Die „Kanzlerakte“. Agitation unter falscher Flagge.

von Dr. Claus Nordbruch

[Ich habe den Text mit freundlicher Genehmigung des Verfassers von dessen Webseite übernommen. Originalquelle: http://www.nordbruch.org/artikel/aKanzlerakte.html ]

Seit etwa 10 Jahren geht insbesondere bei Menschen, die anfällig für einfache Lösungen und Verschwörungstheorien sind, das Gerücht um, jeder neu gewählte Bundeskanzler müsse vor Ablegung seines Amtseides in den Vereinigten Staaten vorstellig werden, um dort die sogenannte Kanzlerakte zu unterzeichnen. Diese »Akte« stelle eine Art Verpflichtungserklärung gegenüber den Alliierten dar und solle Teil eines geheimen Staatsvertrages aus dem Jahre 1949 sein, mit dem sich die Alliierten unter anderem die Medienhoheit in der BRD bis zum Jahre 2099 sicherten. Falls diese Umstände der Wahrheit entsprächen, würde diese Akte alle bisherigen Kanzler der BRD von Adenauer bis Merkel als Marionetten, als willige Handlanger der Alliierten ausweisen.

Im September 1999 erklärten die Unabhängigen Nachrichten, ihnen liege »eine Unterlage vor, nach der in Kürze im Hearst-Verlag, New York, ein Buch erscheinen soll, in dem Prof. Dr. Dr. James Shirley Belege über ein geheimes Zusatzabkommen zum Grundgesetz vorlegt. Deutsche Verlage waren angeblich nicht bereit, das Buch zu verlegen. Prof. Shirley erklärt, warum: Das geheime Zusatzabkommen zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland enthalte einen Passus, nach dem die Medienhoheit (Presse, Rundfunk, Verlagswesen) bis heute und noch weit ins nächste Jahrhundert bei den Alliierten verbleibe.«[1]

Nach dieser Sensationsmeldung wurde es überraschend still um die »Kanzlerakte«. Neu entfacht wurde die Debatte um die ominöse Akte, als 2007 Generalmajor a. D. Gerd-Helmut Komossa, früherer Chef des Militärischen Abschirmdienstes (MAD), in seinem Buch Die deutsche Kartedas tatsächliche Vorliegen der »Kanzlerakte« zu bestätigen schien. Diejenigen, denen eine solche Existenz in die Weltsicht paßt und »die es ja schon immer gewußt haben«, jubilierten und kombinierten flugs, die Kanzlerakte sei eben doch kein Gerücht, sondern eine Tatsache. Zwar sei der genaue Wortlaut nicht bekannt, doch ergebe sich aus dem Zusammenhang mit dem Geheimvertrag die Ungeheuerlichkeit, daß die BRD das deutsche Volk über Jahrzehnte belogen habe.[2]

Tatsächlich behauptet General Komossa, ohne Gebrauch vom einschränkenden  Konjunktiv zu machen: »Der Geheime Staatsvertrag vom 21. Mai 1949 wurde vom Bundesnachrichtendienst unter ›Strengste Vertraulichkeit‹ eingestuft. In ihm wurden die grundlegenden Vorbehalte der Sieger für die Souveränität der Bundesrepublik bis zum Jahre 2099 festgeschrieben, was heute wohl kaum jemandem bewußt sein dürfte. Danach wurde einmal ›der Medienvorbehalt der alliierten Mächte über deutsche Zeitungs- und Rundfunkmedien‹ bis zum Jahr 2099 fixiert. Zum anderen wurde geregelt, daß jeder Bundeskanzler Deutschlands auf Anordnung der Alliierten vor Ablegung des Amtseides die sogenannte ›Kanzlerakte‹ zu unterzeichnen hatte. Darüber hinaus blieben die Goldreserven der Bundesrepublik durch die Alliierten gepfändet.«[3]

An letzterem besteht kein Zweifel: Tatsächlich werden die deutschen Goldreserven in den Kellern der Federal Reserve Bank (FED) in New York gelagert. Daß deutsche Beamte, diese Finanzreserven einsehen oder gar kontrollieren dürfen, ist bislang nicht bekannt geworden. Doch wie steht es um den Gehalt der besagten »Kanzlerakte«?

Der bis heute einzige Beleg für die Existenz des ominösen geheimen Staatsvertrages nebst Kanzlerakte ist das lediglich in Ablichtung vorliegende Schreiben 14. September 1996 eines in den Diensten des Bundesnachrichtendienstes stehenden »Staatsministers Dr. Rickermann« an einen namenlosen Minister, von dem es allerdings zwei Versionen gibt. Es bedarf keiner besonderen kriminologischen Vorkenntnisse, um eine Vielzahl von Merkwürdigkeiten in diesen Schriftstücken zu erkennen:

