Harald Welzer: „Opa war kein Nazi“

(Rezension) 

[Sämtliche Bücher von Harald Welzer gibt es HIER]

2002 erschienen, ist „Opa war kein Nazi“ bereits heute ein Klassiker, an dem niemand vorbeikommt, der wissen möchte, wie die Deutschen sich zu ihrer braunen Vergangenheit stellen. Tatsächlich stellen. Denn offiziell gibt es ja keinerlei Unklarheiten: Die „nationalsozialistische Gewaltherrschaft“, wie der politisch korrekte Terminus immer noch lautet, war ein durch und durch verbrecherisches und unmenschliches System. Der einzig zulässige Umgang damit ist eine Politik des „Nie wieder!“, die Lehre, die aus der Geschichte zu ziehen ist, lautet, konsequent für Demokratie, Frieden und Menschenrechte einzutreten. So weit das offizielle Geschichtsbild.

Wer in Deutschland lebt, weiß, dass dies nur die Vorderseite der Medaille ist, und dass auf der Rückseite vielleicht kein genau gegenteiliger, aber doch ein anderer Text steht. Als Eva Herman 2007 meinte, die vermeintlich „guten Seiten“ des Nationalsozialismus thematisieren zu müssen, wurde sie vom wissenschaftlichen, politischen und Medien-Establishment geprügelt, von vielen Normalbürgern aber vehement in Schutz genommen. Von Normalbürgern, deren Geschichtsbild ziemlich genau dem von Eva Herman entsprach, und die dieses Bild nicht (mehr) aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzt sehen wollten.

Wie derart unterschiedliche Versionen ein und derselben Geschichte zustande kommen – eine Elitengeschichte, eine Volksgeschichte -, darüber hat Harald Welzer eine grundlegende Hypothese entwickelt, die durch die Ergebnisse der Studie „Opa war kein Nazi“ erhärtet wurde: Er vermutet

einen Unterschied im Bewusstsein über die Geschichte, der allzu oft übersehen wird, einen Unterschied zwischen kognitivem Geschichtswissen und emotionalen Vorstellungen über die Vergangenheit. Auf der Ebene emotionaler Erinnerungen scheinen sich Bindungskräfte und Faszinosa gegenüber der nationalsozialistischen Vergangenheit entfalten und erhalten zu können, die merkwürdig unverbunden mit dem Wissen über diese Zeit sind, und zwar über die Generationen hinweg. Metaphorisch gesprochen, existiert neben einem wissensbasierten ‚Lexikon’ der nationalsozialistischen Vergangenheit ein weiteres, emotional bedeutenderes Referenzsystem für die Interpretation dieser Vergangenheit: eines, zu dem konkrete Personen – Eltern, Großeltern, Verwandte – ebenso gehören wie Briefe, Fotos und persönliche Dokumente aus der Familiengeschichte. Dieses ‚Album’ vom ‚Dritten Reich’ ist mit Krieg und Heldentum, Leiden, Verzicht und Opferschaft, Faszination und Größenphantasien bebildert, und nicht, wie das ‚Lexikon’, mit Verbrechen, Ausgrenzung und Vernichtung.

(…)

Die Annahme, dass Geschichtsbewusstsein eine kognitive und eine emotionale Dimension hat, wird auch dadurch gestützt, dass das menschliche Gedächtnis mit unterschiedlichen Systemen für kognitive und emotionale Erinnerungen operiert, und nichts macht das greifbarer, als wenn man Angehörige der Zeitzeugengeneration, die ihre Vergangenheit ‚aufgearbeitet’ haben und der nationalsozialistischen Geschichte höchst kritisch gegenüberstehen, mit leuchtenden Augen über ‚ihre Zeit’ und ihre Erfahrungen bei der HJ oder bei der Luftwaffe berichten hört.“ (S.9f.)

Welzers Buch, und allein das würde es schon lesenswert machen, gibt dem Leser eine Erklärung für dessen eigene manchmal verwirrende Erfahrungen mit Zeitzeugen an die Hand. Ich erinnere mich an eine Deutschlehrerin, die uns bei jeder Gelegenheit versicherte, wie furchtbar die NS-Zeit war, und wie froh wir sein sollten, in einem demokratischen Staat zu leben. Sie war geradezu besessen von dem Thema: Egal, ob es um Schiller ging oder um Walther von der Vogelweide oder um deutsche Grammatik, irgendwie kriegte sie immer die Kurve zu ihrem Lieblingsthema. Ging es aber um ihre eigenen Erfahrungen mit dieser Zeit, dann sah man die von Welzer erwähnten leuchtenden (blauen) Augen, mit denen unsere blonde Lehrerin („Ich entsprach ja dem Ideal“) uns vom BDM erzählte und von den „feschen schwarzen Uniformen“ (der SS) vorschwärmte – nur um uns eine halbe Minute später zu versichern, „wie furchtbar das alles war“. Da tat sich eine gewisse Glaubwürdigkeitslücke auf, zumal die Dame zu Freudschen Fehlleistungen tendierte (von einer Kollegin namens „Goebel“ sprach sie immer als von „Frau Doktor Goebbels“). Es gibt nichts Garstigeres als den Humor von Gymnasiasten, und die ansonsten hervorragende Lehrerin wurde, ohne es zu ahnen, zur Zielscheibe ungezählter Witze.

Da, wie Raul Hilberg einmal formuliert hat, der Holocaust in Deutschland Familiengeschichte ist, stehen ‚Lexikon’ und ‚Album’ gleichsam nebeneinander im Wohnzimmerregal, und die Familienmitglieder haben die Aufgabe, die sich widersprechenden Inhalte beider Bücher zur Deckung zu bringen.“ (S.10)

Die Frage, auf welche Weise dies geschieht, ist Gegenstand der Studie. Welzers Forschungsteam befragte dazu zwischen 1997 und 2000 Angehörige von vierzig Familien, insgesamt 142 Personen, und zwar sowohl in Familiengesprächen als auch in Einzelinterviews. In jeder Familie war jeweils mindestens ein Angehöriger der Zeitzeugengeneration (Jg. 1906 bis 1933) sowie der Generation ihrer Kinder und Enkel vertreten.

