Widerspruch!

Ist  man eigentlich verpflichtet, alles gut zu finden, was Eva Herman sagt und schreibt, nur weil es eben von Eva Herman gesagt und geschrieben wird, und diese Dame als Säulenheilige der politischen Unkorrektheit sozusagen schon aus Prinzip nichts Falsches, Dummes oder Geschmackloses sagen kann?

Ich wundere mich schon, wie weit der Konsens unter meinen Bloggerkollegen geht, dass Eva Herman Recht habe mit dem Tenor ihres Artikels „Sex- und Drogenorgie Loveparade: Zahlreiche Tote bei Sodom und Gomorrha in Duisburg“: dass nämlich die Opfer selber schuld seien, ja dass die Katastrophe vom vergangenen Samstag ein Strafgericht Gottes gewesen sei. (So jedenfalls muss man es wohl verstehen, wenn sie schreibt: „Eventuell haben hier ja auch ganz andere Mächte mit eingegriffen, um dem schamlosen Treiben endlich ein Ende zu setzen.“)

Die Kritik an Veranstaltungen wie der Love Parade trifft durchaus ins Schwarze, und mehr als legitim ist es auch, dem dümmlichen Mainstreamgeschwätz von den „fröhlich feiernden jungen Menschen“ einen bissigen Kontrapunkt entgegenzusetzen. Zu jedem denkbaren Zeitpunkt wäre diese Kritik auch angemessen gewesen. Sie aber einundzwanzig Toten als Nachruf hinterherzuwerfen, ist pietätlos, geschmacklos und roh.

Die Mentalität, die darin zum Ausdruck kommt, ist genau dieselbe doktrinäre Gefühlstaubheit, die wir schon an Eugen Drewermann beobachten mussten – mit dem Herman sonst weiß Gott nichts gemein hat -, der am Abend des 11.September 2001 kaltschnäuzig schwadronierte, die Amerikaner seien ja selbst schuld. Von einem Linken wie Drewermann, der sozusagen schon von Hause aus nicht weiß, was sich gehört, und dessen Dekonstruktionswut schon aus ideologischem Prinzip vor nichts haltmacht, war nichts Anderes zu erwarten. Von Eva Herman schon.

Die kaum verhohlene Schadenfreude gegenüber den Teilnehmern einer Veranstaltung, die man nicht ausstehen kann, gehört moralisch in dieselbe Schublade wie die nämliche Schadenfreude linker Deutschenhasser, die die Korken knallen lassen, wenn deutsche Soldaten sterben.

Es gibt keinen Zusammenhang zwischen der dekadenten Schamlosigkeit der Love Parade und dem Tod dieser Menschen. Das Ausmaß an Verantwortungslosigkeit und Inkompetenz auf Seiten der organisatorisch Verantwortlichen hätte zu demselben Ergebnis geführt, wenn es nicht um die Love Parade, sondern um eine Papstmesse gegangen wäre.

Wenn einen schon Glaubens- und Pietätsgründe nicht davon abhalten, den lieben Gott hier verantwortlich zu machen – was schlimm genug ist -, so sollte es wenigstens die Erkenntnis sein, dass solche Katastrophen dort unvermeidlich sind, wo unfähiges und korruptes Gesindel regiert, und dass Jeder von uns der Nächste sein kann, dem die verlogenen Trauerbekundungen irgendwelcher Oberbürgermeister gelten, die schluchzen, aber nicht zurücktreten.

Harald Welzer: „Opa war kein Nazi“

(Rezension) 

[Sämtliche Bücher von Harald Welzer gibt es HIER]

2002 erschienen, ist „Opa war kein Nazi“ bereits heute ein Klassiker, an dem niemand vorbeikommt, der wissen möchte, wie die Deutschen sich zu ihrer braunen Vergangenheit stellen. Tatsächlich stellen. Denn offiziell gibt es ja keinerlei Unklarheiten: Die „nationalsozialistische Gewaltherrschaft“, wie der politisch korrekte Terminus immer noch lautet, war ein durch und durch verbrecherisches und unmenschliches System. Der einzig zulässige Umgang damit ist eine Politik des „Nie wieder!“, die Lehre, die aus der Geschichte zu ziehen ist, lautet, konsequent für Demokratie, Frieden und Menschenrechte einzutreten. So weit das offizielle Geschichtsbild.

Wer in Deutschland lebt, weiß, dass dies nur die Vorderseite der Medaille ist, und dass auf der Rückseite vielleicht kein genau gegenteiliger, aber doch ein anderer Text steht. Als Eva Herman 2007 meinte, die vermeintlich „guten Seiten“ des Nationalsozialismus thematisieren zu müssen, wurde sie vom wissenschaftlichen, politischen und Medien-Establishment geprügelt, von vielen Normalbürgern aber vehement in Schutz genommen. Von Normalbürgern, deren Geschichtsbild ziemlich genau dem von Eva Herman entsprach, und die dieses Bild nicht (mehr) aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzt sehen wollten.

Wie derart unterschiedliche Versionen ein und derselben Geschichte zustande kommen – eine Elitengeschichte, eine Volksgeschichte -, darüber hat Harald Welzer eine grundlegende Hypothese entwickelt, die durch die Ergebnisse der Studie „Opa war kein Nazi“ erhärtet wurde: Er vermutet

einen Unterschied im Bewusstsein über die Geschichte, der allzu oft übersehen wird, einen Unterschied zwischen kognitivem Geschichtswissen und emotionalen Vorstellungen über die Vergangenheit. Auf der Ebene emotionaler Erinnerungen scheinen sich Bindungskräfte und Faszinosa gegenüber der nationalsozialistischen Vergangenheit entfalten und erhalten zu können, die merkwürdig unverbunden mit dem Wissen über diese Zeit sind, und zwar über die Generationen hinweg. Metaphorisch gesprochen, existiert neben einem wissensbasierten ‚Lexikon’ der nationalsozialistischen Vergangenheit ein weiteres, emotional bedeutenderes Referenzsystem für die Interpretation dieser Vergangenheit: eines, zu dem konkrete Personen – Eltern, Großeltern, Verwandte – ebenso gehören wie Briefe, Fotos und persönliche Dokumente aus der Familiengeschichte. Dieses ‚Album’ vom ‚Dritten Reich’ ist mit Krieg und Heldentum, Leiden, Verzicht und Opferschaft, Faszination und Größenphantasien bebildert, und nicht, wie das ‚Lexikon’, mit Verbrechen, Ausgrenzung und Vernichtung.

(…)

Die Annahme, dass Geschichtsbewusstsein eine kognitive und eine emotionale Dimension hat, wird auch dadurch gestützt, dass das menschliche Gedächtnis mit unterschiedlichen Systemen für kognitive und emotionale Erinnerungen operiert, und nichts macht das greifbarer, als wenn man Angehörige der Zeitzeugengeneration, die ihre Vergangenheit ‚aufgearbeitet’ haben und der nationalsozialistischen Geschichte höchst kritisch gegenüberstehen, mit leuchtenden Augen über ‚ihre Zeit’ und ihre Erfahrungen bei der HJ oder bei der Luftwaffe berichten hört.“ (S.9f.)

Welzers Buch, und allein das würde es schon lesenswert machen, gibt dem Leser eine Erklärung für dessen eigene manchmal verwirrende Erfahrungen mit Zeitzeugen an die Hand. Ich erinnere mich an eine Deutschlehrerin, die uns bei jeder Gelegenheit versicherte, wie furchtbar die NS-Zeit war, und wie froh wir sein sollten, in einem demokratischen Staat zu leben. Sie war geradezu besessen von dem Thema: Egal, ob es um Schiller ging oder um Walther von der Vogelweide oder um deutsche Grammatik, irgendwie kriegte sie immer die Kurve zu ihrem Lieblingsthema. Ging es aber um ihre eigenen Erfahrungen mit dieser Zeit, dann sah man die von Welzer erwähnten leuchtenden (blauen) Augen, mit denen unsere blonde Lehrerin („Ich entsprach ja dem Ideal“) uns vom BDM erzählte und von den „feschen schwarzen Uniformen“ (der SS) vorschwärmte – nur um uns eine halbe Minute später zu versichern, „wie furchtbar das alles war“. Da tat sich eine gewisse Glaubwürdigkeitslücke auf, zumal die Dame zu Freudschen Fehlleistungen tendierte (von einer Kollegin namens „Goebel“ sprach sie immer als von „Frau Doktor Goebbels“). Es gibt nichts Garstigeres als den Humor von Gymnasiasten, und die ansonsten hervorragende Lehrerin wurde, ohne es zu ahnen, zur Zielscheibe ungezählter Witze.

Da, wie Raul Hilberg einmal formuliert hat, der Holocaust in Deutschland Familiengeschichte ist, stehen ‚Lexikon’ und ‚Album’ gleichsam nebeneinander im Wohnzimmerregal, und die Familienmitglieder haben die Aufgabe, die sich widersprechenden Inhalte beider Bücher zur Deckung zu bringen.“ (S.10)

Die Frage, auf welche Weise dies geschieht, ist Gegenstand der Studie. Welzers Forschungsteam befragte dazu zwischen 1997 und 2000 Angehörige von vierzig Familien, insgesamt 142 Personen, und zwar sowohl in Familiengesprächen als auch in Einzelinterviews. In jeder Familie war jeweils mindestens ein Angehöriger der Zeitzeugengeneration (Jg. 1906 bis 1933) sowie der Generation ihrer Kinder und Enkel vertreten.

