Das Menetekel. Zum Ende der Karriere von Christian Wulff

Noch vor zwanzig Jahren wäre es undenkbar gewesen, einen Mann zum Bundespräsidenten zu machen, der gerade seine Ehefrau gegen eine Jüngere ausgetauscht hat. Nicht weil eine Scheidung schon per se ein Makel sein muss, sondern weil sie einer sein kann. Was bei einem Ministerpräsidenten noch als akzeptabel durchgehen kann, ist es noch lange nicht bei einem Amt, dessen Autorität davon lebt, dass es an der persönlichen Integrität seines Inhabers nicht den Hauch eines Zweifels gibt. Ein Präsident muss bereits den bösen Anschein meiden. Es heißt nicht, ungebührliche Urteile über das Privatleben anderer Leute zu fällen, wenn man denjenigen, der im Privatleben so handelt wie Wulff, im Verdacht hat, er halte alles, was legal – also nicht ausdrücklich verboten – ist, deshalb schon für anständig.

Gerade deser Verdacht hat sich aber spektakulär erhärtet: Wulff hat zwar nichts getan, was direkt illegal wäre, zumindest nichts, was ein ausgeschlafener Anwalt nicht trickreich als legal verkaufen könnte:

Es ist nicht verboten, dienstlich erworbene Bonusmeilen für einen privaten Urlaub zu verwenden; es ist nicht verboten, mit Milliardären befreundet zu sein, die zugleich ausgeprägte wirtschaftliche Interessen an politischen Entscheidungen haben; es ist nicht verboten, seinen Urlaub auf den Anwesen solcher Milliardäre (jedes Jahr bei einem anderen) zu verbringen; es ist nicht verboten, sich von deren Ehefrauen Geld zu leihen und nicht danach zu fragen, ob es nicht vielleicht doch vom Ehemann stammt; es ist nicht verboten, einen zinsgünstigen Kredit bei einer Bank aufzunehmen, mit der das von einem selbst regierte Bundesland geschäftliche Beziehungen pflegt. Des weiteren ist es durchaus zulässig, der Presse über die Umstände solcher Kredite nur so viel zu erzählen, wie man ohnehin nicht abstreiten kann. Und wenn man den Verfassern missliebiger Zeitungsartikel mit rechtlichen Konsequenzen droht, dann ist auch dies per se noch keine strafbare Nötigung, und zwar auch dann nicht, wenn solche Drohungen in einer Sprache formuliert werden, die alles andere als präsidial ist. Erlaubt ist das alles; es ist aber eben auch zutiefst anrüchig.

Sein Gesamtverhalten weist Wulff als einen Mann aus, dem der moralische Kompass fehlt. Das muss uns nicht wundern; ein moralischer Kompass könnte, ja müsste beim heutigen Zustand der BRD in Richtungen zeigen, die wenig karrierefördernd wären. Ein Karrierepolitiker, dessen Lebensinhalt seit seiner Schulzeit der Kampf um politische Machtpositionen ist, kann sich so etwas nicht leisten, schon gar nicht, wenn er in diesem Kampf von internationalen Netzwerken gefördert wird, für die die Zerstörung traditioneller Werte und Bindungen Programm und Utopie ist.

Hier zeigen sich auch frappierende Parallelen zwischen Wulff und Guttenberg, auch dieser ein Ziehkind transatlantischer Nachwuchsförderung mit erwiesener Blindheit für den Unterschied zwischen anständig und unanständig. Und noch etwas springt in beiden Fällen ins Auge: Wenn man von einem Karrierepolitiker schon keinen Sinn für Anstand mehr erwartet, so doch zumindest eine gewisse Professionalität in der Technik des Machterhalts; daran aber fehlt es beiden. Sowohl Wulff als auch Guttenberg haben bei ihrem Krisenmanagement ein so staunenerregendes Maß an taktischer Inkompetenz offenbart, dass man sich fragen muss, ob beide Männer ihre Positionen überhaupt hätten erringen können, wenn Andere ihnen nicht den Weg geebnet hätten. Es scheint, dass die handverlesenen deutschen Statthalter der globalen Eliten noch einmal eine Negativauswahl aus einem ohnehin schon trostlosen Personalpool darstellen:

