ihrer Scheidung wenig „Mitgefühl und Sympathien“ zeigten, stattdessen „schon damals ihren Rücktritt vom Bischofsamt“ forderten, offenbar wenig von „ praktizierter Vergebung durch die Brüder und Schwestern untereinander“ halten und deshalb „die Steine schon aufgehoben hatten“.
Ich glaube aber, dass viele Käßmann-Fans (und von denen gibt es auch unter Konservativen erstaunlich viele, ich kenne außer Rika noch ein paar) in ihrer ehrenwerten Sympathie für die Person der Bischöfin verkennen, wie sehr eine solche Frau als Repräsentantin des deutschen Protestantismus dem Christentum insgesamt schaden musste – zumindest nach Meinung ihrer Kritiker, also von Leuten wie mir; dass man also weder frauenfeindlich noch moralisch selbstgerecht sein muss, um ihren Rücktritt mit einer gewissen Erleichterung aufzunehmen. (In meiner Eigenschaft als Blogger sehe ich ihn freilich auch mit einem weinenden Auge; jetzt wird es doch nichts mit meinem Watchblog Käßmann 😉 , und auch nichts mit der pichelnden Bischöfin als running gag.).
An sich ist eine angeschickerte Bischöfin ja keine unsympathische Gestalt; wenn hinter der Rolle, die öffentliche Würdenträger zu spielen haben, ab und zu der Mensch hervorkommt, dann wirkt das wie ein gewisses Augenzwinkern, das eine abstrakte Institution menschlich macht. Eine Rolle – das sind die Erwartungen, die man an einen Amtsträger eben deshalb richten muss, weil er Amtsträger ist. Nicht dass bei Frau Käßmann der Mensch hinter der Rolle sichtbar wurde, war das Problem, sondern, dass sie vor lauter Menschsein (als wenn irgendjemand bezweifelt hätte, dass sie das ist) ihrer Rolle nicht gerecht wurde, also die an sie notwendig zu richtenden Erwartungen nicht erfüllte, und zwar schon lange vor ihrer Promilletour.
Ich will nicht abstreiten, dass ich ein wenig voreingenommen bin, weil Frau Käßmann gerade mir zuerst durch ihre Parteinahme für die „Bibel in gerechter Sprache“ aufgefallen ist. Für mich war dieses Machwerk – das nicht mehr und nicht weniger bedeutete als die Bibel nach Maßgabe linker Ideologie zu fälschen – der letzte Anstoß, endgültig mit allem zu brechen, was links ist. Auch wenn sie nicht zu den Initiatorinnen gehörte, kann ich ihr bis heute nicht verzeihen, dass sie diesen linkstotalitären Eingriff in die Autonomie der Religion propagiert hat.
Nun war dies, nämlich die Unterwerfung des Christentums unter die Maßgaben einer politischen Ideologie, eben kein Irrtum und kein Versehen, sondern ihr Programm: Ich kann mich nicht erinnern, von ihr jemals einen bedeutenden theologischen Gedanken gehört zu haben; politische Stellungnahmen aber, und die durchaus von der Kanzel, gab es praktisch täglich.
Selbstverständlich respektiere ich, wenn jemand darin vor allem „kraftvolles Eintreten für die Schwachen der Gesellschaft“ sieht (obwohl man kein Westerwelle sein muss, um zu fragen, ob die sogenannten Starken, die oft bis an den Rand der körperlichen Erschöpfung gefordert werden, eigentlich kein Mitgefühl verdient haben?); dass man ihr das „Aufgreifen schwieriger und oftmals kontrovers diskutierter Themen, … ihre Eindeutigkeit, mit der sie Stellung nimmt und … ihre Bodenhaftung und ihre Menschlichkeit“ (Rika) zugutehält.
Ich weise nur auf die Konsequenzen hin, die die systematische Vermischung von Religion und Politik nach sich ziehen muss:
Sicherheits-, wirtschafts- oder sozialpolitische Fragen ohne eigene Kompetenz unter Berufung auf moralische Kategorien entscheiden zu wollen, leistet nicht nur der ohnehin um sich greifenden Infantilisierung des öffentlichen Diskurses weiter Vorschub, sondern bestärkt auch noch speziell die Verfechter linker Ideologien, die ohnehin nicht an mangelnder Selbstgerechtigkeit leiden, in ihrer pharisäerhaften Intoleranz gegenüber Andersdenkenden: Warum sollte der, der Gott (oder, wenn er an den nicht glaubt, zumindest „die Moral“) auf seiner Seite hat, noch diskutieren?
