Amerika, Du hast es besser!

Die Amerikaner gehören zu den faulsten Wahlbürgern der westlichen Welt. Selten übersteigt die Wahlbeteiligung die Sechzig-Prozent-Marke; oft wählt nicht einmal jeder Zweite. Woran auch immer das liegen mag – vielleicht daran, dass die Amerikaner schon immer wählen durften und es deshalb nicht wirklich zu schätzen wissen? – an der Inszenierung liegt es jedenfalls nicht.

Nirgendwo sonst wird Politik, speziell Wahlkampf, so fesselnd, so unterhaltsam, so sehr als sportlicher Wettkampf dargeboten wie gerade in Amerika. Das Duell Clinton-Obama, der Ausscheidungswettkampf McCain-Romney-Huckabee wären selbst dann spannend, wenn sie jedes politischen Inhaltes bar wären, eben wie ein Sportwettkampf, dessen Sieger ja auch kein „Programm“ zu haben braucht.

Und dann die skurrilen Abstimmungsmodi! Man denke nur an diese archaischen Caucuses in Iowa: kein neumodischer Klimbim, keine Wahlmaschinen, nicht einmal Stimmzettel; stattdessen muss man stundenlang anwesend sein, und die Wähler jedes Kandidaten stellen sich gruppenweise auf, werden zum Teil wieder abgeworben, gruppieren sich neu; wählen nicht schriftlich, nicht mündlich, erst recht nicht elektronisch, sondern physisch. So richtig demokratisch ist das alles nicht, wohl aber von einer gewissen erdigen Sinnlichkeit.

Schließlich der eigentliche Wahlabend: Nicht wie bei uns, wo man um fünf nach sechs schon weiß, wer gewonnen hat – wenn denn einer gewonnen hat -, sondern eine richtige Wahlnacht, in deren Verlauf Bundesstaat für Bundesstaat sein Votum abgibt und das Rennen sich über Stunden hinzieht und spannend bleibt. Auch das ist – wegen des rückständigen Wahlmännersystems – nicht so richtig demokratisch, aber prickelnd ist es allemal!

Natürlich muss ein politisches System nicht in erster Linie unterhaltsam sein, ich behaupte aber, dass das amerikanische System das Angenehme, weil Spannende, mit dem Nützlichen verbindet:

Demokratie ist, kurz gesagt, wenn freie Wahlen stattfinden; wenn man sich also zwischen Alternativen entscheiden kann. Das ist bei uns wie in Amerika der Fall. Was die Amerikaner uns aber voraushaben, ist das Recht zu entscheiden, zwischen was sie sich entscheiden dürfen.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie um Barack Obama oder um Mike Huckabee beneiden soll; ich beneide sie aber um die effektive Chance, Kandidaten wie eben Obama oder Huckabee auch gegen deren jeweiliges Partei-Establishment durchzusetzen.

Bei uns dagegen entscheidet genau dieses Establishment, wer sich zur Wahl stellen darf; und dieses Establishment existiert auf jeder Ebene: Bereits im Ortsverband sind die einfachen Mitglieder das mehr oder minder bereitwillig akklamierende Publikum für eine Gruppe von Insidern, bei denen die Fäden zusammenlaufen. Diese Insider finden sich auf der nächsthöheren Ebene ihrerseits in der Publikumsrolle gegenüber den dortigen Insidern, die wiederum das Publikum für die nächsthöhere Ebene stellen. Wer in einem solchen System aufsteigen will, kann gar nicht mit Aussicht auf Erfolg an die „Basis“ appellieren; das geht vielleicht einmal gut, aber sicher nicht zweimal.

Nein, wer aufsteigen will, ist darauf angewiesen, von der je nächsthöheren Insidergruppe kooptiert zu werden, und zwar auf jeder Ebene von Neuem. Was juristisch als innerparteiliche Demokratie daherkommt, ist politsoziologisch ein System der Selbstrekrutierung von Parteieliten: Wer aufsteigt, bestimmen die, die schon oben sind. Da liegt es auf der Hand, dass im Zweifel Derjenige Karriere macht, der den oben bestehenden Erwartungen entgegenkommt, der die dortigen Dogmen respektiert, der kalkulierbar ist.

Der berühmte „Stallgeruch“, den ein Parteipolitiker tunlichst haben sollte, ist nichts anderes als die Übereinstimmung mit einem bestimmten in der Partei vorherrschenden Habitus, der sich durch Selbstrekrutierung auch selbst verewigt. Dieses System begünstigt den fleißigen, aber unkreativen Konformisten (der freilich nicht mit der Gesellschaft konform geht, der er dienen soll, sondern mit einem Paralleluniversum namens „Partei“).

Auf die Eigenschaften, die ein Politiker haben muss, um Wähler an sich zu ziehen, womöglich gar zur nationalen Führungsfigur zu taugen, kommt es dabei bestenfalls sekundär an, weil die politische Karriere bei uns über die Parlamente führt. Da die nach dem Verhältniswahlrecht gewählt werden, da man also Parteien und nicht Personen wählt, benötigen die Parteien keine starken Individualisten. Im Gegenteil: Gerade solche Persönlichkeiten sind schwer zu dirigieren und stellen, wenn sie erst einmal im Parlament sitzen, für ihre Fraktionsspitze eine unkalkulierbare Gefahr dar.