  1. Obgleich der Nachname Rickermann gegenwärtig von über 500 Personen in Deutschland getragen wird,[4] hat es in der Politik der BRD niemals einen Staatsminister mit diesem Namen gegeben. Auf Bundesebene ist der Titel Staatsminister eine auf Vorschlag desBundeskanzlers im Einvernehmen mit dem zuständigen Bundesminister vomBundespräsidenten (gem. § 8 ParlStG) verliehene Bezeichnung an einen Parlamentarischen Staatssekretär des Bundes für die Dauer seines Amtsverhältnisses oder für die Wahrnehmung einer bestimmten Aufgabe, ohne daß damit eine größere Machtkompetenzverbunden wäre.[5] Staatsminister gibt es im Bundeskanzleramt und im Auswärtigen Amt. Besagter Dr. Rickermann soll aber gar nicht in einem Ministerium, sondern im Bundesnachrichtendienst tätig gewesen sein!
  2. Wenn es einen Staatsminister im Bundesnachrichtendienst gäbe, würde dieser Politiker in der Rangordnung über dem Präsidenten des BND stehen. Wie aus dem »BND-Papier« zu entnehmen ist, ist besagter Rickermann jedoch der »Kontroll-Abt. II/OP« des BND zugeordnet. Damit wäre er aber lediglich ein Abteilungsleiter und kein Staatsminister. Darüber hinaus ist der Hinweis auf die »Kontrollabteilung II/OP« ominös. Der BND besteht aus 8 Abteilungen, eine eigene Kontrollabteilung ist in den offiziellen Dokumentationen nicht aufgeführt.[6]
  3. Das Papier wurde ganz offensichtlich mit einer Schreibmaschine geschrieben. Stellt sich die Frage, ob die Beamten des Bundesnachrichtendienstes 1996 Dokumente wirklich noch mit einer Schreibmaschine unterfertigt haben. Vielleicht haben sie das! Gewiß verfügt der bundesdeutsche Auslandsgeheimdienst, wie alle bundesdeutschen Geheimdienste, Institutionen und Ämter, jedoch über einen ausgefeilten Briefkopf, aus dem zumindest die postalischen und elektronischen Anschriften, Telephonnummern und Faxnummern ersichtlich sind. Anzunehmen, der BND verwendet als Briefkopf eine zusammengeschusterte oberste Zeile, die dilettantisch mit einfachen Großbuchstaben aufgesetzt wurde, ist weltfremd. Ganz zu schweigen davon, daß der in offiziellen Schreiben übliche und im bürokratischen Beamtenleben unvermeidliche Eingangsstempel fehlt.
  4. Warum erklärt »Dr. Rickermann« eigentlich die Kanzlerakte und den geheimen Staatsvertrag, wo doch davon auszugehen ist, daß der »sehr geehrte Herr Minister« über deren Existenz und Inhalt Bescheid weiß? Warum sollte »Dr. Rickermann« also den wesentlichen Inhalt der »Kanzlerakte« in einem Schreiben leichtsinnigerweise darlegen und dadurch das Risiko einer Indiskretion beträchtlich erhöhen? Daß »Rickermann« so freimütig aus der Mottenkisten plaudert, dient  offenbar nur dazu, uneingeweihte Leser, die den Inhalt der »Kanzlerakte« noch nicht kennen, in die Materie einzuführen.
  5. Das Schreiben ist gespickt mit einer Vielzahl von Form- und Denkfehlern.
    1. Auffällig ist, daß kein Minister direkt oder persönlich angesprochen wird, sondern das Schreiben, einem Serienbrief nicht unähnlich, mit der anonymen Grußformel »Sehr geehrter Herr Minister« beginnt. Es geht aus dem Schreiben folglich nicht hervor, an welchen Minister sich dieser Brief konkret richtet.
    2. Eine wahre Diskrepanz stellt die Anmerkung »Original bitte vernichten!« dar. Abgesehen davon, daß sie von jemanden, der die Sütterlinschrift nicht beherrscht, sehr behäbig und ganz offenbar anhand einer Schreibvorlage mühsam einen Buchstaben an den anderen reihend verfaßt wurde, fügt »Dr. Rickermann« am Vermerk »z. d. A.« (zu den Akten) kaum leserlich einen Datumsvermerk an, mit dem er pikanterweise bestätigt, das »Original erhalten« zu haben.
    3. Weder hat es am 21. Mai 1949 noch davor eine »provisorische Regierung Westdeutschlands« gegeben. Dieser Ausdruck war selbst in Zeiten der Zonenregierungen, schon gar nicht aber in bundesdeutschen Regierungskreisen üblich, sondern entspricht dem Wortgebrauch der Sowjetischen Besatzungszone. Ist dies vielleicht ein Hinweis darauf, wer der tatsächliche Urheber des Schriftstücks ist?
  6. Ein besonderes Augenmerk ist auf die Geheimhaltungsstufe dieses Schreiben zu richten!Der Brief unterliegt dem Geheimhaltungsgrad »VS-Verschlußsache – Nur für den Dienstgebrauch«, gleichzeitig ist am oberen Rand aber der Hinweis »Amtlich geheimgehalten« angebracht. Aus § 11 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum materiellen und organisatorischen Schutz von Verschlußsachen (VS-Anweisung) ergibt sich jedoch, daß der Hinweis »Amtlich geheimgehalten« lediglich bei den Geheimhaltungsgraden »streng geheim«, »geheim« und »VS-vertraulich« verwendet wird. Der Vermerk »Amtlich geheimgehalten« wird am oberen und unteren Rand jeder beschriebenen Seite angebracht. Hingegen wird bei Dokumenten mit dem Geheimhaltungsgrad »VS-NfD« (»Nur für den Dienstgebrauch«) der Zusatz »Amtlich geheimgehalten« überhaupt nicht verwendet. Darüber hinaus ist derselben Vorschrift zu entnehmen, daß Dokumente mit dem Geheimhaltungsgrad VS-NfD mit Datum und Geschäftszeichen zu versehen sind, wobei das Geschäftszeichen am Schluß durch die Abkürzung »VS-NfD« zu ergänzen ist. Das Schreiben des »Staatsministers Dr. Rickermann« enthält weder Datum noch Geschäftszeichen.
  7. Auffällig sind die vielen Rechtschreibfehler in dem einfachen Text, die nicht nur auf Schlampigkeit, sondern auch auf eine niedere Schulbildung schließen lassen, die man bei einem promovierten Staatsminister ausschließen darf.  »Staatsminister Dr. Rickermann« empfiehlt dringend, die Echtheit »des gehaimen Staatsvertrages zwischen den Allierten Mächten und der provisorischen Regierung Westdeutschlands (…) abzuleugen«, schreibt von der »Medienhoheit der allierten Mächten« und unterzeichnet den Brief mit »Hochachtugsvoll«. Zu allem Überfluß kursiert in den Medien und im Internet eine zweite Fassung des Schreibens, in dem dilettantisch versucht worden war, besagte Fehler auszubessern. Auffällig ist ferner, daß in der zweiten Version die Zeilenlängen unterschiedlich zur ersten sind, womit ohnehin erwiesen ist, daß zumindest eine Fassung gefälscht wurde.
  8. Bekanntlich wurde die BRD am 23. Mai 1949 gegründet. Wie sollte es dann aber möglich sein, daß bereits am 21. Mai 1949 eine bis dahin noch nicht existente  »Bundesrepublik Deutschland« einen »Geheimen Staatsvertrag« schließen kann?

Die Frage ist, ob sich der ehemalige militärische Geheimdienstchef Komossa bei seinen Aussagen tatsächlich auf das »Rickermann-Papier« gestützt hat. Dies bestätigte General gegenüber derJungen Freiheit im Dezember 2007. Ihm liege »das zitierte Papier des BND in Ablichtung« vor. Er habe es als »Zeitdokument des Jahres 1949« verstanden: »Hinsichtlich der Vorbehaltsrechte benutzte ich dabei das sogenannte ›BND-Papier‹, das mir dienstlich zugänglich war, was ich aber nicht bewerten wollte und konnte. Auch heute weiß ich nicht, ob es echt oder Fälschung ist. Letzteres ist zu vermuten. Dieses in dem Buch nicht zu vermerken, war sicherlich ein Fehler. (…) Es war nicht meine Absicht, mit diesem Hinweis auf die ›Rechte der Alliierten‹ den Eindruck zu vermitteln, als würden diese heute noch wirksam sein.«[7] Ergänzend meinte Komossa: »Leider ist das Ganze durch Kürzung des Manuskripts im Lektorat mißverständlich geworden. Das bedauere ich sehr.«[8] Diese Bemerkungen sind erstaunlich! Abgesehen davon, daß die Alliierten sehr wohl auch heute noch Sonderrechte in bzw. über Deutschland genießen oder ausüben (dieFeindstaatenklausel der UN-Charta von 1945 gilt nach wie vor ebenso wie entsprechendeArtikel des Überleitungsvertrages vom 1955,[9] der besatzungsrechtliche Fragen regelt, die auch nach Abschluß des Zwei-plus-Vier-Vertrages im Jahre 1990 ausdrücklich weiter fortbestehen)kann das »zitierte Papier des BND« keinesfalls als »Zeitdokument« aus dem Jahr 1949 betrachtet werden: Abgesehen davon, daß es – wie aus »Rickermanns« Datumsvermerk »14.8.96« ersichtlich ist – daß das Schreiben erst in den 1990er-Jahren erstellt, und nicht bereits 1949 aufgesetzt worden ist, war der BND 1949 noch gar nicht gegründet worden. Reinhard Gehlen, dem damaligen Chef der Vorgängerorganisation des BND, zufolge, wurde die neue deutsche nachrichtendienstliche Organisation »von amerikanischer Seite finanziert, wobei vereinbart wird, daß die Mittel dafür nicht aus den Besatzungskosten genommen werden. Dafür liefert die Organisation alle Aufklärungsergebnisse an die Amerikaner«.[10] Der – grammatikalisch behäbig verfaßten – Eigendarstellung des BND ist zu entnehmen: »Am 1. April 1956 begann der Bundesnachrichtendienst als eine dem Bundeskanzleramt angegliederte Dienststelle seine Tätigkeit. Die Entscheidung der damaligen Bundesregierung lautete: ›Es wird eine Dienststelle Bundesnachrichtendienst eingerichtet. Sie ist dem Bundeskanzleramt angegliedert.‹«[11]Obendrein hat Komossa einer Leserin der Deutschen Stimme gegenüber behauptet, daß das Dokument ihm »›dienstlich zugänglich‹ gewesen [sei]. Das kann wohl kaum möglich sein, denn das Dokument, selbst wenn es echt wäre, soll erst aus dem Jahre 1996 stammen – als Komossa längst in Pension war. Viel wahrscheinlicher ist, daß er es zugeschickt bekam und ohne nähere Prüfung in sein Buch aufnahm, was für einen Fachmann wie ihn sehr bedenklich erscheint.«[12]