Es ist faszinierend, zum Teil auch höchst belustigend, zu erleben, wie die Erzählungen der Zeitzeugen von ihren Kindern und vor allem Enkeln nach Art des Spiels „Stille Post“ in den Einzelgesprächen völlig anders wiedergegeben werden als sie ursprünglich erzählt worden waren. Dabei folgen die Veränderungen durchgehend demselben Schema:

Versuchen schon die Zeitzeugen selbst, sich nach Möglichkeit als Nichtnazis oder Regimegegner zu präsentieren, die gegen ihre wahre Überzeugung mitgemacht hätten, so enthalten ihre Erzählungen doch Anhaltspunkte genug, die einen kritischen Zuhörer veranlassen müssten, diese Selbstdarstellung in Frage zu stellen. Das reicht von deutlichen antisemitischen Vorurteilen über die Mitgliedschaft in SA und NSDAP bis hin zu eigenen Kriegsverbrechen (die aber als solche weder von den Erzählern selbst noch von ihren Zuhörern wahrgenommen werden, und sogar die wissenschaftlich geschulten Interviewer scheinen in der Gesprächssituation so gefangen zu sein, dass sie den Erzählern deren Selbstdarstellung abnehmen).

In den Einzelgesprächen mit Kindern und Enkeln filtern diese aus den Erzählungen der Zeitzeugen alles heraus, was auf eine damals pronazistische Einstellung ihrer Angehörigen (erst recht auf die Beteiligung an Verbrechen) hindeuten könnte; zugleich erfährt jeder Teilaspekt, der sich auch nur irgendwie dazu eignet, eine Umdeutung, die die eigenen (Groß-)Eltern, wenn schon nicht als Widerstandskämpfer, so doch als (vom heutigen Standpunkt) integre Persönlichkeiten dastehen lässt. Welzer nennt dieses Phänomen „kumulative Heroisierung“.

In diesen Gesprächen werden insgesamt 2535 Geschichten erzählt. Nicht wenige davon verändern sich auf ihrem Weg von Generation zu Generation so, dass aus Antisemiten Widerstandskämpfer und aus Gestapo-Beamten Judenschützer werden.“ (S.11)

Da das „Mitmachen“ als solches aber nicht aus den Erzählungen eliminiert werden kann, unterbreiten meist die Zeitzeugen selbst ein Deutungsangebot, das von den Nachkommen aufgegriffen und verinnerlicht wird:

wenn etwa unsere Zeitzeugen oder die Verwandten, über die sie berichten, in die Partei ‚eintreten mussten’, in den Krieg ‚gehen mussten’ oder der Verfolgung … der jüdischen Bevölkerung ‚zusehen mussten’. Das alles haben sie im Gegensatz zu den ‚Nazis’ nicht aus Überzeugung und gern getan, sondern, weil ‚man’ das damals machte oder weil man damit Schlimmeres verhüten konnte …“ (S.205)

oder weil man sonst ins KZ gekommen wäre, wie in etlichen Gesprächen wie selbstverständlich als Regelfolge jedes auch nur irgendwie nonkonformen Verhaltens unterstellt wird.

„… im Übrigen haben sie im Rahmen ihrer Funktionen stets versucht, sich wie gute Menschen zu verhalten – anders wiederum als die ‚150-prozentigen Nazis’, die in ihren Erzählungen als chronische Widersacher auftreten.“ (S.205f.)

Die Nazis sind immer die anderen.

Für das Geschichtsbild vom Nationalsozialismus und vom Holocaust bedeutet das Phänomen der kumulativen Heroisierung … eine Restauration der tradierten, aber eigentlich längst abgelösten Alltagstheorie, dass ‚die Nazis’ und ‚die Deutschen’ zwei verschiedene Personengruppen gewesen seien, dass ‚die Deutschen’ als Verführte, Missbrauchte, ihrer Jugend beraubte Gruppe zu betrachten seien, die selbst Opfer des Nationalsozialismus war.

(…)

Zwischen dem Bild eines sich zunehmend enthistorisierenden Menschheitsverbrechens auf der einen und einem sich zunehmend enthisorisierenden Nationalsozialismus auf der anderen Seite entsteht im Geschichtsbewusstsein … eine Lücke, in der der Vorgang der sozialen Erstellung des genozidalen Prozesses zu verschwinden droht – und dies bei allem faktischen Geschichtswissen, das der Geschichtsunterricht, die politische Bildung und die Gedenkstättenarbeit in den vergangenen Jahrzehnten so erfolgreich etablieren konnten.“ (S.79f.)

In besagter Lücke verschwindet aber noch einiges andere, unter anderem die mentalen Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung einer demokratischen Gesellschaft.

Die deutsche Marotte, jeden politischen Sachverhalt, der in irgendeiner Form mit Diktatur, Menschenrechtsverletzungen oder Krieg zu tun hat, mit den Verhältnissen und Praktiken des Dritten Reiches zu vergleichen, liefert einen deutlichen Hinweis darauf, dass den meisten Deutschen bis heute nicht klar ist, was den spezifischen Charakter des Nationalsozialismus ausmachte, wie er funktionierte, und wo seine Wurzeln lagen. Es ist ja bemerkenswert, dass zwar ein breiter gesellschaftlicher Konsens über die moralische Verurteilung der NS-Herrschaft besteht, nicht aber über die Frage, wie „es“ überhaupt möglich war; und das hat nicht nur mit der Komplexität des Themas zu tun. Es hat meines Erachtens – und Welzers Studie bestärkt mich in dieser Auffassung – vor allem damit zu tun, dass man das Dritte Reich nur verstehen kann, wenn man es als ein gemeinsames nationales Projekt der damaligen Deutschen auffasst; und genau vor dieser Erkenntnis wollen Viele sich drücken.

Das bedeutet nicht, dass damals alle Deutschen glühende Verfechter des Nationalsozialismus gewesen wären, (Die Bereitschaft, sich einer politischen Ideologie mit Haut und Haaren zu verschreiben, ist zu allen Zeiten die Marotte einer Minderheit gewesen), sondern dass sie die ideologischen Voraussetzungen des Nationalsozialismus als geltenden moralischen Bezugsrahmen akzeptiert (im Sinne von: nicht hinterfragt) haben – also das Projekt der Weltherrschaft, die Ideologie der Volksgemeinschaft, den Ausschluss der Juden aus dieser Gemeinschaft, die Selbstbeschreibung als Herrenvolk, um nur die markantesten Punkte zu nennen, natürlich auch die Legitimität der NS-Herrschaft selber.

Eine solche Interpretation des Nationalsozialismus muss mit den Legenden kollidieren, die in der familiären Überlieferung gesponnen werden. Wenn „Opa kein Nazi“ war (obwohl er vielleicht in der SA oder SS war), dann war eigentlich niemand einer, und die regimeloyale Haltung der Deutschen wäre kaum anders zu erklären als mit der Gewaltandrohung von Seiten „der Nazis“. Was auch die Zählebigkeit der Floskel „nationalsozialistische Gewaltherrschaft“ erklärt, über die ich mich schon an anderer Stelle mokiert habe.

Der spezifisch totalitäre Charakter der NS-Herrschaft fällt damit unter den Tisch. Natürlich haben die Nazis politische Gegner eingesperrt und getötet, wie andere Diktaturen auch, z.B. Militärregimes. Die Gewaltandrohung, Kennzeichen jeder Diktatur, kann Menschen aber nur dazu bringen, zu unterlassen, was sie an sich tun wollen. Sie kann sie unmöglich veranlassen zu wollen, was sie sollen! Genau darin liegt einer der wesentlichen Unterschiede zwischen einer ordinären Diktatur und einem totalitären Regime. Ein solches ist darauf angewiesen, die Menschen für sich und seine Projekte zu begeistern, und genau daraus resultieren die Charakteristika totalitärer Ideologien:

Totalitäre Herrschaft setzt die vollständige, und zwar nicht zähneknirschende, sondern gewollte und bejahte, Unterordnung des Einzelnen unter das Kollektiv voraus („Du bist nichts, dein Volk ist alles!“). Normalerweise sind Menschen dazu nur unter zwei Voraussetzungen bereit:

Einmal, wenn sich dieses Kollektiv im Konflikt mit einem anderen befindet. Dieser Konflikt kann sich gegen einen inneren oder äußeren Feind richten, er kann im Prinzip auch fiktiver Natur sein, aber wirklich überzeugend ist er nur als erfahrbare Wirklichkeit, also als bewaffneter Konflikt. Totalitäre Regime sind daher strukturell friedensunfähig. (Der Niedergang der totalitären Herrschaft in der Sowjetunion wie auch in China setzte in dem Moment ein, wo die Regime aufhörten, Innenpolitik als permanenten Bürgerkrieg zu inszenieren.)