Unsere Parlamente bestehen nämlich nicht aus Abgeordneten, sondern aus Fraktionen, und wenn es in Amerika gang und gäbe ist, die Wähler darüber zu informieren, wofür und wogegen der einzelne Angeordnete gestimmt hat, so wäre das bei uns hochgradig sinnlos: Man weiß ja, dass er mit der Fraktion votiert hat.

Er selbst übernimmt dabei nur formal die Verantwortung für Entscheidungen, die Andere für ihn getroffen haben. In der Logik unseres politischen Systems kann das auch nicht anders sein, weil der Mandatsträger, der gegen die Fraktion stimmte, die Regierungsfähigkeit seiner eigenen Partei aufs Spiel setzen würde – ein Problem, das der amerikanische Abgeordnete so nicht kennt, weil dort das Volk, nicht das Parlament den Regierungschef wählt. Natürlich tut sich auch ein amerikanischer Präsident oder Gouverneur leichter, wenn die Abgeordneten mehrheitlich aus seiner eigenen Partei kommen, aber angewiesen ist er darauf nicht.

Es ist dort sogar eher die Regel als die Ausnahme, dass Regierungschef und Parlamentsmehrheit aus unterschiedlichen Parteien kommen. Na und? Ein – sagen wir – republikanischer Präsident braucht nicht die Demokraten zu überzeugen, um seine Vorlagen durchzubringen, es genügt ihm, Einige zu sich herüberzuziehen; und die können sich das leisten, weil ihr Abstimmungsverhalten ihren Wählern gefallen muss, nicht ihrer Partei.

Was das amerikanische System so überlegen macht, ist die Tatsache, dass der Wähler jedes Amt und Mandat vom Präsidenten bis hinunter – in einigen Bundesstaaten – zum städtischen Hundefänger einzeln und direkt statt indirekt und nach Liste besetzt. Wer mit dem Gouverneur unzufrieden ist, kann ihn abwählen und muss sich keine Gedanken um die „Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat“ machen – den gibt es nämlich nicht. Wer von seinem Senator die Nase voll hat, stimmt für dessen Gegenkandidaten und muss sich nicht wirklich darum scheren, wie der Präsident damit zurechtkommt usw. – alles Rücksichten, die ein deutscher Wähler nehmen muss. Die Amerikaner können den Besten für die jeweilige Aufgabe wählen. Wir nicht.

Deswegen können sie auch jeden Einzelnen für sein eigenes Versagen und seine Misserfolge verantwortlich machen, während in Deutschland die Ausreden und Sündenböcke institutionalisiert sind: die Partei (hat dort bei weitem nicht den Einfluss wie hier), der Koalitionspartner (gibt es dort nicht), der Bundesrat (dito), die EU (dito).

Der direkte Einfluss des amerikanischen Wählers reicht bis in die Programmatik hinein: keine langwierige und fruchtlose Arbeit an Programmdebatten, deren Ergebnisse in der Praxis dann doch ignoriert werden, wie bei uns: Jenseits des Ozeans entscheidet der Wähler über Programme, indem er bereits in den Vorwahlen über Personen entscheidet.

Ich will das amerikanische System nicht idealisieren – es hat durchaus seine Schattenseiten, etwa die enorme Spendenabhängigkeit jedes Kandidaten und damit verbunden der Einfluss von Großspendern.

Mir geht es darum zu zeigen, warum so viele Menschen bei uns das Gefühl haben, „die da oben machen ja doch, was sie wollen“. Dieses Gefühl haben sie, weil es sich genau so tatsächlich verhält! Man kann sich wohl zwischen verschiedenen Parteien entscheiden, aber was einem die Parteien anbieten – personell und programmatisch – entscheiden deren Spitzen allein. Unsere Demokratie krankt daran, dass sie eine Parteiendemokratie ist, in der alle wesentlichen Entscheidungen von winzigen Eliten getroffen, werden, die ihren „Elite“-Status obendrein weniger ihrer Kompetenz als ihrer Fähigkeit zur Kungelei verdanken.

Wer hier Abhilfe schaffen will, tut gut daran, den üblichen Vorschlägen – mehr Volksabstimmungen, Direktwahl des Bundespräsidenten etc. – zu misstrauen, zumal wenn solche Vorschläge aus der politischen Klasse selbst stammen.

Die Schweizer haben dieses System bis an seine Grenzen ausgereizt: Dort gibt es eine geschlossene politische Klasse, die intern kungelt, aber vom Volk regelmäßig per Abstimmung in die Schranken gewiesen wird. Zwei Dinge missfallen mir daran:

Erstens, dass über die Frage, wer regieren soll, noch stärker als bei uns die Parteieliten entscheiden. Die Macht des Establishments ist dort eher noch größer als bei uns; das Volk übt eine Kontrollfunktion aus, nicht unähnlich der einer parlamentarischen Opposition bei uns. Was aber ist das für eine Demokratie, in der das Volk Opposition ist?