Es ist faszinierend, zum Teil auch höchst belustigend, zu erleben, wie die Erzählungen der Zeitzeugen von ihren Kindern und vor allem Enkeln nach Art des Spiels „Stille Post“ in den Einzelgesprächen völlig anders wiedergegeben werden als sie ursprünglich erzählt worden waren. Dabei folgen die Veränderungen durchgehend demselben Schema:

Versuchen schon die Zeitzeugen selbst, sich nach Möglichkeit als Nichtnazis oder Regimegegner zu präsentieren, die gegen ihre wahre Überzeugung mitgemacht hätten, so enthalten ihre Erzählungen doch Anhaltspunkte genug, die einen kritischen Zuhörer veranlassen müssten, diese Selbstdarstellung in Frage zu stellen. Das reicht von deutlichen antisemitischen Vorurteilen über die Mitgliedschaft in SA und NSDAP bis hin zu eigenen Kriegsverbrechen (die aber als solche weder von den Erzählern selbst noch von ihren Zuhörern wahrgenommen werden, und sogar die wissenschaftlich geschulten Interviewer scheinen in der Gesprächssituation so gefangen zu sein, dass sie den Erzählern deren Selbstdarstellung abnehmen).

In den Einzelgesprächen mit Kindern und Enkeln filtern diese aus den Erzählungen der Zeitzeugen alles heraus, was auf eine damals pronazistische Einstellung ihrer Angehörigen (erst recht auf die Beteiligung an Verbrechen) hindeuten könnte; zugleich erfährt jeder Teilaspekt, der sich auch nur irgendwie dazu eignet, eine Umdeutung, die die eigenen (Groß-)Eltern, wenn schon nicht als Widerstandskämpfer, so doch als (vom heutigen Standpunkt) integre Persönlichkeiten dastehen lässt. Welzer nennt dieses Phänomen „kumulative Heroisierung“.

In diesen Gesprächen werden insgesamt 2535 Geschichten erzählt. Nicht wenige davon verändern sich auf ihrem Weg von Generation zu Generation so, dass aus Antisemiten Widerstandskämpfer und aus Gestapo-Beamten Judenschützer werden.“ (S.11)

Da das „Mitmachen“ als solches aber nicht aus den Erzählungen eliminiert werden kann, unterbreiten meist die Zeitzeugen selbst ein Deutungsangebot, das von den Nachkommen aufgegriffen und verinnerlicht wird:

wenn etwa unsere Zeitzeugen oder die Verwandten, über die sie berichten, in die Partei ‚eintreten mussten’, in den Krieg ‚gehen mussten’ oder der Verfolgung … der jüdischen Bevölkerung ‚zusehen mussten’. Das alles haben sie im Gegensatz zu den ‚Nazis’ nicht aus Überzeugung und gern getan, sondern, weil ‚man’ das damals machte oder weil man damit Schlimmeres verhüten konnte …“ (S.205)

oder weil man sonst ins KZ gekommen wäre, wie in etlichen Gesprächen wie selbstverständlich als Regelfolge jedes auch nur irgendwie nonkonformen Verhaltens unterstellt wird.

„… im Übrigen haben sie im Rahmen ihrer Funktionen stets versucht, sich wie gute Menschen zu verhalten – anders wiederum als die ‚150-prozentigen Nazis’, die in ihren Erzählungen als chronische Widersacher auftreten.“ (S.205f.)

Die Nazis sind immer die anderen.

Für das Geschichtsbild vom Nationalsozialismus und vom Holocaust bedeutet das Phänomen der kumulativen Heroisierung … eine Restauration der tradierten, aber eigentlich längst abgelösten Alltagstheorie, dass ‚die Nazis’ und ‚die Deutschen’ zwei verschiedene Personengruppen gewesen seien, dass ‚die Deutschen’ als Verführte, Missbrauchte, ihrer Jugend beraubte Gruppe zu betrachten seien, die selbst Opfer des Nationalsozialismus war.

(…)

Zwischen dem Bild eines sich zunehmend enthistorisierenden Menschheitsverbrechens auf der einen und einem sich zunehmend enthisorisierenden Nationalsozialismus auf der anderen Seite entsteht im Geschichtsbewusstsein … eine Lücke, in der der Vorgang der sozialen Erstellung des genozidalen Prozesses zu verschwinden droht – und dies bei allem faktischen Geschichtswissen, das der Geschichtsunterricht, die politische Bildung und die Gedenkstättenarbeit in den vergangenen Jahrzehnten so erfolgreich etablieren konnten.“ (S.79f.)

In besagter Lücke verschwindet aber noch einiges andere, unter anderem die mentalen Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung einer demokratischen Gesellschaft.

Die deutsche Marotte, jeden politischen Sachverhalt, der in irgendeiner Form mit Diktatur, Menschenrechtsverletzungen oder Krieg zu tun hat, mit den Verhältnissen und Praktiken des Dritten Reiches zu vergleichen, liefert einen deutlichen Hinweis darauf, dass den meisten Deutschen bis heute nicht klar ist, was den spezifischen Charakter des Nationalsozialismus ausmachte, wie er funktionierte, und wo seine Wurzeln lagen. Es ist ja bemerkenswert, dass zwar ein breiter gesellschaftlicher Konsens über die moralische Verurteilung der NS-Herrschaft besteht, nicht aber über die Frage, wie „es“ überhaupt möglich war; und das hat nicht nur mit der Komplexität des Themas zu tun. Es hat meines Erachtens – und Welzers Studie bestärkt mich in dieser Auffassung – vor allem damit zu tun, dass man das Dritte Reich nur verstehen kann, wenn man es als ein gemeinsames nationales Projekt der damaligen Deutschen auffasst; und genau vor dieser Erkenntnis wollen Viele sich drücken.

Das bedeutet nicht, dass damals alle Deutschen glühende Verfechter des Nationalsozialismus gewesen wären, (Die Bereitschaft, sich einer politischen Ideologie mit Haut und Haaren zu verschreiben, ist zu allen Zeiten die Marotte einer Minderheit gewesen), sondern dass sie die ideologischen Voraussetzungen des Nationalsozialismus als geltenden moralischen Bezugsrahmen akzeptiert (im Sinne von: nicht hinterfragt) haben – also das Projekt der Weltherrschaft, die Ideologie der Volksgemeinschaft, den Ausschluss der Juden aus dieser Gemeinschaft, die Selbstbeschreibung als Herrenvolk, um nur die markantesten Punkte zu nennen, natürlich auch die Legitimität der NS-Herrschaft selber.

Eine solche Interpretation des Nationalsozialismus muss mit den Legenden kollidieren, die in der familiären Überlieferung gesponnen werden. Wenn „Opa kein Nazi“ war (obwohl er vielleicht in der SA oder SS war), dann war eigentlich niemand einer, und die regimeloyale Haltung der Deutschen wäre kaum anders zu erklären als mit der Gewaltandrohung von Seiten „der Nazis“. Was auch die Zählebigkeit der Floskel „nationalsozialistische Gewaltherrschaft“ erklärt, über die ich mich schon an anderer Stelle mokiert habe.