Zum Zweiten muss das Kollektiv in sich eine religiöse Dimension aufweisen, die der Existenz seiner Mitglieder einen Bezug zum Transzendenten, zum Ewigen und Göttlichen – mit einem Wort: einen Sinn – verschafft. Totalitäre Ideologie und Herrschaft wird daher regelmäßig utopistischen Charakter haben: Ziel kann die Welterlösung durch den Kommunismus (oder auch den Islam) sein, oder die Errichtung des tausendjährigen Reiches einer heroischen Kriegergemeinschaft, oder was auch immer. Nur eines muss es auf jeden Fall sein: gigantisch.

Beide Aspekte des Totalitarismus erfordern, wenn sie in ein und derselben Ideologie vereint sein sollen, nicht irgendeinen, sondern den totalen Feind, dessen Vernichtung gleichbedeutend mit der Verwirklichung der Utopie ist. Totalitäre Ideologien – man erkennt sie geradezu daran – sind als Endkampf zwischen Gut und Böse konzipiert, weisen mithin eine apokalyptische Struktur auf.

Das Dritte Reich versteht man am besten, wenn man es als eine apokalyptische Massensekte auffasst: mit „Deutschland“ als Gottheit, dem „Führer“ als Messias, der „Volksgemeinschaft“ als Gemeinschaft der Gläubigen. Wie das in Religionsgemeinschaften so ist, gibt es ein Zentrum von Priestern und Theologen, und um dieses Zentrum in konzentrischen Kreisen die engagierten Laien, die frommen Kirchgänger und die im Alltag nicht ganz so Gläubigen, die aber die Theologie ihrer Kirche im Prinzip akzeptieren, jedenfalls nicht dagegen aufbegehren. Ganz am Rande die wenigen, die wirklich nur Zwangsmitglieder sind. Und außerhalb der Sekte: der Feind.

Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass die einfachen Gläubigen, die Kirchgänger und die nur ein bisschen Gläubigen genauso zur Religionsgemeinschaft gehören wie die Priester und Theologen, ja dass der Klerus ohne die Laien gar nicht existieren kann. Die „150-prozentigen Nazis“, von denen sich Welzers Gesprächspartner naserümpfend distanzieren, hätten ohne die „guten Deutschen“, die „nur ihre Pflicht taten“, keinen Moment an der Macht bleiben können, und da genügte nicht der passive Gehorsam, es bedurfte schon einer grundsätzlichen Bejahung des Nationalsozialismus.

Auf das Verhältnis beider Gruppen trifft das zu, was ich in anderem Zusammenhang über das Verhältnis von Gemäßigten und Extremisten geschrieben habe:

Man macht sich überhaupt zu wenig klar, wie sehr jeder Extremismus von den ‚Gemäßigten’ lebt: Eine Gruppe wie die RAF hätte niemals entstehen können ohne eine gemäßigte Linke, die ihr die ideologischen Versatzstücke lieferte und aus der sich der Terrornachwuchs rekrutierte. Ein Drittes Reich hätte nie existieren können ohne den ganz normalen Antisemitismus des Durchschnittsdeutschen. Eine ETA, eine IRA, eine Hamas, eine Hisbollah schwimmen in ihrem ‚gemäßigten’ Umfeld wie der Fisch im Wasser.
Alleine das Wort ‚gemäßigt’ ist bezeichnend: Gemäßigt sein kann man ja nur in Bezug auf einen Extremismus, der damit gleichsam zum Normalzustand erklärt wird, und die ‚Mäßigung’ besteht eben darin, von dessen Zielen ein paar Abstriche zu machen, eventuell auch die Methoden abzulehnen (…wobei man aber doch verstehen müsse, dass…). Ein Gemäßigter ist jemand, der die Prämissen der Extremisten teilt und nur vor den Konsequenzen zurückschreckt.“

Die Opa-war-kein-Nazi-Legende führt nicht nur zu einem schiefen Geschichtsbild. Sie führt dazu, dass man totalitäre Ideologien nicht als solche durchschauen kann. Normalerweise erkennt man sie an ihrem religiösen Charakter: an ihrer Selbstimmunisierung gegen Kritik durch Bezugnahme auf nicht hinterfragbare Prämissen, auch auf Zirkelschlüsse, an utopischen Heilslehren, an der Fingierung eines absoluten Feindes (des „Bösen“) – mit einem Wort: an ihrer Struktur, nicht an konkreten Inhalten. Was Sebastian Haffner über Hitler schrieb, nämlich dass die Prämissen seiner Weltanschauung unoriginell waren, trifft auf alle totalitären Ideologien zu. Totalitär werden diese Prämissen erst durch die immanente Logik, nach der sie verknüpft werden.

Indem die politische Linke den Begriff des Totalitären auf den Index gesetzt und stattdessen den des „Faschismus“ favorisiert hat, hat sie das Ihre dazu beigetragen, solche Zusammenhänge zu verunklaren. „Antifaschismus“ bedeutet nämlich, gerade nicht die Strukturen einer Ideologie zu kritisieren, sondern einzelne inhaltliche Versatzstücke, etwa Rassismus, Nationalismus oder Militarismus (was immer das im Einzelfall sein mag) aus dem Zusammenhang zu reißen und für per se „faschistisch“ (und das heißt: „böse“) zu erklären.

Eine solche ideologische Disposition enthält bereits in sich ein totalitäres Element, insofern politische Diskurse nicht mehr durch die Unterscheidung „Wahr/Unwahr“ strukturiert werden, sondern durch „Gut/Böse“. Wahrheiten können dann als „böse“ stigmatisiert, Unwahrheiten als „gut“ (oder auch „politisch korrekt“) für sakrosankt erklärt werden. „Antifaschistisch“ mag ein solcher Diskurs sein, antitotalitär ist er – wegen seiner religiösen Struktur – gerade nicht, und mit einem liberalen Begriff von öffentlichem Diskurs ist er schlechterdings unvereinbar.

Dabei verstärken der Gut/Böse-Diskurs und die Opa-war-kein-Nazi-Legende sich gegenseitig: Wenn der Nationalsozialismus schlicht und einfach „das Böse“ war, dann kann der gute Opa kein Nazi gewesen sein, und wenn Opa kein Nazi war, dann braucht man nach den Ursachen und der Funktionsweise des Dritten Reiches nicht mehr zu fragen, sondern kann sich darauf beschränken, „das Böse“ zu bekämpfen, indem man bestimmte Meinungen bekämpft, die man für faschistisch hält.

Wozu ein derart unredlicher Umgang mit der Vergangenheit führen kann, zeigt sich im Zusammenhang mit dem Thema „Antisemitismus“. In Welzers Studie haben die Angehörigen der Enkelgeneration den offensichtlichen und selbstverständlichen Antisemitismus ihrer Großeltern nicht nur nicht wahrgenommen (zumal letztere selbstredend betonen, dass sie ja persönlich nichts gegen Juden hätten), sie haben sie teilweise auch noch zu Judenrettern befördert.

Den Enkeln scheint dies plausibel, weil die Großeltern ja angeblich keine persönlichen Vorurteile gegen Juden hatten. Auf diese Weise wird Antisemitismus bagatellisiert als x-beliebiges soziales Vorurteil von der Sorte, wie man sie auch gegen Obdachlose oder Homosexuelle hegen kann. (Auf wissenschaftlicher Ebene findet sich diese Einstellung in Wilhelm Heitmeyers Studien zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“, die als Syndrom jede nur erdenkliche Art von sozialem Vorurteil umfasst, unter „ferner liefen“ auch den Antisemitismus). Vorurteile dieser Art gibt es aber, seit es Menschen gibt. Wenn man Antisemitismus nur deshalb bekämpft, weil er unter anderem auch gruppenbezogene Vorurteile enthält, und weil man Vorurteile schlechthin für faschistisch hält, dann verlegt man die Ursachen für gesellschaftliche Fehlentwicklungen (wie z.B. die Entstehung des Dritten Reiches) in die Köpfe der Menschen, denen es mithin das „alte Denken“ und das „falsche Bewusstsein“ auszutreiben gilt. Die politische Konsequenz aus einer solchen Ideologie ist die Forderung nach Gehirnwäsche.

Natürlich haben sich die Nationalsozialisten bestehende soziale Vorurteile gegen Juden zunutze gemacht. Charakteristisch für den nationalsozialistischen Antisemitismus war aber nicht bloße Abneigung aufgrund von Vorurteilen, sondern die Konstruktion „des Juden“ als des totalen Feindes, der nicht nur aus der Gesellschaft, sondern geradezu aus Menschheit hinausdefiniert wurde. „Der Jude“ war für die Nazis die säkularisierte Version des Antichristen. Eine solche ideologische Feindkonstruktion ist aber nicht die bloß graduelle Steigerung eines Vorurteils, sondern etwas qualitativ anderes. Und es war derjenige Punkt ihrer Ideologie, an dem deren totalitärer Charakter so greifbar war wie nirgendwo sonst.

Die Deutschen, die „persönlich“ nichts gegen Juden hatten, haben die Ausgrenzung und Vernichtung der Juden, wenn nicht im Einzelfall gewollt, so doch billigend in Kauf genommen, weil die Denkfigur, wonach „der Jude“ der Feind sei, schon seit dem frühen Mittelalter eine kulturelle Selbstverständlichkeit darstellte, die die Nazis bloß noch zu aktualisieren und politisch aufzuladen brauchten.

