(Rezension)
[Sämtliche Bücher von Harald Welzer gibt es HIER]
2002 erschienen, ist „Opa war kein Nazi“ bereits heute ein Klassiker, an dem niemand vorbeikommt, der wissen möchte, wie die Deutschen sich zu ihrer braunen Vergangenheit stellen. Tatsächlich stellen. Denn offiziell gibt es ja keinerlei Unklarheiten: Die „nationalsozialistische Gewaltherrschaft“, wie der politisch korrekte Terminus immer noch lautet, war ein durch und durch verbrecherisches und unmenschliches System. Der einzig zulässige Umgang damit ist eine Politik des „Nie wieder!“, die Lehre, die aus der Geschichte zu ziehen ist, lautet, konsequent für Demokratie, Frieden und Menschenrechte einzutreten. So weit das offizielle Geschichtsbild.
Wer in Deutschland lebt, weiß, dass dies nur die Vorderseite der Medaille ist, und dass auf der Rückseite vielleicht kein genau gegenteiliger, aber doch ein anderer Text steht. Als Eva Herman 2007 meinte, die vermeintlich „guten Seiten“ des Nationalsozialismus thematisieren zu müssen, wurde sie vom wissenschaftlichen, politischen und Medien-Establishment geprügelt, von vielen Normalbürgern aber vehement in Schutz genommen. Von Normalbürgern, deren Geschichtsbild ziemlich genau dem von Eva Herman entsprach, und die dieses Bild nicht (mehr) aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzt sehen wollten.
Wie derart unterschiedliche Versionen ein und derselben Geschichte zustande kommen – eine Elitengeschichte, eine Volksgeschichte -, darüber hat Harald Welzer eine grundlegende Hypothese entwickelt, die durch die Ergebnisse der Studie „Opa war kein Nazi“ erhärtet wurde: Er vermutet
„einen Unterschied im Bewusstsein über die Geschichte, der allzu oft übersehen wird, einen Unterschied zwischen kognitivem Geschichtswissen und emotionalen Vorstellungen über die Vergangenheit. Auf der Ebene emotionaler Erinnerungen scheinen sich Bindungskräfte und Faszinosa gegenüber der nationalsozialistischen Vergangenheit entfalten und erhalten zu können, die merkwürdig unverbunden mit dem Wissen über diese Zeit sind, und zwar über die Generationen hinweg. Metaphorisch gesprochen, existiert neben einem wissensbasierten ‚Lexikon’ der nationalsozialistischen Vergangenheit ein weiteres, emotional bedeutenderes Referenzsystem für die Interpretation dieser Vergangenheit: eines, zu dem konkrete Personen – Eltern, Großeltern, Verwandte – ebenso gehören wie Briefe, Fotos und persönliche Dokumente aus der Familiengeschichte. Dieses ‚Album’ vom ‚Dritten Reich’ ist mit Krieg und Heldentum, Leiden, Verzicht und Opferschaft, Faszination und Größenphantasien bebildert, und nicht, wie das ‚Lexikon’, mit Verbrechen, Ausgrenzung und Vernichtung.
(…)
Die Annahme, dass Geschichtsbewusstsein eine kognitive und eine emotionale Dimension hat, wird auch dadurch gestützt, dass das menschliche Gedächtnis mit unterschiedlichen Systemen für kognitive und emotionale Erinnerungen operiert, und nichts macht das greifbarer, als wenn man Angehörige der Zeitzeugengeneration, die ihre Vergangenheit ‚aufgearbeitet’ haben und der nationalsozialistischen Geschichte höchst kritisch gegenüberstehen, mit leuchtenden Augen über ‚ihre Zeit’ und ihre Erfahrungen bei der HJ oder bei der Luftwaffe berichten hört.“ (S.9f.)
