Koranexegese
Seyran Ateş: „Der Multikulti-Irrtum“
(Rezension)
Die Berliner Rechtsanwältin Seyran Ateş ist bekannt als engagierte Kritikerin der Zustände in türkischen und kurdischen Parallelgesellschaften in Deutschland; als Kritikerin von Ehrenmorden, Zwangsverheiratungen, ehelichen Vergewaltigungen, Verschleppungen von Frauen und Kindern und der schier allgegenwärtigen körperlichen Gewalt innerhalb muslimischer Zuwanderungsfamilien. Sie hat vor Gericht unzählige Opfer solcher Praktiken, meist Frauen, vertreten.
Entsprechend oft bekommt sie Morddrohungen aus dem Milieu, hat körperliche Angriffe, darunter einen Mordanschlag, überlebt, sah sich massiven Hetzkampagnen der türkischen Presse (speziell „Hürriyet“) ausgesetzt und wird von sogenannten Migrationsforschern verleumdet, die die Ursachen für migrationsbedingte Probleme überall suchen, nur nicht bei den Migranten selbst.
In ihrem Buch „Der Multikulti-Irrtum“ setzt sie sich mit den genannten Missständen auseinander, wobei die Situation muslimischer Frauen im Mittelpunkt steht. Sie führt die Probleme zurück auf
– patriarchalisch-autoritäre Familienstrukturen die vom Herrschaftsanspruch des Patriarchen ausgehen, den dieser auch mit Gewalt durchsetzen darf, ja beinahe muss,
– den sozialen Druck, der von der Großfamilie, aber auch vom türkischen Milieu insgesamt ausgeht und die Einhaltung traditioneller Normen erzwingt,
– einen ihrer Meinung nach falsch verstandenen, in jedem Falle aber unzeitgemäßen Islam,
– den geringen Bildungsstand der meisten Türken in Deutschland,
– einen mittelalterlich anmutenden Jungfräulichkeitskult, der muslimische Männer geradezu verpflichtet, ihre Frauen, Töchter und Schwestern wegzusperren, zu kontrollieren oder ihnen zumindest das Kopftuch aufzuzwingen und
– eine auf die Spitze getriebene „Mannesehre“, die von der Unterdrückung der Frau abhängt und sich in ihr äußert.
Sie behauptet natürlich nicht, dass es in allen Familien so zugeht; genaue Zahlen sind schwer zu bekommen, nicht zuletzt wegen der segensreichen Tätigkeit besagter „Migrationsforscher“; immerhin lassen die vorhandenen Daten den Schluss zu, dass die obige Beschreibung auf mindestens ein Drittel des Milieus zutrifft, und das ist noch optimistisch geschätzt.
Dabei zeigt sich eine deutliche Tendenz zur Verfestigung dieser Parallelgesellschaften. Ateş kritisiert vehement die Bereitschaft der deutschen Gesellschaft, insbesondere der Behörden und Gerichte, solche Missstände hinzunehmen oder aus falsch verstandener kulturrelativistischer Toleranz zu verharmlosen. (Multikulti-Ideologen sind ihre Lieblingsfeinde, daher der Titel des Buches).
Sie behauptet allerdings auch, der Rückzug in die Parallelgesellschaft sei nicht nur der Gleichgültigkeit der deutschen Gesellschaft anzulasten, sondern auch ihrem Mangel an Bereitschaft, Menschen ausländischer Herkunft, speziell Moslems, überhaupt als Teil der deutschen Gesellschaft zu akzeptieren („Wann kehren Sie in ihre Heimat zurück?“).
Sie plädiert dafür, dass Migranten sich an dem orientieren, was sie die „europäische Leitkultur“ nennt – sprich an Menschenrechten, Demokratie, Toleranz, Gleichberechtigung der Geschlechter, Trennung von Politik und Religion. Und dafür, dass der deutsche Staat alle Register zieht, um sowohl mit gesetzlichem Zwang (einschließlich des Kopftuchverbotes) als auch mit umfassenden Hilfsangeboten von Lehrern, Sozialarbeitern, Beratungsstellen usw. die Respektierung dieser Normen zu erzwingen.
Von muslimischen Migranten sei zu verlangen, ihren Islam zu reformieren, ihn zeitgemäß in einem rein spirituellen Sinne zu leben und speziell diejenigen islamischen Normen über Bord zu werfen, die mit der Demokratie unvereinbar seien. Es komme für sie darauf an, eine „transkulturelle Identität“ zu entwickeln – also gleichermaßen Europäer wie türkische Muslime zu sein, wobei von der islamischen Identität eben die illiberalen und gewalttätigen Züge abzuziehen seien, wohingegen es gelte, die türkische bzw. kurdische Muttersprache zu pflegen.