Wer natürlich glaubt, Antisemitismus sei bloß ein Vorurteil, und wer keine Vorurteile gegen Juden habe, sei auch kein Antisemit, braucht sich weder mit Opas Antisemitismus auseinanderzusetzen noch mit dem eigenen. Da kann man durchaus der Meinung sein, die Vernichtung des Staates Israel sei der Schlüssel zum Weltfrieden, und sich einbilden, mit Antisemitismus habe das nichts zu tun – schließlich habe man persönlich ja nichts gegen Juden.

Der Fairness halber muss man natürlich eines zugestehen: Den Nationalsozialismus als deutsches Nationalprojekt zu interpretieren heißt erklären zu müssen, warum die meisten Deutschen sich damals für dieses Projekt begeisterten. Erklären heißt in einem solchen Zusammenhang aber auch: verstehen. Und vom Verstehen zum Rechtfertigen ist es nur ein kleiner Schritt.

Ich vermute, dass die Unredlichkeit, mit der in unserem Land über die damalige Zeit gesprochen wird, auch mit einem psychologisch nachvollziehbaren Abwehrbedürfnis zusammenhängt: Man will auf keinen Fall irgendeinen Gedanken hegen oder gar äußern, der sich auch nur irgendwie als Rechtfertigung des NS-Regimes lesen ließe, und nimmt lieber ein schiefes und in seinen politisch-ideologischen Implikationen hochproblematisches Geschichtsbild in Kauf.

Das ist nicht unsympathisch. Wer aber solche Anstrengungen unternehmen muss, um sich nicht selbst der Sympathie mit dem Nationalsozialismus verdächtigen zu müssen, erweckt den Verdacht, dass er etwas verdrängt. Es könnte sein, dass viele von uns Deutschen sich mit dem Deutschland Hitlers emotional viel stärker identifizieren, als sie selber wahrhaben wollen.

Wolfgang Wippermann: „Autobahn zum Mutterkreuz: Historikerstreit der schweigenden Mehrheit“

(Rezension)

Manchmal bin ich etwas schwer von Kapee. Ich habe ein halbes Jahr gebraucht zu begreifen, dass der Fall Eva Herman mehr und etwas anderes war als nur eine kuriose Episode, bei der alle Beteiligten sich nach Kräften blamiert haben. Es war ein Ereignis, das schlaglichtartig den geistigen Zustand unserer Gesellschaft erhellt hat. In dieser Einsicht stimme ich überein mit dem Berliner Historiker Wolfgang Wippermann, dem ich sie verdanke. Allerdings ist dies auch fast der einzige Punkt, in dem ich seine Meinung teile.

Zur Erinnerung: Eva Herman war in den letzten Jahren mit betont feminismuskritischen Büchern an die Öffentlichkeit getreten („Das Eva-Prinzip“), in denen sie vehement die klassischen konservativen Familienwerte verteidigte, insbesondere die „natürliche Bestimmung“ der Frau zur Mutterschaft. Wahrscheinlich eher schlicht im Gedankengang – ich weiß es nicht, ich habe ihre Bücher nicht gelesen – traf sie doch bei vielen Lesern einen Nerv; ihre Bücher jedenfalls verkauften sich sehr gut.

Und so hätte alles laufen können, wie es immer läuft, wenn Journalisten ihr Rezept zur Rettung der Gesellschaft präsentieren: Einige empören sich (in diesem Falle also die Feministinnen), andere sind begeistert (in diesem Falle die katholische Kirche), die Leser freuen sich, endlich schwarz auf weiß zu lesen, was sie ohnehin immer schon zu wissen glaubten, und bei Verlag wie Autorin klingeln die Kassen. Und alle lebten glücklich bis an ihr seliges…

Halt!

Nun tat Eva Herman etwas, was man in Deutschland nicht tut: Sie lobte das Dritte Reich.

Bei der Vorstellung ihres Buches „Das Arche Noah Prinzip“ pries sie – wie gehabt – Ehe, Familie und Mutterschaft, fügte diesmal aber sinngemäß hinzu, diese Werte seien unter Hitler hochgehalten worden (was ja an dessen negativen Seiten nichts ändere), später aber hätten die Achtundsechziger das alles mit Füßen getreten und zerstört.

Jetzt schlug die Stunde der Öffentlichkeit: Der NDR feuerte, die NPD feierte sie, die Presse gab sich staatstragend empört und der Zentralrat der Juden wehrte den Anfängen.

Das übliche Programm also, das immer dann abläuft, wenn jemand den Teppich hebt, unter dem wir Deutschen alles entsorgt haben, was unserem Selbstbild als geläuterte Demokraten zu widersprechen scheint, die aus der Geschichte gelernt haben, und wenn jemand öffentlich ausspricht, was nicht die meisten, aber auch nicht ganz wenige Deutsche denken, und was mit dem offiziösen Geschichtsbild wenig zu tun hat.

In dieser Situation hielt es der Talkshow-Moderator Johannes B. Kerner für angemessen, mit Herman das abzuziehen, was die Bloggerkollegin Eisvogel später „die Galileonummer“ nennen sollte: „Widerrufe!“

Eva Herman widerrief nicht, obwohl Wippermann, der bei dieser Gelegenheit auf der Bildfläche erschien, ihr mit der ganzen Autorität des anerkannten NS-Experten klarzumachen versuchte, dass Hitlers Familienpolitik Bestandteil seines Projekts zur Rassenzüchtung und Kehrseite seiner Vernichtungspolitik gegen „Fremdrassige“ gewesen sei.

Sie bestand in der zunehmend hitziger werdenden Diskussion darauf, nur das auszusprechen, was die meisten Menschen dächten, was aber von der „gleichgeschalteten Presse“ in die rechte Ecke gestellt werde. Als ihr vorgehalten wurde, das Wort „Gleichschaltung“ sei ein NS-belasteter Begriff, replizierte sie, der Begriff sei zwar damals verwendet worden,

„…aber es sind auch Autobahnen damals gebaut worden, und wir fahren heute drauf.“ (S.30)

Dieses zugegebenermaßen ziemlich blöde Argument für die Verwendung des Wortes „Gleichschaltung“ (mit derselben Logik könnte man auch Ausdrücke wie „Untermensch“ rechtfertigen) wurde von den übrigen Gesprächsteilnehmern als ein erneutes „Alles war ja auch nicht schlecht“ aufgefasst und mit Empörung quittiert. Der Moderator warf sie aus dem Studio mit dem ihn selbst blamierenden Satz:

„Autobahn – das geht halt nicht.“ (ebd.)

Und Eva Herman:

„Ich muss halt lernen, dass man über den Verlauf unserer Geschichte nicht reden kann, ohne in Gefahr zu geraten.“ (ebd.)

Sprach’s und ging.

Während sich viele Leserbriefschreiber und große Teile der Blogosphäre mit Eva Herman und ihren Thesen solidarisierten, bekam Wippermann, der sie kritisiert hatte, Tausende von Zuschriften, in denen er nicht nur kritisiert, sondern auch beschimpft, beleidigt und bedroht wurde: „Volksschädling“, „Ratte“, „Judenknecht“, „widerliche Kreatur“.

Das Buch, das er jetzt über die Herman-Kontroverse vorgelegt hat, dürfte also im Zorn geschrieben worden sein – das sei dem Autor zugutegehalten. Trotzdem – oder gerade deshalb – ist dieses Buch selbst mindestens so aufschlussreich wie die Ereignisse, die es beschreibt. Man bekommt jedenfalls nur selten die Gelegenheit, die Funktionsweise der Political Correctness an einem solchen Prachtexemplar zu demonstrieren; und ich wäre nicht ich selbst, wenn ich mir diese Gelegenheit entgehen ließe.

Wippermanns Kritik gilt vor allem demjenigen Teil der deutschen Bevölkerung, den er selbst bereits im Untertitel und dann mehrere Dutzend Mal im Text „die schweigende Mehrheit“ nennt. Dabei lässt er offen, ob er damit ironisch auf das Selbstverständnis des genannten Personenkreises anspielen will, oder ob er buchstäblich eine Mehrheit meint. Solch unklare Begrifflichkeit – wir werden noch in anderen Zusammenhängen darauf stoßen – ist bei einem Wissenschaftler auch dann ein schwerwiegender Lapsus, wenn er für die breite Öffentlichkeit schreibt und nicht für das Fachpublikum.

„‚Ich muss lernen, dass man über den Verlauf unserer Geschichte nicht reden kann, ohne in Gefahr zu geraten‘, erklärte Eva Herman kurz vor ihrem Abgang in der Kerner-Show am 9.Oktober 2007: Eine unfassbare und völlig unbegründete Behauptung.“ (S.81)

Unfassbar? Völlig unbegründet?

Eva Herman hatte wegen ihrer Äußerungen bereits ihren Arbeitsplatz verloren. Solche Sanktionen kann man für gut oder schlecht halten. Wer aber behauptet, es gebe sie nicht, lügt.

Es geht aber noch weiter:

Denn wer soll sie und andere in Gefahr bringen …? Hitler ist tot, und wir leben nicht in einer Diktatur ,sondern in einer Demokratie. In ihr herrscht die in der Verfassung geschützte … Meinungsfreiheit. Wer etwas anderes behauptet, hat ein Problem mit dieser Verfassung oder weiß einfach nicht, wovon er spricht.“ (ebd.)