Der spezifisch totalitäre Charakter der NS-Herrschaft fällt damit unter den Tisch. Natürlich haben die Nazis politische Gegner eingesperrt und getötet, wie andere Diktaturen auch, z.B. Militärregimes. Die Gewaltandrohung, Kennzeichen jeder Diktatur, kann Menschen aber nur dazu bringen, zu unterlassen, was sie an sich tun wollen. Sie kann sie unmöglich veranlassen zu wollen, was sie sollen! Genau darin liegt einer der wesentlichen Unterschiede zwischen einer ordinären Diktatur und einem totalitären Regime. Ein solches ist darauf angewiesen, die Menschen für sich und seine Projekte zu begeistern, und genau daraus resultieren die Charakteristika totalitärer Ideologien:

Totalitäre Herrschaft setzt die vollständige, und zwar nicht zähneknirschende, sondern gewollte und bejahte, Unterordnung des Einzelnen unter das Kollektiv voraus („Du bist nichts, dein Volk ist alles!“). Normalerweise sind Menschen dazu nur unter zwei Voraussetzungen bereit:

Einmal, wenn sich dieses Kollektiv im Konflikt mit einem anderen befindet. Dieser Konflikt kann sich gegen einen inneren oder äußeren Feind richten, er kann im Prinzip auch fiktiver Natur sein, aber wirklich überzeugend ist er nur als erfahrbare Wirklichkeit, also als bewaffneter Konflikt. Totalitäre Regime sind daher strukturell friedensunfähig. (Der Niedergang der totalitären Herrschaft in der Sowjetunion wie auch in China setzte in dem Moment ein, wo die Regime aufhörten, Innenpolitik als permanenten Bürgerkrieg zu inszenieren.)

Zum Zweiten muss das Kollektiv in sich eine religiöse Dimension aufweisen, die der Existenz seiner Mitglieder einen Bezug zum Transzendenten, zum Ewigen und Göttlichen – mit einem Wort: einen Sinn – verschafft. Totalitäre Ideologie und Herrschaft wird daher regelmäßig utopistischen Charakter haben: Ziel kann die Welterlösung durch den Kommunismus (oder auch den Islam) sein, oder die Errichtung des tausendjährigen Reiches einer heroischen Kriegergemeinschaft, oder was auch immer. Nur eines muss es auf jeden Fall sein: gigantisch.

Beide Aspekte des Totalitarismus erfordern, wenn sie in ein und derselben Ideologie vereint sein sollen, nicht irgendeinen, sondern den totalen Feind, dessen Vernichtung gleichbedeutend mit der Verwirklichung der Utopie ist. Totalitäre Ideologien – man erkennt sie geradezu daran – sind als Endkampf zwischen Gut und Böse konzipiert, weisen mithin eine apokalyptische Struktur auf.

Das Dritte Reich versteht man am besten, wenn man es als eine apokalyptische Massensekte auffasst: mit „Deutschland“ als Gottheit, dem „Führer“ als Messias, der „Volksgemeinschaft“ als Gemeinschaft der Gläubigen. Wie das in Religionsgemeinschaften so ist, gibt es ein Zentrum von Priestern und Theologen, und um dieses Zentrum in konzentrischen Kreisen die engagierten Laien, die frommen Kirchgänger und die im Alltag nicht ganz so Gläubigen, die aber die Theologie ihrer Kirche im Prinzip akzeptieren, jedenfalls nicht dagegen aufbegehren. Ganz am Rande die wenigen, die wirklich nur Zwangsmitglieder sind. Und außerhalb der Sekte: der Feind.

Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass die einfachen Gläubigen, die Kirchgänger und die nur ein bisschen Gläubigen genauso zur Religionsgemeinschaft gehören wie die Priester und Theologen, ja dass der Klerus ohne die Laien gar nicht existieren kann. Die „150-prozentigen Nazis“, von denen sich Welzers Gesprächspartner naserümpfend distanzieren, hätten ohne die „guten Deutschen“, die „nur ihre Pflicht taten“, keinen Moment an der Macht bleiben können, und da genügte nicht der passive Gehorsam, es bedurfte schon einer grundsätzlichen Bejahung des Nationalsozialismus.

Auf das Verhältnis beider Gruppen trifft das zu, was ich in anderem Zusammenhang über das Verhältnis von Gemäßigten und Extremisten geschrieben habe:

Man macht sich überhaupt zu wenig klar, wie sehr jeder Extremismus von den ‚Gemäßigten’ lebt: Eine Gruppe wie die RAF hätte niemals entstehen können ohne eine gemäßigte Linke, die ihr die ideologischen Versatzstücke lieferte und aus der sich der Terrornachwuchs rekrutierte. Ein Drittes Reich hätte nie existieren können ohne den ganz normalen Antisemitismus des Durchschnittsdeutschen. Eine ETA, eine IRA, eine Hamas, eine Hisbollah schwimmen in ihrem ‚gemäßigten’ Umfeld wie der Fisch im Wasser.
Alleine das Wort ‚gemäßigt’ ist bezeichnend: Gemäßigt sein kann man ja nur in Bezug auf einen Extremismus, der damit gleichsam zum Normalzustand erklärt wird, und die ‚Mäßigung’ besteht eben darin, von dessen Zielen ein paar Abstriche zu machen, eventuell auch die Methoden abzulehnen (…wobei man aber doch verstehen müsse, dass…). Ein Gemäßigter ist jemand, der die Prämissen der Extremisten teilt und nur vor den Konsequenzen zurückschreckt.“

Die Opa-war-kein-Nazi-Legende führt nicht nur zu einem schiefen Geschichtsbild. Sie führt dazu, dass man totalitäre Ideologien nicht als solche durchschauen kann. Normalerweise erkennt man sie an ihrem religiösen Charakter: an ihrer Selbstimmunisierung gegen Kritik durch Bezugnahme auf nicht hinterfragbare Prämissen, auch auf Zirkelschlüsse, an utopischen Heilslehren, an der Fingierung eines absoluten Feindes (des „Bösen“) – mit einem Wort: an ihrer Struktur, nicht an konkreten Inhalten. Was Sebastian Haffner über Hitler schrieb, nämlich dass die Prämissen seiner Weltanschauung unoriginell waren, trifft auf alle totalitären Ideologien zu. Totalitär werden diese Prämissen erst durch die immanente Logik, nach der sie verknüpft werden.