Zweitens glaube ich nicht, dass politische Entscheidungen sich dadurch qualitativ verbessern, dass sie vom Volk getroffen werden. (Hier in Berlin zum Beispiel wird wohl demnächst ein Volksentscheid – eigentlich eher eine Volksbefragung, aber gut – zum Schicksal des alten Flughafens Tempelhof stattfinden. Ich neige dazu, für Tempelhof zu stimmen, schon aus Nostalgie, aber wenn man mich fragen würde, mit welchen Argumenten ich den Standpunkt des Senats erschüttern wollte, wonach Tempelhof geschlossen werden müsse, weil sich der neue Großflughafen sonst nicht rechne, der aber seinerseits eine wirtschaftliche Notwendigkeit sei, dann könnten diese Argumente aus meinem Munde nur lauten: „Äh…“
Also besonders kompetent im Detail bin ich nicht, genauso wie die Mehrheit meiner Mitbürger. Viel leichter ist es, Personen zu beurteilen.)

Wer mehr Demokratie will, darf sich also nicht mit Placebos wie „Volksentscheiden“ abspeisen lassen, sondern muss darauf bestehen, dass das Volk über die Frage entscheidet, auf die es einzig und allein ankommt, nämlich: Wer soll regieren?

Das läuft auf die radikale Entmachtung der Parteien hinaus: auf die Abschaffung des Verhältniswahlrechts, die Direktwahl des Regierungschefs durch das Volk und die Kandidatennominierung durch Vorwahlen (an denen nicht nur Parteimitglieder beteiligt sein dürfen). Das zu erwartende Ergebnis wäre nicht nur eine demokratischere Politik, sondern auch eine bessere, und sogar eine unterhaltsamere. Wie in Amerika.

Christlicher Fundamentalismus

Die Weihnachts- und Neujahrspause ist vorüber, sogar der Schreibtisch ist wieder geordnet, das Arbeitsjahr hat begonnen. Zeit, mich wieder meinem Blog zu widmen. Ach ja: Frohes Neues Jahr allerseits!

Wieder ist es einer meiner Kommentatoren, diesmal Flash, der mich zu einigen grundsätzlichen Überlegungen herausfordert, und zwar durch seine Kommentare zu meinen Beiträgen über die christlichen Wurzeln der Demokratie und über den Untergang des Römischen Reiches.

Flash ist ein fundamentalistischer Christ, und, soweit ich das beurteilen kann, einer der sympathischen, in jedem Fall aber der geistreichen Sorte. Er vertritt eine Reihe von Thesen, die ich unmöglich unkommentiert stehen lassen kann; da aber die Replik jeden Kommentarstrang sprengen würde, mache ich gleich einen Beitrag daraus.

Es gibt einfach keine Höherentwicklung von Lebensstandard und Zivilisation ohne damit einhergehende Degenerationserscheinungen, die am Ende zu heftigen Umwälzungen führen. Wir erleben m.E. zur Zeit wieder genau das: ein Anschwellen des Wohlstandes mit einhergehendem Verlust von ethischen Prinzipien.

(…)

Ein kulturell-religiöses Vakuum, das der Islam mit wachsendem Erfolg ausfüllt, wo er mit Verve hineindrängt. Es wäre schön, wenn es wenigstens christlichen Fundamentalismus gäbe, der diesem Prozeß Widerstand entgegensetzen würde – den gibt es aber nicht. Mir wäre es echt lieber, wenn im Biologieunterricht die Schöpfungsgeschichte behandelt würde und dafür der Islam chancenlos ist…“

Und an anderer Stelle:

Hier liegt eine der Ursachen für den Niedergang des Christentums in Europa: Selbstdemontage der jahrhundertelang unveränderten Schriftgrundlage durch bibelkritische Theologie.

Insofern ist das eine extrem fundamentalistische Position, die aber nicht “schädlich” oder aggresiv ist, aus dem einfachen Grund, weil eben das zugrundeliegende schriftliche Fundament nicht schädlich und aggressiv ist! Das sollte jeder Fundamentalismus-Kritiker dreimal lesen und auch begreifen. Biblischer Fundamentalismus ist ja eben gerade *pazifistisch, *geschlechterneutral, *gewaltablehnend, *legalistisch, *wissenschaftsfreundlich, *tolerant, *demokratieermöglichend, *bildungs- und leistungsfördernd etc. pp.“

Einige Zeilen zuvor:

Es wäre sicherlich lohnend, einmal von dir erklärt zu bekommen, worin das Schädliche und sogar Denkfeindliche der Schöpfungsgeschichte für die moderne Gesellschaft besteht, lieber Manfred. Das dürfte ein lohnendes, weil brandaktuelles Thema sein.“

Das ist es in der Tat, und ich bin der Meinung, dass eine Gesellschaft, die die biblische Schöpfungsgeschichte als gleichrangige und gleichartige Alternative zur Evolutionstheorie behandelt, über kurz oder lang aufhören wird, eine demokratische Gesellschaft zu sein.

Damit wir uns richtig verstehen: Ich liebe das Buch Genesis. Nur betrachte ich es nicht als naturwissenschaftliches Werk, sondern als Allegorie, die das Verhältnis Gottes zur Welt und zum Menschen in literarischer Verfremdung und Verdichtung beschreibt. Die Wahrheit, die in ihr liegt, hat mit empirischer Wirklichkeit nichts zu tun. Es handelt sich um eine Glaubenswahrheit.

