Mir scheint, dass politische Werte in dem Moment zum Totalitarismus tendieren, wo man sie als universell gültig auffasst. Das gilt sowohl sachlich als auch räumlich: Sachlich bedeutet es, dass solche Werte sich schwertun, politik- und ideologiefreie Lebensbereiche zuzulassen (etwa die Autonomie der Religion zu respektieren), während sie in räumlicher Hinsicht auf die Intoleranz gegenüber der Existenz von Systemen hinauslaufen, die auf anderen Wertprämissen basieren. Liberalismus, Kommunismus und Islam (in seiner Eigenschaft als politische Ideologie), so unterschiedlich sie sonst sind, konkurrieren miteinander auf der Basis gleichartiger Ansprüchen auf universelle Gültigkeit.
Dieser Anspruch auf Universalität ist bereits per se ein Indiz für den religiösen Charakter der jeweiligen Doktrin, die keine Götter neben sich duldet. Dies gilt also nicht nur in Bezug auf den Islam, wo sich das von selbst versteht, und den Kommunismus, dessen Verheißung innerweltlicher Erlösung ihn schon immer als säkulare Religion ausgewiesen hat. Es gilt auch für den westlichen Liberalismus, und es ist kein Zufall, dass dessen totalitäre Züge umso stärker hervortreten, je schwächer, global gesehen, seine Gegner sind.
Es geht hier – wohlgemerkt – nicht darum, ob diese westlichen Werte etwas Gutes oder etwas Schlechtes sind. Demokratie, einklagbare Bürgerrechte, Rechtsstaatlichkeit – das wünsche ich mir für mein eigenes Land sehr wohl (und umso mehr, je stärker es unter den Beschuss angeblich liberaler Eliten gerät). Diese Dinge sind aber Ergebnisse einer historischen Entwicklung, sie passen zu einem ganz bestimmten kulturellen und religiösen Hintergrund – aber eben nicht zu jedem.
Dass politische Werte nicht ohne weiteres aus einem Kontext in den anderen verpflanzt werden können, lehrt bereits die Regelmäßigkeit, mit der die Demokratisierung der islamischen Welt scheitert. Aber auch im Hinblick auf Europa scheint mir, dass die Globalisierung, die Ent-Grenzung, die Strukturauflösung im Namen liberal-individualistischer Doktrinen längst ein Maß erreicht hat, das uns vor die Wahl stellt, entweder zurückzurudern oder unterzugehen.
Im Zuge des lang andauernden Konflikts zwischen Liberalismus (Kapitalismus) und Sozialismus als konkurrierenden Heilslehren ist geradezu in Vergessenheit geraten, dass politische Wertvorstellungen nicht von Natur aus universalistisch sind; dass vielmehr die Partikularität, die sachliche und räumliche Begrenzung ihres Gültigkeitsbereiches menschlichem Maß womöglich viel eher gerecht wird als eine Doktrin, die sich als politischer Passepartout versteht.
Wenn man sich von der Herrschaft jener unhinterfragten Selbstverständlichkeiten freimachen will, die für Liberalismus und Kommunismus gleichermaßen gelten, dann lohnt es sich, an die verschütteten geistigen Traditionen der deutschen Rechten anzuknüpfen – nicht, um sich nun wiederum irgendeiner, diesmal rechten, Heilslehre anzuschließen, sondern weil es sich um eine geistige Tradition handelt, die das Eigenrecht des Partikularen betont. Ich habe mir deshalb dieser Tage Carl Schmitts „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ von 1941 vorgenommen:
Schmitts Analyse geht von der Monroe-Doktrin von 1823 aus, also von dem klassischen Prinzip amerikanischer Außenpolitik, Einmischungen europäischer Mächte auf den amerikanischen Kontinenten nicht zu dulden, die Selbstbestimmung der amerikanischen Staaten zu schützen, Kolonisierung und militärische Interventionen von außerhalb gegebenenfalls mit Gewalt zurückzuweisen.
Da diese Doktrin etwa seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert häufig als Mäntelchen für eine höchst imperialistische Politik gegenüber Lateinamerika (und sogar über die Amerikas hinaus, d.h. als Grundlage des Globalismus) herhalten musste, erinnert Schmitt daran, dass der historische Ausgangspunkt ein ganz anderer und sogar gegenteiliger war: nämlich die Zurückweisung eines drohenden Universalitätsanspruches der Heiligen Allianz. Es ging also darum zu verhindern, dass das in Europa frisch restaurierte Prinzip der monarchischen Legitimität auf Amerika (praktisch auf den ganzen Planeten) ausgedehnt wurde. Schmitt sieht darin den Beginn einer neuen und zukunftsweisenden Idee, nämlich der Idee der Großraumordnung. „Großraumordnung“ heißt, dass ein Raum, größer als ein Staat, aber kleiner als der Planet, aufgrund der politischen Ideen seines stärksten Volkes völkerrechtlich ausgestaltet wird. Ein solches Völkerrecht ist naturgemäß partikular.