Es wird aber nicht nur demokratisch legitimierte, sachgerechte Politik durch ein quasi-theokratisches Politikverständnis verdorben, sondern auch die Religion durch ein politisch-ideologisches Religionsverständnis: Wenn eine Institution, die ein Reich „nicht von dieser Welt“ wenn schon nicht verkörpern, so doch zumindest repräsentieren soll, in ihren Stellungnahmen von kaum etwas anderem als von just „dieser Welt“ spricht, dann entsteht unweigerlich der Eindruck, sie sei bloß durch ihre weltlich-politischen Stellungnahmen legitimiert, und der von ihr favorisierte Weg zum Heil sei statt mit größerer Askese mit höheren Sozialleistungen gepflastert.
Natürlich ist es bequem, den Menschen nichts mehr von Gott und seinen Zumutungen zu erzählen, zumal wenn die Adressaten sowieso nicht verstehen, wovon die Rede ist, weil unsere Gesellschaft zu Gott keinen Bezug mehr hat. Da erzählt man ihnen lieber das, was sie ohnehin schon glauben (und wozu sie keinen Gott benötigen), gibt ihnen das Gefühl, ihre vulgären politischen Ansichten hätten irgendetwas mit Moral zu tun, und wird dafür mit einem Star-Image (und mit Kirchensteuereinnahmen) belohnt. Beliebt ist Frau – pardon: „Mensch Käßmann“ (Spiegel), weil der Mainstream sich in ihr wiederfindet.
(Und was ihr „kraftvolles Eintreten für die Schwachen“ angeht, überhaupt den Mut, sich durch das Eintreten für Außenseiter die Finger schmutzig zumachen, sich die Frage einzuhandeln „Warum esset und trinket ihr mit den Zöllnern und Sündern?“ (Lk 5,30), so hätte sie Gelegenheit gehabt, diese Eigenschaften auf genau jener Synode zu demonstrieren, auf der sie selbst zur EKD-Ratsvorsitzenden gewählt worden ist, und auf der der Ausschluss von sogenannten oder auch Rechtsextremisten aus der Kirche vorbereitet wurde. Mit ihrem Plazet.)
Es ist dieser Hintergrund der von ihr geförderten politischen Banalisierung des Glaubens, und nicht das Pharisäertum ihrer Kritiker, der ihre Scheidung zu einem solchen Skandal machte. Gewiss kann jede jede Ehe scheitern, und wenn auch nach christlichem Verständnis die Ehe unauflöslich ist, so bin ich doch froh, in einem Staat zu leben, der gescheiterte Ehen nicht zusammenzwingt.
Für eine Kirche aber, zu deren moralischen Grundlagen eben die Unauflöslichkeit der Ehe zählt, muss die Scheidung einer Bischöfin ein Problem sein. Wenn man schon – und dies nach hoffentlich reiflicher Überlegung – nicht zurücktritt, so wäre das Mindeste zu Erwartende ein Signal des Verständnisses an die konservativen Protestanten gewesen, die gegen eine geschiedene Bischöfin Bedenken haben. Käßmanns Reaktion auf die Scheidung war aber eine ganz andere, nämlich – sich zur Ratsvositzenden wählen zu lassen! Was immer sie verbal zugestanden haben mag – durch ihr Handeln hat sie mitgeteilt: „Ich scheiß auf eure Bedenken!“
Was ihr so viele Kritiker eingebracht hat, war die Entkernung des Glaubens. Ihre Scheidung, und dass sie sie behandelt hat, als wäre die Scheidung einer Bischöfin nicht anders zu bewerten als die Scheidung von irgendwem, setzte nur die Tüpfelchen auf das Igitt.
Allerdings kann ich ihre Fans beruhigen: Da sie genau das getan hat, was ein Politiker in vergleichbarer Lage auch täte, können sie hoffen, dass sie, wie besagter Politiker, bloß eine Schamfrist einhält, um zuerst auf ihren Bischofssessel und dann auf den des Vorsitzenden zurückzukehren – man wird ihr Beides schon warmhalten.
Hoffen wir nur, dass sie bis dahin aus ihren Erfahrungen mehr gelernt haben wird als nur die Platitüde „Du sollst nicht besoffen autofahren“.
Der neueste Käß
Man könnte auf den Gedanken kommen, einen Watchblog Käßmann aufzumachen, so hartnäckig produziert sich diese Frau mit öffentlichen geistigen Tiefflügen; geradezu, als wollte sie beweisen, dass es in dieser Republik schlechterdings unmöglich ist, sich zu blamieren, weil keine Stellungnahme so hirnlos sein kann, dass es dem korrupten Mediengesindel auffiele.
