Der Niedergang des Westens

von John Robb

[Erstveröffentlichung: 8. Mai 2010 unter dem Titel „The Decline of the West“ in Global Guerillas; Übersetzung von Manfred]

Die meisten Analytiker (zumindest die, die zu lesen sich lohnt) vertreten die Auffassung, bei der Staatsschuldenkrise (Griechenland, Portugal, Spanien etc.) in der EU gehe es um den Zusammenbruch eines Systems, das eine Währungsunion ohne eine politische Union schuf. Darum geht es aber nicht. Das ist nur eine enge, beschränkte Sicht.

Stattdessen geht es bei der gegenwärtigen Staatsschuldenkrise um etwas weitaus Interessanteres: Es handelt sich um eine weitere Schlacht in dem Krieg um die Vorherrschaft zwischen „unserem“ integrierten, unpersönlichen weltweiten Wirtschaftssystem und den traditionellen Nationalstaaten. Die Frage ist, ob ein Nationalstaat den Interessen der Regierten oder denen des globalen Wirtschaftssystems dient.

Wer gewinnt? Das Weltwirtschaftssystem selbstverständlich. Die Finanzkrise von 2008, die erste wirkliche Schlacht dieses Krieges (im Unterschied zu den frühen Niederlagen in Scharmützeln in Russland, Argentinien, dem Balkan etc.) führte zu einem entscheidenden Ergebnis: einer krachenden Niederlage der Nationalstaaten. Die gegenwärtige Krise in der EU wird fast sicher mit demselben Ergebnis enden.

Wenn dieser Krieg endet, und lang wird er nicht dauern, wird das weltweite Wirtschafts- und Finanzsystem der Sieger sein. Ist dies erst geschehen, dann werden die Nationalstaaten dem Weg der Drittweltstaaten folgen und zu bloßen Staatshülsen werden: zu ausgehöhlten Fassadenstaaten, die nur dazu dienen, die Interessen des Weltwirtschaftssystems durchzusetzen. Diese neuen Staaten, mehr Markt- als Nationalstaaten, werden ihren Bürgern nur noch Bruchstücke der öffentlichen Güter bieten, die sie in der Geschichte geboten haben. Die Einkommen werden auf Drittweltniveau fallen (was durch hochgradig mobile Produktivität erleichtert wird), und die Wohlstandsschere wird sich öffnen. Schutzregeln werden schwach sein, die Pensionen des öffentlichen Dienstes werden verfallen und die Korruption regieren. Die einst dominierenden Militärapparate des Westens werden auf einen Bruchteil ihrer gegenwärtigen Größe reduziert, und sie werden sich eher auf die Aufrechterhaltung der innernen Kontrolle als auf die Abwehr äußerer Bedrohungen konzentrieren. Die klare und unzweideutige Botschaft an jeden Bürger des Westens wird lauten:

Du bist auf dich selbst gestellt. Du stehst in direktem Wettbewerb mit jedem anderen Menschen auf der Welt, und dein Erfolg oder Scheitern hängt allein von dir ab.

Für die, die da glauben, dies werde eine Woge friedlicher wirtschaftlicher Kraftentfaltung mit sich bringen: Ihr liegt falsch. Es wird die Gesellschaft in Stücke reißen und zu endloser Stagnation/Depression, endemischer Gewalt/Korruption und Elend führen.

Ohne jede moralische Basis (einen Gesellschaftspakt), ohne Stabilität oder weithin geteilten Wohlstand werden neue Quellen der Ordnung entstehen, um die Lücke zu füllen, die die Aushöhlung des Nationalstaates hinterlässt. Diese neuen Ordnungsquellen werden wir zunächst in Gestalt des Aufstiegs von Verbrechens-Unternehmern sehen, seien es der Nadelstreifengangster oder der tätowierte Straßenbandenschläger; denn in der Welt der Staatshülsen (ohne moralische Grenzen des Verhaltens) und unbegrenzter Vernetzung mit dem System der Globalwirtschaft werden diese Verbrechens-Unternehmer schnell die Oberhand gewinnen und mit Gewalt Jeden zwingen oder korrumpieren, dem sie auf dem Weg zu ihrer Bereicherung begegnen.