Um der gesamten Groteske die Krone aufzusetzen: Bereits im September 2006 erklärten die in der Vergangenheit schon öfter mit brisanten, aber meist nicht überprüfbaren Meldungen in Erscheinung getretenen Politischen Hintergrundinformationen (PHI) recht freimütig: »Diese Geschichte beruht auf einer reinen Fälschung eines Herrn M. aus München, der inzwischen verstorben ist und langjähriger Abonnent der PHI war und mit einem PHI-Redakteur persönlich befreundet. Dieser Mann war ein überzeugter Nationalist. Er zeigte unserem Redakteur das Original seiner Fälschung und die alte Schreibmaschine, mit der er sie angefertigt hatte und erklärte sinngemäß dazu, die Sieger und die Juden hätten so viele Dokumente zum Nachteil Deutschlands gefälscht, also habe er auch etwas gefälscht um die Autorität der, wie er es nannte, ›westdeutschen Marionettenregierung‹ zu untergraben und er dachte sich auch eine Geschichte dazu aus, nämlich daß man im Bundeskanzleramt nach einer Kopie oder Korrespondenz über diese Kanzlerakte suchen würde. Diese Korrespondenz erfand unser Herr M und sandte sie an verschiedene rechte Vereine, welche diese Kopie fleißig weiter kopierten, bis sogar ein amerikanischer Professor über die erfundene Geschichte ein Buch schrieb.«[13]

Da wäre es doch ein Leichtes, ein Exemplar dieses Buches in die Hände zu bekommen, sollte man meinen. Doch dies ist mitnichten der Fall! Ende 2007 erklärten die Unabhängigen Nachrichten: »Schon in der Ausgabe 1999 hatten wir mit allem Vorbehalt über eine solche ominöse ›Kanzlerakte‹ berichtet, weil wir die Echtheit der Informationen nicht belegen konnten. Alle Nachforschungen nach einem gewissen Prof. Dr. Dr. James Shirley, der darüber in einem Buch berichtet haben soll, blieben erfolglos, ebenso alle Recherchen nach dem Buchtitel bzw. bei dem angeblichen Verlag, der Hearst-Group in den USA.«[14] Dieses Ergebnis deckt sich mit den Untersuchungsergebnissen des Verfassers: Die Hearst Corporation, so der korrekte Name, ist ein gewaltiger US-amerikanischer Zeitungs- und Zeitschriftenverlag (CosmopolitanEsquire,Oprah Magazine) mit Sitz in New York, der sich auch auf dem Unterhaltungsprogramm im Fernsehen ausgebreitet hat. Es gibt in diesem Hause keine Buchveröffentlichung eines James Shirleys.

Auf der Internetseite Direkt zur Kanzlerin! können sich Bürger mit ihren Anliegen direkt an die Kanzlerin wenden. Diese Möglichkeit nutzte am 6. Oktober 2007 ein Bürger. Unter Bezugnahme auf Komossas Buch fragte dieser Merkel, ob die gemachten Angaben der Wahrheit entsprächen. Die Antwort des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 19. November 2007: »Der ›geheime Staatsvertrag‹, den Sie erwähnen, ist dem Reich der Legenden zuzuordnen. Diesen Staatsvertrag gibt es nicht. Und die Bundeskanzlerin mußte selbstverständlich auch nicht auf Anordnung der Alliierten eine sogenannte ›Kanzlerakte‹ unterschreiben, bevor sie ihren Amtseid ablegte.«[15] Nun könnte man einwerfen, daß auch das Presse- und Informationsamt der  Bundesregierung lügen kann. Gewiß, nur kann man angesichts der erdrückenden Beweislagedieser Aussage des Amtes Glauben schenken.

Abgesehen davon: Vertritt man allen Ernstes die naive Auffassung, daß im politischen Hintergrund agierende Drahtzieher (Bilderberger, Trilaterale Kommission, CFR usw.) nicht in der Lage wären, jeden Kanzler und Präsidenten für das anglo-amerikanische Einflußgebiet durch Intrigen, Geheimdienstmachenschaften und Medienlenkung gefügig zu machen, ohne dafür vom ihm oder ihr eine Unterschrift auf einem abstrusen Papier einfordern zu müssen?! Es ist erfreulich zur Kenntnis nehmen zu können, daß sich führende Köpfe der Nationalen Opposition in Deutschland einen klaren Geist behalten haben und nicht den Verschwörungstheoretikern auf den Leim gegangen sind: »Doch was auf den ersten Blick wie eine Sensation aussah, erweist sich bei näherem Hinsehen als Totalfälschung«,[16] heißt es beispielsweise mit Recht in der Deutschen Stimme.

Gewiß, trotzdem spricht vieles dafür, daß die Regierungen der BRD nicht zum Wohle Deutschlands handeln. Die einseitige, vom Strafgesetzbuch geschützte Geschichtsschreibung gehört in diesem Zusammenhang ebenso erwähnt wie beispielsweise eine seit Jahrzehnten betriebene Einwanderungspolitik, die offenbar darauf ausgerichtet ist, Deutschland demographisch und kulturell zu verändern, die zunehmende Islamisierung des Herzens Europas bei einer gleichzeitiger Verstärkung prozionistischer Positionen, das stete Abwandern deutscher Eliten aus Deutschland, das Absinken großer Bevölkerungsschichten in die Armut oder der Einsatz deutscher Soldaten außerhalb deutscher Grenzen. Nur bedarf es keiner Flucht in abstruse Verschwörungstheorien, um die Gründe und Ursachen dieser verheerenden Entwicklungen zu erklären!