Seit sie Vorsitzende des Rates der EKD ist, wacht sie jedenfalls allmorgendlich mit dem Vorsatz auf, öffentlich irgendetwas zu sagen, womit sie den Beifall gottloser halbgebildeter linker Schreiberlinge einheimsen kann. Und was läge da näher, als auf den Papst loszugehen? Manchmal freilich, und ohne dass sie selbst oder ihre journalistische Fangemeinde es mitbekommen, gerät ihr die Kritik zum Lob; etwa wenn sie vor handverlesenem kommunistischem Publikum verkündet, in puncto Ökumene erwarte sie nichts von Papst Benedikt XVI. .
Da hat sie ausnahmsweise Recht! Gott sei Dank! Amen!
TU ES PETRUS!
Warum Papst Benedikt XVI. im Recht ist, wenn er die öffentliche Empörung ignoriert und die Piusbrüder, einschließlich des Bischofs Williamson, in die katholische Kirche zurückholt.
„Tu es Petrus
et super hanc petram
aedificabo ecclesiam meam“ (Mt 16, 18b-19)
Wenn es etwas gibt, das den Papst mit dem Fußball-Bundestrainer verbindet, so ist es die Vielzahl der heimlichen Kollegen, die so viel besser wissen, wer in die rechte Innenverteidigung respektive auf einen Bischofsstuhl gehört, und wer aus dem Kader fliegen beziehungsweise exkommuniziert werden sollte.
Die Aufgabe des Papstes ist dabei um einiges schwerer als die des Bundestrainers:
Nicht nur, weil die Schar der verhinderten Bundestrainer mit einigen Millionen doch überschaubar ist, die der verhinderten Päpste mit einigen Milliarden aber nicht. Sondern vor allem, weil die verhinderten Bundestrainer in der Mehrzahl wenigstens noch irgendeinen Bezug zum Fußball haben, und sei es den Bezug dessen, der im Unterhemd mit der Bierflasche in der Hand vor dem Fernseher sitzt und grölt: „Lauf schon, fauler Sack!“ Was ja oft genug eine treffende Analyse ist.
Diejenigen aber, die so genau wissen, was der Papst tun oder lassen sollte, würden sich in aller Regel den päpstlichen Segen nicht einmal am Fernseher spenden lassen, geschweige denn an einem katholischen Gottesdienst teilnehmen. Offensichtlich ist niemand besser qualifiziert, über die katholische Kirche zu schwadronieren, als Protestanten, Atheisten, Moslems, und Juden. Ganz zu schweigen von den Anhängern des Jesusmosesmohammedbuddhabaghwan-Synkretismus, der sich auch unter Protestanten, Atheisten und Juden, wahrscheinlich auch unter katholischen Laien, wachsenden Zulaufs erfreut – unter Moslems allerdings eher nicht.
Und so hält es auch niemand für erforderlich zu referieren, warum die Kirche es für notwendig hält, die Piusbrüder und Lefèbvre-Anhänger, die bekanntlich das Zweite Vatikanum ablehnen, wieder einzufangen. Womöglich bedeutet es, dass Benedikt die Ergebnisse des Konzils beerdigen will.
Na, und wenn?
Wie immer man zu den inhaltlichen Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils steht: Der Eindruck, den das Konzil langfristig hinterließ, war der, dass Glaubenswahrheiten Gegenstand mehr oder minder demokratischer Abstimmungsprozesse sein könnten. Ließe die Kirche diesen Eindruck unwidersprochen stehen, so würde sie ihre Existenzberechtigung verlieren.
Die Sorte Christentum, wo theologische Standpunkte politisch ausgehandelt werden, die gibt es bereits: Sie heißt Protestantismus und besteht zur Zeit aus circa dreißigtausend Denominationen. Bei dem Tempo, mit dem die Sektiererei dort voranschreitet, hat Benedikt XVI. gute Chancen, die Gründung der einhunderttausendsten evangelischen Kirche noch selbst zu erleben und ihrem Gründer eine handsignierte Jubiläumsbibel zu überreichen.
Allerdings sorgt bereits die schiere Existenz der katholischen Kirche als der Kirche dafür, dass auch weiterhin die Protestanten darauf angewiesen sind, von der katholischen Kirche wenigstens als christlich, wenn auch nicht als Kirche anerkannt zu werden, umgekehrt aber nicht. Die katholische Kirche hat zwar nicht das Monopol zu definieren, was christlich, wohl aber, was nicht christlich ist. Ihre Existenz stellt sicher, dass nicht jede Schnapsidee synkretistischer Weltumarmer unter den evangelischen Theologen die Chance bekommt, offizielle Theologie zu werden.
Woher aber nimmt die Kirche diese scheinbar magische Fähigkeit, ihre Autorität sogar ihren protestantischen Gegnern aufzuzwingen? Eben aus ihrem Selbstverständnis, Glaubenswahrheiten als Wahrheiten zu behandeln, über die sich nicht abstimmen lässt. Mit diesem Verständnis, Kirche nicht vom – subjektiven und veränderlichen – Glauben her zu denken, sondern von einer überzeitlichen, ewigen Wahrheit her, steht und fällt die Kirche.
