In politischen Debatten benutzen wir Begriffe wie „links“, „rechts“, „liberal“, „konservativ“, „extremistisch“ usw. mit großer Selbstverständlichkeit – so als hätten sie einen allgemein feststehenden Inhalt, und als hinge der nicht vom Weltbild dessen ab, der sie benutzt. Ich hatte schon seit einiger Zeit vor, ein paar wichtige Anmerkungen zu diesem Thema zu machen, fand nur keinen passenden Aufhänger. Dankenswerterweise hat Time mir mit einem seiner letzten Kommentare eine Steilvorlage geliefert:
… wer von rechts auf die rechteste der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien, die CDU und CSU, blickt, mag zutreffend konstatieren, dass sie sich in den letzten 30 Jahren in die Mitte bewegt haben. Die Schlussfolgerung, die politischen Gewichte hätten sich in Deutschland insgesamt also nach links verlagert, halte ich jedoch für fragwürdig.
Denn auch auf der gegnerischen Seite hat eine Bewegung stattgefunden. Während vor 30, 40 Jahren die Propagierung der globalen Planwirtschaft und die Akzeptanz der Ein-Parteien-Diktatur in der DKP sowieso über die Jusos hinaus bis in die Mitte der SPD Akzeptanz genoss, ist die bolschewistische Spielart des Sozialismus seit dessen winselndem Untergang völlig erledigt. “Die Linke” leistet sich eine dekorative kommunistische Plattform, aber die politischen und ökonomischen Theorien des Kommunismus sind abgehakt – und jeder weiß das. Die Waage neigt sich mE. nicht nach links, sie ist in der Balance, aber die Schwergewichte sind nicht mehr an den Polen platziert. In diese Richtung gingen sinngemäß etliche Analysen der letzten Ausgaben der FAZ: Langweiliger Wahlkampf? Vielleicht, aber dass es nicht mehr um Grundsatzfragen wie “FREIHEIT oder SOZIALISMUS” geht, zeigt doch vielleicht eher, wieviel wir in den letzten Jahrzehnten bearbeitet und erledigt haben. Formal langweilig? Wünschen Sie sich denn die Qualitätskeiler Strauß oder Wehner zurück?
Um die letzte Frage zuerst zu beantworten: Eindeutig ja! Und das nicht etwas deshalb, weil die genannten Herren unterhaltsamer waren als die heutigen Politiker – das außerdem -, sondern weil sie noch wussten, worum es in der Politik im Kern geht – nämlich um Leben und Tod ganzer Völker -, und worum es nicht geht, nämlich um Koalitionsaussagen, Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit, Kanzlerkandidaturen, Imagepflege, Political Correctness, Dialog, verletzte Gefühle (von Moslems oder wem auch immer) und all die anderen Rubriken auf der endlosen Liste politischer Nichtigkeiten, mit denen man das Publikum so lange berieselt, bis es sich gelangweilt oder verärgert abwendet und nicht mitbekommt, was hinter seinem Rücken geschieht.
Die Wahrnehmung aber, dass die politischen Flügel sich in der Mitte treffen, ist schon deshalb fehlerhaft, weil sie auf der Prämisse beruht, dass es so etwas wie eine Linke und eine Rechte gebe (und dazwischen die Mitte). Das ist falsch: Es gibt keine Rechte, und Parteien wie die deutsche CDU, die britischen „Konservativen“, die französischen Gaullisten, die US-Republikaner sind keine konservativen, sondern liberale Parteien, die sich allenfalls ein wenig sentimentale christliche oder patriotische Phraseologie leisten, um konservative Wähler bei der Stange zu halten. (Und unter Angela Merkel hält die Union selbst derlei Lippenbekenntnisse für entbehrlich.)