Eine Analyse des Fundaments, auf dem die BRD aufgebaut ist, führt zu den gesuchten Antworten.[17] Wir sprechen hier von der Akzeptanz und Verfechtung der Doktrin von der doppelten Kollektivschuld der Deutschen. Dies ist das Selbstverständnis der BRD! Der Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg hat bereits vor vielen Jahrzehnten die Basis, auf welcher der westdeutsche Staat nach dem Krieg aufgebaut wurde, wie folgt formuliert: »Die Erkenntnis von der unbestrittenen und alleinigen Schuld Hitlers ist vielmehr eine Grundlage der Politik der Bundesrepublik.« Auch der 1938 nach Britannien emigrierte Publizist Sebastian Haffner (eigentlich Raimund Pretzel), der als eindringlicher Befürworter der deutschen Teilung maßgeblich an der Umerziehung des deutschen Volkes beteiligt gewesen ist, teilte diese Ansicht. Wer am heutigen Status quo (gemeint war das als volkspädagogisch wertvoll erachtete Geschichtsbild) rüttele, der bedrohe, Haffner zufolge, gar die Grundlagen des europäischen Friedens. In seiner Bundestagsrede vom 9. November 1988 bekannte Bundestagspräsident Philipp Jenninger, daß sich alle politischen Fragen in der Bundesrepublik Deutschland »im vollen Bewußtsein um Auschwitz« drehten. Der ehemalige Landgerichtspräsident Rudolf Wassermann sekundierte 1994: »Wer die Wahrheit über die nationalsozialistischen Vernichtungslager leugnet, gibt die Grundlagen preis, auf denen die Bundesrepublik Deutschland errichtet worden ist. […] Wer Auschwitz leugnet, greift nicht nur die Menschenwürde der Juden an, der rüttelt auch an den Grundfesten des Selbstverständnisses dieser Gesellschaft.«[18] Joschka Fischer hatte bereits 1987 »Auschwitz als Staatsräson« bezeichnet. Als Außenminister bekräftigte er seine Ansicht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 18. Februar 1999: »Alle Demokratien haben eine Basis, einen Boden. Für Frankreich ist das 1789. Für die USA die Unabhängigkeitserklärung. Für Spanien der Spanische Bürgerkrieg. Nun, für Deutschland ist das Auschwitz. Dann kann nur Auschwitz sein. Die Erinnerung an Auschwitz, das ›Nie-mehr Auschwitz‹, kann in meinen Augen das einzige Fundament der neuen Berliner Republik sein.« Entsprechende Erklärungen gibt es unzählige. Die Geisteshaltung der Repräsentanten dieses Systems und die Folgen ihrer Taten sind dementsprechend.

Am 20. Juni 2008 schrieb General Komossa dem Verfasser unter anderem: »Betroffen macht vor allem, daß nicht kritisiert wird, wenn in den Medien heute immer noch wahrheitswidrig die Behauptung verbreitet wird, daß die Deutsche Wehrmacht im Kriege im Gegensatz zu ihren Gegnern eine Unzahl von Verbrechen begangen hat, daß im Fernsehen im Jahre 2008 Filme gezeigt werden, die offensichtlich nicht frei von Manipulationen sind, in der Absicht, den deutschen Soldaten vor der Weltöffentlichkeit zu verunglimpfen. Eine Steigerung solcher ›Informationen‹ ist zu erwarten. Denn die Erlebnisgeneration stirbt aus! Auch ist nicht zu verstehen, daß Richter es heute immer noch zulassen, daß der deutsche Soldat –  natürlich ganz allgemein und nicht namentlich genannt – als Mörder bezeichnet werden kann. Lobenswert wäre es doch, wenn Kritiker sich doch besser gegen die Verunglimpfung des deutschen Soldaten einsetzen würden, der auf vielen Schauplätzen des Unfriedens in der Welt sein Leben einsetzt. Täglich aufs Neue!  Die Verletzung der soldatischen Ehre der Väter, die – in gutem Glauben, für unser Land zu kämpfen – in sechs Jahren ihr Leben eingesetzt und so oft verloren haben, verletzt auch die Würde des deutschen Soldaten heute, in unserer Zeit. Die Bundeswehr wurde nicht von Mördern aufgebaut und geformt, sondern von verantwortungsbewußten Soldaten, die vorher für ihr Land kämpfen mußten, und die sich noch einmal in den Dienst des Landes stellten.«[19] Diese Einschätzung ist richtig – diese Fehlentwicklungen konnten aber nur auf dem Nährboden entstehen und gedeihen, der das Fundament der BRD genannt wird! Einer »Kanzlerakte« bedurfte es hierbei nicht.

Die Apologeten dieses Phantasieprodukts tragen in erheblichem Maße zur Lähmung des Denkens und zur Hinwendung an den Fatalismus und Nihilismus bei; beides Faktoren, die der politischen Passivität dienlich sind. Die Verbreiter der Kanzlerakte-Lüge dienen somit den Systemtragenden.

© Dr. Claus Nordbruch 8/2008


[1]http://www.fk-un.de/UN-Nachrichten/UN-Ausgaben/1999/UN9-99/artikel1.htm

[2]Vgl. »Die Kanzler-Akte«, in: Der Reichsbote, Nr. 1/2008, S. 8.

[3]Gerd-Helmut Komossa, Die deutsche Karte. Das versteckte Spiel der geheimen Dienste, Graz  2007, Seite 21f.

[4]Vgl. www.verwandt.de/karten/absolut/Rickermann.html

[5]Vgl. http://www.bundesrepublik.org/Bundesregierung/Staatsminister/0/DETAILS/Staatsminister+(Begriffserkl%E4rung)/

[6]Diese acht Abteilungen gliedern sich wie folgt auf:

  • Abteilung 1 – Operative Aufklärung. Klassische nachrichtendienstliche Arbeit. Gewinnung und Steuerung geheim operierender Informanten. Pflege der Beziehungen zu Nachrichtendiensten anderer Staaten. Schlüsselstellung sog. Residenturen, d.h. Auslandsdienststellen des BND.
  • Die Abteilung 2 – Technische Informationsgewinnung mit technischen Mitteln durch Filterung der internationalen Kommunikationsströme. Bearbeitung verschlüsselter Nachrichten.
  • Abteilung 3 – Auswertung. Start- und Endpunkt der gesamten nachrichtendienstlichen Arbeitskette im BND. Die operativ und technisch beschafften Nachrichten werden zusammengeführt und analysiert. Über die Ergebnisse werden die Bundesregierung und andere Behörden informiert. Weiterhin ist hier das Lage- und Informationszentrum (LIZ) angesiedelt, in dem rund um die Uhr das aktuelle weltpolitische Geschehen beobachtet wird.
  • Abteilung 4- Steuerung und Zentrale Dienstleistung. Verwaltung von Personal, Finanzen und Rechtwesen.
  • Abteilung 5 – Operative Aufklärung / Auswertung. Operative Beschaffung und Auswertung von Informationen über „asymmetrische Bedrohungen“ (Internationaler Terrorismus und Drogenhandel, Geldwäsche, Terrorfinanzierung, illegale Migration)
  • Abteilung 6 – Technische Unterstützung. Versorgt die anderen Abteilungen mit technischen Dienstleistungen. Wesentliche Arbeitsfelder: Forschung und Entwicklung von nachrichtendienstlichen Techniken, Signalverarbeitung aus Kommunikationssystemen, Softwareentwicklung, DV-Unterstützung bei der nachrichtendienstlichen Arbeit
  • Abteilung 7 – Schule des Bundesnachrichtendienstes u.a.mit Laufbahnlehrgängen für den öffentlichen Dienst als auch Fortbildungen in den Bereichen nachrichtendienstliche Methodik und Technik sowie Sprachen.
  • Abteilung 8 –Sicherheit, Geheimschutz und Spionageabwehr ist zuständig für den Schutz der Mitarbeiter und der nachrichtendienstlichen Verbindungen vor sicherheitsgefährdenden Angriffen als auch für den Schutz von Einrichtungen und Gegenständen sowie Arbeitsmethoden und Arbeitsergebnissen.

[7]Hans-Joachim von Leesen, »Ein Windei von Verschwörungstheoretikern«, in: Junge Freiheit v. 18.1.2008.

[8]Email von Gerd-Helmut Komossa an den Verfasser vom 20.6.2008.

[9] Korrekt lautet der Name dieses Dokuments ›Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen vom 26.5.1952‹. Dieser ist ein Zusatzvertrag zum Deutschlandvertrag zwischen der BRD, den USA, Großbritannien und Frankreich und Teil der ›Pariser Verträge‹, die am 23. Oktober 1954 in Paris unterzeichnet wurden und am 5. Mai 1955 in Kraft traten.