Das ist wahrscheinlich die Ganz Hohe Schule der Political Correctness: Bestimmte Meinungen nicht nur zu ächten („Autobahn – das geht halt nicht.“), sondern gleichzeitig zu leugnen („unfassbar!“, „Völlig unbegründet!“), dass man sie ächtet. Nicht nur zu leugnen, dass man sie ächtet, sondern jeden, der wahrheitsgemäß behauptet, sie würden geächtet, als Narren oder Verfassungsfeind abzustempeln!

(Wohlgemerkt: Es geht hier nicht darum, ob diese oder jene Ansichten, etwa die von Eva Herman, richtig oder falsch sind. Auch nicht darum, ob ihre Ächtung gut oder schlecht ist. Es geht um das Faktum der Ächtung an sich.)

Diese Ächtung nimmt dabei nur selten so handfeste Formen an wie den Verlust des Arbeitsplatzes. Die „schweigende Mehrheit“, um mit Wippermann zu sprechen, hat vielmehr das zutreffende Gefühl, bestimmte Auffassungen würden „in die rechte Ecke gestellt“, also als unseriös und unmoralisch aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzt. „Öffentlich“ ist dabei derjenige Diskurs, der von Meinungseliten geführt wird. Damit meine ich den Kreis derjenigen Personen, die von der Mediensoziologie „virtuelle Meinungsführer“ genannt werden, das heißt Personen, die den informellen Status von Repräsentanten der Gesellschaft bzw. einzelner Gesellschaftssegmente genießen; die als solche regelmäßig Zugang zu den Medien und somit die Chance auf öffentliche Artikulation haben; und die in den Medien das vollführen, was man den „öffentlichen Diskurs“ nennt. Gesellschaftliche Strömungen, die in den Meinungseliten nicht repräsentiert sind bzw. deren Repräsentanten ausgeschlossen werden, müssen als ausgegrenzt gelten. Es ist also nicht etwa so, dass der Normalbürger nicht sagen könnte, was er denkt – insofern ist das Wort „Meinungsdiktatur“ zu Kennzeichnung der Political Correctness tatsächlich irreführend -, er ist „nur“ mit bestimmten Ansichten vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossen.

Wer zur Meinungselite gehören will, tut also gut daran, geächtete Meinungen für sich zu behalten. Wer das nicht tut, bekommt bestenfalls die Chance, den Galileo zu machen – so wie Günther Oettinger. Wer diese letzte Chance verpasst, wie Martin Hohmann oder eben Eva Herman, der ist draußen. Die physische Verbannung von Eva Herman aus dem Fernsehstudio – und damit aus dem Kreise der legitimerweise Diskutierenden – hat diesen Vorgang ungewöhnlich anschaulich gemacht und ist von den Zuschauern instinktiv als symbolträchtig empfunden worden.

Der darauf folgende Aufstand der Blogosphäre hat aber eines sichtbar gemacht: dass den bisherigen Meinungseliten das Definitionsmonopol darüber entgleitet, welche Themen und Meinungen gesellschaftsfähig sind und welche nicht. War auch bisher schon die „Öffentliche Meinung“ identisch mit der veröffentlichten, so hat das Internet die Lage insofern verändert, als nun Jeder veröffentlichen kann.

Volkes Stimme gab es schon immer; an jedem Stammtisch war sie zu hören. Der kleine Kreis des Stammtisches (des Familiengesprächs, des Klönens in der Kaffeepause) stellte aber keine Öffentlichkeit dar. Erst das Internet macht aus Volkes Stimme eine öffentliche Stimme. Die „schweigende Mehrheit“ schweigt nicht mehr, und das Volk hat nicht nur eine Stimme, es weiß vor allem, dass es eine hat.

Wippermann hat diesen Sachverhalt völlig richtig erkannt und in gewissem Sinne Pionierarbeit geleistet, indem er die Reaktion der Blogosphäre auf die Herman-Affäre systematisch ausgewertet und damit ihrem wachsenden Einfluss auf die öffentliche Meinung Rechnung getragen hat.

Freilich bewertet er diesen Einfluss vom Standpunkt einer um ihre Deutungshoheit bangenden Meinungselite ausschließlich negativ. Zu fragen ist, ob er damit Recht hat.

Es stimmt ja, dass sich Fehlinformationen im Internet rasend schnell verbreiten, ohne dass es einen wirksamen Filter gäbe, und dass gerade Verschwörungstheoretiker jeder Couleur das Internet als Baukasten benutzen, aus dem sie die Klötzchen für ihre jeweiligen Wahngebäude beziehen. Wahrscheinlich gibt es keine noch so verrückte Idee, für die man im Netz nicht eine Fangemeinde zusammentrommeln könnte. Soweit Wippermann dies feststellt, liegt er durchaus richtig.

Nur richtet seine Kritik sich nicht gegen irgendwelche UFO-Sekten, sondern dagegen, dass gesellschaftlich weitverbreitete Ideen öffentlich artikuliert werden. Liberal wird man einen solchen Standpunkt nicht nennen können. Demokratisch schon gar nicht.

Deswegen allein muss er aber noch nicht falsch sein: Es ist Konsens, dass die Meinungsfreiheit eingeschränkt werden sollte, wo ihr hemmungsloser Gebrauch zur Gefährdung eben jener demokratischen Ordnung führen würde, die die Meinungsfreiheit garantiert. Unsere Verfassung kennt dieses Prinzip als das der „wehrhaften Demokratie“. Unter diesem Gesichtspunkt – aber auch nur unter diesem! – lässt es sich rechtfertigen, bestimmte Meinungen als demokratiefeindlich vom seriösen Diskurs auszuschließen.

Welche Auffassungen möchte Wippermann gerne ausgeschlossen sehen? Zunächst die, die die „guten Seiten“ des Nationalsozialismus thematisieren:

„Alles war ja auch nicht schlecht damals: Jeder hatte Arbeit, man konnte sich nachts auf die Straße trauen, für Familien wurde noch etwas getan, Mütter waren noch geachtet, es herrschte Ordnung, und außerdem hat Hitler die Autobahn gebaut.“

(Das ist kein wörtliches Zitat, sondern die Zusammenfassung von Äußerungen Eva Hermans und ihrer Sympathisanten, die Wippermann für gefährlich hält.)

Da stelle mer uns janz dumm und fragen: Stimmt denn dat überhaupt?

Sicher gibt es Einiges zu differenzieren, aber im Großen und Ganzen stimmt das durchaus. Um mit den Autobahnen zu beginnen, weil sie in der Debatte eine besondere Rolle gespielt haben („Autobahn – das geht halt nicht!“), und weil Wippermann hier mit Gegenargumenten aufwartet:

Es habe bereits in Amerika und Italien Highways und Autostradas gegeben; womit nur eine Behauptung widerlegt ist, die niemand aufgestellt hat, nämlich dass die Nazis die Autobahnen erfunden hätten. Außerdem habe es in Deutschland bereits die Berliner AVUS gegeben (rund zehn Kilometer lang) und die Autobahn Köln-Bonn (noch so eine gigantische Fernstrecke). Die Nazis hingegen seien hinter ihren Planungen zurückgeblieben, indem sie in den sechs Jahren bis Kriegsbeginn lediglich 3000 Autobahnkilometer fertiggestellt hätten (während des Krieges kamen dann noch einmal 800 Kilometer hinzu), während die alte Bundesrepublik

„…bereits 1980…“ (S.71)

(also 31 Jahre nach ihrer Gründung) 8000 Autobahnkilometer hatte – wobei offenbleibt, wieviel davon aus der Zeit vor 1945 stammte. Dem Autor scheint gar nicht aufzufallen, dass seine eigenen Zahlen dem Dritten Reich ein mindestens doppelt so hohes Bautempo bescheinigen wie der Bundesrepublik (3000 Kilometer in sechs Jahren versus 8000 Kilometer – minus X – in 31 Jahren) und damit genau das Gegenteil von dem beweisen, was sie beweisen sollen. Das ist durchaus kein Grund, Hitler zu feiern, wohl aber einer, dem Autor eine schlampige und willkürliche Argumentation anzukreiden.

Was den Schutz vor Kriminalität angeht: Da fehlen mir die statistischen Daten. Gut möglich, dass die drakonische Justizpolitik des Regimes, verbunden mit seiner Propaganda, dem Durchschnittsdeutschen mehr Sicherheit vorgaukelte als nach der Kriminalstatistik gerechtfertigt war; dass also das Sicherheitsgefühl größer war als die tatsächliche Sicherheit. (Was aber nichts daran ändert, dass bereits die Illusion – falls es denn eine war – von Sicherheit als wohltuend empfunden wurde).

Darüberhinaus ist es eine schlichte Tatsache, dass unter Hitler die Arbeitslosigkeit innerhalb von nur drei Jahren von sechs Millionen auf Null reduziert wurde, und zwar mithilfe einer Politik massiver kreditfinanzierter Staatsnachfrage. Diese Art Konjunkturpolitik avancierte nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Titel „Keynesianismus“ zur Hauptströmung wirtschaftspolitischer Theorie.

Und zutreffend ist auch, dass die Nazis vom Ehestandsdarlehen bis zum Mutterkreuz alle Register zogen, die Menschen zum Kinderkriegen zu animieren und dabei das Sozialprestige der Mütter zu heben.