Indem die politische Linke den Begriff des Totalitären auf den Index gesetzt und stattdessen den des „Faschismus“ favorisiert hat, hat sie das Ihre dazu beigetragen, solche Zusammenhänge zu verunklaren. „Antifaschismus“ bedeutet nämlich, gerade nicht die Strukturen einer Ideologie zu kritisieren, sondern einzelne inhaltliche Versatzstücke, etwa Rassismus, Nationalismus oder Militarismus (was immer das im Einzelfall sein mag) aus dem Zusammenhang zu reißen und für per se „faschistisch“ (und das heißt: „böse“) zu erklären.

Eine solche ideologische Disposition enthält bereits in sich ein totalitäres Element, insofern politische Diskurse nicht mehr durch die Unterscheidung „Wahr/Unwahr“ strukturiert werden, sondern durch „Gut/Böse“. Wahrheiten können dann als „böse“ stigmatisiert, Unwahrheiten als „gut“ (oder auch „politisch korrekt“) für sakrosankt erklärt werden. „Antifaschistisch“ mag ein solcher Diskurs sein, antitotalitär ist er – wegen seiner religiösen Struktur – gerade nicht, und mit einem liberalen Begriff von öffentlichem Diskurs ist er schlechterdings unvereinbar.

Dabei verstärken der Gut/Böse-Diskurs und die Opa-war-kein-Nazi-Legende sich gegenseitig: Wenn der Nationalsozialismus schlicht und einfach „das Böse“ war, dann kann der gute Opa kein Nazi gewesen sein, und wenn Opa kein Nazi war, dann braucht man nach den Ursachen und der Funktionsweise des Dritten Reiches nicht mehr zu fragen, sondern kann sich darauf beschränken, „das Böse“ zu bekämpfen, indem man bestimmte Meinungen bekämpft, die man für faschistisch hält.

Wozu ein derart unredlicher Umgang mit der Vergangenheit führen kann, zeigt sich im Zusammenhang mit dem Thema „Antisemitismus“. In Welzers Studie haben die Angehörigen der Enkelgeneration den offensichtlichen und selbstverständlichen Antisemitismus ihrer Großeltern nicht nur nicht wahrgenommen (zumal letztere selbstredend betonen, dass sie ja persönlich nichts gegen Juden hätten), sie haben sie teilweise auch noch zu Judenrettern befördert.

Den Enkeln scheint dies plausibel, weil die Großeltern ja angeblich keine persönlichen Vorurteile gegen Juden hatten. Auf diese Weise wird Antisemitismus bagatellisiert als x-beliebiges soziales Vorurteil von der Sorte, wie man sie auch gegen Obdachlose oder Homosexuelle hegen kann. (Auf wissenschaftlicher Ebene findet sich diese Einstellung in Wilhelm Heitmeyers Studien zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“, die als Syndrom jede nur erdenkliche Art von sozialem Vorurteil umfasst, unter „ferner liefen“ auch den Antisemitismus). Vorurteile dieser Art gibt es aber, seit es Menschen gibt. Wenn man Antisemitismus nur deshalb bekämpft, weil er unter anderem auch gruppenbezogene Vorurteile enthält, und weil man Vorurteile schlechthin für faschistisch hält, dann verlegt man die Ursachen für gesellschaftliche Fehlentwicklungen (wie z.B. die Entstehung des Dritten Reiches) in die Köpfe der Menschen, denen es mithin das „alte Denken“ und das „falsche Bewusstsein“ auszutreiben gilt. Die politische Konsequenz aus einer solchen Ideologie ist die Forderung nach Gehirnwäsche.

Natürlich haben sich die Nationalsozialisten bestehende soziale Vorurteile gegen Juden zunutze gemacht. Charakteristisch für den nationalsozialistischen Antisemitismus war aber nicht bloße Abneigung aufgrund von Vorurteilen, sondern die Konstruktion „des Juden“ als des totalen Feindes, der nicht nur aus der Gesellschaft, sondern geradezu aus Menschheit hinausdefiniert wurde. „Der Jude“ war für die Nazis die säkularisierte Version des Antichristen. Eine solche ideologische Feindkonstruktion ist aber nicht die bloß graduelle Steigerung eines Vorurteils, sondern etwas qualitativ anderes. Und es war derjenige Punkt ihrer Ideologie, an dem deren totalitärer Charakter so greifbar war wie nirgendwo sonst.

Die Deutschen, die „persönlich“ nichts gegen Juden hatten, haben die Ausgrenzung und Vernichtung der Juden, wenn nicht im Einzelfall gewollt, so doch billigend in Kauf genommen, weil die Denkfigur, wonach „der Jude“ der Feind sei, schon seit dem frühen Mittelalter eine kulturelle Selbstverständlichkeit darstellte, die die Nazis bloß noch zu aktualisieren und politisch aufzuladen brauchten.

Wer natürlich glaubt, Antisemitismus sei bloß ein Vorurteil, und wer keine Vorurteile gegen Juden habe, sei auch kein Antisemit, braucht sich weder mit Opas Antisemitismus auseinanderzusetzen noch mit dem eigenen. Da kann man durchaus der Meinung sein, die Vernichtung des Staates Israel sei der Schlüssel zum Weltfrieden, und sich einbilden, mit Antisemitismus habe das nichts zu tun – schließlich habe man persönlich ja nichts gegen Juden.

Der Fairness halber muss man natürlich eines zugestehen: Den Nationalsozialismus als deutsches Nationalprojekt zu interpretieren heißt erklären zu müssen, warum die meisten Deutschen sich damals für dieses Projekt begeisterten. Erklären heißt in einem solchen Zusammenhang aber auch: verstehen. Und vom Verstehen zum Rechtfertigen ist es nur ein kleiner Schritt.

Ich vermute, dass die Unredlichkeit, mit der in unserem Land über die damalige Zeit gesprochen wird, auch mit einem psychologisch nachvollziehbaren Abwehrbedürfnis zusammenhängt: Man will auf keinen Fall irgendeinen Gedanken hegen oder gar äußern, der sich auch nur irgendwie als Rechtfertigung des NS-Regimes lesen ließe, und nimmt lieber ein schiefes und in seinen politisch-ideologischen Implikationen hochproblematisches Geschichtsbild in Kauf.

Das ist nicht unsympathisch. Wer aber solche Anstrengungen unternehmen muss, um sich nicht selbst der Sympathie mit dem Nationalsozialismus verdächtigen zu müssen, erweckt den Verdacht, dass er etwas verdrängt. Es könnte sein, dass viele von uns Deutschen sich mit dem Deutschland Hitlers emotional viel stärker identifizieren, als sie selber wahrhaben wollen.

13 Gedanken zu „Harald Welzer: „Opa war kein Nazi““

  1. Wow!

    Ein guter und ausführlicher Artikel. Man merkt, da steckt der Politikwissenschaftler dahinter.