Welzers Buch, und allein das würde es schon lesenswert machen, gibt dem Leser eine Erklärung für dessen eigene manchmal verwirrende Erfahrungen mit Zeitzeugen an die Hand. Ich erinnere mich an eine Deutschlehrerin, die uns bei jeder Gelegenheit versicherte, wie furchtbar die NS-Zeit war, und wie froh wir sein sollten, in einem demokratischen Staat zu leben. Sie war geradezu besessen von dem Thema: Egal, ob es um Schiller ging oder um Walther von der Vogelweide oder um deutsche Grammatik, irgendwie kriegte sie immer die Kurve zu ihrem Lieblingsthema. Ging es aber um ihre eigenen Erfahrungen mit dieser Zeit, dann sah man die von Welzer erwähnten leuchtenden (blauen) Augen, mit denen unsere blonde Lehrerin („Ich entsprach ja dem Ideal“) uns vom BDM erzählte und von den „feschen schwarzen Uniformen“ (der SS) vorschwärmte – nur um uns eine halbe Minute später zu versichern, „wie furchtbar das alles war“. Da tat sich eine gewisse Glaubwürdigkeitslücke auf, zumal die Dame zu Freudschen Fehlleistungen tendierte (von einer Kollegin namens „Goebel“ sprach sie immer als von „Frau Doktor Goebbels“). Es gibt nichts Garstigeres als den Humor von Gymnasiasten, und die ansonsten hervorragende Lehrerin wurde, ohne es zu ahnen, zur Zielscheibe ungezählter Witze.
„Da, wie Raul Hilberg einmal formuliert hat, der Holocaust in Deutschland Familiengeschichte ist, stehen ‚Lexikon’ und ‚Album’ gleichsam nebeneinander im Wohnzimmerregal, und die Familienmitglieder haben die Aufgabe, die sich widersprechenden Inhalte beider Bücher zur Deckung zu bringen.“ (S.10)
Die Frage, auf welche Weise dies geschieht, ist Gegenstand der Studie. Welzers Forschungsteam befragte dazu zwischen 1997 und 2000 Angehörige von vierzig Familien, insgesamt 142 Personen, und zwar sowohl in Familiengesprächen als auch in Einzelinterviews. In jeder Familie war jeweils mindestens ein Angehöriger der Zeitzeugengeneration (Jg. 1906 bis 1933) sowie der Generation ihrer Kinder und Enkel vertreten.
Es ist faszinierend, zum Teil auch höchst belustigend, zu erleben, wie die Erzählungen der Zeitzeugen von ihren Kindern und vor allem Enkeln nach Art des Spiels „Stille Post“ in den Einzelgesprächen völlig anders wiedergegeben werden als sie ursprünglich erzählt worden waren. Dabei folgen die Veränderungen durchgehend demselben Schema:
Versuchen schon die Zeitzeugen selbst, sich nach Möglichkeit als Nichtnazis oder Regimegegner zu präsentieren, die gegen ihre wahre Überzeugung mitgemacht hätten, so enthalten ihre Erzählungen doch Anhaltspunkte genug, die einen kritischen Zuhörer veranlassen müssten, diese Selbstdarstellung in Frage zu stellen. Das reicht von deutlichen antisemitischen Vorurteilen über die Mitgliedschaft in SA und NSDAP bis hin zu eigenen Kriegsverbrechen (die aber als solche weder von den Erzählern selbst noch von ihren Zuhörern wahrgenommen werden, und sogar die wissenschaftlich geschulten Interviewer scheinen in der Gesprächssituation so gefangen zu sein, dass sie den Erzählern deren Selbstdarstellung abnehmen).
In den Einzelgesprächen mit Kindern und Enkeln filtern diese aus den Erzählungen der Zeitzeugen alles heraus, was auf eine damals pronazistische Einstellung ihrer Angehörigen (erst recht auf die Beteiligung an Verbrechen) hindeuten könnte; zugleich erfährt jeder Teilaspekt, der sich auch nur irgendwie dazu eignet, eine Umdeutung, die die eigenen (Groß-)Eltern, wenn schon nicht als Widerstandskämpfer, so doch als (vom heutigen Standpunkt) integre Persönlichkeiten dastehen lässt. Welzer nennt dieses Phänomen „kumulative Heroisierung“.
„In diesen Gesprächen werden insgesamt 2535 Geschichten erzählt. Nicht wenige davon verändern sich auf ihrem Weg von Generation zu Generation so, dass aus Antisemiten Widerstandskämpfer und aus Gestapo-Beamten Judenschützer werden.“ (S.11)
Da das „Mitmachen“ als solches aber nicht aus den Erzählungen eliminiert werden kann, unterbreiten meist die Zeitzeugen selbst ein Deutungsangebot, das von den Nachkommen aufgegriffen und verinnerlicht wird:
„wenn etwa unsere Zeitzeugen oder die Verwandten, über die sie berichten, in die Partei ‚eintreten mussten’, in den Krieg ‚gehen mussten’ oder der Verfolgung … der jüdischen Bevölkerung ‚zusehen mussten’. Das alles haben sie im Gegensatz zu den ‚Nazis’ nicht aus Überzeugung und gern getan, sondern, weil ‚man’ das damals machte oder weil man damit Schlimmeres verhüten konnte …“ (S.205)
oder weil man sonst ins KZ gekommen wäre, wie in etlichen Gesprächen wie selbstverständlich als Regelfolge jedes auch nur irgendwie nonkonformen Verhaltens unterstellt wird.