Wenn ich der Union abspreche, konservativ zu sein, so tue ich das nicht deshalb, weil ich so weit rechts stünde, dass ich die etablierten Parteien nur noch durch ein fernes Hitzeflimmern am Horizont wahrnehmen würde, sondern weil für mich die Begriffe „links“ und „rechts“ qualitativ bestimmt sind und auf einer bestimmten Gesellschaftsauffassung beruhen. Rechts ist nicht dort, wo der Daumen links ist; rechts ist dort, wo man sich fragt, wieviel Freiheit eine Gesellschaft sich leisten kann, ohne zu zerbrechen, und diese Frage wird bei der Union, wo man sich von der Linken deren „Fortschritts“-Verständnis diktieren lässt, schon lange nicht mehr gestellt, wenn sie denn je gestellt wurde:
Dass Freiheit per se als etwas so unhinterfragbar selbstverständlich Gutes gilt, dass die Frage nicht mehr verstanden wird, ob die Freiheit – nicht nur von Zwang, sondern auch vom Recht, von Sitte, von Anstand, von Verantwortung, von Solidarität, vom Vaterland und von Gott – etwas Gutes sei, ist das deutlichste Indiz dafür, dass der politische Wettstreit sich nur noch zwischen zwei Flügeln der Linken abspielt.
Zum Teil ist dieVerwechslung von Liberalismus mit Konservatismus sicherlich auch ein Produkt des Kalten Krieges. Zwei Nachkriegsgenerationen sind darauf konditioniert worden, den ideologischen Gegensatz von Ost und West, von Sozialismus und Liberalismus (bzw. Kapitalismus) mit dem von Links und Rechts zu verwechseln. Tatsächlich sind aber beide Ideologien revolutionär und zielen darauf ab, den Menschen, und dies notfalls gegen seinen Willen, von Bindungen aller Art zu „befreien“. In diesem Sinne sind Liberale keinen Deut „konservativer“ als Sozialisten, und ist die Abwendung der Linken von der Doktrin der Staatswirtschaft und ihre Neigung zum Liberalismus keine Bewegung in die „Mitte“.
Dabei ist dieses Verständnis von Freiheit als etwas selbstverständlich Gutem eine sehr junge geistesgeschichtliche Entwicklung. Jahrtausendelang hatten Menschen mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der sie heute von der Freiheit schwärmen, die Notwendigkeit von Bindungen betont, und es ist auch nicht schwer zu erkennen, warum:
Weil eine Gesellschaft auf die Dauer nur existieren kann, wenn der Einzelne sich „irrational“ verhält, indem er seine eigenen Interessen hinter denen der Gesellschaft zurückstellt, und das heißt: sich solidarisch verhält. Die Möglichkeit menschlicher Gesellschaft beruht auf der Verbindlichkeit von Normen. Geraten solche Normen in den Verdacht „alte Zöpfe“ zu sein, die „abgeschnitten“ gehören, weil sie die „Freiheit einschränken“, und werden sie dann tatsächlich abgeschnitten, dann ist das Ergebnis zunächst zweifellos ein Gewinn an Freiheit, zugleich aber ein Verlust an Zivilisiertheit.
Das alles wäre weniger problematisch, wenn die Bewegungsrichtung nicht einseitig feststehen würde. Einen „Fortschritt“ aber (das Wort beinhaltet eine Bewegung „weg von“ und „weiter“) erkennt man als solchen daran, dass stets Normen beseitigt werden und Freiheiten dazukommen, nie umgekehrt. Es ist normalerweise ja nicht so, dass irgendjemand schrankenlose Freiheit propagieren würde – auch Liberale betonen zum Beispiel die Bedeutung und Bindewirkung von Recht. Dass dies bedeutungslos ist, wenn man zugleich eine Ideologie vertritt, deren Leitwert „Freiheit“ moralisch (und das heißt ohne Anerkennung der Legitimität von Gegenpositionen) begründet wird, erkennt man daran, was Liberale früher vertreten haben, heute aber kaum noch: Verantwortung, Bürgersinn, Patriotismus, Sittlichkeit usw. Eine Ideologie, die eine Bewegungsrichtung weg von Bindungen vorschreibt, zwingt die ihr anhängende Gesellschaft zu einem permanenten Mikadospiel, im Zuge dessen die stützenden Elemente immer rarer werden und der Einsturz der ganzen Struktur immer wahrscheinlicher und am Ende unvermeidlich wird. Dass unter den Trümmern einer solchen Ordnung auch jene Freiheit begraben liegen wird, in deren Namen sie zerstört worden ist, versteht sich von selbst.
