Seit einer gefühlten Ewigkeit ist die Journaille damit beschäftigt, Christian Wulff aus dem Amt zu foltern. Sie geht mit ihm ungefähr so um wie ein italienischer Feinkosthändler mit einer exquisiten Salami: Hauchdünn wird Scheibchen für Scheibchen abgehobelt, damit jedes einzelne sein volles Aroma entfalten kann. Statt auf den Tisch zu legen, was sie wissen, geben die Medien gerade so viel preis, wie nötig ist, um die Affäre am Köcheln und den Amtsinhaber unter Druck zu halten. Sie kennen seine Schwächen und wissen, dass er auf jede neue Enthüllung bestenfalls mit einer Halbwahrheit antworten wird: Stoff für die nächste Enthüllung. Sie halten die Spannung des Publikums wach (Wann wird das Tonband von Diekmanns AB veröffentlicht? Was hat es mit der Vergangenheit von Bettina Wulff auf sich?), und befriedigen sie gerade so weit, dass die Quote und die Auflage hoch bleibt. Die Causa Wulff ist zur Daily Soap der Republik geworden, mit dem Präsidenten als unfreiwilligem Hauptdarsteller. Das Staatsoberhaupt als täppischen Pausenclown durch die Manege hopsen zu lassen, scheint gewissen Leuten ein besonderes Lustgefühl zu bereiten.
Ist das sympathisch? Nein. Ist es anständig? Nein. Ist es christlich? Nein. Gefällt es mir? Ja.
Ich kann mir nicht helfen: Christian Wulff bekommt, was er verdient hat. Nein, er ist kein böser Mensch. Meine Güte, er wollte doch nur Karriere machen und dabei das eine oder andere Bonbon mitnehmen. Ist es seine Schuld, dass in diesem System nur Karriere macht, wer seinen Kopf lieber frisiert, als ihn sich zu zerbrechen? Und, Hand aufs Herz: Hätten wir es nicht alle so gemacht?
Nun, was mich betrifft, ich hätte es nicht gemacht. Ich wäre nicht imstande, die Verantwortung, zumindest aber erhebliche Mitverantwortung für das Schicksal eines Volkes zu übernehmen, ohne mir sicher zu sein, was ich da eigentlich tue. Ich wäre nicht imstande zu schwören, “den Nutzen des deutschen Volkes zu mehren” und zugleich an seiner Abschaffung zu arbeiten. Vor allem wäre es mir nicht möglich, arglos Phrasen nachzuplappern (“Der Islam gehört zu Deutschland”), ohne ihre Tragweite zu verstehen, auch wenn diese Art von schützender Dummheit zweifellos karrierefördernd ist.
Dass das politische System der BRD, und vor allem ihr Parteiensystem, in geradezu industriellem Maßstab Politiker wie Wulff hervorbringt, also Karrieristen in Positionen hievt, in denen Staatsmänner gefragt wären, entlastet keinen von ihnen von seiner persönlichen Verantwortung. Ich missgönne niemandem die kleinen Privilegien und Eitelkeiten. Das ordentliche Gehalt, der Dienstwagen, die öffentliche Aufmerksamkeit, meinetwegen auch der Urlaub auf Milliardärsfincas sei Jedem zugestanden: Jedem, der auch die Gegenleistung liefert!
Zum Skandal wird diese subtile Korruptheit erst in dem Moment, wo einer Belohnungen einstreicht, die ihm nicht zustehen, weil er seine Macht zu anderen politischen Zwecken veruntreut, als denen, die zu fördern er geschworen hat. Dabei spielt es keine Rolle, ob er sich dessen bewusst oder – in Ermangelung des erforderlichen geistigen und moralischen Formats – nicht bewusst ist. Zweitklassigkeit entschuldigt nichts; wir haben ein Recht, von solchen Leuten nicht regiert zu werden.
Christian Wulff ist, wie die meisten deutschen Politiker, persönlich kein böser Mensch. Er riecht nicht nach Schwefel wie vielleicht ein Henry Kissinger; er riecht höchstens nach billigem Rasierwasser. (Ich traue mich wetten, dass er nicht einmal bei der Wahl seines Rasierwassers Format gezeigt hat; jedenfalls liefert er allen Anlass zu der Vermutung, dass er vor allem Gratispröbchen verwendet.) Zu einem Erzschurken verhält er sich schlimmstenfalls wie ein Straßendealer zu einem Mafiapaten, und auch damit ist er typisch für unsere politische Klasse. Trotzdem sind sie alle, jeder einzelne, verantwortlich für das, was sie zu unserem Verderben tun, und keiner von ihnen verdient Mitleid, wenn er just den Schwächen zum Opfer fällt, die diese politische Klasse so unerträglich machen.
Die gehässige Kleinkariertheit, mit der die Journaille seine Rechnungen durchwühlt, ist ein genaues Abbild der nämlichen Kleinkariertheit, mit der er selbst jeden kleinen Vorteil mitgenommen hat. Seine telefonischen Tobsuchtsanfälle gegenüber der Bild-Zeitung, die ihm jetzt auf die Füße fallen, hätten ihm ohne seine klebrige Kumpanei mit eben diesem Blatt nicht unterlaufen können. Die Schamlosigkeit, mit der er in einem Amt ausharrt, in dem er – wenn überhaupt irgendetwas – nur noch die Verkommenheit der von ihm repräsentierten politischen Klasse symbolisiert, und dies in peinlichster Weise, liefert der Medienmeute sogar noch eine gewisse Rechtfertigung, zumindest aber die Gelegenheit zu ihrer Dauerfolter. Die infantile Flucht in Halbwahrheiten und Notlügen passt zur Unreife eines Charakters, der gerade deshalb keinen Staat regieren oder repräsentieren sollte, unter seinesgleichen freilich weit verbreitet ist:
Ein Gemeinwesen, das dazu bestimmt ist, sich und das Volk abzuwickeln, braucht keine Staatsmänner. Es braucht Politiker, die biegsam, lenkbar und naiv genug sind, das umzusetzen, was durchtriebenere Köpfe, als sie es sind, für richtig halten. Wer ist am biegsamsten, lenkbarsten und naivsten? Kinder. Es liegt in der Natur der Sache, dass der Milchbubi zum Prototyp des deutschen Politikers werden konnte.
Christian Wulff ist kein böser Mensch, und die Journalisten, die ihm zusetzen, sind keinen Deut respektabler als er selbst. Und doch finde ich, dass ihm noch in der Unfairness, mit der man ihm nachstellt, eine Art Gerechtigkeit widerfährt. Mein Mitleid hat er nicht. Ich erlaube mir sogar, bei seiner zelebrierten Hinrichtung jenen gewissen sadistischen Kitzel zu genießen, den die alten Römer als Zuschauer im Kollosseum empfunden haben mögen.
Oder die Franzosen bei der Halsbandaffäre von Marie Antoinette, wenige Jahre vor der Revolution.