In Amerika selbst, so fährt Schmitt fort, erfuhr diese Idee allerdings gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Umdeutung ins Gegenteil, und zwar unter dem Einfluss britischer Ideen. Das britische Empire war ja so etwas wie die erste Globalisierung, und das britisch beeinflusste Völkerrecht basierte auf der Annahme universell gültiger Rechtsprinzipien, die – natürlich rein zufällig – mit den Interessen des Empire konform gingen (Freiheit der Meere etc.).
Schmitt arbeitet sehr scharf den Gegensatz zwischen dem amerikanischen Konzept der partikularen und dem britischen der globalen Ordnung heraus. Und in der Tat: Ich habe zwar bisher immer die amerikanischen Werte „life, liberty and the pursuit of happiness“ (noch dazu, wenn man sie als „self-evident truths“, d.h. als universell gültig auffasst) unter dem Gesichtspunkt betrachtet, wie sehr sie einer weltweiten Ausdehnung des Liberalismus Vorschub leisten, aber Schmitts Aufsatz bringt mich doch ins Grübeln. Es besteht ja ein nie völlig überzeugend aufgelöster Widerspruch zwischen dem amerikanischen Volkscharakter und dem amerikanischen Globalismus:
Auf der einen Seite ein Volk, dessen politisches Wertesystem erkennbar bis heute das einer Bauerndemokratie ist, und das das Eigenrecht des Partikularen betont, des Lokalen, des Regionalen, der religiösen Dissidenz, der Bundesstaaten und des Individuums gegebenenfalls auch gegen die Machtansprüche selbst eines noch so demokratischen Staates.
Auf der anderen Seite ein „Internationalismus“, der liberale Ordnungsvorstellungen der ganzen Welt aufzwingen will, und dies notfalls mit Gewalt.
Diese letztere Disposition scheint auch mir bei näherem Hinsehen eher britisch-imperialen als amerikanischen Traditionen zu entspringen, und die Briten sind ja auch heute noch die größten Globalisierungsmasochisten der westlichen Welt, viel mehr als die Amerikaner.
(Ich bin immer noch am Rätseln, was am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwischen den Eliten beider Länder eigentlich vorgegangen ist. Auffallend ist jedenfalls, dass innerhalb eines Zeitraumes von höchstens fünfzehn Jahren beide Länder, die bis dahin erbittert konkurriert hatten, zu einem nahezu allumfassenden politischen Gleichklang gefunden haben; dass sie sich scheinbar ohne zwingenden Grund gegen Deutschland wandten; und dass ihre politischen Ordnungsvorstellungen zunehmend auf ein Welt-Völkerrecht nicht nur als Mittel der Konfliktregulierung, sondern der Konfliktverhinderung, ja geradezu der Entpolitisierung der internationalen Beziehungen hinausliefen. Ich kann es nicht beweisen, halte es aber für eine plausible Hypothese, dass Deutschland ausgeschaltet werden musste, weil es einem solchen Projekt durch seine schiere Macht, aber auch durch seine nichtliberalen Traditionen im Wege stand. Ob die Briten schon wussten, dass sie auf dem absteigenden Ast saßen und die Verbindung mit den Amerikanern suchten, um, wenn schon nicht Macht, so doch wenigstens Einfluss zu behalten? Auffallend ist jedenfalls, mit welcher Gelassenheit und Selbstverständlichkeit die Briten schon vor dem 2.WK begannen, ihre weltweiten Positionen zu räumen, in die dann die Amerikaner einrückten. Als wäre damit nur vollzogen worden, was von langer Hand geplant gewesen war.)
Schmitt deutet den Gegensatz zwischen seinem Großraumkonzept und der angelsächsichen Konzeption des Globalismus als zwei verschiedene Wege, einen unter dem Einfluss technischer und wirtschaftlicher Entwicklungen relativierungsbedürftig gewordenen Staatsbegriff zu überwinden, zumindest aber neu zu deuten:
Das Konzept des liberalen Universalismus tendiert zur Abschaffung des Staates durch Übertragung aller Rechte zum einen nach unten – an das Individuum -, zum anderen nach oben – an die globalen Institutionen, letztlich an einen Weltstaat.
Schmitt selbst relativierte den Staat – ohne ihn in seiner Ordnungsfunktion freilich ersetzen zu wollen – in anderer Weise: Auf der einen Seite nach unten durch die Aufwertung des Volkes (in der liberalen Doktrin gibt es zwischen dem Staat und dem Einzelnen ja nichts, das „Volk“ als gedachter Souverän ist dort nicht mehr als eine fiktive Versammlung von Einzelpersonen); auf der anderen Seite nach oben durch die Einführung des Reichsbegriffs als völkerrechtlicher Kategorie. Dieser Begriff läuft im vorliegenden Zusammenhang darauf hinaus, unter „Reich“ die Einheit zu verstehen, die die völkerrechtlichen Regeln für den von ihr beherrschten Großraum setzt, und zwar auf der Basis der derjenigen Ideen, die für ihr eigenes Volk charakteristisch sind.