Der aufmerksame Leser, der meine sonstigen Texte kennt, wird schon an diesem lustlosen Referat gemerkt haben, dass ich von Ateşs Thesen nicht gerade erbaut bin.
Natürlich hat sie mit vielem Recht: mit ihrer Polemik gegen Multikulti-Ideologen, ihrer Kritik an der Unterdrückung muslimischer Frauen, ihrem Plädoyer für die Auflösung der Parallelgesellschaften, ihrem Insistieren darauf, dass ein demokratischer Staat die Menschenrechte zu verteidigen hat, auch die von muslimischen Frauen, und dass er nicht die Einführung der Scharia durch die Hintertür dulden darf. Auch die Vielzahl der von ihr angeführten Beispiele macht das Buch allemal lesenswert, und manch einer fragt sich vielleicht, was ausgerechnet ich gegen eine so profilierte Islamkritikerin einzuwenden habe.
Im Unrecht ist sie nicht mit ihrer Kritik, sondern mit dem, was ihr positiv vorschwebt. Das beginnt mit ihrem Selbstverständnis:
„‚Deutschländer‘, so werden … die in Deutschland lebenden Türken in der Türkei genannt. Der Begriff war in erster Linie negativ gemeint, ich finde ihn allerdings sehr zutreffend für Menschen, die in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt haben, ohne auf eine lange Familiengeschichte in Deutschland zurückzublicken. Man könnte ja anfangen, ihn positiv zu besetzen. ‚Deutschländer‘ gefällt mit jedenfalls um einiges besser als alle anderen Varianten. Ich persönlich kann mich recht gut mit ihm identifizieren – auch wenn es eine Würstchensorte gibt, die so heißt. In dem Begriff ‚Deutschländer‘ ist Deutschland enthalten, das Land, in dem wir leben, und er betont die Zugehörigkeit zu diesem Land, zu seiner Gesellschaft.“ (S.26 f.)
Zum Land ja. Zur Gesellschaft ja. Zur Nation – nein!
Deutschland, das sagt sie oft genug, ist ihre Heimat, aber die Deutschen, das sagt sie, indem sie es nicht sagt, sind nicht ihre Nation. Sie wird lieber mit einem Würstchen verwechselt als für eine Deutsche gehalten. (Meinetwegen auch für eine türkischstämmige Deutsche – in Zusammenhängen, in denen es darauf ankommt.)
Seyran Ateş leistet rühmenswerte Arbeit, und das seit Jahrzehnten. Sie kämpft für die Menschenrechte und für die Werte „unseres Grundgesetzes“ (Ja, sie sagt „unser Grundgesetz“). Sie riskiert sogar ihr Leben dafür. Ohne Zweifel gereicht sie unserer Gesellschaft zur Zierde. Wenn so eine partout keine Deutsche sein will – wer eigentlich dann?
(Komplementär dazu verwendet sie den Begriff „Urdeutsche“ für
„die Deutschen, die vor der Gastarbeiteranwerbung in den 60er Jahren bereits seit mehreren Generationen in Deutschland lebten“ (Anm. 2, S.277)
Ungeachtet der präzisen Definition finde ich dies sprachlich reichlich verunglückt. Unter einem „Urdeutschen“ stelle ich mir eine pittoreske, knorrig-romantische Figur vor, mit der man Grimms Märchen verfilmen könnte, und fühle mich leicht veralbert, wenn man mich so tituliert.)
Ähnliche Bauchschmerzen bereitet mir der Begriff der „europäischen Leitkultur“. So etwas gibt es zwar, aber die kulturelle Sprache Europas kennt mindestens ebenso viele Dialekte, wie es europäische Nationen gibt, und sie existiert auch nur in Gestalt dieser Dialekte, nicht etwa als Hochsprache. Mehr noch: Zur europäischen Leitkultur gehört unabweisbar der Gedanke der Nation! Unsere Staaten sind Nationalstaaten und nicht bessere Verwaltungseinheiten, deren Grenzen man ebensogut auch anders hätte ziehen können.
Eine Nation aber ist nicht etwa die Summe ihrer Staatsbürger, sondern die zwischen ihnen bestehende Solidarität, die – zumindest als Idee und als Norm – der Demokratie im europäischen Sinne zugrundeliegt. Die Nation ist ein politischer Solidarverband. Sie ist ein Wir.
Da hilft es auch nicht, sich nach „Europa“ zu flüchten: Selbst ein europäischer Bundesstaat, wenn er denn von den Völkern gewollt würde, könnte nur die Solidarität zwischen den europäischen Nationen organisieren und institutionalisieren, nicht aber die innerhalb der Nation ersetzen. (Und die Europäische Union wird keine Zukunft haben, wenn sie die Nationen weiterhin als lästiges Relikt aus der Vergangenheit behandelt; Nationalismuskritik war nach den Exzessen des zwanzigsten Jahrhunderts weiß Gott angebracht, aber sie darf einen nicht dazu verleiten, das Kind mit dem Bade auszuschütten.)
