Wenn ich an den Papst denke, fällt mir mitunter die Figur der Kindlichen Kaiserin aus Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ ein, die noch in ihrem strahlenden Palast sitzt, während sie zusehen muss, wie das Reich um sie herum Stück für Stück vom Nichts gefressen wird.
Martin Mosebach hat das Christentum einmal zutreffend „die unbekannteste Religion der Welt genannt. In der Tat scheint das Wissen, was „Christentum“ eigentlich ist, in zunehmendem Maße sogar den Bischöfen abhanden zu kommen, die eigentlich dazu berufen sind, Hüter und Verkünder christlicher Glaubenswahrheiten zu sein. Gerade in Deutschland scheint deren Ehrgeiz sich darin zu erschöpfen, sich mit der Atheistenpresse gutzustellen und zu diesem Zweck die eigene Kirche so weit zu verweltlichen, dass sie noch in irgendeiner Nische einer gottlosen Gesellschaft ein geduldetes Dasein fristen kann. Nur ja keinen Anstoß erregen, sonst könnte ja jemand aus der Kirche austreten!
Nun, das Christentum ist eine anstößige Religion, sonst wäre deren Stifter nicht gekreuzigt worden. Das Christentum kann zwar nicht das Paradies auf Erden errichten, weil zu seinen Grundlagen das Wissen gehört, dass dergleichen nicht möglich ist; genau dadurch unterscheidet es sich von totalitären Heilslehren. Das Christentum verkörpert die Präsenz des Heiligen in einer unheilen Welt – mehr kann es nicht, weniger darf es nicht. Das setzt freilich voraus, dass es seine eigene Integrität wahrt und nicht jede pseudoreligiöse Gefühlsduselei, nicht jede blauäugige Weltumarmung, nicht jedes „Seid nett zueinander“ als „christlich“ durchgehen lässt.
Was das Christentum aber ist, warum Glaube und Vernunft zusammengehören, warum es ein Weg nicht nur zum Heil, sondern auch zur Erkenntnis ist, das zu definieren dürfte kaum einer berufener sein als der gegenwärtige Papst, und dies nicht kraft seines Amtes, sondern kraft seines Geistes.
Der Journalist Peter Seewald hat schon 2002 mit dem damaligen Kardinal Ratzinger das Gesprch geführt, das unter dem Titel „Gott und die Welt“ seitdem mehrfach aufgelegt worden ist. Anders als Ratzingers ebenfalls lesenswerte „Einführung in das Christentum“ ist „Gott und die Welt“ nicht als systematisch durchgearbeitetes Gedankengebäude konzipiert; vielmehr entsteht durch die dialogische Form gleichsam ein Mosaik des Christlichen. Seewalds Fragen behandeln praktisch alle Aspekte, die für die christliche, speziell die katholische Lehre von Bedeutung sind. Ratzingers Antworten sind dabei in gewissem Sinne nicht abschließend, sie laden zum Weiter- und Tieferdenken ein: ein Buch für intelligente Leute, aber kein theologisches Fachtraktat.
Um dies zu konkretisieren, aber auch weil einige Aspekte unserer Debatte um meinen Artikel „Die Wurzel des Totalitarismus“ darin thematisiert werden, zitiere ich abschließend einige Passagen (nach der Taschenbuchausgabe des Knaur Verlages von 2005; darauf beziehen sich auch die angegebenen Seitenzahlen):
[Seewald:] Andererseits gibt es Bibliotheken von Büchern und gewaltige Theorien, die versuchen, diesen Glauben zu widerlegen. Auch der Glaube gegen den Glauben scheint also prinzipiell vorhanden zu sein, ja sogar etwas Missionarisches zu haben. Die größten Menschheitsexperimente der bisherigen Geschichte, Nationalsozialismus und Kommunismus, waren darauf angelegt, den Glauben an Gott ad absurdum zu führen und aus den Herzen der Menschen herauszureißen. Und das wird nicht der letzte Versuch gewesen sein.
[Ratzinger:] Deswegen ist ja der Glaube an Gott nicht ein Wissen, so wie ich Chemie oder Mathematik erlernen kann, sondern bleibt Glaube. Das heißt er hat durchaus eine rationale Struktur … . Er ist nicht einfach irgendeine dunkle Sache, auf die ich mich einlasse. Er gibt mir Einsicht. Und es gibt einsichtige Gründe genug, ihm anzuhängen. Aber er wird nie zu reinem Wissen. (…) [S. 36f.]