Wippermann bestreitet das alles auch nicht direkt. Er weist nur – und zu Recht – darauf hin, dass Alles, was die Nazis taten, also auch die Autobahn, das Mutterkreuz, die Konjunkturpolitik (Aufrüstung!) im Dienste ihres monströsen Gesamtprojekts stand, eine „arische Herrenrasse“ zu züchten und gestützt auf einen totalitären Staat die Weltherrschaft zu erringen, und dass es deshalb bestenfalls naiv wäre, einzelne Aspekte als vermeintlich „gute Seiten“ des Dritten Reiches isoliert zu betrachten. Ein durchschlagendes Argument – freilich nur gegen Neonazis, die auf eine Neuauflage des Nationalsozialismus hinarbeiten.

Dagegen kann ich nicht erkennen, dass wirtschaftspolitische, bevölkerungspolitische oder verkehrspolitische Instrumente, die von den Nationalsozialisten in einem rassistischen und totalitären Zusammenhang eingesetzt wurden, diesen Kontext naturgemäß in sich trügen, deshalb niemals im Rahmen einer demokratischen und friedlichen Politik einsetzbar wären und daher für alle Zeiten tabu bleiben müssten:

Warum finanzielle oder ideelle Anreize – es muss ja nicht gerade das Mutterkreuz sein – zum Kinderkriegen etwas Schlechtes sein sollen, erschließt sich mir nicht. Zumal die Überalterung unserer Gesellschaft ein ernstes Problem darstellt, und das nicht nur für die Rentenkassen.

Oder nehmen wir die Wirtschaftspolitik: Angesichts einer seit dreißig Jahren andauernden Massenarbeitslosigkeit ist es legitim zu fragen, was von einer Politik zu lernen wäre, die eine doppelt so hohe Arbeitslosigkeit in nur drei Jahren beseitigt hat. Ich persönlich glaube zwar nicht, dass eine auf extremen Staatskonsum setzende Wirtschaftspolitik, noch dazu verbunden mit einer nicht minder extremen Verschuldung, heutzutage eine sinnvolle Option wäre. Nur ist das eine ökonomische, keine moralische Frage. (Bemerkenswert übrigens, dass die politische Linke, die ein solches Konzept verfolgt, nicht darauf hinweist, dass damit schon einmal Vollbeschäftigung erzielt wurde; offenbar verzichtet sie lieber auf ein erstklassiges Argument, als etwas Positives über Hitler zu sagen. Man könnte es beinahe edel finden, wenn es nicht so dämlich wäre.)

Und der Normalbürger, der die Autobahn lobt: Will der denn eine Neuauflage des NS-Regimes? Oder, allgemeiner gefragt: Warum spricht er über die seiner Meinung nach „guten Seiten“ der Nazizeit?

Dieses „Warum“ hat zwei Aspekte: Den objektiven – Wie kommt es, dass so viele Menschen so denken? – und den subjektiven – Was veranlasst sie, sich gerade so zu äußern?

Der Soziologe Harald Welzer hat in seiner Studie „Opa war kein Nazi“ empirisch untersucht, wie Geschichtsbilder über die NS-Zeit entstehen, und zwar an der Basis der Gesellschaft, speziell im familiären Diskurs.  

Er hat nachgezeichnet, wie dabei zwei Weltbilder aufeinandertreffen, die es aus der Sicht des Einzelnen in Einklang zu bringen gilt: Einmal das gleichsam offizielle Geschichtsbild, das auf den Ergebnissen der historischen Forschung aufbaut, die Repressivität und Grausamkeit nationalsozialistischer Ideologie und Praxis herausarbeitet und deren Totalverurteilung nahelegt. Zum anderen das Geschichtsbild der damaligen Durchschnittsdeutschen, das auf deren subjektiver Erfahrung beruht und innerfamiliär durch die Erzählungen der älteren Generation weitergegeben wird.  

Diese „Geschichte“ kann mit der der Historiker nicht übereinstimmen, weil sie aus einer ganz anderen Perspektive erzählt wird: aus der Perspektive dessen, der die Dinge nicht von oben analysiert, sondern von unten erlebte, und der dabei kein Jude, nicht schwul, kein Sozialist und kein avantgardistischer Künstler war – des Durchschnittsdeutschen eben. Und der fühlte sich, zumindest vor Kriegsausbruch, unter der Naziherrschaft alles in allem ziemlich wohl. Wäre es anders gewesen, hätten die Nazis niemals die loyale, teilweise begeisterte Unterstützung einer großen Mehrheit der Deutschen bekommen können. Warum aber fühlten die sich wohl? Nun, unter anderem wegen der Vollbeschäftigung, des Sicherheitsgefühls, der Familienförderung, der optimistischen Zukunftserwartungen (Autobahn!) usw., also aus genau den Gründen, die heute noch als „gute Seiten“ des NS-Regimes angeführt werden.  

Natürlich wusste auch der Normalbürger, dass Juden verfolgt wurden, und dass es Konzentrationslager und eine Gestapo gab – es interessierte ihn bloß nicht. Es interessierte ihn nicht, weil seinen Bedürfnissen nach Sicherheit, Ordnung und bescheidenem Wohlstand Rechnung getragen wurde. Man kann das unmoralisch finden, aber es ist genau das Verhalten, das im Normalfall von normalen Menschen zu erwarten ist. Auch wenn es einem nicht gefällt und man es nicht wahrhaben möchte: Menschen sind so.  

Problematisch wird diese Disposition in dem Moment, wo ein totalitäres regime sie ausnutzt. Sie ist aber nicht per se etwas Schlechtes: Der konformistische Bürger, der seine Steuern bezahlt, seine Familie mit eigener Arbeit ernährt, seine Kinder großzieht, der sich um seinen eigenen Kram kümmert und sich an die Gebote der konventionellen Moral hält – der ist bestimmt weniger interessant, oft auch weniger sympathisch als der Individualist, Nonkonformist, Utopist, Abenteurer, Philanthrop, Bonvivant, Künstler oder Bohemien. Aber er ist Derjenige, der die Gesellschaft funktionsfähig hält. Anders gesagt: Der Konformismus des Konformisten ist die Voraussetzung dafür, dass so etwas wie der Nonkonformist überhaupt existieren kann.  

Genau diesen Personenkreis meint Wippermann, wenn er von der „schweigenden Mehrheit“ spricht, die am Dritten Reich „gute Seiten“ findet, und der er deshalb eine faschistische Disposition unterstellt, statt nach ihren Motiven zu fragen.  

Was beinhaltet denn die Aussage, alles sei ja auch nicht schlecht gewesen, verbunden mit den einschlägigen Beispielen?  

Erstens kommt darin ein Bedürfnis nach Sicherheit, Ordnung und Wohlstand zum Ausdruck,  

zweitens die Kritik, dass diese Bedürfnisse heutzutage nicht berücksichtigt würden,  

drittens die Meinung, unter Hitler sei ihnen stärker Rechnung getragen worden.  

Beginnen wir beim dritten Punkt: Die Nazis haben dem tatsächlich Rechnung getragen, freilich nur, um die Voraussetzungen für ein Projekt zu schaffen, das mit Ordnung, Sicherheit und Wohlstand nicht das Geringste zu tun hatte, vielmehr chaotisch, riskant und ruinös war. Sie haben die braven Bürger ganz einfach hinters Licht geführt; und die wissen das auch sehr genau. Um Eva Herman zu zitieren:  

„… es war ’ne grausame Zeit, das war ein völlig durchgeknallter, hochgefährlicher Politiker, der das deutsche Volk ins Verderben geführt hat…“ (S.19)  

Wippermann scheint solche Distanzierungen (man kennt sie auch in anderen Varianten, etwa: Wenn das mit den Juden und mit dem Krieg nicht gewesen wäre…) für bloße Lippenbekenntnisse zu halten, dabei bringen sie zum Ausdruck, dass das NS-Regime in genau denjenigen Punkten abgelehnt wird, die spezifisch nationalsozialistisch waren; damit wird gerade keine ideologische Sympathie formuliert.  

Was damit aber formuliert wird, ist das Unbehagen des Normalbürgers an unserer Gesellschaft, und da Wippermann es vorzieht, dieses Unbehagen als faschistisch zu verdächtigen, statt nach seinen Ursachen zu fragen, frage jetzt ich danach:  

Es ist nämlich eine gut gesicherte soziologische Erkenntnis, ja geradezu ein Gemeinplatz, dass es in allen westlichen Gesellschaften einen Trend weg von den sogenannten „Pflicht- und Akzeptanzwerten“, hin zu den „Selbstentfaltungswerten“ gibt.  

In Deutschland begann der zunächst schleichend Anfang des 20. Jahrhunderts, erfuhr einen ersten Schub in den zwanziger und erlitt Rückschläge in den dreißiger bis fünfziger Jahren, um sich dann ab den sechziger Jahren vollends durchzusetzen.  