Was bleibt, ist die konservative Familienpolitik, das Gejammer um ungeborene Babies und Kinder, die angeblich deshalb Zuhälter oder Nutten geworden sind, weil ihre Mütter durch die Propaganda der “68er” dazu “gezwungen” worden seien, ein Handwerk oder einen anderen ehrbaren Beruf zu erlernen.
Es gibt keine konservative Familienpolitik – wer soll deren Exponent denn sein? Etwa Ursula von der Leyen?
Woran auch immer es liegen mag: Die Tatsache, dass den Deutschen und etlichen anderen europäischen Völkern der Volkstod droht, liegt für jeden auf der Hand, der bis drei zählen kann – ich bin nicht bereit, über die Geltung der vier Grundrechenarten zu diskutieren. Ebenso liegt auf der Hand, dass zwischen erstens einer Doktrin, die solidaritätsstiftende Normen verächtlich macht, zweitens einer schrankenlosen Entfaltung von Egoismus – pardon: Selbstverwirklichung – und drittens der Weigerung, die Mühen von Elternschaft auf sich zu nehmen, ein Zusammenhang besteht. Eine Doktrin aber, deren Anwendung zum Ende der sie anwendenden Gesellschaft führt, ist offenkundig eine absurde Perversion menschlichen Denkens.
Sehen die “fünf letzten Konservativen” denn gar nicht, dass ihr Konservatismus hier deckungsgleich ist mit dem von Al-Kaida?
Es hätte der polemischen Gleichsetzung der Qaida mit dem Islam, des Islam mit Konservatismus schlechthin gar nicht bedurft: Der Islam ist (nach innen) tatsächlich in dem Sinne konservativ, wie es jede andere traditionelle Wertorientierung auch ist. Nochmal: Die Verabsolutierung von Freiheit ist ein junges Gewächs. Sie ist nicht nur dem Islam unbekannt, sondern auch allen anderen Kulturen und Zivilisationen der Weltgeschichte. Vielleicht haben die alle etwas richtig gemacht.
Die islamische Kritik an der westlichen Zivilisation, an ihrem Materialismus und ihrer Dekadenz ist schlicht zutreffend. Die Moslems werden uns die Richtigkeit dieser Kritik auch höchst handgreiflich belegen, indem sie uns vorführen werden, wie man geistig und materiell weit überlegene Völker ins ethnologische Museum verbannt – sofern es solche Museen dann noch geben wird. Ihre Hauptwaffen sind die Demographie, und gegen diese Waffe ist die Mein-Bauch-gehört-mir-Gesellschaft machtlos, und die blanke Gewalt, tödlich für eine alternde Gesellschaft aus kindischen Gesinnungspazifisten und ebenso gottlosen wie vaterlandslosen Egoisten, die für nichts und niemanden außer sich selbst und ihre „Selbstverwirklichung“ irgend etwas riskieren würden. Mit einer solchen Gesellschaft den Counterjihad führen zu wollen, ist aussichtslos. Wer will, dass unser Volk so liberal bleibt, wie es ist, der will nicht, dass es bleibt.
Nein, ich mache die Freiheit nicht verächtlich, und der Vergleich von Konservativen mit Terroristen ist so bösartig, niederträchtig und infam wie der von Israelis mit Nazis.
Es hat ja seinen Grund, warum Freiheit ausgerechnet im Abendland zu einem positiven Wert werden konnte, und dieser Grund ist die jüdisch-christliche Idee der Gottesebenbildlichkeit des Menschen – eine Idee, die die seiner sittlichen Autonomie und seiner unverfügbaren Würde enthält. Sie enthält aber nicht die Verherrlichung der Bindungslosigkeit. Kennzeichnend für de Identität unserer Kultur ist das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Bindung, nicht die Entfaltung des einen auf Kosten des anderen. Wenn ich den Islam bekämpfe, weil er eine totalitäre, die Autonomie des Menschen negierende Ideologie ist, dann bin ich noch lange nicht gezwungen, ins entgegengesetzte Extrem zu verfallen und die schrankenlose Freiheit, einschließlich der zur Barbarei, zu bejahen.