Im ersten Teil habe ich die These entwickelt, dass der Liberalismus als Voraussetzung der Demokratie und überhaupt der Moderne nur von einer christlich geprägten Zivilisation hervorgebracht werden konnte, weil der Widerspruch zwischen der Religion und ihren eigenen Glaubensgrundlagen so nur im Christentum existiert. Das bedeutet aber nicht, dass er als politische Philosophie nicht exportierbar wäre. Historisch-empirisch basiert der Liberalismus zwar auf dem Christentum, theoretisch aber nicht; er lässt sich auch von ganz irreligiösen Ausgangspunkten her rational erschließen.
Indien zum Beispiel ist nicht christlich, sondern hinduistisch geprägt; ungeachtet dessen ist es seit seiner Unabhängigkeit die größte Demokratie der Welt. Offensichtlich ist die Demokratie mit einer auf dem Hinduismus basierenden Kultur vereinbar. Warum das so ist? Nun, ich bin kein Fachmann für Hinduismus, und wer mehr als ich von Indologie versteht, möge mich korrigieren, aber es scheint mir plausibel, dass der Pluralismus nicht nur der Götterwelt, sondern auch der Theologie des Hinduismus, die keine ausgearbeitete allgemeinverbindliche „Lehre“ kennt, günstige Voraussetzungen sind.
Nichtchristliche Kulturen können also durchaus mit demokratischen Werten kompatibel sein, sie müssen es aber nicht, und es scheint mir mehr als nur ein beredtes Detail zu sein, dass der hinduistische Teil des ehemaligen Britisch-Indien eine stabile Demokratie hervorgebracht hat, der islamische – Pakistan – aber nicht.
Ich vertrete die These, dass der Islam in genau denjenigen Punkten, die für das Verhältnis zur Demokratie entscheidend sind, nicht einfach eine andere Religion ist als das Christentum, sondern dessen Gegenteil:
Muslime führen die innere Widerspruchsfreiheit ihrer Religion gerne als Beleg für ihre „Wahrheit“ an. Scheinbar ein starkes Argument – solange man sich nicht vergegenwärtigt, dass man es auch zugunsten des Stalinismus ins Feld führen könnte. Gedankensysteme, die auf fiktiven, zumindest aber nicht überprüfbaren Ausgangspunkten beruhen (in diesem Fall auf der Idee, Gott selbst sei der Autor des Koran), haben eine starke Tendenz, sich zu Wahnsystemen zu entwickeln, die in sich dann in der Tat so stimmig sind, wie es auch das Weltbild eines Paranoikers ist.
Die innere Schlüssigkeit der islamischen Lehre beruht darauf, dass ihr der für das Christentum charakteristische Widerspruch von Glaube und Religion fremd ist. Der Islam ist von vornherein konsequent und kompromisslos als Religion, das heißt als soziales System, konzipiert:
Die koranische Ethik ist eine Handlungsethik. Eine Tat gilt als gut, wenn sie mit dem Koran in seiner allgemein akzeptierten Auslegung übereinstimmt. Sonst ist sie schlecht. Die fünf Säulen des Islam: Glaubensbekenntnis, Gebet, Wallfahrt, Fasten und Armensteuer betreffen Tathandlungen. Auf die innere Haltung, deren Betonung für das Christentum so kennzeichnend ist, kommt es dabei letztlich nicht an. Hingabe („Islam“) an den Willen Allahs wird als innere Haltung zwar vorausgesetzt, aber gemessen wird sie an der Tat.
Damit ist keine Abwertung dieser Ethik verbunden: Nicht nur, weil eine Handlungsethik allemal besser ist als gar keine – sie hat auch ein deutlich höheres Maß an Verbindlichkeit. Ein Muslim könnte zutreffend darauf verweisen, dass die christliche Maxime: „Liebe – und tu, was Du willst“ das Sozialverhalten des Einzelnen letztlich in dessen Ermessen (man könnte auch sagen: seine Willkür) stellt, dass eine soziale Kontrolle jedenfalls fehlt, und dass das Christentum gerade deswegen gezwungen war, eine soziale Kontrollinstanz – die Kirche – gleichsam durch die Hintertür wieder einzuführen. Wir Muslime, könnte er zu Recht sagen, sparen uns diese Umwege und Paradoxien.