Solche Glaubenswahrheiten, genauer: religiöse Aussagen, unterscheiden sich fundamental von empirischen Aussagen, d.h. solchen über die äußere Wirklichkeit. Letztere können unter Berufung auf Tatsachen in Verbindung mit der formalen Logik angefochten oder bestätigt werden – das Prinzip wissenschaftlicher und überhaupt rationaler Argumentation. Entscheidend ist, dass über die Wahrheit oder Unwahrheit solcher Aussagen nach objektiven, sprich von der Willkür des Einzelnen unabhängigen Kriterien entschieden werden kann.

Es gibt allerdings Dimensionen der menschlichen Existenz – Seele, Ewigkeit, Schöpfung -, über die sich nichts aussagen lässt, was mit empirischen Argumenten gestützt werden könnte, zu denen man sich aber ungeachtet dessen verhalten muss, und denen man sich daher gar nicht anders als durch den Glauben nähern kann – worin auch immer dieser Glaube besteht: Die Grundaussage des Atheismus, Gott existiere nicht, ist ihrem Wesen nach nicht weniger religiös als die, er sei der Schöpfer des Himmels und der Erde. Beweisen oder widerlegen lässt sich weder das eine noch das andere.

Wahrheiten dieser Art haben notwendig einen anarchistischen Zug: Sie sind nicht von objektiven Gegebenheiten abhängig, und für jeden Gläubigen gilt: Was Wahrheit ist, bestimme ich!

Daran ändert sich auch prinzipiell nichts, wenn dieser Glaube von Anderen, und wären es Millionen, geteilt wird. Was sich aber dadurch ändert, ist, dass der Glaube in Gestalt der Religion sozial institutionalisiert wird, und dass das Recht, „Wahrheit“ zu dekretieren, auf ein soziales System übergeht. Dagegen ist so lange nichts einzuwenden, wie das System bereit ist, die sprichwörtliche Kirche im Dorf zu lassen, seinen Wahrheitsanspruch also auf den Bereich zu beschränken, wo Wahrheiten naturgemäß Glaubenswahrheiten sein müssen.

Welche Folgen es aber haben muss, wenn empirische Aussagen auf diesem Wege getroffen, also par ordre du Mufti dekretiert werden, und eben nicht im Wege tatsachenbezogenen rationalen Argumentierens, und welche Implikationen es hat, wenn die Gesellschaft das akzeptiert, wird klar, wenn man nach der Bedeutung des rationalen Diskursmodus für das Funktionieren einer offenen Gesellschaft fragt. Das, was ich den „rationalen Diskursmodus“ nenne, ist ein einfaches System von Spielregeln, mit deren Hilfe Konsens darüber erreicht wird, ob ein System von Aussagen wahr sein kann:

1. Es muss mit bekannten Tatsachen übereinstimmen.

2. Es muss in sich logisch sein.

3. Es muss prinzipiell durch Tatsachen widerlegbar sein.

Man kommt auf diesem Wege nicht etwa zu der Wahrheit schlechthin; mit den bekannten Fakten können durchaus mehrere konkurrierende Aussagesysteme kompatibel sein, die jeweils in sich schlüssig und prinzipiell falsifizierbar sind. Es kann auch sein, dass kein einziges der „auf dem Markt“ befindlichen Aussagesysteme wahr ist (weil noch keiner auf die Wahrheit gekommen ist). Und es ist theoretisch sogar möglich, dass prinzipiell nichtfalsifizierbare Aussagen, die man auf rein spekulativem Wege gewonnen hat (Etwa: Der liebe Gott hat einen langen weißen Bart), trotzdem wahr sind. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, aber möglich ist es. In einem solchen Fall könnten sie, ungeachtet ihrer inhaltlichen Richtigkeit, wegen ihres Verstoßes gegen Kriterium 3 niemals als potenzielle Wahrheiten sozial anerkannt werden.

Wozu also taugt der rationale Diskursmodus, wenn nicht dazu, zu garantiert wahren Aussagen zu gelangen? Gewiss zur Eliminierung von garantierten Irrtümern – aber dazu würden schon die Kriterien 1 und 2 genügen. Wozu also Kriterium 3? Und zwar nicht im wissenschaftlichen, sondern im allgemeingesellschaftlichen, speziall politischen Kontext, d.h. dort, wo es darum geht, allgemeinverbindliche Entscheidungen zu treffen, die die Freiheit des Einzelnen beschränken? Es dient dazu, zu verhindern, dass solche Entscheidungen auf der Basis von Wahrheitsansprüchen getroffen werden, die einer Überprüfung nicht zugänglich sind, sondern von partikularen Gruppen aus eigener Machtvollkommenheit erhoben werden!

Aussagesysteme, die dem Kriterium 3 nicht entsprechen, sind ihrer Struktur nach, d.h. unabhängig von ihrem Inhalt, Glaubenssysteme; ihre Nichtüberprüfbarkeit ist gleichbedeutend mit Nichtkritisierbarkeit, mit dem Anspruch auf absolute Wahrheit, und ist damit die ideologische Grundlage totalitärer Herrschaft.