Es wäre für das Christentum insgesamt, einschließlich des Protestantismus, eine Katastrophe, wenn die römische Kirche sich ein protestantisches Selbstverständnis zulegte. Ein langes Leben hätte es dann nicht mehr, weil mit dem Katholizismus in seiner hergebrachten Form jenes Gegengewicht wegfiele, das bisher verhindert hat, dass die Christenheit zu einem konturlosen Brei zerfließt, in dem das „Anything goes“ gilt.
Das Konzil hat dieses katholische Selbstverständnis aber nach zwei Seiten hin in Frage gestellt:
Der liberalen Öffentlichkeit wurde suggeriert, die Kirche sei ab jetzt eine Organisation, die sich der Welt in dem Sinne öffne, dass von nun an ihre Botschaft manipuliert werden dürfe, und zwar nach außertheologischen Kriterien: vom Feelgood-Faktor für die Gläubigen über die „Toleranz“ im Sinne einer Akzeptanz der Legitimität von allem und jedem, bis hin zur Ökumene, zum jüdisch-christlichen Dialog und zum „Dialog mit dem Islam“. Es ist eine Sache, dergleichen zu befürworten, und eine völlig andere, die theologische Integrität des Katholizismus hinter all dem unter „Ferner liefen“ einzuordnen.
Genau dies, nämlich das Recht, der Kirche eine Agenda aufzuzwingen, fordern die politisch-medialen Meinungseliten mit wachsender Selbstverständlichkeit für sich ein, und wahrscheinlich sind sie ganz aufrichtig verblüfft darüber, dass die Kirche sich nicht darauf einlässt – sofern sie es nicht als Bestätigung ihrer Vorurteile auffassen.
Mit ihrer Masche, päpstliche Entscheidungen zu skandalisieren, und sich auf ihren Begründungszusammenhang nicht einmal so weit einzulassen, dass sie ihn kompetent kritisieren könnten, entlarven sich die Träger der veröffentlichten Meinung wieder einmal als die Ideologieproduzenten, die sie sind. (Und es macht – um auch dies zu erwähnen – die Dinge nicht besser, wenn der eine oder andere verblendete Kardinal meint, genau dieser veröffentlichten Meinung hinterherlaufen und ins selbe Horn stoßen zu müssen.)
Wie ich schon im Zusammenhang mit der Sprache des Kindergartens ausgeführt habe, ist – wenn nicht die Absicht, so doch in jedem Fall – das Ergebnis, dass dem Medienkonsumenten die entscheidenden Fragen vorenthalten werden. So wie der Gazakrieg auf eine Art behandelt wurde, als würden dort uneinsichtige Kinder miteinander raufen, so wird im Zusammenhang mit der Re-Integration der Piusbruderschaft der Papst – nicht weniger als einer der brillantesten Köpfe des Abendlandes – als starrsinniger alter Knacker abgestempelt, der mit den Piusbrüdern bloß seinesgleichen in der Kirche haben wolle.
Ich habe oben gesagt, das Konzil habe nach zwei Seiten hin falsche Signale gesandt: einmal zur liberalen Öffentlichkeit, zum anderen zu den konservativen Katholiken, die, und zwar völlig zu Recht, der Auffassung sind, eine katholische Kirche, die sich nicht als Hüterin des ewig Wahren verstehe, sei keine Kirche im katholischen Sinne mehr. Die Lefèbvre-Anhänger waren die gefährlichste Häresie, mit der es die Kirche in jüngerer Zeit zu tun bekommen hat. Wenn die atheistischen oder agnostischen Redakteure von Hamburger Wochenzeitungen glauben, die Kirche habe sich mit dem Konzil verpflichtet, dem Zeitgeist zu huldigen, dann kann die Kirche das ignorieren.
Eine Opposition von rechts dagegen, die plausibel machen könnte, dass die Kirche dies tatsächlich tue und damit ihren Auftrag verrate, und die damit den Wahrheitsanspruch der Kirche im Kern anfechten kann, ist eine tödliche Bedrohung. Nicht für die Kirche als Organisation (einen Verein mit einer Milliarde Mitgliedern kriegt man nicht so schnell kaputt), wohl aber für die Strahlkraft und Glaubwürdigkeit ihrer Botschaft.
Deswegen – und nicht wegen irgendwelcher reaktionären Anwandlungen der Kurie! – musste man die Piusbrüder wieder einfangen!