    Zudem ist es immer schön, über einen Blog zu „stolpern“, der, was Politik und Gesellschaft angeht, substanziell was her gibt. Schön.

    Mir Gefällt sehr gut, wie du die Verbindung zum Religiösen herausarbeitest.

    Beim Thema „Antifaschismus“ formulierst du meiner Meinung nach etwas zu knapp. Einerseits sage ich: ja, dieser hat seine groben Blindflecke, andererseits ist der Antifaschismus tatsächlich so angelegt, hauptsächlich gesamtgesellschaftliche Strukturen wahrzunehmen (sofern er auf marxistische Grundlagen zurückgreift). Die sogenannten „Versatzstücke“ sind tatsächlich Verweisungspunkte auf „das große Ganze“ – das wiederum, zu großen Teilen strukturfunktional betrachtet wird

    Ich möchte dir in deiner diesbezüglichen Kritik aber gerne soweit folgen und in Frage stellen, ob „der“ Antifaschismus ausreicht, um das Wesen und die Operationsweise einer Diktatur zu erfassen.

    Die gut/böse – Hypothese finde ich gut, ich hätte es nicht über „den“ Antifaschismus gemacht, weil da wird es einfach zu schwammig.

    Jedenfalls, du hast recht: irgendwie sind wir gezwungen, eine Seite zu beobachten, während man die andere Seite ausklammert. Und an diesem Punkt wirds erst recht spannend: Wie wird diese Paradoxie entfaltet? Dazu schreibst du einiges. Wieviel könnte man mit anderen Herangehensweisen noch erkennen? Und da kann man noch viel schreiben 😉

    Gib mir Bescheid, wenn du wieder einen neuen Artikel hast.

    A.

  2. Welzers Beobachtungen bestätigen sich auch bei Ex-Häftlingen, die über Details ins Schwärmen kommen, weil diese nämlich ihr Leben ausmachten, das sie ja im Knast einigermaßen gemeistert haben. Das habe ich sogar schon bei KZ-Häftlingen erlebt. Von Ex-Soldaten will ich gar nicht erst reden. Nach ihren Erzählungen hätten sie den Krieg gewinnen müssen.

    Ohne die Fähigkeit, selbst aus der schlechtesten Lage etwas zu machen, das man anschließend toll findet, könnte der Mensch doch gar nicht existieren.

  3. @ Arthur Coffin: Schaue einfach regelmäßig hier rein, am besten so alle ein bis zwei Wochen.

    @ Dox:
    Das stimmt, aber ich glaube, bei der Verklärung der NS-Zeit handelt es sich nicht nur um ein Schönreden der Vergangenheit. Die meisten Leute waren damals ja wirklich begeistert von dem Regime.

  4. Aus aktuellem Anlass – nämlich der Sperrung des Kommentators Emmettgrogan und der Löschung seines letzten Kommentars – möchte ich hier zwei Dinge klarstellen:

    Erstens: Ich bin nicht verpflichtet, mir in meinem eigenen Blog ans Bein pinkeln zu lassen und werde dergleichen auch in Zukunft nicht dulden.

    Zweitens: Für alle, die es immer noch nicht bemerkt haben sollten, sage ich es laut und deutlich: IN DIESEM BLOG WERDEN HEILIGE KÜHE GESCHLACHTET, LEBENSLÜGEN VERNICHTET UND ILLUSIONEN PULVERISIERT! Wer damit nicht leben kann, braucht meine Texte nicht zu lesen und schon gar nicht zu kommentieren. Und wer aus solchen Gründen ausfallend wird, ist hier unerwünscht!

  5. Manfred,

    Natuerlich ist es Dein gutes Recht, auf Deinem Blog nach eigenem Gutduenken zu loeschen und zu sperren. Nur zwei kleine Bemerkungen am Rand: Weil Du Emmettgrogans letzten Beitrag geloescht hast und seine bisherigen Kommentare sich alle vernuenftig lasen, ist nicht nachvollziehbar, warum Du ihn gesperrt hast. Dein Zeitens koennte auch so verstanden werden, dass Du keinen Widerspruch duldest. Ich weiss, dass das nicht der Fall ist. Aber waere es nicht besser, Kriterien zu entwicklen, welche Art von Kommentar Du akzeptierst und was nicht? Dein Anspruch, Du koenntest „Lebensluegen“ bei anderen (die Du womoeglich gar nicht kennst) diagnostizieren und nolens volens „vernichten“, wirkt ueberzogen.

  6. Hm. Was mach ich jetzt mit dem einen Großvater, der, weil er sich weigerte in die NSDAP einzutreten mit über 50 Jahren als Kriegseisenbahner nach Russland geschickt wurde und was mach ich mit dem andren Großvater, der enteignet – man nahm ihm als Landwirt all sein Land – wurde, weil er sich weigerte in die NSDAP einzutreten? Waren alle beide doch verkappte Nazis?

    Hm…

  7. @ beer7:

    Deine Bitte um Erläuterung stellt mich vor ein Dilemma, und zwar vor dasselbe Dilemma, zu dessen Vermeidung ich bestimmte Kommentare hier nicht dulde (zum Beispiel den von Emmettgrogan): Ich kann ihn entweder unkommentiert stehen lassen, dann sieht es so aus, als hätte ich ihm nichts entgegenzusetzen. Oder ich setze mich damit auseinander, dann kritisiere ich ihn zwar, erkenne ihn aber gerade durch die Kritik als an sich legitime und diskussionswürdige Meinungsäußerung an.

    Andererseits verstehe ich, dass Du etwas genauer wissen willst, was ich als illegitim und nicht diskussionswürdig betrachte:

    (Es ist unvermeidbar, dass ich dabei aus Emmettgrogans Kommentar zitieren muss, was insofern unfair ist, als er sich nicht verteidigen kann. Ich bitte die Zitate nur als Beispiele für das aufzufassen, was ich mir nicht gefallen lasse.)

    Grundsätzlich gilt das was auf der Seite „Über mich“ steht, nämlich, dass ich unter anderem all das zensiere, was beleidigend und unter der Gürtellinie ist. Dazu zählt solche Kritik, die auf die Person statt auf die Sache zielt. Wobei ich nicht kleinlich bin: Wir sind alle Menschen, und Jedem kann im Eifer des Gefechts mal ein falscher Ton rausrutschen. Ich kann schon einmal einen Rempler vertragen, so wie neulich, als Thatcher meinte, mein Blog diene wohl nur meiner Selbstbeweihräucherung. Nur war das erstens ein ganz kurzes Statement, offenbar aus einem momentanen Ärger heraus geschrieben, und zweitens hatte er sich von mir persönlich angegriffen gefühlt. Ich hatte es zwar so gar nicht gemeint, muss aber zugestehen, dass man es so auffassen konnte, und dann verstehe ich, dass sich einer ärgert.