[10]Reinhard Gehlen, Der Dienst, Mainz-Wiesbaden 1971, S. 149.

[11]http://www.bnd.bund.de/cln_027/nn_355470/DE/Wir__Ueber__Uns/Geschichte/Geschichte__node.html__nnn=true

[12] Holger Szymanski, »Die Kanzlerakte. Vermeintliche ›Enthüllungen‹ eines ehemaligen Bundeswehrgenerals«, in: Deutsche Stimme, Nr. 2/2008, zitiert nach

http://www.deutsche-stimme.de/Ausgabe2008/Sites/02-08-Akte.html

[13]Zitiert nach http://freezonechef.servertalk.in/viewtopic.php?t=2741

[14] http://www.fk-un.de/UN-Nachrichten/UN-Ausgaben/2007/UN12-07/2007-12-1.htm

[15]http://www.direktzu.de/kanzlerin/messages/13569

[16] http://www.deutsche-stimme.de/Ausgabe2008/Sites/02-08-Akte.html

[17] Claus Nordbruch, Sind Gedanken noch frei? Zensur in Deutschland, München 22001 sowie Claus Nordbruch, Der Angriff. Eine Staats- und Gesellschaftskritik an der Berliner Republik, Tübingen 2003 und Claus Nordbruch, Machtfaktor Zionismus. Israels aggressive Außenpolitik, Tübingen 2008.

[18] Alle Zitate in Claus Nordbruch, Sind Gedanken noch frei? Zensur in Deutschland, München ²2001, S. 41f.

[19] Email von Gerd-Helmut Komossa an den Verfasser vom 20.6.2008.

Deutsche und Nazis

 

Meine beiden letzten Artikel sind auf heftigen Widerspruch gestoßen. In dem einen („Der mekkanische Koran: Eine Themenanalyse“) habe ich die These vertreten, dass muslimische Gesellschaften auch heute noch von den Wertentscheidungen des Korans geprägt sind, die als vorbewusste Selbstverständlichkeiten die Weltauffassung und damit auch das politische Verhalten von Muslimen prägen.

In dem anderen („Opa war kein Nazi“) habe ich den Nationalsozialismus als Gemeinschaftsprojekt der deutschen Nation interpretiert, was unter anderem bedeutet, dass das NS-Regime sich auf die Loyalität einer breiten Massenbasis stützen konnte.

In beiden Artikeln geht es um die Beschreibung von Großkollektiven, und beide wurden aus einer individualisierenden Perspektive angefochten: Flowerkraut warf mir vor, zu wenig zu berücksichtigen, wie Muslime heute den Koran subjektiv interpretieren; nicht alle seien Islamisten, die den Koran als leitende Ideologie akzeptierten, und und LePenseur bestand darauf, nicht alle Deutschen der NS-Zeit, höchstens eine Minderheit, seien Nazis gewesen

in jener Bedeutung, wie heute “Nazi” verstanden wird — hart, zackig, unbarmherzig, Knobelbecher, mordlüstern, fanatisch vernagelt“ (LePenseur zu „Opa war kein Nazi“).

Beide Kritiken sind aus ihrer jeweiligen Perspektive richtig, nur ist diese Perspektive nicht die, die meiner Argumentation zugrundeliegt. Mir geht es nicht darum, ob dieser oder jener Opa persönlich ein Nazi war, und auch nicht darum, wie viele Muslime potenzielle Terroristen sind. Die wenigsten, vermute ich.

Ich will erklären, warum Großkollektive sich verhalten, wie sie es tun. Und das kann ich nur, wenn ich mich von der Erziehung freimache, die wir fast alle durchlaufen haben, und die jede generalisierende Aussage über Personengruppen als ein Vorurteil abstempelt. An diesem Prinzip ist natürlich richtig, dass Menschen individuell verschieden sind, auch wenn sie derselben Gruppe angehören.

Was ich aber beschreibe, wenn ich von einem Kollektiv spreche, ist nicht die Gesamtheit seiner Mitglieder, also etwa alle Deutschen oder alle Muslime, sondern das System der zwischen diesen Mitgliedern bestehenden Erwartungen, insbesondere ihrer Vermutungen darüber, was innerhalb dieses Kollektivs als anerkannter Wert und als geltende Norm unterstellt werden. Dass Menschen soziale Wesen sind, ist eine Binsenweisheit. Diese Binsenweisheit hat aber Implikationen, die nicht Allgemeingut sind: Gewiss sind Menschen verschieden, und daran kann auch das totalitärste System gottlob nichts ändern. Das heißt aber nicht, dass jeder sich ohne weiteres so verhalten würde, wie es seinem persönlichen Charakter entspricht; was die Gesellschaft von ihm erwartet, spielt eine mindestens ebenso große Rolle, und es gibt nur wenige radikale Individualisten, die sich jederzeit benehmen wie sie wollen, notfalls auch wie die Axt im Walde, ohne Rücksicht auf das, was „man“ tut.

Was für die Normen und Werte gilt, gilt in mindestens ebenso hohem Maße für das Verständnis von „Wahrheit“. Ein einzelner Mensch könnte unmöglich unbeeinflusst von der ihn umgebenden Gesellschaft, allein auf sich und seinen Verstand gestellt, definieren, was für ihn „wahr“ ist. Bereits die Begriffe, in denen er denkt, sind soziale Konstrukte, erst recht die Werte, die in sein Denken einfließen.

Weil das so ist, kann man das Verhalten eines Kollektivs nicht als Aggregat von individuellem Verhalten auffassen; der Einzelne findet die handlungsleitenden Parameter als Gegebenheiten bereits vor, und muss sich dann in irgendeiner Weise dazu verhalten. Deshalb kann ein Sozialwissenschaftler, der einen gesellschaftlichen Vorgang erklären will, nicht vorgehen wie ein Kriminalist, der einen „Schuldigen“ sucht, und er kann auch nicht die Gesellschaft einteilen in gute und böse Menschen, um dann den Bösen die Schuld an allen unerwünschten Entwicklungen zuzuschieben.

Zumal die „Bösen“ oft persönlich gar nicht so böse sind. Ein Ziad Jarrah, der am 11.September 2001 das Flugzeug entführte, das dann über Pennsylvania abstürzte, wäre mir, nach allem, was ich weiß, persönlich vermutlich sympathisch gewesen, wenn ich ihn gekannt hätte. Ebenso wie die Veteranen der 1.Gebirgsdivision, die ich während meines Wehrdienstes als Ordonnanz zu bedienen hatte. Das waren wirklich ganz reizende alte Herren, die sich bestimmt nicht als Nazis fühlten, die aber überhaupt keinen Zweifel daran hegten, dass ihr Kriegseinsatz notwendig und sinnvoll gewesen war – wobei wir heute wissen, dass die Geschichte gerade der Ersten Gebirgsdivision vor Blut nur so trieft; und damit meine ich keineswegs das Blut feindlicher Soldaten.

Damit ein Kollektiv sich „böse“ verhält, muss es keineswegs aus bösen Menschen bestehen. Im Gegenteil: Gerade das, was wir schnöde „Konformismus“ nennen, also die Bereitschaft, den Erwartungen der Gesellschaft zu entsprechen, ihre Normen zu erfüllen und zu ihrem Gedeihen beizutragen, ist das, was wir normalerweise das „Gute“ nennen; und wir müssen auch so nennen, weil es die Voraussetzung dafür ist, dass so etwas wie menschliche Gesellschaft überhaupt existieren kann.