(Natürlich gehören in diesen Zusammenhang auch solche Maßnahmen wie die Aufwertung der lateinischen Messe, das in neuer Form wieder eingeführte Gebet für die Bekehrung der Juden und die schroffe Ansage, die protestantischen Kirchen seien „keine Kirchen im eigentlichen Sinne des Wortes“: Das ist nicht Arroganz, das ist die ehrliche Feststellung, dass man zwei grundsätzlich einander entgegengesetzte Begriffe von „Kirche“ nicht mit ein und demselben Wort belegen darf.)
Unserer ideologisch konditionierten Öffentlichkeit kommt es natürlich nicht in den Sinn, dass die theologische Integrität des Christentums wichtiger sein könnte als die Ausgrenzung dieses oder jenes Holocaustleugners.
Ebenso, wie es ihr auch nicht in den Sinn kommt, dass Ausgrenzung, Ächtung, Exkommunikation von Antisemiten kein Beitrag zum Kampf gegen Antisemitismus sind. Eine Gesellschaft, in deren religiösem wie politischem Selbstverständnis der Antisemitismus seit Jahrhunderten eingebrannt ist (Ich verweise auf meine Artikel „Noch ein paar Gedanken zu: Christentum, ‚Islamophobie‘, Antisemitismus“ und „Deutsche und Nazis“), die möchte sich das natürlich gerne ersparen, sich mit diesem Sachverhalt auseinanderzusetzen. Gottlob gibt es die Williamsons und Hohmanns, von denen man sich in einer Art von kollektivem Exorzismus distanzieren kann. Was ist leichter, als sich der eigenen moralischen Vortrefflichkeit dadurch zu versichern, dass man den Antisemitismus in der Gestalt irgendwelcher Holocaustleugner dingfest macht und ihn dadurch entsorgt, dass man diese ausgrenzt? Bis zum nächsten Skandal.
Einer der alten Kirchenväter schrieb: „Christus hat sich die Wahrheit genannt, nicht die Gewohnheit!“. Man möchte paraphrasieren: Er hat sich die Wahrheit genannt, nicht die Political Correctness!
Warum das Christentum zur Demokratie passt, der Islam aber nicht. Teil I: Christentum
Wer öfter hier hereinschaut und mitbekommen hat, wie ich zum Beispiel den Antisemitismus als nahezu unvermeidlichen Bestandteil christlicher Kollektividentität gedeutet habe, könnte den Eindruck gewinnen, ich sei selber überhaupt kein Christ oder sei gar christentumsfeindlich.
Nichts liegt mir ferner.
Wenn ich mich mit problematischen Aspekten des Christentums auseinandersetze, dann tue ich dies im Sinne soziologischer Aufklärung, nicht zum Zwecke der Anklage oder Denunziation.
Ich halte überhaupt nichts von der modischen postmodernen Marotte, so zu tun, als seien alle Religionen gleich gut oder gleich schlecht (oder als sei das Christentum die schlimmste von allen). Gewiss ist der Glaube etwas Subjektives, und es gibt kein allgemeingültiges Kriterium, anhand dessen man die „Wahrheit“ des einen oder des anderen Glaubens überprüfen könnte.
Es gibt aber nicht nur den individuellen Glauben, es gibt auch die Religion als soziales System, und deren Wirkungen sind sehr wohl empirisch überprüfbar. Im Hinblick auf diese Wirkungen gibt es durchaus gute und schlechte Religionen.
Religionen prägen die von ihnen dominierten Gesellschaften viel tiefer, als politische Ideologien das je vermöchten, indem sie die Vor-Entscheidungen treffen und die Vor-Urteile darüber fällen, was in einer Gesellschaft als gut und böse, gerecht und ungerecht, legitim und illegitim, tolerabel und intolerabel zu gelten hat. Bevor das Denken überhaupt einsetzen kann, hat die Religion ihm schon die Richtung gewiesen, indem sie ihre Werturteile als kulturelle Selbstverständlichkeiten verbindlich gemacht hat. Als solche bleiben sie auch dann erhalten, wenn der Einfluss und die gesellschaftliche Bedeutung der Religion zurückgehen, und sie prägen das Denken auch solcher Angehörigen der jeweiligen Kultur, die der dominanten Religion nicht angehören.