    Dagegen kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern, jemals auch nur eine Silbe geschrieben zu haben, die Emmettgrogan als Angriff auf seine Person hätte werten können. Er hatte nicht den geringsten Anlass, ein anderthalbseitiges Pamphlet zu schreiben, dass ausschließlich gegen mich als Person zielte und von Sätzen strotzte wie:

    „Dein Denken ist um die Selbstamnestie zentriert. Du bist gefangen und befangen.“ Oder: „Für dich sind das [die PDS] auch keine mit unserem Steueraufkommen finanzierte Antidemokraten, sondern Landsleute. Den Zusammenhang zwischen diesen Sozialisten und dem Nazismus siehst du ja auch nicht.“ Oder: „..weißt Du doch gar nicht, was die meisten Deutschen darüber denken.“

    „DEIN Denken“ – „DU bist“ – „DU siehst nicht“ – „DU weißt nicht“. Und das nicht hier und da, sondern durchgehend. Das zielt auf die Person, nicht auf die Sache.

    Der nächste Punkt war die Unterstellung, ich würde mir meine Kernthese, nämlich dass der Nationalsozialismus ein gemeinsames Projekt der deutschen Nation war, aus den Fingern saugen. Ich wollte ursprünglich Emmettgrogan nicht sperren, sondern eine Replik schreiben. Ich fing also an, Literaturhinweise zusammenzustellen, Wahl- und Umfrageergebnisse anzuführen, die Plausibilität der Gegenthese zu erschüttern…

    Am Beginn der zweiten Seite fragte ich mich: Was mache ich da eigentlich? Diesen Aufwand treiben, um eine völlig aus der Luft gegriffene Verleumdung zu widerlegen (nämlich die Behauptung, ich würde die empirische Basis meiner Thesen erfinden)? Ich habe in diesem Blog rund sechzig Beiträge veröffentlicht, an denen Jeder, der nicht völlig vernagelt ist, ablesen kann, dass ich sehr sorgfältig argumentiere. Ich habe es nicht nötig, mir Inkompetenz unterstellen zu lassen. Und ich bin auch nicht bereit, über ein solches Stöckchen zu springen, nur weil mir das hingehalten wird.

    Schon gar nicht von einem, der meine Thesen mit denen von Wilhelm Heitmeyer verquirlt (die das genaue Gegenteil von meinen sind, wie auch aus dem Artikel hervorgeht), um seinen Rundumschlag gegen die Sozialwissenschaften insgesamt mit dem Satz zu schließen: „Da lob ich mir doch meine naturwissenschaftlich-technische Ausbildung.“ Es ist jedermanns gutes Recht, Vorurteile zu haben, meinetwegen auch gegen Sozialwissenschaftler. Er kann aber nicht erwarten, die ausgerechnet im Blog eines Sozialwissenschaftlers zum Besten geben zu können. Zumal ich mich nicht erinnern kann, mich gegenüber meinen Kommentatoren jemals aufs hohe Ross gesetzt zu haben nach dem Motto: „Wer nicht Soziologie oder Politische Wissenschaft studiert hat, kann bei solchen Themen sowieso nicht mitreden“, oder so ähnlich. Da habe ich das Recht, mir auch die entgegengesetzte Frechheit nicht bieten zu lassen.

    Und was die Lebenslügen angeht: Ich spreche in meinen Artikeln nicht von den Heiligen Kühen, Lebenslügen und Illusionen von Einzelpersonen (insofern kann nicht die Rede davon sein, dass ich jemanden beurteilen würde, den ich nicht kenne), sondern von denen ganzer Großkollektive, also zum Beispiel des Westens oder der Linken. Im vorliegenden Fall ging es um die der Deutschen. Selbstverständlich ist es wiederum jedermanns gutes Recht zu behaupten – natürlich auch in diesem Kommentarstrang -, diese Lebenslügen seien gar keine. Darüber kann man diskutieren. Wer sich aber solche gesellschaftsbezogenen Thesen, also eine sachliche Meinungsverschiedenheit, zum Anlass nimmt, mich persönlich anzugreifen und sogar zu beleidigen, der bekommt die Rote Karte, und zwar sofort und unwiderruflich.

  8. @ jolly rogers,

    weißt Du, das was Welzer erforscht und geschrieben hat, deckt sich voll und ganz mit meinen Erfahrungen: In praktisch jeder deutschen Familie behauptet man, die jeweils eigenen Eltern und Großeltern seien Antinazis gewesen, und fast jede Familie hat ihre Judenretterlegende. Wenn die alle wahr wären, wären in Deutschland unter Hitler mehr Juden gerettet worden als seit den Tagen Abrahams gelebt haben. Und wenn Alle, die nach 1945 dagegen gewesen sein wollen (aber zu über siebzig Prozent noch 1947(!) der Meinung waren, der Nationalsozialismus sei eine gute Idee gewesen, die bloß schlecht ausgeführt worden sei), schon VOR 1945 dagegen gewesen wären, dann wäre das Dritte Reich keine drei Tage alt geworden.

    Natürlich kann es sein, dass Deine Angehörigen die große Ausnahme waren. Ich meine das gar nicht ironisch, es ist ja tatsächlich möglich.

    Ich halte es nur für völlig absurd anzunehmen, dass ein System wie der Nationalsozialismus, der auf der restlosen Mobilisierung aller Kräfte beruhte, ohne eine breite loyale Massenbasis und gegen den auch nur passiven Widerstand einer Mehrheit sich hätte halten können. (Allein schon die Leistungen der Wehrmacht, die ja eine Wehrpflichtigenarmee war, also einen ungefähren Querschnitt der Nation repräsentierte, wären ganz unmöglich gewesen, wenn sie aus verkappten Antinazis bestanden hätte. Unmotivierte Soldaten sind schlechte Soldaten, das weiß jeder Unteroffizier, und die deutschen Soldaten waren als solche alles andere als schlecht.)

  9. @Manfred:

    Ich halte es nur für völlig absurd anzunehmen, dass ein System wie der Nationalsozialismus, der auf der restlosen Mobilisierung aller Kräfte beruhte, ohne eine breite loyale Massenbasis und gegen den auch nur passiven Widerstand einer Mehrheit sich hätte halten können.