Beispiele gefällig?

Der Islamismus beruht auf der Annahme, der Koran sei unmittelbar Gottes Wort; weswegen es geboten sei, jeglichen Widerstand gegen seine sozialen und politischen Forderungen mit Gewalt zu brechen.

Der Marxismus beruht auf der Annahme, das Proletariat habe die historische Mission, den Kommunismus zu errichten, und habe deshalb alle anderen Klassen zu vernichten.

Der Nationalsozialismus beruht auf einer antisemitischen Verschwörungstheorie. (Eine Verschwörungstheorie ist niemals falsifizierbar, weil sie alle ihr widersprechenden Tatsachen als Blendwerk eben der behaupteten Verschwörung abtut, also zirkulär argumentiert.)

(Und wenn man die Political Correctness als totalitäre Ideologie bezeichnet, so liegt dies im Kern daran, dass sie Tatsachenbehauptungen nicht nach dem Kriterium von „wahr“ und „unwahr“, sondern nach dem von „gut“ und „böse“ beurteilt, sich also der tatsachengestützten Kritik durch apriorische willkürliche Setzung entzieht.)

Solche Ideologien kann man nicht dadurch bekämpfen, dass man sie mit ihnen widersprechenden Tatsachen konfrontiert; gegen Tatsachen haben sie sich ja gerade immunisiert. Ich kann die Nichtexistenz der  Verschwörung der Weisen von Zion genausowenig beweisen wie die Nichtinspiration des Korans durch Gott oder die Unrichtigkeit marxistischer Axiome.

Was ich aber beweisen kann, ist die Selbstimmunisierung solcher Ideologien gegen Tatsachen durch systematisch herbeigeführte prinzipielle Nichtfalsifizierbarkeit, also durch Verletzung der Regeln des rationalen Diskurses. Diese an sich schärfste Waffe antitotalitärer Ideologiekritik muss stumpf werden, wenn diese Regeln nicht mehr als allgemein geläufig vorausgesetzt werden können. Dabei kommt es nicht darauf an, dass sie jedermann explizit bekannt sind: Die Regeln der Grammatik sind es ja auch nicht, trotzdem wenden wir sie richtig an. Diese Fähigkeit ist die Voraussetzung dafür, Glaubenssysteme als solche zu erkennen und von rational begründeten empirischen Aussagesystemen zu unterscheiden. Sie ist gleichbedeutend mit der Fähigkeit, totalitäre von nichttotalitären Ideologien zu unterscheiden, und eine Gesellschaft, die diese Fähigkeit verliert, hat beste Aussichten, irgendeinem Totalitarismus zum Opfer zu fallen.

Womit die Frage beantwortet sein dürfte, warum ich überhaupt nichts davon hielte, wenn der demokratische Staat selbst, noch dazu in seinen Bildungseinrichtungen (!) sich über diesen Unterschied hinwegsetzte und ihn verwischte, indem er den „Kreationismus“ in seine Lehrpläne aufnähme.

Zwei Punkte muss ich allerdings klarstellen:

Erstens: Ich habe nur von empirischen, nicht aber von normativen Aussagen gesagt, dass sie nicht religiös begründet sein dürfen; für moralische Wertentscheidungen gilt dies selbstverständlich nicht; die können als höchst individuelle Entscheidungen sehr wohl religiös begründet sein – wahrscheinlich müssen sie es sogar. Wertvorstellungen, die z.B. direkt aus der Bibel abgeleitet sind, können zwar im Einzelfall mit demokratischen Normen unvereinbar sein (Wer etwa die Todesstrafe für Homosexualität fordert, kollidiert natürlich mit dem Grundgesetz.), aber eben nur aufgrund ihres konkreten Inhalts, nicht etwa schon deshalb, weil sie religiös begründet sind.

Zweitens: Wenn ich sage, dass jede totalitäre Ideologie notwendig ein Glaubenssystem ist, so lässt das bereits aus Gründen der Formallogik nicht den Umkehrschluss zu, jedes Glaubenssystem sei totalitär.

Flash (s.o.) argumentiert so: Da sich aus der Bibel keine politischen Herrschaftsansprüche ableiten ließen, vielmehr Friedfertigkeit, Humanität und Toleranz gepredigt würden, sei gegen ein fundamentalistisches Bibelverständnis nichts einzuwenden, im Gegenteil. Motto: Das schlechthin Gute kann man gar nicht fundamentalistisch genug vertreten!

Tja, wenn es denn so einfach wäre. In mindestens zwei Punkten führt ein wörtliches Schriftverständnis bzw. der Glaube an die Verbalinspiration der Bibel und der Verzicht auf die historisch-kritische Lesart zu äußerst problematischen Konsequenzen:

Da ist zum einen die antijüdische Tendenz des Neuen Testaments. Historisch erklärbar ist sie aus der Notwendigkeit der Profilierung des frühen Christentums und seiner Abgrenzung gegen die jüdische Mutterreligion. Fasse ich die Bibel aber einfach ohne Einschränkung als Gottes Wort auf, so habe ich es mit einer angeblich göttlichen Legitimation des Antisemitismus zu tun. Der Satz „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ ist dann kaum anders zu verstehen denn als Aufruf zum Pogrom  – und genau so wurde er ja auch oft genug verstanden.