Das klingt nach Binsenweisheit, und genau das ist es auch. Der durchschnittliche Westler wird all dem zustimmen und nur eine einzige Kultur davon ausnehmen – seine eigene. Für Viele klingt der Gedanke absurd, dass Säkularität, Toleranz, Rationalität, Liberalität, Menschenrechte, Demokratie, kurz: die Moderne, auf kulturellen Voraussetzungen aufbauen, die so nur das Christentum hervorbringen konnte, und die nicht ohne weiteres mit jeder beliebigen Religion kompatibel sind. Hat doch die katholische Kirche sich jahrhundertelang der Aufklärung, der Demokratie und überhaupt der Moderne mit aller Kraft entgegengestemmt: Von der Verbrennung Giordano Brunos über die Verurteilung Galileis, die Verdammung Darwins, den Antimodernisteneid zieht sich eine gerade Linie zur Unterstützung Francos und Mussolinis, und es bedurfte fast der gesamten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, damit sich die Kirche mit der Moderne versöhnte, und auch dies nicht selten zähneknirschend.
Über die Jahrhunderte haben wir uns im Westen daran gewöhnt, die Kirche (und die katholische ist eben immer noch die Kirche, sehr zum Verdruss der Protestanten) als die große Gegenspielerin der Moderne, gerade in deren emanzipatorischem Aspekt, zu betrachten. In der Tat: Die Kirche als Institution hat den Zug nach Kräften aufzuhalten versucht. Aber die Botschaft, die sie verkündete, war die des Nazareners. Das hatte Folgen.
Ich rekonstruiere jetzt das, was man die „christliche Mentalität“ nennen könnte. Die Analyse geht von einer der Schlüsselstellen des Neuen Testaments aus, dem Gleichnis vom Barmherzigen Samariter:
„25aUnd siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muß ich tun, daß ich das ewige Leben ererbe? 26Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? 27Er antwortete und sprach: «Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst» (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18). 28Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; btu das, so wirst du leben.
29Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? 30Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. 31Es traf sich aber, daß ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. 32Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. 33Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; 34und er ging zu ihm, goß Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. 35Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme. 36Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? 37Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!“ (Mk 10)
Die Pointe dieses Gleichnisses und seine Brisanz liegen darin, dass ausgerechnet ein Samariter zum Vorbild erhoben wird: Die Samariter waren keine Juden, wurden zumindest vom jüdischen Volk nicht als solche anerkannt – aus der Sicht Jesu und seiner Zuhörer waren sie die „Anderen“. Vor Gott gerechtfertigt also – dies ist die Konsequenz aus dem Gleichnis, die durch die Kontrastierung mit dem Priester und dem Leviten noch unterstrichen wird – ist man weder durch „Rechtgläubigkeit“ noch durch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft (Volk, Kirche, Umma usw.), sondern einzig und allein durch die Liebe zu Gott und dem Nächsten. Dies war damals keineswegs so neu und revolutionär, wie Christen gerne glauben; tatsächlich bezieht sich Jesus ausdrücklich auf die Thora, und das Christentum blieb noch jahrzehntelang eine jüdische Sekte.
Neu und revolutionär ist die Radikalität, mit der Jesus den Gedanken ins Zentrum seiner Lehre stellt, dass es auf die Liebe und damit auf die Qualität des inneren, im Herzen empfundenen Gottes- und Weltbezugs ankommt, und dass diese die guten Taten gewissermaßen von selbst hervorbringt. Daher auch die Aufhebung der Speisegebote:
„Merkt ihr nicht, daß alles, was von außen in den Menschen hineingeht, ihn nicht unrein machen kann? 19Denn es geht nicht in sein Herz, sondern in den Bauch, und kommt heraus in die Grube. Damit erklärte er alle Speisen für rein. 20Und er sprach: Was aus dem Menschen herauskommt, das macht den Menschen unrein; 21denn von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen heraus böse Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, 22Ehebruch, Habgier, Bosheit, Arglist, Ausschweifung, Mißgunst, Lästerung, Hochmut, Unvernunft. 23Alle diese bösen Dinge kommen von innen heraus und machen den Menschen unrein.“ (Mk 7)
Oder seine Lehre zur ehelichen Treue:
„27Ihr habt gehört, daß gesagt ist (2. Mose 20,14): «Du sollst nicht ehebrechen.» 28Ich aber sage euch: aWer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.“ (Mt 5)
Er treibt seine Lehre sogar so weit auf die Spitze, dass er scheinbar ein geradezu widersinniges Verhalten fordert:
„38Ihr habt gehört, daß gesagt ist (2. Mose 21,24): «Auge um Auge, Zahn um Zahn.» 39Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. a 40Und bwenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel. c 41Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. 42Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.“ (Mt 5)
Eine solche Ethik ist, auch wenn sie im Imperativ formuliert wird, keine, die bestimmte Tathandlungen oder -unterlassungen vorschreibt. Jesus sagt also nicht, was die Menschen tun sollen. Er sagt, wie sie sein müssten, um Gott nahe zu sein. (Es kann in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben, ob Jesus das alles tatsächlich selbst so gepredigt oder von den Redakteuren der Evangelien zur Zeit der Trennung der Kirche von der Synagoge in den Mund gelegt bekommen hat. Ich selbst halte die Zitate für authentisch, zumindest dem Sinne nach; in jedem Falle aber – und nur darauf kommt es hier an – entsprach diese Lehre dem Selbstverständnis des Christentums.)