Diese Kritik ist nicht von der Hand zu weisen, und es gibt auch viele Christen, denen meine Interpretation der christlichen Ethik allzu individualistisch und liberal (um nicht zu sagen: windig) vorkommen dürfte, und die ebenfalls die handlungsethischen Momente der christlichen Lehre betonen; bezeichnenderweise umso stärker, je näher sie dem fundamentalistischen Lager ihrer jeweiligen Konfession stehen.
Das Problem besteht auch nicht in der Handlungsethik als solcher: Was sollte schon verkehrt daran sein, Gutes zu tun, egal aus welchen Motiven? Nicht darin liegt das Problem, sondern darin, dass im Islam die Maßstäbe für gutes und schlechtes, erlaubtes und unerlaubtes Handeln gleich mitgeliefert werden, und zwar nicht etwa in Form allgemeiner Richtlinien (wie etwa den zehn Geboten), sondern höchst konkret und detailliert. Koran und Hadith, in Verbindung mit einer fast 1400jährigen Auslegungstradition regeln das Sozialverhalten in allen Lebensbereichen, einschließlich der Politik, und dies faktisch unabänderlich.
Dass ein demokratisch gewählter Gesetzgeber hier nicht viel zu bestellen hat, ergibt sich daraus nicht nur als theoretische Überlegung, sondern lässt sich auch empirisch belegen: Die iranische Staatsdoktrin beispielsweise geht davon aus, dass das Volk (bis zur Wiederkehr des Verborgenen Imam) im Prinzip durchaus das Recht auf Selbstregierung hat – freilich nur, soweit es dabei nicht gegen die Scharia verstößt; über deren Einhaltung wacht wiederum der schiitische Klerus. Wer die Machtverhältnisse im Iran kennt, weiß, dass unter dieser Einschränkung vom demokratischen Prinzip kaum etwas übriggeblieben ist. (Dies ist umso bemerkenswerter, als der schiitische Islam um einiges undogmatischer ist als der sunnitische: Während für die Sunna der einmal – und sei es vor tausend Jahren – gefundene Konsens der Rechtsgelehrten bis zum Jüngsten Gericht verbindlich ist, lässt die Schia Weiterentwicklungen zu, in der Theorie zumindest. In der Praxis ist durch Koran und Hadith ein so engmaschiges Netz an Vorgaben geknüpft worden, dass an so etwas wie eine Liberalisierung kaum zu denken ist.)
Damit unterscheidet sich die islamische Ethik von der christlichen nicht erst ihrem konkreten Inhalt, sondern bereits ihrem Prinzip nach, d.h. in den Grundannahmen darüber, was Ethik überhaupt ist. Dies ist entscheidend, und ich unterstreiche nochmals, dass solche Grundannahmen das gesamte Denken innerhalb einer Kultur vor-formen; dass solche ursprünglich theologischen Denkmuster sich in der vorherrschenden Mentalität und Weltauffassung einer Kultur niederschlagen; dass die Analyse dieser theologischen Denkmuster daher den Schlüssel zu deren Verständnis liefert; und dass Argumente des Kalibers „Die meisten Türken/Araber/Perser gehen doch sowieso nicht in die Moschee, was haben die mit dem Koran zu tun?“ daher völlig irrelevant sind.
Ich hatte in Teil I gezeigt, dass Christus seine Ethik bewusst in Form scheinbar unerfüllbarer Forderungen formulierte, die erst durch die Bezugnahme auf die Liebe als grundlegender Form des individuellen Weltbezuges ihren Sinn bekommen. Hier gelten keine konkreten Handlungsanweisungen; der Christ darf eine autonome Entscheidung treffen, er muss es sogar, und er muss sie vor Gott und seinem Gewissen verantworten.
Die islamische Ethik dagegen geht davon aus, dass es für den Einzelnen nichts zu entscheiden, sondern lediglich etwas zu erkennen gibt – den Willen Allahs nämlich. Die Form des Weltbezuges ist mithin nicht die Liebe, sondern der Gehorsam. (Um ein denkbares Missverständnis auszuschließen: Ich behaupte damit keineswegs den Unsinn, dass es für Muslime so etwas wie Nächstenliebe nicht gäbe, sondern lediglich, dass die islamische Ethik nicht darauf beruht.).