Spätestens an dieser Stelle stößt man auf die Problematik des ganzen Entwurfs, wenn nicht sogar auf eine möglicherweise unüberwindbare „Dialektik des Antiglobalismus“, wenn dieser verhorkheimerte Ausdruck gestattet ist:
Es liegt in der Natur der Sache, dass zwischen Völkern irgendwelche Umgangsregeln gelten, und auch wenn man die nicht in ein formalisiertes Rechtssystem fassen will, so ist etwas wie eine internationale Geschäftsmoral doch unerlässlich. In Großräumen, in denen es eine Hegemonialmacht gibt, werden deren Interessen wie von selbst die Grundlage dieser Regeln bilden (Schmitt hat das ja mit Blick auf die Monroedoktrin gezeigt). Umfasst der Großraum den gesamten Planeten, sprechen wir von Globalisierung bzw. Globalismus. Will man diesen Zustand nicht, so bleibt kaum eine andere Wahl, als einen eigenen Großraum unterhalb der globalen Ebene zu schaffen. Und dann reproduziert sich innerhalb dieses Raumes nahezu unweigerlich die Tendenz zu „Rationalisierung“, Vereinheitlichung und Nivellierung, mindestens aber zur Herstellung von Verhältnissen existenzieller Abhängigkeit von der Führungsmacht. Auf dem amerikanischen Kontinent war das jedenfalls der Fall, unter der kurzlebigen deutschen Hegemonie in Europa erst recht. (Und selbstverständlich habe ich nicht übersehen, dass Schmitts Arbeit ausgerechnet aus dem Jahr 1941 stammt, als es für ihn galt, ein solches Hegemonialprojekt ideologisch und juristisch abzusichern.)
Es handelt sich um ein echtes Dilemma, weil man sozusagen den Teufel mit Beelzebub austreiben muss. Das bedeutet zumindest eines: dass es kein „ideales“ System geben kann, und dass man ein solches auch gar nicht erst anstreben sollte. Was man aber anstreben sollte, wenn es zur Abwehr des Globalismus schon so etwas wie einen europäischen Großraum geben muss (und wir voraussetzen, dass er nicht durch deutsche Hegemonialpolitik zustande kommt), ist die Europäisierung rechten Gedankenguts; was zum einen bedeutet, sich auf europäischer Ebene besser zu vernetzen als bisher; zum anderen aber, den Globalisten den Begriff „Europa“ streitig zu machen und ihn konservativ zu deuten, um so etwas wie eine gemeinsame Sprache der europäischen Rechten zu finden.
(Dass die EU als Verkörperung des liberalen Europa-Begriffs alles andere ist als die organisatorische Form, in der Europa sich gegen den Globalismus behaupten könnte, liegt schon deshalb auf der Hand, weil sie die Völker Europas nicht nur im Verhältnis zueinander entgrenzt – was schon problematisch genug, aber wahrscheinlich noch tragbar wäre -, sondern vor allem im Verhältnis zur Außenwelt. Im Grunde ist die EU dazu da, Chaos von außerhalb zu importieren und zu kanalisieren, um die strukturelle Instabilität einer globalisierten Welt auszugleichen – wenigstens für eine Weile, bis Europas eigene Binnenstabilität zerstört ist.)
Ich selber habe mir zum Beispiel angewöhnt, nicht mehr von „Europäern“, sondern von den „Völkern Europas“ zu sprechen; analog sollte man statt von der „europäischen Kultur“ von den „europäischen Kulturen“ sprechen – wobei der Plural die Partikularitäten, das Wort „europäisch“ das Verbindende betont. Es liegt ja auf der Hand, dass die Völker Europas und ihre Kulturen bei aller jeweiligen Einzigartigkeit eng miteinander verwandt sind. Man sollte der Versuchung widerstehen, der gleichmacherischen Tendenz des liberalen Europa-Begriffs eine Begrifflichkeit gegenüberzustellen, in der diese verbindenden Momente (quasi aus Daffke) unterschlagen und nur noch nationale Partikularitäten betont werden.
Im Larvenstadium gibt es ja schon so etwas wie eine gemeinsame Sprache der Rechten in Europa (mit ebensovielen Dialekten, wie es Völker gibt), und eine rechte Gegenöffentlichkeit. Wenn es gelingt, dies weiterzuentwickeln, dann könnte eine Festung Europa womöglich ohne Hegemonialmacht auskommen, allein auf der Basis einer gemeinsamen, den Wert des Partikularen und historisch Gewachsenen betonenden rechten Ideologie.