Wenn also ein Großkollektiv gigantische Verbrechen begeht, dann habe ich zur Erklärung dieses Vorgangs zwei Möglichkeiten:

Ich kann, wie vermutlich der geschätzte LePenseur, davon ausgehen, dass zwanzig Prozent des Volkes die restlichen achtzig Prozent gezwungen haben, höchst engagiert etwas zu tun, was sie nicht wollten. Das würde bedeuten, dass achtzig Prozent des deutschen Volkes innerlich Nonkonformisten waren, die bloß aus Angst mitgemacht haben. Dabei stoße ich aber auf das Problem der kognitiven Dissonanz: Menschen empfinden es als unangenehm, wenn Denken und Handeln auseinanderklaffen. Normalerweise versuchen sie diese Lücke zu schließen, indem sie entweder ihr Handeln, oder aber, wenn das nicht möglich ist, ihr Denken anpassen. Die katholische Kirche wusste das schon immer zu nutzen: „Erst mal beten, dann stellt sich der Glaube von selbst ein.“ Jeder Einzelne kann natürlich ein Doppelleben führen, also sich im Dauerspagat zwischen Denken und Handeln einrichten. Dass aber ein ganzes Volk das schafft, halte ich für hochgradig unwahrscheinlich.

Wahrscheinlicher scheint mir, dass Sebastian Haffner Recht hatte, als er das Umschwenken großer Teile der Gesellschaft nach März 1933 sinngemäß so beschrieb: Man machte mit, zunächst aus Angst. Nachdem man aber schon einmal mitmachte, wollte man es nicht nur aus Angst tun – das wäre ja verächtlich gewesen -, und so lieferte man die zugehörige Gesinnung nach. Also Aufhebung der kognitiven Dissonanz durch Anpassung des Denkens.

(Es gibt noch eine zweite Strategie dieser Aufhebung; man konnte sie in der DDR beobachten: Man lieferte dem Regime augenzwinkernd die geforderten Lippenbekenntnisse auf Parteichinesisch, vor allem bei Gelegenheiten, wo solche erwartet wurden, und redete sonst anders. Ein kollektives Doppelleben ist also möglich, machte sich aber dadurch als solches bemerkbar, dass dem Regime nicht nur verbal, sondern überhaupt nur das Nötigste gegeben wurde, also durch massive Leistungsverweigerung. Davon kann aber 1933-1945 nicht wirklich die Rede sein.)

Wenn also die Doppelleben-Hypothese, soweit man sie auf die Mehrheit des deutschen Volkes anwenden will, als unwahrscheinlich zu gelten hat (für eine Minderheit kann sie durchaus zutreffen), dann bleibt nur die Vermutung, dass die meisten Deutschen das Regime aus Überzeugung gestützt haben. Wobei die einen früher, die anderen später (und einige wenige überhaupt nicht) zu dieser Überzeugung gekommen (bzw. gegen Kriegsende davon abgekommen) sind.

Das heißt ja nicht, dass Alle den Nationalsozialismus in jeder Hinsicht großartig fanden; irgendetwas hatte wahrscheinlich Jeder auszusetzen, die Korruption von Parteibonzen zum Beispiel, auch die Verfolgung der Juden fanden Viele abstoßend (auch nach damaligen Zeugnissen), und die riskante Außenpolitik war vielen Menschen unheimlich (wurde aber, wenn es wieder einmal gutgegangen war, umso frenetischer bejubelt; irgendwann so um 1940 glaubte wahrscheinlich jeder Deutsche, der Führer habe den direkten Draht zu Gott). Es heißt aber, dass sie das Regime im Großen und Ganzen guthießen, wenn auch sicherlich mit wechselnden Konjunkturen: 1938 waren es bestimmt mehr als 1933 oder nach Stalingrad; die geheimen Lageberichte des SD geben einigen Aufschluss darüber.

Erklärungsbedürftig ist nicht so sehr, warum viele Menschen nach März 1933 zu den Nazis überschwenkten, und zwar durchaus auch im ideologischen Sinne; Konformismus – wie gesagt, nicht nur äußerer, sondern auch innerer – dürfte ein ausreichender Grund gewesen sein, wenn auch vielleicht nicht der einzige. Ich kann ihn auch nicht per se verwerflich finden, denn, wie gesagt: Er ist menschlich. (Verwerflich finde ich höchstens, dass es im Nachhinein keiner gewesen sein will, und äußerst gefährlich finde ich ein optimistisches Menschenbild, das die menschliche Verführbarkeit ebenso unterschätzt wie die Kraft totalitärer Heilslehren, und auf dessen Basis man sich ein Regime wie den Nationalsozialismus daher nicht anders erklären kann als durch die Machenschaften einer bösartigen Minderheit, die die Mehrheit der Guten unterjocht.)

Erklärungsbedürftig ist, dass Hitler durch Wahlen an die Macht kam – ein buchstäblich beispielloser Vorgang! Weder Mussolini noch Franco, auch nicht Lenin oder Mao oder Khomeini verdankten ihre Macht einer Wahl. Man hat viel Tinte vergossen, um zu beweisen, dass Hitler nie eine Mehrheit in freier Wahl errungen hätte, aber das stimmt einfach nicht. Im März 1933 wusste Jeder, der die Deutschnationalen wählte, dass seine Stimme eine für Hitler war; und so muss man nicht nur die NSDAP-Stimmen (mit knapp 44 Prozent ein nie dagewesenes Ergebnis – ein Erdrutsch), sondern auch die DNVP-Stimmen als Hitlerstimmen werten. Hitler hatte rund 51 Prozent – eine klare Mehrheit!

Es stimmt schon, dass der Wahlkampf 1933 von einer Welle an politischem Terror der Nazis begleitet war, der selbst für die krisengeschüttelte Weimarer Republik ungewöhnlich war: Da wurden sozialistische Zeitungen verboten, Versammlungen gesprengt (sofern sie überhaupt stattfinden durften), Funktionäre verhaftet und gefoltert. Das ist alles richtig, beweist aber das Gegenteil von dem, was es beweisen soll. Wenn die Deutschen nämlich ein besonders freiheitsliebendes Volk gewesen wären, so wäre ihnen allerspätestens jetzt klargeworden, was eine Naziherrschaft bedeuten musste. Und sie hatten noch die winzige Chance, in der Einsamkeit der Wahlkabine den Nazis einen Strich durch die Rechnung zu machen. Sie taten das Gegenteil davon.

Warum?

Man kann natürlich auch rein situationsbezogen argumentieren: Deutschland steckte mitten in der Weltwirtschaftskrise, und diese Krise war – nach Weltkrieg, Revolution und Inflation – die vierte existenzielle Gesellschaftskrise innerhalb von zwanzig Jahren. Da mussten die Nerven ja blank liegen, und die Neigung, Jeden zu wählen, der sich wenigstens selber zutraute, den Karren aus dem Dreck zu ziehen, ist durchaus nachvollziehbar; das waren außer den Kommunisten (die ebenfalls von der Krise profitierten) eben nur die Nazis.

Wenn man will, kann man sich damit zufrieden geben und die Ursachenforschung einstellen: Bis 1933 war es Verzweiflung, danach Konformismus (und eine durch Hitlers durchschlagende Erfolge, speziell auf wirtschaftlichem Gebiet, genährte abergläubische Führerverehrung).