Zum anderen enthält das Neue Testament nicht nur die Bergpredigt, sondern auch die Johannesapokalypse (das neutestamentliche Gegenstück zum Buch Daniel), die Vision des Endkampfs zwischen Gut und Böse, nach der das Reich Gottes durch Vernichtung des Bösen, das bis dahin die Welt beherrscht, errichtet wird. Nicht zufällig konnte gerade dieser Text nur gegen härteste innerkirchliche Opposition durchgesetzt werden, wurde er von der Ostkirche jahrhundertelang abgelehnt, und meinte noch Martin Luther, er hätte niemals kanonisiert werden dürfen. Dieses von Anfang an weitverbreitete Unbehagen hat seinen Grund darin, dass die Apokalypse direkt an dunkle Zerstörungs- und Vernichtungstriebe appelliert, das fünfte Gebot zur Disposition stellt und dazu einlädt, Feinde nicht zu lieben, sondern mit dem „Antichristen“ zu identifizieren.

Kein Zufall ist auch, dass gerade totalitäre Ideologien eine apokalyptische Struktur aufweisen: Die Welt wird vom Bösen (den Juden/dem Kapitalismus/den Ungläubigen) beherrscht, dessen Vernichtung, gern auch im Wege des Massenmords, zur Herrschaft des Guten (der Arier/des Kommunismus/des Islam) führt. Ich will damit nicht behaupten, dass das Christentum für den Totalitarismus verantwortlich sei, wohl aber, dass in vielen Menschen eine psychische Disposition schlummert, ihr Leiden und ihre Verzweiflung an der Welt auf einen Feind zu projizieren, dessen Vernichtung die Erlösung herbeiführen soll – und da der Feind weltbeherrschend gedacht wird, vernichtet man diese Welt, das eigentliche Objekt der Furcht und des Hasses, möglichst gleich mit.

Dieser Zusammenhang zwischen Apokalyptik und Totalitarismus ist der Grund dafür, warum ich stets sehr hellhörig werde, wenn ich auf Verschwörungstheorien nach Art der Eurabia-These stoße (die ja nicht weniger behauptet als die Herrschaft des Bösen, also des Islam und der ihm angeblich konspirativ in die Hände arbeitenden europäischen Eliten), und warum ich diese Theorien mit allen Mitteln rationalen Argumentierens bekämpfe – freilich ohne nennenswerten Erfolg: Es handelt sich um ein Glaubenssystem, und wer ihm anhängt, ist, so fürchte ich, nicht nur für die Demokratie verloren, sondern für die säkulare Vernunft überhaupt.

Wenn ich nun sehe, dass sich gerade in fundamentalistischen (evangelikalen, pfingstlerischen, freikirchlichen) Kreisen die johanneische Tradition, und hier wiederum ganz besonders die Apokalypse, größter Beliebtheit erfreut, dann kann ich kaum anders, als dem christlichen Fundamentalismus mit tiefstem Misstrauen gegenüberzustehen, und dies ganz unabhängig davon, dass manche seiner Vertreter mir menschlich sympathisch sind.

Mit alldem ist allerdings nicht die Frage vom Tisch, ob eine glaubenslose Gesellschaft auf die Dauer überlebensfähig ist, und wenn Flash behauptet, dass mit der Höherentwicklung einer Gesellschaft zwangsläufig Degenerationserscheinungen verbunden seien – er verweist unter anderem auf den Zerfall der Familie -, die letztlich zum Niedergang führen müssten, dann hat er starke Argumente auf seiner Seite. Ziemlich starke sogar.

Höherentwicklung, das sagt die historische Erfahrung wie die soziologische Überlegung, geht einher mit Aufklärung und Rationalität – was für mich Grund genug ist, für Aufklärung und Rationalität einzutreten. Sie bedeuten freilich zugleich, dass Alles, auch ethische Normen, unter Begründungszwang gerät, weil sie dem primären Fundament der Ethik, der Religion, seine unhinterfragte Selbstverständlichkeit und soziale Verbindlichkeit nehmen, und Religion zu einer Frage der mehr oder minder willkürlichen individuellen Entscheidung machen – ich selbst habe ja oben gezeigt, dass jede andere Auffassung von Religion mit den Grundlagen einer offenen Gesellschaft unvereinbar ist.

Gesellschaft funktioniert, wenn die Goldene Regel beachtet wird: „Wie Ihr wollt, dass die Leute Euch tun sollen, also tut ihnen auch.“(Lk 6,31). Eine rationale Reformulierung dieser Forderung hat Kant mit seinem kategorischen Imperativ geliefert. Dass diese Regel gelten und wenigstens im Großen und Ganzen befolgt werden muss, weil die Gesellschaft sonst nicht existieren kann, lässt sich rational begründen – nicht aber, dass der Einzelne sie befolgen soll. Der kategorische Imperativ impliziert, dass man unter Umständen erhebliche individuelle Opfer in Kauf nehmen soll, um einen winzigen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten; diese Opfer reichen von der Steuerehrlichkeit bis zum Heldentod fürs Vaterland. Aus der Sicht des Einzelnen ein schlechtes Geschäft: Rationaler ist es für ihn, das von Anderen getragene Gemeinwohl in Anspruch zu nehmen, selbst aber nichts dazu beizutragen. Die Mentalität des Schwarzfahrers.