„… im Übrigen haben sie im Rahmen ihrer Funktionen stets versucht, sich wie gute Menschen zu verhalten – anders wiederum als die ‚150-prozentigen Nazis’, die in ihren Erzählungen als chronische Widersacher auftreten.“ (S.205f.)
Die Nazis sind immer die anderen.
„Für das Geschichtsbild vom Nationalsozialismus und vom Holocaust bedeutet das Phänomen der kumulativen Heroisierung … eine Restauration der tradierten, aber eigentlich längst abgelösten Alltagstheorie, dass ‚die Nazis’ und ‚die Deutschen’ zwei verschiedene Personengruppen gewesen seien, dass ‚die Deutschen’ als Verführte, Missbrauchte, ihrer Jugend beraubte Gruppe zu betrachten seien, die selbst Opfer des Nationalsozialismus war.
(…)
Zwischen dem Bild eines sich zunehmend enthistorisierenden Menschheitsverbrechens auf der einen und einem sich zunehmend enthisorisierenden Nationalsozialismus auf der anderen Seite entsteht im Geschichtsbewusstsein … eine Lücke, in der der Vorgang der sozialen Erstellung des genozidalen Prozesses zu verschwinden droht – und dies bei allem faktischen Geschichtswissen, das der Geschichtsunterricht, die politische Bildung und die Gedenkstättenarbeit in den vergangenen Jahrzehnten so erfolgreich etablieren konnten.“ (S.79f.)
In besagter Lücke verschwindet aber noch einiges andere, unter anderem die mentalen Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung einer demokratischen Gesellschaft.
Die deutsche Marotte, jeden politischen Sachverhalt, der in irgendeiner Form mit Diktatur, Menschenrechtsverletzungen oder Krieg zu tun hat, mit den Verhältnissen und Praktiken des Dritten Reiches zu vergleichen, liefert einen deutlichen Hinweis darauf, dass den meisten Deutschen bis heute nicht klar ist, was den spezifischen Charakter des Nationalsozialismus ausmachte, wie er funktionierte, und wo seine Wurzeln lagen. Es ist ja bemerkenswert, dass zwar ein breiter gesellschaftlicher Konsens über die moralische Verurteilung der NS-Herrschaft besteht, nicht aber über die Frage, wie „es“ überhaupt möglich war; und das hat nicht nur mit der Komplexität des Themas zu tun. Es hat meines Erachtens – und Welzers Studie bestärkt mich in dieser Auffassung – vor allem damit zu tun, dass man das Dritte Reich nur verstehen kann, wenn man es als ein gemeinsames nationales Projekt der damaligen Deutschen auffasst; und genau vor dieser Erkenntnis wollen Viele sich drücken.
Das bedeutet nicht, dass damals alle Deutschen glühende Verfechter des Nationalsozialismus gewesen wären, (Die Bereitschaft, sich einer politischen Ideologie mit Haut und Haaren zu verschreiben, ist zu allen Zeiten die Marotte einer Minderheit gewesen), sondern dass sie die ideologischen Voraussetzungen des Nationalsozialismus als geltenden moralischen Bezugsrahmen akzeptiert (im Sinne von: nicht hinterfragt) haben – also das Projekt der Weltherrschaft, die Ideologie der Volksgemeinschaft, den Ausschluss der Juden aus dieser Gemeinschaft, die Selbstbeschreibung als Herrenvolk, um nur die markantesten Punkte zu nennen, natürlich auch die Legitimität der NS-Herrschaft selber.
Eine solche Interpretation des Nationalsozialismus muss mit den Legenden kollidieren, die in der familiären Überlieferung gesponnen werden. Wenn „Opa kein Nazi“ war (obwohl er vielleicht in der SA oder SS war), dann war eigentlich niemand einer, und die regimeloyale Haltung der Deutschen wäre kaum anders zu erklären als mit der Gewaltandrohung von Seiten „der Nazis“. Was auch die Zählebigkeit der Floskel „nationalsozialistische Gewaltherrschaft“ erklärt, über die ich mich schon an anderer Stelle mokiert habe.