Eine freie Entscheidung bleibt dem Menschen freilich: die Entscheidung für oder gegen den Willen Gottes, also die zwischen Gut und Böse.
Dieser Gegensatz zwischen dem christlichen Prinzip der ethischen Autonomie und dem islamischen der ethischen Heteronomie (=Fremdbestimmung) führt zwischen beiden Kulturkreisen zu einem Gegensatz der politischen Grundwerte, der schroffer kaum sein könnte: Die individuelle Freiheit, auf die wir so stolz sind, ist aus islamischer Sicht kein positiver Wert; sie kann es nicht sein, weil man aus islamischer Sicht Freiheit lediglich als die Freiheit auffassen kann, sich gegen Allah zu entscheiden und Böses zu tun. Eine liberale, demokratische Ordnung, die solche Freiheit garantiert, ist aus dieser Perspektive nicht nur nicht erstrebens- oder erhaltenswert, sie ist moralisch minderwertig.
Es ist dies die logische Konsequenz aus dem Grundcharakter des Islam, wesentlich ein soziales System zu sein. Die Gesellschaft wird hier nicht vom Einzelnen her betrachtet, sondern umgekehrt der Einzelne von der Gesellschaft her, in deren – von Gott gegebenes – Regelwerk er sich einzufügen hat. Die Parallele zu modernen totalitären Denksystemen ist offenkundig. Rechte kann der Einzelne nur so weit geltend machen, wie er sich in diesen Rahmen einfügt (und dies gilt, da der Koran von Allah gegeben wurde, für alle Menschen, nicht etwa nur für Muslime). Er muss also entweder selbst Muslim sein und sich schariakonform verhalten – oder einen Dhimmi-Status haben, also als Christ oder Jude in einem normalerweise höchst diskriminierenden Vertragsverhältnis zur islamischen Umma stehen. Wer außerhalb der islamischen Regeln steht, ist rechtlos und hat keinen Anspruch auf Respekt, im Prinzip nicht einmal das Recht auf Leben. Dies beginnt bei unverschleierten Frauen, setzt sich fort bei unbotmäßigen Karikaturisten und geht bis hin zu Staaten, wenn sie, wie Israel, in der falschen Gegend liegen; die Gründung des Staates Israel war eine eigenmächtige Aufhebung des Dhimmi-Status seitens der Juden und ein Einbruch in das „Haus des Islam“ (s.u.), was nach islamischem Recht die Muslime nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, diese zu bekämpfen. Und wer da glauben sollte, die Rechtlosigkeit der „Ungläubigen“ sei auf Frauen, Karikaturisten und den Staat Israel beschränkt (und das womöglich nicht so schlimm findet…) ignoriert die kulturellen Grundlagen der islamischen Unduldsamkeit. Die ganze Denkweise „Frauen müssen ja auch nicht so aufreizend herumlaufen, Karikaturisten sollten auch Rücksicht auf religiöse Gefühle nehmen, die Israelis könnten sich ja auch ein wenig zurückhalten“, ignoriert, dass für die Gegenseite nicht der eventuelle Missbrauch von Rechten seitens der „Ungläubigen“ anstößig ist, sondern die Tatsache, dass sie überhaupt irgendwelche Rechte jenseits der Scharia beanspruchen.
(Es ist eine nicht totzukriegende Legende, dass der Islam zumindest gegenüber Juden und Christen „tolerant“ sei – oder zumindest im Mittelalter gewesen sei. Wer sich für dieses Thema interessiert, dem empfehle ich die Texte von Bat Ye’or und Egon Flaig.)
Wohlmeinende Westler, die mehr „Respekt für den Islam“ einfordern, verkennen, dass sie Respekt für eine Religion fordern, die auf der prinzipiellen Nichtrespektierung jeder anderen Religion beruht. Ein Muslim, der denselben Respekt für das Christentum oder gar die liberale westliche Zivilisation forderte, würde die universelle soziale Verbindlichkeit des Koran anzweifeln und damit im Grunde aufhören, Muslim zu sein.