Dieser Trend bedeutet, dass die Menschen weniger danach fragen, was „man“ tut, sondern was sie selbst tun wollen; die persönliche Freiheit ist im Zweifel wichtiger als die soziale Pflicht. Es heißt keineswegs den damit verbundenen Gewinn an individueller Autonomie geringzuachten, wenn man auf die Kehrseite dieses Prozesses hinweist:  

Ich habe es oben schon angedeutet: Der Zusammenhalt der Gesellschaft und ihr Fortbestand hängen wesentlich nicht von der „Selbstentfaltung“ des Einzelnen ab, zumal die auch mit Egoismus und Hedonismus einhergehen kann. Sie hängen genau von den erodierenden Pflicht- und Akzeptanzwerten ab.  

Die Gesellschaft existiert als solche nur so lange, wie Steuern bezahlt, Normen respektiert, Gesetze eingehalten und Kinder großgezogen werden. Die U-Bahn lebt nicht vom Schwarzfahrer, sondern von dem, der sein Ticket bezahlt. Der Sozialstaat lebt von denen, die ihn finanzieren, nicht von denen, die ihn in Anspruch nehmen. Selbst die Toleranz – gewiss eine hohe Tugend – lebt von denen, die sie selbst üben, nicht von denen, die sie einfordern und mutwillig strapazieren. Die Demokratie lebt von Wählern, die auch unangenehme, aber notwendige Entscheidungen akzeptieren, die Wirtschaft von Arbeitnehmern, die nicht beim ersten Husten den Krankenschein nehmen.  

Die Dominanz von „Selbstentfaltungswerten“ dagegen führt dazu, dass eine wachsende Zahl von Menschen es für ihr natürliches Recht hält, Steuern zu hinterziehen, Graffiti zu sprühen, schwarzzufahren, ihre Mitmenschen anzupöbeln, die schwangere Partnerin zur Abtreibung zu nötigen, bei der ersten Ehekrise auseinander zu rennen und obendrein stolz darauf zu sein, nicht über „Sekundärtugenden“ zu verfügen, weil man mit denen „auch ein KZ leiten“ könne. Wäre Kennedys Aufforderung „Fragt nicht was Euer Land für Euch tun kann, sondern was Ihr für Euer Land tun könnt“ von einem deutschen Politiker ausgesprochen worden – wir können sicher sein, dass die als Antifaschismus getarnte Asozialität sie mit einem „Wehret den Anfängen!“ quittiert hätte.  

Die von Wippermann so genannte „schweigende Mehrheit“ – ob sie tatsächlich eine Mehrheit ist, lasse ich dahingestellt – jener rückständigen Menschen, die nicht nur ihre „Selbstentfaltung“ im Kopf haben, hat das vollkommen zutreffende Gefühl, dass sie die Zeche für die Selbstentfaltung Anderer zahlt. Dieser schweigenden Mehrheit geht es um stärkere Verbindlichkeit sozialer Normen und um größere soziale Anerkennung für diejenigen, die für diese Gesellschaft etwas leisten, und damit formuliert sie ein völlig legitimes Interesse. Ein solcher Standpunkt ist konservativ. Ihn faschistisch zu nennen ist eine bösartige Verleumdung.  

Ich spreche bewusst von Verleumdung, nicht etwa von einem Irrtum. Es geht Wippermann nämlich nachweisbar nicht um die Bekämpfung faschistischer, sondern konservativer Positionen, und zwar mit dem klassischen Mittel linker Demagogie, nämlich durch das Schwingen der Faschismus-Keule.  

(Es sei angemerkt, dass es sich für einen seriösen Wissenschaftler von selbst verstehen sollte zu tun, was Wippermann wohlweislich unterlässt: nämlich einen so schillernden Begriff wie „Faschismus“ nur zu gebrauchen, wenn man zugleich offenlegt, auf welche der vielen Faschismusdefinitionen man sich bezieht. Dann freilich wäre das Wort nicht mehr so leicht als politische Waffe verwendbar.)  

Beweise?  

Er beklagt, dass  

„…es heute mehr um konservative und faschistische ‚Werte’ geht als um ihre Kritik…“ (S.10)  

– man beachte die Gleichsetzung und, als besonderes Bonbon, die Anführungszeichen im Text. Oder wie er sich mit Artikeln von Eva Herman auseinandersetzt:  

„Noch nicht Faschismus, aber in eine bedenkliche Nähe zu ihm gerät die Argumentation im ‚biologischen Kontext’. So, wenn von der ‚Entweiblichung der Frau’ und der ‚Entmännlichung der Herrenwelt’ gesprochen … wird.“ (S.16)  

Wer auf Nummer Sicher gehen will, nicht als Faschist entlarvt zu werden, meide diese „bedenkliche Nähe“.  

„Völlig sozialdarwinistisch ist die folgende Dekadenzthese: ‚So zieht eine hochzivilisierte Kultur wie die unsere sich selbst den Boden unter den Füßen weg, die Basis, die uns Halt im täglichen Überlebenskampf geben kann: die intakte Familie.’“ (S.17)  

„Sozialdarwinistisch“ ist bereits, wenn das Wort „Überlebenskampf“ erwähnt wird. So müssen wir uns wohl das vorstellen, was Wippermann seine  

„ideologiekritische … Methode“ (S.9)  

nennt. Da werden  

„extrem rechte Politiker wie Peter Gauweiler und Otto von Habsburg“ (S.24)  

und damit auch ihre Partei, die CSU, dem rechtsextremen Spektrum zugerechnet.  

Wippermann beschreibt zutreffen die Einstellung der Achtundsechziger zu konservativen Werten – Stichwort: Sekundärtugenden – und fährt fort:  

„Auch wenn man dabei zu weit gegangen ist und in jedem Konservativen einen zumindest potenziellen Faschisten gesehen und all diese Tugenden und Werte als faschistisch oder, um ein weiteres Modewort zu gebrauchen, als faschistoid bezeichnet und verworfen hatte, im Kern trifft es dennoch zu. Konservativismus und Faschismus waren politische Bundesgenossen und hatten gleiche oder zumindest vergleichbare ideologische Ziele.“ (S.6) [Hervorhebungen von mir, M.] 

Also zuerst eine scheinbare Distanzierung von diesem unsäglichen Quatsch – natürlich, er will sich ja nicht total blamieren -, um am Ende doch zuzustimmen. Nicht die einzige Stelle übrigens, wo er diesen schmierigen Kunstgriff anwendet. Fragt sich nur, wie redlich ein Autor sein kann, der sich von seinen eigenen Thesen distanziert, um nicht auf sie festgenagelt zu werden, sie dann aber trotzdem unter die Leute bringt.

Selbstverständlich gibt es einen Zusammenhang zwischen konservativen Werten und nationalsozialistischer Ideologie. Der besteht aber nicht darin, dass sie „gleiche oder zumindest vergleichbare ideologische Ziele“ gehabt hätten, sondern dass die Nazis sich auf konservative Werte beriefen, um sie in ihr Gegenteil zu verkehren. Oder, wie ich an anderer Stelle geschrieben habe:  

„Unter den totalitären politischen Ideologien halte ich im Zweifel die rechten für gefährlicher als die linken. Die extremen Linken machen sich selber das Leben schwer, indem sie Dinge versprechen, vor denen sich Jeder mit Grausen wendet, der etwas zu verlieren hat: Weltrevolution, Tabula Rasa, der Neue Mensch – und der Normalbürger denkt: Alles, nur das nicht! 

Die extremen Rechten sind gefährlicher, weil sie es auf genau diesen Normalbürger abgesehen haben. Die muten niemandem zu, ein “Neuer Mensch” zu werden, sie greifen einfach das auf, was sie an Ressentiments, Vorurteilen, Werten, Wunschträumen, Mythen und Ideologiefetzen in der Gesellschaft vorfinden, erklären es zu den “wahren Werten” des jeweiligen Gemeinwesens, erfinden einen Feind, der diese Werte angeblich angreift, stilisieren sich zu den besseren Konservativen, weil sie konsequent diesen “Feind” bekämpfen, und propagieren eine Ideologie, in die das alles hineinpasst. (…)Verführerisch sind solche Ideologien, weil ihre einzelnen Bestandteile populär sind, und weil der Normalbürger nicht unbedingt durchschaut, wohin es führt, wenn sie zu einem ideologischen System zusammengebunden werden.“  

Es gibt also tatsächlich die Gefahr, dass konservative Ideen von totalitären Ideologen scheinbar aufgegriffen, in Wahrheit aber zur Basis eines utopisch-revolutionären Projekts gemacht und damit in ihr Gegenteil verkehrt werden. Da es sich um die Pervertierung konservativer Werte handelt, spricht man in solchen Fällen von „Rechtsextremismus“, während die analoge Pervertierung emanzipatorischer Werte „Linksextremismus“ genannt wird. Wer deswegen eine Identität von Konservatismus und Faschismus behauptet, könnte ebensogut sozialdemokratisches und sogar liberales mit stalinistischem Denken in einen Topf werfen. Wer der Gefahr einer solchen Pervertierung  begegnen will, wird zwischen Konservatismus und Faschismus sorgfältig unterscheiden und dabei ideologiekritisch argumentieren müssen. Dabei bieten sich meines Erachtens mindestens drei Unterscheidungskriterien an:

Auf der Ebene der poltischen Ziele: Handelt es sich tatsächlich um ein Projekt der Bewahrung sozialer Werte und Strukturen, oder geht es um die Verwirklichung einer Sozialutopie, zum Beispiel die Züchtung einer Herrenrasse?  