Wenn dies geschieht, habt ihr die Wahl.

Ihr könnt allein bleiben und nichts tun. Dann werdet ihr der neuen Verbrecherklasse zum Opfer fallen.

Ihr könnt euch ihnen anschließen, eure früheren Landsleute berauben und selbst dabei reich werden.

Oder ihr baut etwas Neues auf. Stabile Gemeinschaften und unabhängige Witschaftsnetze auf der Basis von Freiheit, Wohlstand und einem neuen Gesellschaftsvertrag.

Erhard Eppler: „Auslaufmodell Staat?“ (Rezension)

Wenn es einen Punkt gibt, in dem das Denken vieler heutiger Konservativer in Europa kaum noch etwas mit dem zu tun hat, was noch bei ihren Vätern und Großvätern mit Selbstverständlichkeit als „konservativ“ galt, dann ist es das Verhältnis zum Staat. Der Hass, der auf rechten Webseiten über den Staat, speziell den Sozialstaat, ausgeschüttet wird, spottet jeder Beschreibung.

Zum Teil mag dies mit dem Verhalten des Staates selbst zu tun haben: Ein Staat, der, wie die Bundesrepublik, die Liquidierung des eigenen Volkes – als Demos, als Nation, als Ethnie, als Idee und Realität – zum Staatsziel, ja zur Staatsräson erhebt, kann von diesem Volk schwerlich Loyalität erwarten. Im Grunde ermuntert er sogar jeden einzelnen Bürger, indem er ihn als freien Einzelnen ohne Bezug zu einem größeren Ganzen definiert, zu einer individuellen Kosten-Nutzen-Analyse, ob Loyalität sich für ihn persönlich rechnet. Und wundert sich dann über das Ergebnis.

Ich glaube aber, dass es für viele rechte Staatshasser schon gar nicht mehr darauf ankommt, was der Staat tut oder lässt. Es geht nicht um diesen Staat, es geht um den Staat schlechthin, dessen Ablehnung, völlig unabhängig von seinem Verhalten, Programm und Ideologie zu sein scheint.

Wo dies der Fall ist, kommt darin eine Amerikanisierung des Denkens und eine Verachtung der eigenen kulturellen Traditionen zum Ausdruck, die für Konservative mindestens ungewöhnlich ist. Dabei ist „Amerikanisierung“ nicht als polemische Spitze gemeint, sondern als korrekter Ausdruck für die gedankenlose Übernahme eines fremden politischen Wertesystems:

Um es an den Nationalhymnen festzumachen, bedeutet einen Unterschied, ob eine Nation ihr Land als eines „der Freien und der Tapferen“ definiert oder sich selbst als ein Volk, das „fest zu Schutz und Trutze brüderlich zusammenhält“. Für Amerikaner ist der freie Einzelne die Basis der Nation, für Deutsche die zwischen ihnen bestehen(sollen)de Solidarität, das „Wir“, als dessen Repräsentant der Staat – als abstrakter Gesamtmonarch – gilt. (Und ein Teil des Zorns auf die BRD resultiert daraus, dass sie dieser Erwartung erkennbar nicht gerecht wird.)

Demgemäß tendieren Amerikaner dazu, sich zum Staat ungefähr so zu verhalten wie zu einer bösen Schwiegermutter: bestenfalls ein notwendiges Übel, das man aus dem eigenen Leben möglichst heraushält, weil es dort nur Unheil stiften kann. Die Nation verkörpert sich dort in der Zivilgesellschaft, nicht im Staat. Weil das so ist und zum Selbstverständnis der amerikanischen Nation gehört, sind libertäres und konservatives Denken dort ohne weiteres vereinbar und bedingen einander sogar. Eine zutiefst respektable Tradition – die aber nicht unsere ist. Man kann einiges davon lernen; wer sie aber zum Modell für die ganze Welt erheben will, formuliert ein weltrevolutionäres Projekt, also nichts, was man sinnvoll „konservativ“ nennen könnte.
Indem ich dies schreibe, habe ich auch schon einen Teil der Thesen wiedergegeben, die Erhard Eppler in „Auslaufmodell Staat?“ entwickelt; er freilich von einem sozialdemokratischen Standpunkt. Nein, ich werde meinen Blog nicht zu einer Werbeplattform für sozialistisches Gedankengut machen, auch wenn ich jetzt zwei linke Sozialdemokraten nacheinander positiv rezensiere. Ich glaube aber, dass man sich gerade auf der politischen Rechten intensiv damit auseinandersetzen sollte, wie neoliberale Ideologie zur Zerstörung gewachsener Strukturen und der mit ihnen verbundenen sozialen und moralischen Werte führt. Zwanzig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges sollte es auch unter Konservativen nicht mehr möglich sein, Ideen allein dadurch zu erledigen, dass man sie als „sozialistisch“ brandmarkt.