Der spezifisch totalitäre Charakter der NS-Herrschaft fällt damit unter den Tisch. Natürlich haben die Nazis politische Gegner eingesperrt und getötet, wie andere Diktaturen auch, z.B. Militärregimes. Die Gewaltandrohung, Kennzeichen jeder Diktatur, kann Menschen aber nur dazu bringen, zu unterlassen, was sie an sich tun wollen. Sie kann sie unmöglich veranlassen zu wollen, was sie sollen! Genau darin liegt einer der wesentlichen Unterschiede zwischen einer ordinären Diktatur und einem totalitären Regime. Ein solches ist darauf angewiesen, die Menschen für sich und seine Projekte zu begeistern, und genau daraus resultieren die Charakteristika totalitärer Ideologien:
Totalitäre Herrschaft setzt die vollständige, und zwar nicht zähneknirschende, sondern gewollte und bejahte, Unterordnung des Einzelnen unter das Kollektiv voraus („Du bist nichts, dein Volk ist alles!“). Normalerweise sind Menschen dazu nur unter zwei Voraussetzungen bereit:
Einmal, wenn sich dieses Kollektiv im Konflikt mit einem anderen befindet. Dieser Konflikt kann sich gegen einen inneren oder äußeren Feind richten, er kann im Prinzip auch fiktiver Natur sein, aber wirklich überzeugend ist er nur als erfahrbare Wirklichkeit, also als bewaffneter Konflikt. Totalitäre Regime sind daher strukturell friedensunfähig. (Der Niedergang der totalitären Herrschaft in der Sowjetunion wie auch in China setzte in dem Moment ein, wo die Regime aufhörten, Innenpolitik als permanenten Bürgerkrieg zu inszenieren.)
Zum Zweiten muss das Kollektiv in sich eine religiöse Dimension aufweisen, die der Existenz seiner Mitglieder einen Bezug zum Transzendenten, zum Ewigen und Göttlichen – mit einem Wort: einen Sinn – verschafft. Totalitäre Ideologie und Herrschaft wird daher regelmäßig utopistischen Charakter haben: Ziel kann die Welterlösung durch den Kommunismus (oder auch den Islam) sein, oder die Errichtung des tausendjährigen Reiches einer heroischen Kriegergemeinschaft, oder was auch immer. Nur eines muss es auf jeden Fall sein: gigantisch.
Beide Aspekte des Totalitarismus erfordern, wenn sie in ein und derselben Ideologie vereint sein sollen, nicht irgendeinen, sondern den totalen Feind, dessen Vernichtung gleichbedeutend mit der Verwirklichung der Utopie ist. Totalitäre Ideologien – man erkennt sie geradezu daran – sind als Endkampf zwischen Gut und Böse konzipiert, weisen mithin eine apokalyptische Struktur auf.
Das Dritte Reich versteht man am besten, wenn man es als eine apokalyptische Massensekte auffasst: mit „Deutschland“ als Gottheit, dem „Führer“ als Messias, der „Volksgemeinschaft“ als Gemeinschaft der Gläubigen. Wie das in Religionsgemeinschaften so ist, gibt es ein Zentrum von Priestern und Theologen, und um dieses Zentrum in konzentrischen Kreisen die engagierten Laien, die frommen Kirchgänger und die im Alltag nicht ganz so Gläubigen, die aber die Theologie ihrer Kirche im Prinzip akzeptieren, jedenfalls nicht dagegen aufbegehren. Ganz am Rande die wenigen, die wirklich nur Zwangsmitglieder sind. Und außerhalb der Sekte: der Feind.
Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass die einfachen Gläubigen, die Kirchgänger und die nur ein bisschen Gläubigen genauso zur Religionsgemeinschaft gehören wie die Priester und Theologen, ja dass der Klerus ohne die Laien gar nicht existieren kann. Die „150-prozentigen Nazis“, von denen sich Welzers Gesprächspartner naserümpfend distanzieren, hätten ohne die „guten Deutschen“, die „nur ihre Pflicht taten“, keinen Moment an der Macht bleiben können, und da genügte nicht der passive Gehorsam, es bedurfte schon einer grundsätzlichen Bejahung des Nationalsozialismus.