Mit „Kultur“ hat die Zugehörigkeit zu einer Nation zunächst nicht viel zu tun: Die Alemannen dies- und jenseits des Bodensees unterscheiden sich kulturell so gut wie gar nicht, gehören aber verschiedenen Nationen an. Umgekehrt gibt es allein schon aufgrund der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Lebensstile große kulturelle Unterschiede innerhalb einer Nation, ohne dass deren Charakter als Wir-Gruppe dadurch in Frage gestellt würde.
So gesehen wäre auch gegen Ateşs Konzept der „transkulturellen Identität“ – also gegen das Zuhausesein in verschiedenen Kulturen – nichts einzuwenden, wenn sie nicht ihren türkischen Identitätsanteil gegen die Zugehörigkeit zur deutschen Nation ins Feld führte, und dies nicht als private Einstellung, sondern als gesellschaftliches Leitbild. Und wenn – ja, wenn die ihrer Meinung nach zu pflegende Herkunftskultur nicht ausgerechnet eine islamische wäre:
Seyran Ateş beschreibt ebenso anschaulich wie eindrucksvoll, dass viele Muslime unter dem Diktat der öffentlichen Meinung ihrer Gesellschaft bzw. Parallelgesellschaft leben; da muss schon mal die Frau weggesperrt werden, weil der Clan oder der Nachbar sonst denken könnte, man sei kein „richtiger Mann“. Und tragikomisch ist, wenn sie schreibt, wie auf Seiten ihrer Mandanten wie auch der Prozessgegner ganze Großfamilien, Freunde, Nachbarn in den jeweiligen Fall hineinreden.
Was sie nicht wahrzunehmen scheint, ist die Verankerung solchen Verhaltens in der islamischen Ethik, die – juristisch formuliert – ein objektivrechtliches Normensystem ist: Verwerflich ist nicht, was einem Anderen schadet – so würden wir das sehen -, sondern was gegen objektive Normen, letztlich gegen den Willen Allahs, verstößt.
Ein solcher Verstoß geht dann in der Tat Jeden etwas an, und Jeder muss sich auch zuvörderst Gedanken darüber machen, „was die Leute sagen“. Ateş argumentiert wortreich, dass man den Koran in vieler Hinsicht – etwa bei der Verschleierung oder beim Alkoholverbot – auch liberaler auslegen könnte, als es traditionell geschieht. Das ist richtig, ist aber nicht der springende Punkt. Kulturell entscheidend ist, dass nicht die ethische Einsicht des Einzelnen, sondern die gesellschaftlich vorherrschende Interpretation des Islam – und sei sie noch so liberal – den Maßstab dafür abgibt, was verwerflich ist und was nicht.
Daran wird m.E. auch ihre Forderung scheitern, den Islam auf seine rein spirituellen Dimensionen zurückzustutzen. Jeder Einzelne für sich kann das natürlich tun – sofern er eine starke Persönlichkeit wie Seyran Ateş ist. Kann man sich aber ernsthaft vorstellen, dass eine solche Interpretation, die den Koran als Richtschnur des Handelns zur Disposition stellt und deshalb von neunzig Prozent aller Muslime weltweit als Kufr abgelehnt werden dürfte, von der Mehrheit der hiesigen Muslime als Leitbild akzeptiert wird?
Wenn es dafür überhaupt eine Chance geben soll, dann ist die Identifikation mit der deutschen Nation und das Ende der Identifikation mit der Herkunftskultur geradezu die Voraussetzung dafür: Wer sich – und sei es nur „unter anderem“ – als Angehöriger der türkischen Kultur fühlt, schaut immer mit einem Auge in den Rückspiegel. Einem muslimischen Deutschen kann es völlig egal sein, ob man ihn in Anatolien für einen „Ungläubigen“ hält, einem „Deutschländer“ aber nicht.
Die meisten Menschen haben ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einem Großkollektiv. Und wer seine Identität nicht in der Zugehörigkeit zur Nation sucht und findet, der sucht und findet sie eben anderswo, notfalls in der Umma.
Dabei ist kaum zu erkennen, was von der türkisch-islamischen Kultur eigentlich übrigbleibt, wenn man alles abzieht, was Ateş gerne abgezogen sehen möchte, nämlich die Dominanz der Familie über den Einzelnen, den türkischen Nationalismus, die Verbindlichkeit islamischer Normen, den Machismo, die Bereitschaft zur privaten Gewaltanwendung.
Was bleibt da übrig?