[Seewald:] Gerade Naturwissenschaftler haben Gott und Glauben immer wieder zum Thema gemacht. (…) Isaac Newton zum Beispiel, der Begründer der theoretischen Physik, sagte: „Die wunderbare Einrichtung und Harmonie des Weltalls kann nur nach dem Plane eines allmächtigen und allwissenden Wesens zustandegekommen sein. Dies ist und bleibt meine letzte und höchste Erkenntnis. (…) Und der Italiener Guglielmo Marconi … sagte es so: „Ich erkläre mit Stolz, dass ich gläubig bin. Ich glaube an die Macht des Gebetes. Ich glaube nicht nur als gläubiger Katholik daran, sondern auch als Wissenschaftler.“
[Ratzinger:] Sicher, wir stürzen uns nicht in ein abergläubiges Abenteuer, wenn wir Christen werden. Nur würde ich zwei Vorbehalte anbringen: Der Glaube ist nicht in dem Sinne verstehbar, dass er wie eine mathematische Formel vollständig für mich durchschaubar wäre, sondern greift in immer tiefere Schichten, in das Unendliche Gottes hinein, in das Mysterium der Liebe. In diesem Bereich gibt es dann eine Grenze dessen, was man bloß denkend verstehen kann. Vor allem, was man als begrenzter Mensch verstehen und verständlich vollkommen aufarbeiten kann.
Wir können schon einer den anderen Menschen nicht ganz verstehen, weil das in tiefere Gründe hinabgeht, als wir sie verständlich nachrechnen können. Wir können letztlich auch die Struktur der Materie nicht verstehen, sondern immer nur bis zu einem bestimmten Punkt kommen. Umso mehr ist einsichtig, dass wir das, was uns in Gott und im Wort Gottes entgegentritt, letztlich nicht dem Verstand unterwerfen können, weil es weit darüber hinausgeht.
In diesem Sinne lässt sich Glauben eigentlich auch nicht beweisen. Ich kann nicht sagen, wer das nicht annimmt, der ist eben blöd. Zum Glauben gehört ein Lebensweg, in dem sich das Geglaubte allmählich durch Experiment bewährt und in seiner Ganzheit als sinnvoll erweist. Es gibt also vom Verstand her Annäherungen, die mir das Recht geben, mich darauf einzulassen. Sie geben mir die Gewissheit, dass ich mich nicht irgendeinem Aberglauben überantworte. Aber eine erschöpfende Beweisbarkeit, wie ich sie für die Naturgesetze haben kann, die gibt es nicht. [S. 53f.]
[Seewald:] Aber dieser jüdisch-christliche Gott zeigt sich doch auch zornig.
[Ratzinger:] Der Zorn Gottes ist Ausdruck dafür, dass ich der Liebe, die Gott ist, entgegengelebt habe. Wer von Gott weg lebt, wer vom Guten weg lebt, lebt damit in den Zorn hinein. Wer aus der Liebe herausfällt, begibt sich ins Negative. Es ist also nicht etwas, was irgendein herrschsüchtiger Diktator einem draufschlägt, sondern es ist lediglich der Ausdruck für die innere Logik eines Handelns. Wenn ich aus dem, was meiner Schöpfungsidee gemäß ist, wenn ich aus der Liebe, die mich trägt, herausgehe, na ja, dann falle ich halt ins Leere, ins Dunkle hinein. Dann bin ich sozusagen nicht mehr im Raum der Liebe, sondern in einem Raum, den man als den Raum des Zornes ansehen kann.
(…) „Strafe Gottes“ ist in Wirklichkeit ein Ausdruck dafür, den richtigen Weg zu verfehlen und damit dann die Konsequenzen zu spüren zu bekommen, die sich ergeben, wenn ich auf die falsche Spur trete und damit aus dem richtigen Leben herauslebe. [S. 113]
[Seewald:] Sind diese „Urevidenzen des Alls“, diese „Grundgesetze des Lebens“, die wir offensichtlich immer wieder ignorieren oder vergessen, in den uralten Mythen von Sintflut, Turmbau zu Babel oder Sodom und Gomorrha enthalten? Ist die Botschaft dieser Geschichten in Wahrheit eine Art Überlebenswissen für die ganze Menschheit?