Vor Gott gerechtfertigt, daran lässt der Koran keinen Zweifel, ist allein der Muslim; alle anderen sind zur Hölle verdammt. Diesen Heilsexklusivismus kennt zwar auch das Christentum („Extra ecclesiam nulla salus“), aber wir hatten bereits in Teil I gesehen, dass es sich dabei um die im engeren Sinne religiöse, also kirchliche Seite des Christentums handelt, die im Widerspruch zum Kern des christlichen Glaubens steht. Das christliche Korrektiv, eben jener Glaube, dass vor Gott potenziell jeder Mensch gerechtfertigt ist und dass niemand glauben darf, die Gnade Gottes für sich gepachtet zu haben (Man denke an die Negativfigur des Pharisäers!) – dieses Korrektiv existiert im Islam nicht. Auch hier kommt es also auf das objektive Kriterium der Zugehörigkeit zum sozialen System an, und der beste Jude oder Christ ist nach koranischer Auffassung in den Augen Gottes allemal weniger wert als der schlechteste Muslim.
Im Prinzip jedenfalls. Es sei hier nicht unterschlagen, dass es im Koran vereinzelt auch versöhnliche Verse gibt, in denen die Gottesfurcht besonders frommer Juden und Christen gewürdigt wird. Angesichts der unzweideutigen und vielfach wiederholten und variierten koranischen Grundaussage, dass alle „Ungläubigen“ von Gott verdammt und verurteilt seien, haben solche Verse jedoch bestenfalls den Charakter von Ausnahmeklauseln für Einzelpersonen. Und der Durchschnittswestler, der in der Regel ja nicht sonderlich fromm ist, fällt sowieso nicht darunter, Anhänger nichtmonotheistischer Religionen oder gar Atheisten erst recht nicht.
(Es gibt natürlich durchaus Muslime, die sich die liberale westliche Weltsicht und Religionsauffassung aneignen wollen, ohne mit ihrem Glauben in Konflikt zu geraten, und die sich einen toleranten Islam wünschen. Solchen Menschen öffnen die erwähnten Verse möglicherweise theologische Hintertürchen, durch die sie sich – freilich nur unter erheblichem exegetischem Voluntarismus – hindurchzwängen können. Der islamischen Kultur als Ganzer steht dieser Weg nicht offen – zu offensichtlich muss man den Text des Koran gegen den Strich bürsten, um ihm so etwas wie „Toleranz“ abzupressen.)
Damit trifft der Koran zugleich eine eminent politische Vorentscheidung: Die Unterscheidung, die so oft und so hartnäckig wiederholt und unterstrichen wird, dass man sie als eines der wesentlichen Leitmotive des Koran ansehen muss, ist die zwischen „Gläubigen“ und „Ungläubigen“, wobei die letzteren zu bekämpfen und – auch dies wird unzweideutig ausgesagt – zu unterwerfen sind. Hierin spiegelt sich die politische Situation zur Zeit des Propheten Mohammed wieder, als die islamische Umma eine Kampfgemeinschaft war, die ihre Feinde militärisch bekämpfte. Da sich diese Situation im Text des Koran niederschlug und dieser sich als das unmittelbare Wort Gottes mit Anspruch auf ewige Gültigkeit ausgibt, wurde der islamischen Religion und damit auch Kultur eine militant gegen Fremdgruppen gerichtete Mentalität eingepflanzt, in der der Djihad – und zwar im Sinne von „Heiliger Krieg“, nicht etwa von „Anstrengung auf dem Wege Gottes“ – als ewiges göttliches Gebot festgeschrieben ist, und die von einem radikalen, durch nichts relativierten Gruppenegoismus und -narzissmus geprägt ist: Der Feind der „besten Gemeinschaft, die es je gegeben hat“, ist von vornherein im Unrecht; legitime Interessen hat er nicht und kann er per definitionem nicht haben.