Orientalische Musik, Lammhaxe statt Schweinshaxe, Interesse an türkischer Literatur und Geschichte, ein wenig Folklore. Nichts, was nicht auch einem aufgeschlossenen Deutschen einfallen könnte. Nichts, was man nicht als Privatsache behandeln könnte. Und vor allem nichts, was die Verrenkungen rechtfertigen würde, die Ateş aufführt, um nur ja keine Deutsche zu sein.
Selbstverständlich erwartet kein Mensch von eingebürgerten Ausländern, vom Moment der Einbürgerung an deutsch zu tümeln, oder rund um die Uhr „dessen eingedenk zu sein, dass sie Deutsche sind“ – das tun wir doch Alle nicht. Dass sie sich aber als Teil der Nation verstehen, sprich als Deutsche, und nicht als Gruppe mit Sonderstatus in der Nation, sprich als „Deutschländer“: Das ist – zumindest als Norm – eine Selbstverständlichkeit. Es ist so selbstverständlich, dass es einem kaum noch bewusst ist. Ateş aber, die sonst den gesamten Katalog westlicher Werte akzeptiert, lässt ausgerechnet das Konzept „Nation“ unter den Tisch fallen.
Das gibt zu denken. Möglicherweise haben die Islamisten wieder einmal auf ihre Art Recht, wenn sie den säkularen Nationalismus als unislamisches Importgut ablehnen. Zwar hat der Nationalismus auch in der islamischen Welt Fuß gefasst – wir kennen ihn etwa als türkischen, persischen, pakistanischen und (pan-)arabischen Nationalismus.
Dies alles sind aber Völker mit überwältigender muslimischer Mehrheit. Dagegen ist mir kein einziger Fall bekannt, wo Muslime als Minderheit sich mit der Nation als primärer politischer Gemeinschaft identifizieren. Ich vermute, dass die Prägung durch islamische Wertvorstellungen, insbesondere durch das Gebot der innermuslimischen Solidarität, so dominant ist, dass es selbst für säkulare und liberale Muslime wie Ateş buchstäblich undenkbar ist, einer nichtmuslimischen politischen Wir-Gruppe anzugehören und diese Zugehörigkeit als Teil der eigenen Identität aufzufassen.
Bezeichnend ist auch, dass sie es nicht für erforderlich hält, uns „Urdeutsche“ mit Argumenten davon zu überzeugen, dass wir ein Interesse haben sollen, den „Deutschländern“ die politische Gleichberechtigung zuzuerkennen, wenn deren Loyalität unserer Nation gegenüber bestenfalls zweifelhaft ist, sie einer Religion angehören, die man nur unter erheblicher Geistesakrobatik halbwegs verfassungskonform zurechtbiegen kann, aus deren Mitte daher immer wieder Extremisten und Verfassungsfeinde hervorgehen werden, und von denen zu erwarten ist, dass sie vor allem untereinander solidarisch sind – gegebenenfalls in Form einer Solidarität der „Transkulturellen“ – gegen die Mehrheitsgesellschaft.
Dies auch dann, wenn der von Ateş favorisierte Euro-Islam tatsächlich die dominierende Option unter hiesigen Muslimen wäre.
Ohne uns „Urdeutsche“ also davon zu überzeugen, dass wir daran ein Interesse haben, fordert sie, Deutschland solle sich nicht nur als „Zuwanderungsgesellschaft“, sondern als „Einwanderungsgesellschaft“ definieren, so wie die USA und Kanada, damit auch Muslime sich willkommen fühlen und nicht die Hürde nehmen müssen, sich als Deutsche zu verstehen.
Wenn sie die nordamerikanischen Länder als Vorbild heranzieht, dann übersieht sie einen wesentlichen Punkt: Deren Selbstverständnis als Einwanderungsgesellschaft ist Teil ihrer nationalen Identität (weil diese Nationen ohne Einwanderung gar nicht existieren würden). Wer aber von den Deutschen (oder irgendeiner anderen europäischen Nation) fordert, ihr nationales Selbstverständnis zu korrigieren und sich als „Einwanderungsgesellschaft“ zu verstehen, sollte sich darüber im Klaren sein (und so ehrlich sein zuzugeben), dass die Änderung einer Kollektividentität kaum anders zu bewerkstelligen ist als durch die ideologisch motivierte und politisch oktroyierte Vergewaltigung der Mehrheitsgesellschaft.
Das Ergebnis dieser Vergewaltigung – das hat gerade Ateşs Argumentation deutlich genug gezeigt – wäre nicht eine neue nationale Identität, sondern eine nichtnationale Identität der Nation, also ein Widerspruch in sich. Die deutsche Nation, darauf läuft es hinaus, soll als solche aufhören zu existieren.