[Ratzinger:] (…) In diesen Erzählungen werden uns sehr spezifische Botschaften entschlüsselt. Denken wir zum Beispiel an den babylonischen Turmbau, mit dem sich der Mensch durch die Technik eine Einheitszivilisation verschaffen will. Er will den an sich ja richtigen Traum der einen Welt, der einen Menschheit, durch die Macht des eigenen Könnens und Bauens herbeiführen und versucht über den Turm, der zum Himmel reicht, selber die Macht zu ergreifen und zum Göttlichen vorzustoßen. Im Grunde ist es das Gleiche, was auch der Traum der modernen Technik ist: göttliche Macht zu haben, an die Schaltstellen der Welt zu kommen. Insofern liegen in diesen Bildern wirklich Warnungen aus einem Urwissen heraus, die uns anreden.
[Seewald:] Bleiben wir beim Turm von Babylon. Die Bibel gibt hier eine merkwürdige Auskunft: „Der Herr sprach, siehe, sie sind ein Volk, und nur eine Sprache haben sie alle. Das ist aber erst der Anfang ihres Tuns. Nichts von dem, was sie vorhaben, wird ihnen unmöglich sein. Wohlan, lasst uns hinabsteigen! Wir wollen dort ihre Sprache verwirren, dass keiner mehr die Rede des anderen versteht.“ Hört sich eigentlich nach Willkür an.
[Ratzinger:] Ja, fast nach dem Neid Gottes, der den Menschen nicht hochkommen lassen will. Natürlich finden wir hier eine Bildsprache, die aus dem Material schöpft, das Israel damals verfügbar gewesen ist. Gewisse heidnische Elemente sind darin nicht vollkommen ausgetrieben, sie konnten erst im Lauf der Auslegungsgeschichte ganz überwunden werden. Worauf es freilich ankommt, ist nicht, dass Gott Angst hat, der Mensch könnte zu groß werden und ihm seinen Thron streitig machen, sondern dass er sieht, wie der Mensch, indem er sich eine falsche Höhe zulegt, sich selber zerstört.
Wir können dieses Bild vielleicht so entschlüsseln: In Babel ist die Einheit der Menschheit und der Versuch, selber Gott zu werden und dessen Höhe zu erreichen, ausschließlich an das technische Können gebunden. Eine Einheit auf dieser Basis aber, wird uns nun gesagt, die trägt nicht, die wird zur Verwirrung.
Wir können diese Lehre in der heutigen Welt gut nachvollziehen. Einerseits gibt es diese Einheit. Die Stadtkerne sehen in Südafrika so aus wie in Südamerika, wie in Japan, wie in Nordamerika und in Europa. Es werden überall die gleichen Jeans getragen, die gleichen Schlager gesungen, die gleichen Fernsehbilder angesehen und die gleichen Stars bewundert. Insofern gibt es so etwas wie eine Einheitszivilisation bis hin zu McDonalds als dem Einheitsfutter der Menschheit.
Während nun diese Uniformierung im ersten Augenblick wie eine Art Versöhnungskraft richtig und gut zu sein scheint – genau wie die Einheitssprche im babylonischen Turmbau -, wächst gleichzeitig die Entfremdung der Menschen voneinander. Sie kommen sich nicht wirklich näher. Wir erleben stattdessen eine Zunahme der Regionalismen, den Aufstand der verschiedenen Zivilisationen, die jede nur noch sie selber sein wollen, oder sich von den anderen unterdrückt fühlen.
[Seewald:] Ist das ein Plädoyer gegen die Einheitszivilisation?
[Ratzinger:] Ja, weil man in ihr das Eigentliche und Eigene verliert. Hier geht die tiefere Kommunikation der Menschen untereinander verloren, die nicht durch diese oberflächlichen, äußeren Verhaltensformen und durch die Beherrschung der gleichen technischen Apparaturen geschaffen werden kann. Der Mensch reicht eben viel tiefer. Wenn er sich nur in dieser Oberfläche vereinigt, rebelliert zugleich das Tiefe in ihm gegen die Uniformierung, in der er sich dann doch selber als versklavt erkennt.
Man kann sagen, dass im Bild des babylonischen Turmbaus eine Form von Vereinigung von Welt- und Lbensverfügung des Menschen kritisch betrachtet wird, die nur scheinbar Einheit stiftet und nur scheinbar den Menschen erhöht. In Wirklichkeit beraubt sie ihn seiner Tiefe und seiner Höhe. Sie macht ihn zudem auch gefährlich, weil er einerseits sehr viel kann, andererseits aber sein moralisches Vermögen seinem technischen Vermögen nicht standhält. Die moralische Kraft ist nicht mitgewachsen mit den Fähigkeiten des Machens und des Zerstörens, die der Mensch entwickelt hat. Das ist der Grund, warum Gott gegen diese Art von Vereinigung einschreitet … [S. 152 ff.]