Die Frage, welche Güter besser privat und welche kollektiv bereitgestellt werden sollten, ist eine Frage von Interessen; desgleichen die Frage, wieviel soziale Sicherheit es geben sollte, und für wen es sie geben sollte. Wer diese Fragen als solche der „reinen Vernunft“ behandelt, weswegen es nur eine – und immer dieselbe – Antwort darauf geben könne, will betrügen. Die faulen Ausreden von Neoliberalen, die die verfolgte Unschuld spielen, weil angeblich ihre Lehre verzerrt und einseitig dargestellt werde, werden kurz und trocken erledigt:

In der Praxis ist man immer für weniger Staat, ohne zu sagen, wo die Theorie den funktionsfähigen Staat für unerlässlich hält. In der Praxis ist man immer für Deregulierung, ohne darüber nachzudenken, dass es ja die Aufgabe des Staates ist, Regeln zu setzen. In der Praxis ist man immer für Privatisierung, ohne auch nur anzudeuten, wo die Grenze der Privatisierung liegen könnte. In der Praxis ist man immer für Steuersenkung, auch wenn gerade eine stattgefunden hat. In der Praxis ist man erst für die Senkung des Spitzensteuersatzes, dann für ein Stufenmodell und schließlich für den gleichen Steuersatz für alle. Und vor allem: In der Praxis schafft man selbst einen beträchtlichen Teil der Zwänge, auf die man sich nachher beruft. (S.63)

Eppler bringt die entscheidenden Fragen auf den Punkt: wieviel Entstaatlichung man sich leisten kann, ohne in Zustände abzurutschen, wie sie in der Dritten Welt herrschen, und zwar durchaus nicht nur in „failed states“, sondern auch in Ländern wie Brasilien; wieviel Demokratie eigentlich möglich ist, wenn alle lebenswichtigen Ressourcen einer Gesellschaft sich in der Hand von Privatleuten befinden; was eine EU wert sein soll, deren leitender Wert nicht die Demokratie, sondern die Marktwirtschaft ist; was es bedeutet, wenn Gesellschaft auf Ökonomie reduziert wird; wer von einem unterfinanzierten und schwachen Staat profitiert, und dergleichen mehr.

Der Autor schreibt pointiert und überzeugend (und stilsicher: Es macht Spaß, ihn zu lesen!), wenn auch mit den üblichen blinden Flecken linker Autoren; etwa, wo er zwar völlig richtig analysiert, dass die EU ein Instrument zur Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftsideologie (und das heißt: zur Entmachtung der Nationalstaaten und ihrer gewählten Regierungen, zur Nivellierung ihrer Institutionen und zur Kommerzialisierung ihrer kulturellen Werte) ist, anschließend aber ohne weitere Begründung die Hoffnung äußert, sie könne vielleicht doch noch demokratisch werden. Da wird der Wunsch zum Vater des Gedankens, weil die Alternative, nämlich die Revitalisierung des Nationalstaates, durch die Frieden-um-jeden-Preis-Ideologie (die ich in meinem Artikel „NWO – eine Verschwörungstheorie?“ dargestellt habe) tabuisiert ist.

Alles in allem ein sehr lesenswertes Buch – jedenfalls für solche Konservativen, die sich nicht von dem sprichwörtlichen Gespenst des Kommunismus ins Bockshorn jagen lassen und sich nicht selbst Denkblockaden auferlegen wollen.