Auf der Ebene der eingesetzten Mittel: Ist die gewaltsame Zerstörung des Bestehenden Voraussetzung für die Verwirklichung der Utopie, gibt es also ein apokalyptisches Moment?  

Auf der Ebene der Ideologie: Handelt es sich um ein totalitäres Gedankensystem, das heißt um eines, das den Anspruch auf umfassende Gesellschaftsdeutung und –gestaltung erhebt und sich gegen rationale Kritik durch seine Struktur immunisiert – etwa durch Bezugnahme auf religiöse Prämissen oder durch Zulassung von Zirkelschlüssen?  

Selbstverständlich ist es legitim, auch ganz andere Kriterien zu entwickeln, allerdings nur, sofern man dies begrifflich sauber, logisch widerspruchsfrei und intellektuell diszipliniert tut. Die von Wippermann betriebene plumpe Diffamierung missliebiger Meinungen jedenfalls gehört gottlob noch nicht zu den anerkannten Methoden wissenschaftlicher Ideologiekritik.  

Wir sehen also, dass es bei der Political Correctness, die Wippermann uns geradezu in Reinkultur vorführt, nicht darum geht, die Demokratie zu schützen (was allein die Ausgrenzung bestimmter Meinungen von einem liberalen Standpunkt aus rechtfertigen könnte), sondern darum, die ideologische Vorherrschaft der Linken dadurch abzusichern, dass man den von ihr missachteten Interessen des konservativen Normalbürgers die Legitimität abspricht und den politischen Ideen, in denen diese Interessen zum Ausdruck kommen, den Zugang zum Elitendiskurs verwehrt.

Problematisch daran ist nicht, dass überhaupt bestimmte Themen und Positionen aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen werden. Die gesellschaftliche Funktion sowohl der Medien als auch der Wissenschaft besteht vielmehr gerade darin, die Flut der anfallenden Informationen zu filtern und zu verarbeiten, und zwar nach jeweils systemeigenen Kriterien.

Dabei sortiert die Wissenschaft nach dem Kriterium „wahr/unwahr“ (wobei die Unterscheidung nach wissenschaftsspezifischen Regeln erfolgt), die Medien nach dem des öffentlichen Interesses: Was Keinen interessiert, wird nicht gesendet.

Normalerweise.

Die Kriterien aber, nach denen die etablierten Meinungseliten den Zugang gewähren bzw. verweigern, zeichnen sich gerade durch ihre Systemwidrigkeit aus: Es geht nämlich gar nicht darum, ob eine Meinung wahr oder unwahr bzw. von öffentlichem Interesse ist oder nicht.

Es handelt sich vielmehr um politische oder auch moralische, in jedem Fall aber systemfremde Kriterien, deren Anwendung zwangsläufig dazu führt, dass die Medien ihre gesellschaftliche Funktion, nämlich die der Selbstverständigung der Gesellschaft, nur noch eingeschränkt erfüllen.

Wir haben es hier, um es deutlich zu sagen, mit mutwilliger, politisch motivierter Sabotage eines zentralen gesellschaftlichen Funktionsbereiches zu tun: Die Meinungseliten missbrauchen ihre Monopolstellung und ihre Fähigkeit zur Selbstrekrutierung zum Zwecke politisch-ideologischer Herrschaft.

Es ist nur folgerichtig, dass diejenigen Teile der Gesellschaft, die auf diese Weise vom öffentlichen Diskurs ausgegrenzt werden, auf alternative Strukturen ausweichen, speziell auf das Internet, und dort einen Gegendiskurs führen. Und folgerichtig ist auch, dass dieser Gegendiskurs normalerweise weder wissenschaftlichen Wahrheitskriterien genügt noch in derselben Weise fundiert ist, wie es bei Positionen der Fall ist, die sich im Feuer der öffentlichen Kritik bewähren müssen.

Wie auch? Das Netz ist anarchisch, wie es übrigens auch der frühe Buchdruck war, und die leistungsfähigeren, weil differenzierteren Systeme Wissenschaft und Medien, die eine höhere Qualität hervorbringen könnten – die stehen ja nicht zur Verfügung!

Genau diesen Sachverhalt aber macht Wippermann der „schweigenden Mehrheit“ zum Vorwurf (als ob sie daran schuld wäre und nicht die ihre Macht missbrauchenden Meinungseliten, also Leute wie er!), wenn er wortreich beklagt, dass die Ausgrenzung von Eva Herman mit Vokabeln wie „Meinungsdiktatur“, „Gleichschaltung“ und – dies vor allem – „Verschwörung“ gegeißelt wird. Er sieht darin den Ausdruck einer massenhaft verbreiteten – na was wohl? – faschistischen Gesinnung.

Es scheint ihm durchaus nicht einzufallen, dass die Ursache der Kritik in den kritisierten Verhältnissen liegen könnte und nicht im schlechten Charakter der Kritiker – für einen Linken ein bemerkenswerter Standpunkt!

Dabei haben die genannten Ausdrücke mit Ideologie normalerweise wenig bis nichts zu tun; sie sind schlicht der Versuch, die beobachtete ideologische Konformität der Meinungseliten auf den Begriff zu bringen und zu erklären. Der konservative Normalbürger sieht sich der kafkaesken Situation gegenüber, dass Wahrheiten für unwahr und Unwahrheiten für wahr erklärt werden, dass Konservatismus als Faschismus denunziert wird, dass Zweifel daran als verwerflich zurückgewiesen werden, und dass seine Auffassungen im öffentlichen Diskurs nicht vorkommen – kurz und gut: dass die Selbstbeschreibung unserer Gesellschaft als „pluralistisch“ offensichtlich nur eingeschränkt der Wahrheit entspricht, dies aber von den Meinungseliten geleugnet wird.

Und nun steht er vor dem Problem, sich auf diesen mysteriösen Sachverhalt einen Reim zu machen, wobei ihm, auch wenn er gebildet ist, normalerweise nicht die analytischen Instrumente des Soziologen zur Verfügung stehen. Was tut er? Er greift zu den sich aufdrängenden Erklärungsmustern, und die sind naturgemäß verschwörungstheoretischer Natur. 

In einer solchen Situation, in der Verschwörungstheorien die scheinbar einzig adäquaten Erklärungsmodelle darstellen, kann es nicht ausbleiben, dass auch der Klassiker aller Verschwörungstheorien, nämlich die „jüdische Weltverschwörung“ bemüht wird – gerade in einer Gesellschaft, in der antisemitische Weltdeutungen über Jahrhunderte hinweg in immer neuen Varianten verinnerlicht worden sind, und in der solche Interpretationsmuster daher tief im kollektiven Unbewussten verankert sind.

Wippermann zitiert denn auch ausführlich aus antisemitischen Ergüssen, die im Zusammenhang mit der Herman-Affäre geschrieben worden sind. Er hat schon Recht: Sowohl die Akzeptanz von Verschwörungstheorien überhaupt, als auch deren besonders giftige antisemitische Version sind ernsthafte Gefahren für ein demokratisches Gemeinwesen, und ich selbst habe viele Seiten geschrieben, um zu zeigen, dass verschwörungstheoretisches Denken dem Totalitarismus Tür und Tor öffnet.

Was Wippermann aber nicht sieht, ist, dass Verschwörungstheorien nur dort benötigt und akzeptiert werden, wo die Welt undurchschaubar wird. Eine „Elite“, die die Menschen belügt statt sie aufzuklären, die zum Zwecke ideologischer Dominanz ihre Deutungsmacht missbraucht, die nicht mit Argumenten überzeugen, sondern mithilfe inquisitorischer Verdammungsurteile herrschen will, führt die Undurchschaubarkeit der Welt mutwillig herbei und darf sich nicht wundern, wenn sie die giftigen Früchte ihres Wirkens in Gestalt von Verschwörungstheorien und Antisemitismus erntet. Wippermanns Buch ist die larmoyante Bankrotterklärung einer Elite, die ihre Glaubwürdigkeit verspielt hat und sich nun beklagt, dass ihr niemand mehr glaubt.

Kleiner Hinweis

Da ich schon einige Zeit schweige, halte ich es für angebracht darauf hinzuweisen, dass ich nicht etwa im indischen Dschungel verschollen bin. Ich schreibe gerade an einer Rezension zu Wolfgang Wippermanns Buch „Autobahn zum Mutterkreuz: Historikerstreit der schweigenden Mehrheit“.

In diesem Buch setzt sich der Autor mit der Kontroverse um Eva Herman auseinander. Herausgekommen ist dabei ein solches Prachtexemplar an Political Correctness, dass ich gar nicht anders kann als es hingebungsvoll zu zerpflücken, den darin enthaltenen ideologischen Code als Machtcode zu dechiffrieren und mir nebenbei Gedanken darüber zu machen, wie ein kritisches, antitotalitäres Geschichtsbewusstsein aussieht, das nicht über die Stöckchen der Political Correctness springt.

Dementsprechend lang wird der Artikel ausfallen, und da ich ja auch noch andere Dinge zu tun habe als zu bloggen, dauert es eben seine Zeit. Ich hoffe aber, am Dienstag oder Mittwoch das Ergebnis veröffentlichen zu können. Bis dann!