Auf das Verhältnis beider Gruppen trifft das zu, was ich in anderem Zusammenhang über das Verhältnis von Gemäßigten und Extremisten geschrieben habe:
„Man macht sich überhaupt zu wenig klar, wie sehr jeder Extremismus von den ‚Gemäßigten’ lebt: Eine Gruppe wie die RAF hätte niemals entstehen können ohne eine gemäßigte Linke, die ihr die ideologischen Versatzstücke lieferte und aus der sich der Terrornachwuchs rekrutierte. Ein Drittes Reich hätte nie existieren können ohne den ganz normalen Antisemitismus des Durchschnittsdeutschen. Eine ETA, eine IRA, eine Hamas, eine Hisbollah schwimmen in ihrem ‚gemäßigten’ Umfeld wie der Fisch im Wasser.
Alleine das Wort ‚gemäßigt’ ist bezeichnend: Gemäßigt sein kann man ja nur in Bezug auf einen Extremismus, der damit gleichsam zum Normalzustand erklärt wird, und die ‚Mäßigung’ besteht eben darin, von dessen Zielen ein paar Abstriche zu machen, eventuell auch die Methoden abzulehnen (…wobei man aber doch verstehen müsse, dass…). Ein Gemäßigter ist jemand, der die Prämissen der Extremisten teilt und nur vor den Konsequenzen zurückschreckt.“
Die Opa-war-kein-Nazi-Legende führt nicht nur zu einem schiefen Geschichtsbild. Sie führt dazu, dass man totalitäre Ideologien nicht als solche durchschauen kann. Normalerweise erkennt man sie an ihrem religiösen Charakter: an ihrer Selbstimmunisierung gegen Kritik durch Bezugnahme auf nicht hinterfragbare Prämissen, auch auf Zirkelschlüsse, an utopischen Heilslehren, an der Fingierung eines absoluten Feindes (des „Bösen“) – mit einem Wort: an ihrer Struktur, nicht an konkreten Inhalten. Was Sebastian Haffner über Hitler schrieb, nämlich dass die Prämissen seiner Weltanschauung unoriginell waren, trifft auf alle totalitären Ideologien zu. Totalitär werden diese Prämissen erst durch die immanente Logik, nach der sie verknüpft werden.
Indem die politische Linke den Begriff des Totalitären auf den Index gesetzt und stattdessen den des „Faschismus“ favorisiert hat, hat sie das Ihre dazu beigetragen, solche Zusammenhänge zu verunklaren. „Antifaschismus“ bedeutet nämlich, gerade nicht die Strukturen einer Ideologie zu kritisieren, sondern einzelne inhaltliche Versatzstücke, etwa Rassismus, Nationalismus oder Militarismus (was immer das im Einzelfall sein mag) aus dem Zusammenhang zu reißen und für per se „faschistisch“ (und das heißt: „böse“) zu erklären.
Eine solche ideologische Disposition enthält bereits in sich ein totalitäres Element, insofern politische Diskurse nicht mehr durch die Unterscheidung „Wahr/Unwahr“ strukturiert werden, sondern durch „Gut/Böse“. Wahrheiten können dann als „böse“ stigmatisiert, Unwahrheiten als „gut“ (oder auch „politisch korrekt“) für sakrosankt erklärt werden. „Antifaschistisch“ mag ein solcher Diskurs sein, antitotalitär ist er – wegen seiner religiösen Struktur – gerade nicht, und mit einem liberalen Begriff von öffentlichem Diskurs ist er schlechterdings unvereinbar.
Dabei verstärken der Gut/Böse-Diskurs und die Opa-war-kein-Nazi-Legende sich gegenseitig: Wenn der Nationalsozialismus schlicht und einfach „das Böse“ war, dann kann der gute Opa kein Nazi gewesen sein, und wenn Opa kein Nazi war, dann braucht man nach den Ursachen und der Funktionsweise des Dritten Reiches nicht mehr zu fragen, sondern kann sich darauf beschränken, „das Böse“ zu bekämpfen, indem man bestimmte Meinungen bekämpft, die man für faschistisch hält.
Wozu ein derart unredlicher Umgang mit der Vergangenheit führen kann, zeigt sich im Zusammenhang mit dem Thema „Antisemitismus“. In Welzers Studie haben die Angehörigen der Enkelgeneration den offensichtlichen und selbstverständlichen Antisemitismus ihrer Großeltern nicht nur nicht wahrgenommen (zumal letztere selbstredend betonen, dass sie ja persönlich nichts gegen Juden hätten), sie haben sie teilweise auch noch zu Judenrettern befördert.