Die Frage ist nur, warum der Aufstieg der NSDAP in den Reichstagswahlen schon 1930 anfing, als erste Wirkungen der Krise zwar schon spürbar waren, aber von einer Katastrophe bei weitem nicht die Rede sein konnte. Und die erste demokratische Institution, in der es reichsweit eine braune Mehrheit gab, und zwar schon 1929 (!), waren – die ASten der deutschen Universitäten!

Ausgerechnet die Institution also, in der der Geist zu Hause sein sollte, ergab sich dem Ansturm als erstes, vor der Wirtschaftskrise und bevor Hitler irgendwelche Erfolge vorweisen konnte (und die Professorenschaft war weit davon entfernt, ihren Studenten Paroli zu bieten). Der Nationalsozialismus eroberte zuerst die Eliten, dann die Massen.

Womit ein Teil seines späteren Erfolges zu erklären ist: Welcher Normalbürger, der selbst vielleicht nur Volksschulbildung hat, widerspricht schon einer Ideologie, die von den geistigen Eliten seines Landes formuliert und unterstützt wird? Die Bereitschaft der Deutschen der dreißiger Jahre, Nazi-Ideologie zu akzeptieren, wirkt viel weniger merkwürdig, wenn wir unsere heutige Gesellschaft betrachten und uns bewusst machen, wie tief seit 1968, also beginnend mit der Studentenbewegung, linke Ideologeme – vom „gender mainstreaming“ bis zur „kulturellen Bereicherung“ – in die Gesellschaft eingedrungen sind: so sehr, dass kaum noch einer merkt, dass an ihnen irgendetwas „links“ sein könnte.

Wenn aber nun ausgerechnet geistige Eliten den Nationalsozialismus attraktiv fanden, so ist dies ein Indiz dafür, dass er konsequent etwas auf den Punkt brachte, das in der Geistesverfassung der Gesellschaft schon angelegt war und nach ideologischer Ausformulierung schrie. Sechs Punkte scheinen mir hier maßgeblich zu sein:

Erstens: Mit Ausnahme der beiden liberalen Parteien hatten alle Parteien der Weimarer Republik ein religiöses Politikverständnis, das heißt, sie fassten Politik nicht als ein Dienstleistungsunternehmen auf, das den Bürgern größtmöglichen Nutzen bringen sollte, sondern fußten auf Prinzipien, von deren Verwirklichung sie sich die schlechthin „gute“ Gesellschaft erwarteten. Sie waren säkularisierte Kirchen. Dieser Ansatz konnte relativ pragmatisch daherkommen, wie beim Zentrum und den Sozialdemokraten, wo die Utopie mehr einen geistigen Horizont markierte als ein konkret zu verwirklichendes Ziel, oder als revolutionärer Utopismus wie bei den Kommunisten.

Diese Auffassung von Politik als der Verwirklichung eines überzeitlichen Ideals versteht sich nicht von selbst, und zu liberalen Verfassungsstaaten passt er schon vom Ansatz her nicht: Deren unausgesprochenes Politikverständnis ist, dass jeder Einzelne seinen Interessen folgt, dass das „Volk“ nur das Aggregat dieser Einzelnen darstellt, und dass es die Regierung auswechselt, wenn sie die Interessen des gedachten Kollektivindividuums „Volk“ nicht verwirklicht. Das Verhältnis der meisten Deutschen zur Politik hatte mit diesem trockenen Pragmatismus wenig zu tun; es war religiöser Natur. Konservative etwa, die der vermeintlichen Herrlichkeit des Kaiserreichs nachtrauerten, warfen der Republik geradezu vor, kein erhebender Anblick, kein mächtiger Bau zu sein, sondern bloß eine Firma. Damit fassten sie das Wesen einer demokratischen Republik in der Tat zutreffend zusammen. (Man sollte diese Kritik auch nicht leichtfertig als reaktionär oder faschistisch abtun; ob religiös aufgeladene Gemeinwesen auf die Dauer den demokratischen Verfassungsstaaten nicht doch überlegen sind, ist eine immer noch offene Frage.)

Am zum Schluss geradezu sturzartigen Niedergang der liberalen Parteien, deren Politikverständnis dem „Firmen“-Ideal am nächsten kam, lässt sich ablesen, wie weitgehend die religiöse Politikauffassung in Deutschland Fuß gefasst hatte.

Zweitens: Eng verwandt mit diesem religiösen ist das militante Politikverständnis, ablesbar bereits an der Selbstdarstellung der Parteien. Es kam in der damaligen Politik in einem heute kaum noch vorstellbaren Ausmaß darauf an, „die Straße“ zu beherrschen; Demonstrationen waren keine Betroffenheitslatschdemos wie heute, sondern militärische Aufmärsche mit Fahnen, Uniformen, Marschmusik, und das sozialdemokratische Reichsbanner unterschied sich in dieser Hinsicht nicht vom Stahlhelm, dem Roten Frontkämpferbund oder der SA; selbst das Zentrum bemühte sich um ein martialisches Gepräge, eine wirkliche Ausnahme stellten – auch hier – allenfalls die liberalen Parteien dar. Die Symbolik entsprach dem Selbstverständnis der Parteien, die sich als Armeen ihrer Sache auffassten, die einen Feind zu vernichten hatten. Mit einem demokratischen Politikverständnis, zu dem notwendig auch der Kompromiss, meinetwegen auch die Kungelei gehört, hatte dies – auch bei den Sozialdemokraten – nichts zu tun.

Es spricht Bände, welche Rolle das Wort „Führer“ schon in den zwanziger Jahren spielte; es kam selbst beim Zentrum niemandem merkwürdig vor, wenn der Prälat Kaas auf Parteitagen nicht etwa als „unser Vorsitzender“, sondern als „unser Führer“ angekündigt wurde. Wenn man sich als Quasi-Armee versteht, ist das konsequent: Eine Armee braucht einen, der zumindest symbolisch vorangeht – ein „Vorsitzender“ kann das nicht leisten, weil er, nun ja, ein Sitzender ist.

Drittens: Schon im Kaiserreich, erst recht nach der Erfahrung des Weltkriegs, war das Ordnungsideal der Deutschen das Militär gewesen: eine straff zentralisierte, hierarchisch gegliederte, auf Befehl und Gehorsam basierende Großorganisation – ein Ideal, das in der Wirtschaft so selbstverständlich galt wie in den Parteien und Gewerkschaften. Es ist nicht einmal besonders boshaft zu behaupten, dass die sozialistischen Parteien und Gewerkschaften zur Militarisierung der Arbeiterschaft mindestens ebenso viel beigetragen haben wie die preußische Armee. Was wir uns heute unter „Zivilgesellschaft“ vorstellen und als Voraussetzung von Demokratie betrachten, wäre damals kaum verstanden worden – wiederum mit Ausnahme der Liberalen -; allein das Wort „zivil“ klang schon schlapp. Das „Führerprinzip“ war für große Teile der deutschen Gesellschaft der Sache nach schon ein Ideal gewesen, lange bevor die Nazis es so nannten.

Viertens: Im Verlauf des Ersten Weltkriegs waren die Kriegsziele (nicht etwa nur der Obersten Heeresleitung, sondern wiederum großer Teile der Gesellschaft) immer weiter ausgeufert; am Ende konnte niemandem verborgen bleiben, dass Deutschland um die Errichtung eines europäischen Imperiums kämpfte. Was ich übrigens nicht kritisiere; ich glaube, dass Europa bis heute besser dran wäre, wenn Deutschland den Ersten Weltkrieg gewonnen hätte – aber das ist ein anderes Thema. Das Erbe dieser Zeit war eine Auffassung von Außenpolitik als eines Machtkampfes der Nationen, das heißt eines Kampfes um Herrschaft. Selbst die Sozialisten machten da keine Ausnahme: Sie kritisierten zwar leidenschaftlich den „Imperialismus“, aber indem sie ihn als unvermeidliche Folge des Kapitalismus deuteten, also als etwas, was im Grunde nur durch eine Weltrevolution (sprich: überhaupt nicht) zu überwinden war, bestätigten sie letztlich nur die sozialdarwinistischen Auffassungen ihrer Gegner.