Hier wird nicht von der Gesellschaft her gedacht; es werden keine gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien entwickelt, die den Rahmen für das Verhalten des Einzelnen abgeben. Diese Ethik ist radikal unpolitisch, und zwar vom Grundansatz her, nicht erst aufgrund von Aussagen wie:
„So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ (Mt 22, 21)
Es entsprach daher durchaus dem Sinn dieser Lehre, und stellt nicht etwa eine taktische Anpassung an die Machtverhältnisse im Römischen Reich dar, wenn der Apostel Paulus predigt:
„1aJedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn bes ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet“ (Röm 13, 1)
Indem sie keine Handlungsregeln aufstellt, mutet diese Ethik dem Einzelnen autonome ethische Entscheidungen zu; es handelt sich um eine Ethik der Eigenverantwortung. Wie es einer der Kirchenväter formulierte: „Liebe – und tu, was Du willst.“
Wenn Toleranz die Vermutung ist, dass der Andersdenkende oder Andersgläubige im Recht sein könnte, kann man diese Haltung kaum prägnanter zum Ausdruck bringen als mit den Worten:
„1Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. a 2Denn nach welchem Recht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und bmit welchem Maß ihr meßt, wird euch zugemessen werden. 3Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge? 4Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen?, und siehe, ein Balken ist in deinem Auge. 5Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst.“ (Mt 7)
Es wird eine undogmatische Haltung propagiert. Jesus selbst hat keine Dogmen formuliert und keine „heiligen Schriften“ hinterlassen, und sein Umgang mit der vorhandenen Heiligen Schrift war äußerst unorthodox: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist … Ich aber sage Euch…“. Das Neue Testament entstand erst Jahrzehnte nach der Kreuzigung, und seine Entstehung gehört bereits in den Kontext der Transformation des Christentums zum sozialen System. Auch dann aber war nicht der Text Zentrum und letzter Bezugspunkt des christlichen Glaubens, sondern die Person Christi (was der Grund dafür ist, dass man bibelkritisch sein kann, ohne unchristlich zu sein).
Und schließlich handelt es sich um eine inklusive Lehre: Wenn der Samariter vor Gott gerechtfertigt war, dann ist es prinzipiell jeder Mensch. Vor Gott sind alle gleich – er liebt alle Menschen, nicht etwa nur die Christen.
Wunderbar, nicht wahr? Wenn es einfach dabei geblieben wäre, dann – würde das Christentum schon lange nicht mehr existieren.
Es liegt auf der Hand, dass Religion auf Gemeinsamkeit, auf Austausch mit Gleichgesinnten, kurz: auf die Existenz einer Gemeinschaft angewiesen ist. Eine Gemeinschaft bedarf aber bestimmter Regeln, wer dazu gehören soll und wer nicht, welche Glaubensinhalte und heiligen Texte verbindlich sein sollen, wie Entscheidungen zustandekommen usw. Soziologisch formuliert ist sie ein soziales System, das darauf angewiesen ist, die System-Umwelt-Grenze zu definieren, das intern durch Mitgliedschaftsrollen strukturiert wird, und das sich im Zuge des eigenen Wachstums immer stärker differenzieren muss.
Damit aber gerät die entstehende Kirche unausweichlich in einen Widerspruch zu ihrer eigenen Botschaft: Idealiter müsste eine christliche Kirche die Gemeinschaft derer sein, die von Gottes- und Nächstenliebe im Sinne Jesu Christi beseelt sind. Nur: Wer will das überprüfen? Als soziales System kann die Kirche nur verarbeiten, was kommunizierbar ist; also das Bekenntnis zu den verbindlichen Glaubensartikeln, die Teilnahme an Ritualen, die Erfüllung von Geboten, den Gehorsam.
Die von Christus gepredigte Ethik der Liebe verwandelt sich in dem Moment, wo sie institutionalisiert wird, in ihr Gegenteil, nämlich eine Ethik der Tat. Die Liebe zu Gott verwandelt sich in dem Moment, wo sie von der Kirche als seinem irdischen Arm mit Anspruch auf Gehorsam und unter Sanktionsdrohung gefordert wird, in ihr Gegenteil, nämlich die Furcht vor Gott. Der Andersgläubige hört in dem Moment, wo er durch die schiere Existenz der christlichen Gemeinschaft aus dieser ausgeschlossen ist, auf, der potenzielle Samariter zu sein, der vor Gott gerechtfertigt ist, und wird zu einem Menschen, der vor Gott niemals gerechtfertigt sein kann, weil es außerhalb der Kirche kein Heil gibt. Und die Kirche selbst entwickelt als Institution Eigeninteressen, durch die sie aufhört, ein Instrument des Glaubens zu sein – stattdessen wird der Glaube zum Instrument dieser Interessen.