Den Enkeln scheint dies plausibel, weil die Großeltern ja angeblich keine persönlichen Vorurteile gegen Juden hatten. Auf diese Weise wird Antisemitismus bagatellisiert als x-beliebiges soziales Vorurteil von der Sorte, wie man sie auch gegen Obdachlose oder Homosexuelle hegen kann. (Auf wissenschaftlicher Ebene findet sich diese Einstellung in Wilhelm Heitmeyers Studien zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“, die als Syndrom jede nur erdenkliche Art von sozialem Vorurteil umfasst, unter „ferner liefen“ auch den Antisemitismus). Vorurteile dieser Art gibt es aber, seit es Menschen gibt. Wenn man Antisemitismus nur deshalb bekämpft, weil er unter anderem auch gruppenbezogene Vorurteile enthält, und weil man Vorurteile schlechthin für faschistisch hält, dann verlegt man die Ursachen für gesellschaftliche Fehlentwicklungen (wie z.B. die Entstehung des Dritten Reiches) in die Köpfe der Menschen, denen es mithin das „alte Denken“ und das „falsche Bewusstsein“ auszutreiben gilt. Die politische Konsequenz aus einer solchen Ideologie ist die Forderung nach Gehirnwäsche.
Natürlich haben sich die Nationalsozialisten bestehende soziale Vorurteile gegen Juden zunutze gemacht. Charakteristisch für den nationalsozialistischen Antisemitismus war aber nicht bloße Abneigung aufgrund von Vorurteilen, sondern die Konstruktion „des Juden“ als des totalen Feindes, der nicht nur aus der Gesellschaft, sondern geradezu aus Menschheit hinausdefiniert wurde. „Der Jude“ war für die Nazis die säkularisierte Version des Antichristen. Eine solche ideologische Feindkonstruktion ist aber nicht die bloß graduelle Steigerung eines Vorurteils, sondern etwas qualitativ anderes. Und es war derjenige Punkt ihrer Ideologie, an dem deren totalitärer Charakter so greifbar war wie nirgendwo sonst.
Die Deutschen, die „persönlich“ nichts gegen Juden hatten, haben die Ausgrenzung und Vernichtung der Juden, wenn nicht im Einzelfall gewollt, so doch billigend in Kauf genommen, weil die Denkfigur, wonach „der Jude“ der Feind sei, schon seit dem frühen Mittelalter eine kulturelle Selbstverständlichkeit darstellte, die die Nazis bloß noch zu aktualisieren und politisch aufzuladen brauchten.
Wer natürlich glaubt, Antisemitismus sei bloß ein Vorurteil, und wer keine Vorurteile gegen Juden habe, sei auch kein Antisemit, braucht sich weder mit Opas Antisemitismus auseinanderzusetzen noch mit dem eigenen. Da kann man durchaus der Meinung sein, die Vernichtung des Staates Israel sei der Schlüssel zum Weltfrieden, und sich einbilden, mit Antisemitismus habe das nichts zu tun – schließlich habe man persönlich ja nichts gegen Juden.
Der Fairness halber muss man natürlich eines zugestehen: Den Nationalsozialismus als deutsches Nationalprojekt zu interpretieren heißt erklären zu müssen, warum die meisten Deutschen sich damals für dieses Projekt begeisterten. Erklären heißt in einem solchen Zusammenhang aber auch: verstehen. Und vom Verstehen zum Rechtfertigen ist es nur ein kleiner Schritt.
Ich vermute, dass die Unredlichkeit, mit der in unserem Land über die damalige Zeit gesprochen wird, auch mit einem psychologisch nachvollziehbaren Abwehrbedürfnis zusammenhängt: Man will auf keinen Fall irgendeinen Gedanken hegen oder gar äußern, der sich auch nur irgendwie als Rechtfertigung des NS-Regimes lesen ließe, und nimmt lieber ein schiefes und in seinen politisch-ideologischen Implikationen hochproblematisches Geschichtsbild in Kauf.
Das ist nicht unsympathisch. Wer aber solche Anstrengungen unternehmen muss, um sich nicht selbst der Sympathie mit dem Nationalsozialismus verdächtigen zu müssen, erweckt den Verdacht, dass er etwas verdrängt. Es könnte sein, dass viele von uns Deutschen sich mit dem Deutschland Hitlers emotional viel stärker identifizieren, als sie selber wahrhaben wollen.