    Auch auf die Gefahr hin, von Ihnen nicht gemocht zu werden 😉 , erlaube ich mir einige kritische Anfragen:

    1.) eine „breite loyale Massenbasis“ heißt aber noch bei weitem nicht, daß praktisch die gesamte Bevölkerung dazuzuzählen wäre. Bereits eine Basis von, sagen wir mal: 20% würde ich als völlig ausreichend ansehen — wenn diese 20% an den Schalthebeln der Macht sitzen, haben die restlichen 80% keine reale Chance!

    2.) auch passiver Widerstand (etwa im Sinne Gandhis) setzt ein hohes Maß an Engagement und persönlicher Gefährdungsbereitschaft voraus. Beides kann man m.E. nicht „verlangen“ — es sei denn, man betrachtet Märtyrer nicht als exzeptionelle und verehrungswürdige Erscheinungen, sondern als die „verdammte Pflicht und Schuldigkeit“ für Otto und Ottilie Normalverbraucher. Was ich allerdings für einen realitätsfremden, total überzogenen Anspruch ansähe!

    3.) In logischem Fortdenken Ihrer Ansätze hieße das, daß (praktisch) alle Spanier einst Franquisten, (praktisch) alle Chinesen heute Kommunisten, (praktisch) alle Iraner Islamisten etc. sind — was ich, pardon l’expression, für Unfug halte!

    Allein schon die Leistungen der Wehrmacht, die ja eine Wehrpflichtigenarmee war, also einen ungefähren Querschnitt der Nation repräsentierte, wären ganz unmöglich gewesen, wenn sie aus verkappten Antinazis bestanden hätte. Unmotivierte Soldaten sind schlechte Soldaten, das weiß jeder Unteroffizier, und die deutschen Soldaten waren als solche alles andere als schlecht.

    Sorry, aber das hakt hinten und vorne! Sonst müßten Sie ja auch argumentieren, daß die Rote Armee (auch alles andere als schlecht!) aus lauter glühenden Stalinisten bestand. Nein: ein Russe, der die Deutschen aus der Heimat vertreiben und seine Landsleute schützen wollte, war deshalb noch lange nicht notwendig ein Stalinist. Und ein Deutscher (oder auch Österreicher), der verhindern wollte, daß die Russen seine Landsleute vertreiben und/oder umbringen wollte, war deshalb ebenso noch lange kein Nazi. Der war vielleicht deutschnational (und oft nicht einmal das — oder wenigstens nicht mehr, als ein Franzose „französischnational“ oder ein Amerikaner „amerikanischnational“ war!), aber deshalb noch immer nicht notwendigerweise ein Nazi.

    In praktisch jeder deutschen Familie behauptet man, die jeweils eigenen Eltern und Großeltern seien Antinazis gewesen, und fast jede Familie hat ihre Judenretterlegende. Wenn die alle wahr wären, wären in Deutschland unter Hitler mehr Juden gerettet worden als seit den Tagen Abrahams gelebt haben. Und wenn Alle, die nach 1945 dagegen gewesen sein wollen (aber zu über siebzig Prozent noch 1947(!) der Meinung waren, der Nationalsozialismus sei eine gute Idee gewesen, die bloß schlecht ausgeführt worden sei), schon VOR 1945 dagegen gewesen wären, dann wäre das Dritte Reich keine drei Tage alt geworden.

    Das ist, neidlos zugestanden, sehr griffig und polemisch zugespitzt textiert. Aber m.E. nur ein Teilbereich der Wirklichkeit. Keine Frage, daß Wünsche in die Vergangenheit porjeziert werden. Keine Frage, daß Geschichtsklitterungen stattfanden. Nur: wenn 70% 1947 der Meinung waren „der Nationalsozialismus sei eine gute Idee gewesen, die bloß schlecht ausgeführt worden sei“, dann sollten Sie vielleicht auch dazuschreiben, was das wohl besagen wollte! Glauben Sie ernstlich, daß die „schlechte Ausführung“ sich etwa darauf bezog, daß man 1947 Auschwitz als zu wenig effektiv in der Judenvergasung ansah? Daß man von den Nazis mehr und grausamere Kriege gefordert hätte? Daß man effektivere Formen der Untermenschenunterjochung ersehnte?

    Ich glaube das nicht. Ich denke eher, daß 1947 jenes Fascinosum des Nationalsozialismus eben noch nicht aus den Hirnen verschwunden war, das einen Neuanfang einer besseren Gesellschaft verhieß. Wie heutigen Skeptiker „wissen“ natürlich, daß das nur Trugbilder und Nebelstreifen sind — aber damals hingen praktisch alle (und ich wiederhole: alle) irgendwelchen Trugbildern an! Ob Sie nun das Trugbild des Kommunismus umarmten, oder das einer „ständisch-sozialen Gesellschaft“. Und, Hand auf’s Herz: sind wir heute denn soviel besser und klüger?

    Das Dritte Reich ist älter als 3 Tage geworden. Stalins Herrschaft hat länger als 3 Tage gedauert. Die Briten waren in Indien nicht nur 3 Tage. Es ist m.E. vermessen, jetzt ironisch „Opa war kein Nazi“ in Anführungszeichen zu setzen und damit zu behaupten, er war ja doch einer. Es ist einfach zu billig und zu ungerecht.

    Ein persönliches P.S., wenn’s gestattet ist:

    Einer meiner Großväter war ein Nazi (als Parteimitglied). Ich kannte ihn nie (er starb vor meiner Geburt, während des 2. Weltkriegs, als Pensionist). Er war (wie viele Lehrer in Österreich) zeitlebens „deutschnational“ gewesen und dann der NSDAP beigetreten, weil er wohl dachte, daß die sein geliebtes Vaterland (das jahrzehntelang, rechtlich genommen, sein Vaterland gar nicht war!) vorwärtsbringen würden. Er war (nach den Erzählungen meines Vaters und den Photos, die ich sah, zu schließen) ein Mann der schönen Dinge des Lebens — „Wein, Weib, Gesang“. Kein KZ-Wächter. War er also (trotz PG-Status) ein „Nazi“? Nämlich in jener Bedeutung, wie heute „Nazi“ verstanden wird — hart, zackig, unbarmherzig, Knobelbecher, mordlüstern, fanatisch vernagelt. Ich habe meine Zweifel …

    Mein anderer Großvater war sicher kein Nazi, der war nämlich Kommunist (sehr zum Mißfallen meiner fromm-christlichen Großmutter). Und war im 3. Reich sehr auf „unauffällig“ unterwegs — wer konnte es ihm auch verdenken! Er war wegen vorgerückten Alters und kriegswirtschaftlich wichtigen Berufs „unabkömmlich“. Er kam irgendwie durch. Wie? Keine Ahnung. „Nazi“ war er aber wohl keiner.