Zur Aufrechterhaltung allgemeiner sozialer Tugenden wie der Ehrlichkeit, denen man mit relativ geringem persönlichen Aufwand folgen kann, mag der menschliche Hang zum Konformismus noch hinreichen – Nutzenkalkül hin oder her -, zumindest solange der Ehrliche den Eindruck hat, nicht der Dumme zu sein.

Sobald aber dieses Minimum an geforderter sozialer Solidarität überschritten wird, sobald wirkliche Opfer zur Debatte stehen, schrumpft die Bereitschaft dazu dramatisch. Wo Solidarität selbst in der kleinsten denkbaren Gemeinschaft von Menschen, der Ehe, nicht mehr als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt werden kann und kaum noch ein Problem nichtig genug ist, um nicht einen Scheidungsgrund abzugeben, braucht man nach der Bereitschaft nicht mehr zu fragen, für eine Großgemeinschaft, etwa das eigene Land und dessen Freiheit – oder gar für den „Westen“ – das eigene Leben zu riskieren.

In stabilen Zeiten von Frieden und Prosperität, gleichsam im Normalbetrieb, fällt diese Schwäche kaum auf. Solange von den Bürgern bloß passive Loyalität gefordert wird, ist diese Loyalität in liberalen Demokratien vermutlich größer als anderswo. Wie aber sieht es im Fall einer existenziellen Bedrohung aus, wenn der Staat mit seinen administrativen und militärischen Bordmitteln nicht mehr auskommt und nicht nur den Geldbeutel seiner Bürger strapazieren, sondern sogar deren Leben einsetzen muss, um sich zu verteidigen? Anders gefragt: Wie konfliktfähig sind offene Gesellschaften?

Man sollte meinen, dass diejenige politische Ordnung, die ihren Bürgern das höchste Maß an Freiheit, Sicherheit und Wohlstand beschert, die liberale Demokratie also, auch das größte Maß an Unterstützungs- und Opferbereitschaft zu mobilisieren imstande ist. So ist es aber nicht.

Wenn man beispielsweise die Verlustlisten des Zweiten Weltkriegs anschaut, so fällt auf, dass die totalitären Staaten Deutschland, Sowjetunion und Japan an die zwanzig Millionen eigene Soldaten geopfert haben, die Westmächte dagegen „nur“ einige hunderttausend. Natürlich hängt das auch mit dem Kriegsverlauf zusammen – Frankreich brach früh zusammen, und bis die Westmächte in Europa wieder eingreifen konnten, hatten die Russen die Hauptarbeit bereits erledigt und zogen weiterhin das Gros der deutschen Truppen auf sich. Und selbstverständlich bin ich nicht so zynisch, die Verlustraten einer Armee als Maß ausschließlich für die Opferbereitschaft eines Volkes anzusehen; nicht selten sind sie eher ein Maß für die Brutalität und Inkompetenz ihrer Führer – eigene Soldaten draufgehen zu lassen ist in jedem Fall weder eine politische noch eine militärische Tugend.

Aber selbst wenn man diese Relativierungen berücksichtigt, bleibt der Unterschied doch frappierend, und man sollte nicht nur bedenken, dass am Beginn des Krieges die Frage stand, ob es sich wirklich lohne, für Danzig zu sterben, sondern auch, dass die Verlustquoten, die der Westen in Kauf nahm, im Zweiten Weltkrieg bereits geringer waren als im Ersten, und seitdem kontinuierlich fallen: In Vietnam warfen die USA nach 50.000 Toten das Handtuch, heute im Irak genügen schon 3.000 eigene (amerikanische) Gefallene, um den Krieg zu delegitimieren. Oder nehmen wir Deutschland: Dasselbe Volk, das sich von Hitler noch eine Verlustquote von 25 Prozent bieten ließ, ohne wirklich zu murren, stellt heute bei einer Quote noch unter der Promille(!)-Grenze bereits den Sinn von Militäreinsätzen überhaupt in Frage.

Warum und wie schaffen es totalitäre Systeme, Millionen von Menschen zum Selbstopfer zu bewegen? Durch Terror? Sicher, auch durch Terror. Überschätzen sollte man diesen Faktor aber nicht. In der Praxis des Dritten Reiches zum Beispiel spielte der Terror zwar eine bedeutende Rolle, soweit er sich gegen das Ausland oder gegen vorab ausgegrenzte Minderheiten, speziell Juden, richtete; aber er hatte den Zweck, diese Menschen zu ermorden, nicht ihr Wohlverhalten zu erzwingen. Gegen die eigenen „Volksgenossen“ war das Dritte Reich nicht wesentlich gewalttätiger als irgendeine Militärdiktatur, vermochte aber ein Maß an Begeisterung und Opferbereitschaft zu wecken, von dem etwa ein Pinochet kaum hätte träumen können.