Sebastian Haffner hat eindrucksvoll beschrieben, wie dieses Denken sich während des Krieges gerade in den Köpfen der 1900 bis 1910 Geborenen festsetzte, die zu jung waren, um am Krieg teilzunehmen, aber alt genug, um den täglichen Heeresbericht zu lesen. Sie waren, schreibt er sinngemäß, auch später außerstande, in Nationen etwas anderes zu sehen als gigantische Sportvereine, die um den „Endsieg“ kämpfen. Es war diese Generation, aus der die Nazis ihre ersten, meisten und leidenschaftlichsten Anhänger rekrutierten.

Fünftens: Franz Janka hat in seiner zu Unrecht wenig beachteten, brillanten Studie „Die braune Gesellschaft. Ein Volk wird formatiert… “ die Idee der „Volksgemeinschaft“ als die zentrale Idee des Nationalsozialismus herausgearbeitet: zentral auch im Hinblick auf seine Fähigkeit, Massenunterstützung zu mobilisieren. Die Idee der „Gemeinschaft“ war schon vor 1914 als Gegenbild zur schnöden „Gesellschaft“ entwickelt worden, in der jeder egoistisch seinen Interessen folgt. Was ursprünglich eine Kategorie soziologischer Analyse gewesen war, wurde sehr schnell politisch aufgeladen und als Utopie gegen die liberale Gesellschaft in Stellung gebracht. Das Erlebnis des Ersten Weltkriegs, speziell des zum nationalen Mythos erhobenen August 1914 illustrierte diese Utopie einer verschworenen (Krieger-)Gemeinschaft auf eine für Viele so eindrucksvolle Weise, dass das bloße Wort „Volksgemeinschaft“ genügte, bei jedem Einzelnen eine Kaskade von meist positiven Bildern und Assoziationen in Gang zu setzen, die alle etwas mit nationaler Solidarität, mit Heldentum und der Überwindung von Klassen- und Konfessionsschranken zu tun hatten. Einer genauen Begriffsbestimmung schien es bei einem emotional so hochgradig aufgeladenen Wort gar nicht zu bedürfen, und selbst sozialistisch geprägten Arbeitern, die den nationalen Mythen noch am skeptischsten gegenüberstanden, schien eine „Volksgemeinschaft“ wenn schon keine materielle Gleichheit, so doch wenigstens gleichen Anspruch auf soziale Anerkennung zu verheißen. Hinzu kam, dass auch die massenwirksamen Gegenideale des Christentums und des Sozialismus letztlich Gemeinschafts-Ideale waren. Kurz und gut: Die Sehnsucht nach „Gemeinschaft“ war die Basisutopie der Deutschen, und nachdem die Nationalsozialisten ihre „Volksgemeinschaft“ erst einmal etabliert hatten, war es auch für viele Christen und Sozialisten nur noch ein kleiner Schritt, ihre alten Gemeinschaftsideale über Bord zu werfen und sich in die „Volksgemeinschaft“ einzufügen.

Sechstens: Wenn ich den Antisemitismus als sechsten Faktor anführe, so muss ich zunächst einem denkbaren Missverständnis vorbeugen: Ich vertrete nicht die Goldhagen-These, wonach die Ermordung der Juden ein deutsches Nationalprojekt gewesen sei, das die Billigung einer Mehrheit gefunden hätte (was nichts daran ändert, dass in einem rein objektiven Sinne praktisch Alle in irgendeiner Form darin verstrickt waren – auch ein Vernichtungslager stand ja nur so lange, wie die Front hielt). Ich halte die Goldhagen-These für überzogen, weil es keine empirischen Anhaltspunkte dafür gibt, dass auch nur der Boykott vom April 1933 oder die Nürnberger Gesetze breite Billigung gefunden hätten – von der Ermordung der Juden ganz zu schweigen, die dementsprechend so geheim wie möglich vollzogen wurde. Auch an den Verbrechen der Reichskristallnacht beteiligten sich meines Wissens nur diejenigen, die dazu abkommandiert waren (weswegen ich auch nicht den politisch korrekten Ausdruck „Reichspogromnacht“ verwende – für mich ein klassisches Beispiel für die unvermeidliche Dummheit von Political Correctness: Das Wort „Pogrom“ enthält ein Moment spontaner Massengewalt, und wer es in Bezug auf den 9.November 1938 verwendet, übernimmt praktisch die Goebbelssche Lesart, wonach es sich um einen spontanen Ausbruch des Volkszorns gehandelt habe). Auf sehr viele Deutsche, vielleicht eine Mehrheit, wirkten sie ausgesprochen abstoßend.

Andererseits war die wüste antisemitische Propaganda der NSDAP für die Mehrheit der Deutschen kein Grund, Hitler nicht zu wählen, und taten der Judenboykott, die Arierparagraphen, die Nürnberger Gesetze der Popularität Hitlers keinen merklichen Abbruch, auf die Dauer auch nicht die Kristallnacht. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass die deutsche Gesellschaft sehr wohl bereit war, der Ermordung der Geisteskranken Einhalt zu gebieten, nicht aber der der Juden. Und es gibt aus der Zeit vor Hitler ungezählte Zeugnisse dafür, dass Antisemitismus im Sinne einer allgemeinen (nicht unbedingt gegen Einzelpersonen gerichteten) Abneigung gegen Juden, sehr weit verbreitet, ja fast schon selbstverständlich war. Ich vermute, dass es sich um die Einstellung einer Mehrheit handelte.

Ganz sicher die Einstellung einer Mehrheit war aber, dass die Juden nicht zu „uns“, also zur Wir-Gruppe der Deutschen gehörten, und wenn sie zehnmal mit dem Eisernen Kreuz dekoriert waren. Unter dieser Voraussetzung musste es spontan einleuchten, wenn die starke Position von Juden in Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst von den Nationalsozialisten als eine Art „Fremdherrschaft“ gebrandmarkt wurde, von der es das deutsche Volk zu „befreien“ gelte. Die Bereitschaft, antisemitische Ideologie zu akzeptieren, war also durchaus vorhanden. Sie ist nicht einfach dasselbe, wie die Bereitschaft einen Massenmord zu begehen oder auch nur zu billigen, wohl aber die Voraussetzung dafür, ein antisemitisches Regime, das solches tut, zu dulden und ungeachtet seines Antisemitismus zu unterstützen.

Fassen wir zusammen: Die überwältigende Mehrheit der Deutschen, einschließlich der Sozialisten und engagierten Christen, hielt Politik für die Verwirklichung religiöser oder quasi-religiöser Ideale, fand es selbstverständlich, dass man zu diesem Zeck politische Gegner physisch bekämpfte, betrachtete das Führerprinzip als Ordnungsideal, hielt internationale Politik essenziell für einen Machtkampf von Nationen, betrachtete Juden als fremde Eindringlinge und sehnte sich der Volksgemeinschaft.

Und nun frage ich: Welche Ideologie und welches politische System passte zu einem solchen Volk?

Die Frage stellen heißt sie beantworten.