    Und schließlich haben wir noch die „Judenrettungslegende“, die ich aber, da ich als Kind die gerettete Person („Tante Nowak“ genannt) persönlich gut kannte und oft zu Besuch sah, nicht so ganz als „Legende“ diffamiert wissen will. Sicherlich, der größern Teil des Verdienstes kommt dem tapferen Ehemann dieser Frau zu, der sich einfach weigerte, sich von seiner (jüdisch geborenen, in den 20er-Jahren zum Katholizismus konvertierten) Gattin scheiden zu lassen. Und auch jenem SS-Offizier, dessen Frau sie als Hausgehilfin beschäftigte, der seine schützende Hand über sie hielt (ihre Verwandschaft landete freilich im KZ und überlebte es größtenteils nicht). Aber ein bißchen kommt eben auch ihrer besten Freundin, meiner fromm katholischen Großmutter zu. Die freilich 1943 der NSDAP beitreten mußte, als in ihrem Büro von Kolleginnen gegen sie gemobbt wurde. Die deshalb 1945 auch rausgeschmissen wurde, wohingegen eine der lieben Kolleginnen, die zwar 1938 begeistert der NSDAP beigetreten war, 1944/45 noch rechtzeitig zur — begeisterten, können wir annehmen — Widerstandskämpferin und sozialistischen Antifaschistin mutierte, zur neuen Leiterin des Büros mutierte …

    Keine Mißverständnisse: ich gedenke nicht, meine Vorfahren fewa-weiß waschen zu wollen. Sie werden (wie wir alle, wenn wir ehrlich sind) ihre Fehler und Schwächen gehabt und wohl auch mehr oder weniger Unrecht getan haben. Nur stört mich angesichts der Tatsache, daß dies unsere gemeinsame conditio humana ist, etwas, darüber die Häme eines „Opa war kein Nazi“ zu gießen.

  10. @ LePenseur:

    Ihre kritischen Einwände haben mich veranlasst, meine Position noch einmal grundsätzlich zu verdeutlichen (in dem neuen Beitrag „Deutsche und Nazis“).

    Zu einigen Punkten, die ich dort nicht behandle, nehme ich aber gleich hier noch einmal Stellung:

    Zum einen gehe ich nicht davon aus, dass das Verhalten von Einzelpersonen in sich schlüssig sein muss: Der SS-Offizier, der Juden versteckte, oder der Gauleiter (Kube), der sie schützte (bis sowjetische Partisanen ihn töteten), werden schwerlich von sich behauptet haben können, keine Nazis gewesen zu sein und das Regime nicht an anderer Stelle engagiert unterstützt zu haben. Umgekehrt mag es frühere Sozialdemokraten gegeben haben, die als Polizeibeamte in besetzten Gebiten eingesetzt waren und dort auch an Morden beteiligt waren. Es gibt hier kein Schwarz oder Weiß, sondern meistens ein Grau (oder, wenn Ihnen das lieber ist, ein chaotisches Schwarzweißmuster).

    Mir geht es darum, vor den Konsequenzen eines Geschíchtsbildes zu warnen, das auf der Verallgemeinerung von Familiengeschichten basiert und dann zwangsläufig dazu führt, dass man unterschätzt, in welchem Maße der Nationalsozialismus auf einen nationalen Grundkonsens bauen konnte.

    Zu der Frage, ob ich alle Sowjetbürger für Stalinisten halte oder ob

    „(praktisch) alle Spanier einst Franquisten, (praktisch) alle Chinesen heute Kommunisten, (praktisch) alle Iraner Islamisten etc. sind — was ich, pardon l’expression, für Unfug halte!“:

    Die Antwort differiert je nachdem, welches der als Beispiel angeführten Völker ich betrachte:

    Zunächst unterscheide ich zwischen autoritären und totalitären Systemen. Der Unterschied ist, grob gesagt, dass ein autoritäres Regime, wie das Francos, von seinen Bürgern letztlich nur die Erfüllung der drei friderizianischen Gebote fordert (Steuern zahlen, Soldat werden, Maul halten), während ein totalitäres Regime die von ihm Regierten dazu kriegen will, nicht einmal oppositionelle GEDANKEN zu hegen, zu welchem Zweck es sie permanent auf Trab hält. In diesem Sinne waren die Spanier keine begeisterten Franqisten und mussten es aus der Sicht des Regimes auch nicht sein. Franco verdankte zudem seine Macht keinem plebiszitären Akt, sondern der militärischen Vergewaltigung eines Großteils seines eigenen Volkes, wahrscheinlich einer Mehrheit. Das genügte, um an der Macht zu bleiben. Er konnte sich aber gerade deshalb (also nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern weil er ein gespaltenes Volk regierte) nicht leisten, sich an Hitlers „Kreuzzug gegen den Bolschewismus“ zu beteiligen.

    Wenn ich, um es bei dem einen Beispiel zu belassen, bedenke, dass selbst Gulag-Insassen bei der Nachricht von Stalins Tod weinten, dann glaube ich schon, dass die Sowjetbürger in ihrer Mehrheit Stalinisten waren – schon mangels geistigen Alternativen – und zwar schon vor dem deutschen Angriff.

    Die Chinesen sind heute natürlich keine Kommunisten, was schon daran liegt, dass die Mitglieder der KP es selbst nicht sind. Wenn sie die Frage aber auf die Zeit Maos beziehen: Natürlich waren die praktisch alle Kommunisten.

    Und was den Iran angeht: Dessen Revolution ist mitsamt dem dazugehörigen Regime in die Jahre gekommen, und das regime hat einiges dazu getan, die eigenen Machtgrundlagen zu unterminieren. Wenn sie die Frage aber auf die achtziger Jahre beziehen, dann bin ich ziemlich sicher, dass Khomeini jederzeit eine satte Mehrheit bekommen hätte, auch in freien Wahlen. Ich vermute sogar, dass selbst heute noch eine wenn auch knappe Mehrheit das Konzept „islamische Republik“, also die weitgehende Herrschaft der Scharia und des sie interpretierenden Klerus unterstützt.

  11. Kommentator Peter Gast, Guest, Kommentator, Kritikus, und was Sie sich sonst noch an Pseudonymen zugelegt haben, ohne wenigstens eine gültige E-Post-Adresse anzugeben: Kommentatoren ohne gültige E-Mail-Adresse kommen hier nicht zu Wort. Sie sind gesperrt, und versuchen Sie es nicht noch einmal. Ich will auch keine Ihrer dussligen E-Mails mehr bekommen!

    Manfred

Kommentare sind geschlossen.