Wir haben es hier also mit einem elementaren Widerspruch zu tun: zwischen dem christlichen Glauben einerseits, der seiner Natur nach auf einer inneren, individuellen Beziehung zu Gott beruht, und der Religion andererseits, in der dieser Glaube in Gestalt eines sozialen Systems objektiviert wird.
(An diesem Sachverhalt würde sich auch dann nichts ändern, wenn die Religion – das soziale System – nicht die Form einer zentralisierten Kirche angenommen hätte, sondern dezentral organisiert wäre, wie z.B. der Islam; entscheidend ist, dass das soziale System seiner Natur nach zwischen Zugehörigen und Nichtzugehörigen unterscheiden und die – kontrollierbare – Glaubensausübung an die Stelle des nicht kontrollierbaren Glaubens setzen muss.)
Da die Kirche aber weiterhin die Botschaft Christi predigen musste und diese nicht schrankenlos nach ihren Machtinteressen manipulieren konnte, züchtete sie selbst – Sie konnte gar nicht anders! – die Opposition in Gestalt zunächst der Ketzerei, dann des Protestantismus. Der innere Widerspruch zwischen Glaube und Religion verwandelte sich damit in einen äußeren Gegensatz zwischen konkurrierenden Kirchen. In der Logik dieses Sachverhalts liegt es auch, dass der Protestantismus seinerseits denselben Widerspruch reproduzieren musste und – schon infolge seines institutionenkritischen Ansatzes – in eine immer größere Zahl immer kleinerer Glaubensgemeinschaften zerfiel. Bis heute ist es so, dass der Protestantismus den größeren Wert auf den Glauben, also auf das subjektive, individuelle Moment des Christentums legt, während der Katholizismus dessen soziales, objektives und damit institutionelles Moment in den Vordergrund rückt. Dabei halten beide Konfessionen einander im Zaum: Eine rein protestantische Christenheit würde schnell zu einem konturlosen Brei zerfließen, eine rein katholische dagegen – nun, das hatten wir schon einmal.
Dadurch verlor die Kirche ihre dominierende Stellung gegenüber dem Staat einerseits, den Gläubigen andererseits: Hatte der deutsche König Heinrich IV. noch nach Canossa pilgern müssen, um sich die überlebensnotwendige Gunst des Papstes zu sichern, so konnte ein anderer Heinrich, der Achte von England, es sich leisten, aus mehr privaten als religiösen Motiven seine eigene Kirche zu gründen. Die einfachen Gläubigen wiederum hatten, im Prinzip zumindest, die Option des Konfessionswechsels.
Diese Schwächung der Kirche als Institution führte selbstredend nicht dazu, dass das Christentum aufgehört hätte, die alleinige Quelle der ethischen und moralischen Orientierung abendländischer Gesellschaften zu sein – andere Quellen gab es ja nicht.
Vielmehr wurde der Widerspruch zwischen Glaube und Religion dadurch aufgehoben, dass das christliche Menschenbild und die damit verbundene Ethik der individuellen Autonomie, der gegenseitigen Toleranz und der Gleichheit aller Menschen vor Gott als Grundlage des Liberalismus säkularisiert wurde. Das Christentum als Religion, d.h. die Kirche, wurden partikular, während Menschenbild und Ethik verallgemeinert wurden.
(Also ein klassischer dialektischer Prozess: Die These, der christliche Glaube, bringt die Religion als seine eigene Antithese hervor, und der dadurch entstehende Widerspruch wird in einer Weise aufgehoben, in der beides sowohl negiert wird als auch erhalten bleibt. Doktor Karl Marx, dessen Genie ich ebenso verehre wie ich die geistige Impotenz seiner dogmatischen Epigonen verachte, hätte seine helle Freude daran gehabt.)
Damit ist erklärt, warum gerade das christliche Abendland, und nicht irgendeine andere Weltzivilisation, den Liberalismus, die Voraussetzung einer demokratischen Ordnung hervorgebracht hat. Nicht behauptet wird damit, dass jedes christlich geprägte Land den Weg zur liberalen Demokratie einschlagen müsse, und auch nicht, dass nichtchristliche Länder ihn nicht finden könnten – Indien und Japan haben es ja auch geschafft. Aus Gründen, die ich im zweiten Teil dieses Aufsatzes darlegen werde, glaube ich aber, dass gerade islamisch geprägte Kulturen für demokratisches Gedankengut besonders unempfänglich sind.
Bis dann also!