Nein, die Sträke der totalitären Regime lag darin, dass sie in der Lage waren, den Menschen einen das eigene Leben transzendierenden Sinn zu vermitteln – wer am Bau eines „Tausendjährigen Reiches“ oder des welterlösenden Kommunismus mitzubauen glaubt, wird sich der Teilhabe an der Ewigkeit ziemlich nahe fühlen. Ihre Ideologien waren säkulare Religionen, deren gemeinschaftsstiftende und motivierende Kraft den klassischen Religionen mindestens gleichkam. Man versteht das damalige Deutschland, Russland und Japan am besten, wenn man sie als apokalyptische Massensekten auffasst, die eine ungeheure Dynamik und Leistungsfähigkeit zu entfesseln fähig waren.

Was also vom erkenntnistheoretischen oder liberalen politischen Standpunkt eine Kritik an totalitären Ideologien ist – nämlich dass sie Glaubenssysteme sind – und eine Kritik an Glaubenssystemen – nämlich dass sie eine totalitäre Schlagseite haben – ist kein zwingendes Argument gegen die Überlebensfähigkeit der von ihnen geprägten Gesellschaften, schon gar nicht, soweit ihr Überleben von ihrer Konfliktfähigkeit abhängt.

Ich bin nicht überzeugt davon, dass diese Schwäche westlicher Gesellschaften am Ende tödlich sein muss – zu deutlich und gewichtig sind die sie kompensierenden Stärken. Aber eine Schwäche ist es allemal, und insofern geht der Punkt an Flash.

Dessen Argument zielt allerdings tiefer als auf die bloße Konfliktfähigkeit westlicher Gesellschaften. Er behauptet, dass eine säkulare, aufgeklärte, rationale und liberale Gesellschaft auch ganz unabhängig von äußeren Konflikten auf die Dauer nicht existenzfähig sei, weil das von ihr erzeugte Vakuum an Spiritualität und Moral das grundlegende religiöse Bedürfnis der Menschen nach einem transzendenten Sinn vernachlässige, und dass dieses Bedürfnis sich über kurz oder lang Bahn brechen müsse, sodass wir auf die Dauer nur die Wahl zwischen einer Islamisierung und einer Re-Christianisierung hätten. Einem islamischen Fundamentalismus aber sei ein christlicher allemal vorzuziehen.

Dass eine säkulare Gesellschaft auf die Dauer dem Ansturm der Religiosität erliegen müsse, ist eine These, die ich stark anzweifle:

Es ist schon richtig, dass es diese religiösen Bedürfnisse gibt, und dass ein säkularer Rationalismus sie nicht befriedigen kann. Noch in der moralisierenden Ideologie der Political Correctness – deren Verfechter man ja nicht umsonst als „Gutmenschen“ veralbert – drückt sich ein Bedürfnis nach „Heiligkeit“ aus, das bei einem soliden Fundamentalismus zweifellos besser aufgehoben wäre als bei einer linken Ideologie. Allerdings zeigt dieses Beispiel auch, wohin es führt, wenn man religiöse Kategorien – wie verkappt oder pervertiert auch immer – in die Politik einführt.

Ich kann aber überhaupt nicht erkennen, dass eine Rückbesinnung auf den christlichen Glauben – die ich für wünschenswert halte – zwangsläufig dazu führen müsste, dass man in Fundamentalistenmanier mit der Bibel in der Hand in Politik und Wissenschaft herumfuhrwerkt und die Grundlagen der säkularen Demokratie und der rationalen Wissenschaft angreift. Wozu sollte man das tun? Um die Islamisierung zu stoppen? Die beruht nicht darauf, dass der Islam irgendwelche vom Christentum vernachlässigten spirituellen Bedürfnisse erfüllen würde; das tut vielleicht der Buddhismus. Im Hinblich auf Humanität, Spiritualität, erlösende Kraft und theologische Tiefe, d.h. als Religion, ist der Islam selbst einem verwässerten Christentum oder Judentum so hoffnungslos unterlegen, dass er sich ihnen gegenüber nie anders als mit Gewalt durchsetzen konnte und kann. So gefährlich der Islam als politische Ideologie ist, so armselig ist er als Religion.

Das Christentum spielt eine wichtige Rolle beim Kampf gegen die Islamisierung, aber nur, wenn es seine Stärken ausspielt – seine religiöse Tiefe und Kraft -, nicht, wenn es fundamentalistisch versucht, die Bibel zur Basis politischer Programme und wissenschaftlicher Thesen zu machen.

Keine Regel freilich ohne Ausnahme: Wo es darum geht, den Islam frontal anzugreifen, also Muslime zu missionieren, oder, in der Sprache der entsprechenden Kreise: ins 10/40-Fenster einzudringen, können Christen, die sich das vornehmen, gar nicht fundamentalistisch genug sein. Mit ihrem wörtlichen Bibelverständnis, ihrer konservativen Sozial- und Sexualmoral, überhaupt ihrer starken Betonung sozialer Normen und nicht zuletzt ihrem – Pardon! – Fanatismus dürften gerade evangelikale Fundamentalisten unter allen christlichen Glaubensrichtungen am besten für die Mission aufgestellt sein, weil ihre Auffassung von Religion der von Muslimen am nächsten kommt. So gesehen, wäre es doch ein Fortschritt, wenn im Biologieunterricht die biblische Schöpfungsgeschichte behandelt würde.

In Saudi-Arabien.