Sorgen bereits die internen Rekrutierungsmechanismen deutscher Parteien dafür, dass charakterschwache, opportunistische und hochgradig korrumpierbare Persönlichkeiten gefördert werden, so selektieren die Netzwerke offenbar noch einmal diejenigen, die nicht nur charakterschwach und korrumpierbar, sondern charakterlos und korrupt sind.

Das ruhmlose Ende zweier hochgejubelter Retortenstars ist ein Menetekel nicht nur für Angela Merkel, die Beide – offenkundigen Unzulänglichkeiten zum Trotz – auf ihre Posten gehievt hat, sondern auch für eine politische Klasse, deren verachtenswerteste Eigenschaften gerade von diesen Männern exemplarisch verkörpert werden.

Christian Wulff und die Darlehensaffäre

Wenn eine Hure ihren Job im Bordell verlieren würde, weil sie mit einem verheirateten Mann zusammenlebt und der Bordellbesitzer das unmoralisch findet, dann würde man einen solchen Vorgang mit Recht belustigend finden. Der Skandal um Christian Wulff fällt in dieselbe Kategorie.

Wulff hatte bekanntlich 2010 auf eine parlamentarische Anfrage hin die Existenz geschäftlicher Beziehungen zum Unternehmer Egon Geerkens und dessen Umfeld geleugnet, obwohl er von dessen Ehefrau ein stattliches verzinsliches Darlehen angenommen hatte. Wulff ist Jurist. Er kann sich nicht darüber im Unklaren gewesen sein, dass ein Darlehen, auch wenn es zwischen Privatleuten gewährt wird, ein Geschäft ist, ein Darlehensvertrag mithin eine geschäftliche Beziehung begründet. Wulff hat den Landtag belogen.

In einem anständigen Staatswesen wäre ein solches Verhalten selbstverständlich skandalös und ein Rücktrittsgrund. Allein, die BRD ist kein anständiges Staatswesen. Sie wird regiert von Leuten, die allesamt geschworen haben, dass sie ihre “Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz … wahren und verteidigen” werden (Art. 56 GG), und die doch die Auflösung, und das heißt: Abschaffung dieses Volkes betreiben, seine Souveränitätsrechte trickreich supranationalen Organisationen zuschanzen, sein ihnen anvertrautes Geld an Schmarotzerstaaten verschleudern und die tragende Säule des Grundgesetzes, das Demokratieprinzip, zur Farce machen. Sie bestreiten es nicht einmal, sie rühmen sich dessen noch.

Es gibt in diesem Staatswesen, das man nur noch zögernd so nennen mag, keinen Politiker, der diese Politik nicht mitträgt. Es gibt kein einziges Mitglied einer Landes- oder Bundesregierung, das mit seinem Amtseid nicht de facto einen Meineid geleistet hätte, ob das im Einzelfall nun justiziabel ist oder nicht. Wulffs Lüge zu skandalisieren, ist im Kontext eines solchen Systems der universellen und institutionalisierten Lüge in sich bereits eine Lüge.

Skandale haben eine propagandistische Funktion: Was als skandalös markiert ist, wird damit zugleich als Ausnahme markiert, die die Regel bestätigt. Der Schmutz des Skandals lässt das System, innerhalb dessen er stattfindet, nur umso sauberer aussehen. Wo es ein schwarzes Schaf gibt, sehen alle anderen Schafe, und strotzten sie vor Schmutz, ziemlich hell aus.

Die politische Klasse, die sich, wenn auch zögernd, anschickt, einen der ihren über eine Lüge stolpern zu lassen, hat frappierende Ähnlichkeit mit dem oben erwähnten Bordellbesitzer.