Verstärkt wurde dies noch dadurch, dass der muslimische Eroberungszug in den ersten beiden Jahrhunderten der islamischen Zeitrechnung schwungvoll weitergeführt wurde – in genau jener Zeit also, in der der Koran endgültig kanonisiert wurde und in der die Grundlagen des islamischen Rechts gelegt wurden (die, siehe oben, bis heute gelten). Wie der Koran die Menschheit in Gläubige und Ungläubige einteilt, so teilt das koranische Recht die Welt in das „Haus des Islam“ und das „Haus des Krieges“ ein. Die Selbstbeschreibung des Islam als einer „Religion des Friedens“ offenbart von diesem Punkt her ihre Doppelbödigkeit: Frieden ja – aber eben durch Unterwerfung des „Hauses des Krieges“, also der Länder der „Ungläubigen“. Wer sich bei dieser Art Friedfertigkeit an die der Kommunisten erinnert fühlt, die ständig vom Frieden redeten und damit die „Vernichtung des Imperialismus“ meinten, liegt durchaus richtig. Entscheidend war hierbei die politische Unterwerfung. Die religiöse Bekehrung würde dieser dann ganz von alleine folgen, so die völlig richtige Kalkulation, wenn man den „Dhimmis“ das Leben zur Hölle macht, ihnen aber gleichzeitig die Konversion zum Islam nahelegt, während man den eigenen Glaubensbrüdern den Übertritt unter Todesstrafe verbietet. Noch heute sind Muslime, die etwa zum Christentum übertreten, ihres Lebens nicht sicher, und zwar nicht nur in islamischen Ländern, sondern auch in Deutschland. In Berlin feiern Konvertiten ihre Gottesdienste heimlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Sie wissen, warum.
Die Konsequenz einer solchen Rechtsauffassung für die Mentalität einer davon geprägten Kultur liegt auf der Hand: Recht ist, was der eigenen Gruppe nützt. Der Andersgläubige ist der Feind. Der Feind ist immer im Unrecht.
Und wieder gibt es kein Korrektiv, kein „Richtet nicht, auf das Ihr nicht gerichtet werdet“, nichts, was der jesuanischen Aufforderung entspräche, sich selbst mit den Augen des Anderen zu sehen, keine Warnung vor Selbstgerechtigkeit, jedenfalls nicht im Umgang mit „Ungläubigen“, stets nur, und hundertfach wiederholt, die Verdammung des Anderen, die Heiligung der Selbstgerechtigkeit, man könnte auch sagen: den Appell an den inneren Schweinehund.
Dass Völker, die von einer solchen Mentalität geprägt sind, wenig Neigung haben, sich einem Regelwerk zu unterwerfen, dass die friedliche Austragung von Konflikten sichern soll und daher von der prinzipiellen Gleichberechtigung aller Parteien ausgeht – im Inneren die Demokratie, nach außen das internationale Recht -, sollte niemanden erstaunen. Und erstaunen sollte es einen auch nicht, dass die einzige scheinbar halbwegs säkulare Demokratie der islamischen Welt, nämlich die Türkei, ihre „Säkularität“ selbst nach achtzig Jahren (!) nur dadurch sicherstellen kann, dass sie die Religionsfreiheit suspendiert: Der Islam wird am engstmöglichen staatlichen Gängelband geführt, andere Religionen de facto unterdrückt, und das Ganze funktioniert nur, weil das Militär die „säkulare Demokratie“ mit vorgehaltener Pistole und aufgepflanztem Bajonett bewacht.
(Und was das internationale Recht angeht: Ich höre sie schon protestieren, die liberalen Christen und die Linken, wie ich denn den islamischen Völkern ihre Verachtung für das internationale Recht vorwerfen könne, wo es doch die USA seien, die… – Nun ja, ich spreche hier von der Mentalität von Völkern, und da fällt mir eben auf, dass Millionen von Westlern, und gerade die erwähnten Christen und Linken, für die Rechte etwa Iraks und der Palästinenser auf die Straße gegangen sind – ob zu Recht, lasse ich dahingestellt -, aber kaum ein Muslim für das Existenzrecht Israels. Falls sich das einmal ändern sollte, werde ich meine Vorwürfe mit Bedauern zurücknehmen, aber nicht vorher.)
Schön, könnte man einwenden, aber kann es nicht sein, dass auch der Islam solche Positionen überdenken kann? Kann es nicht auch, wie von Bassam Tibi vorgeschlagen, einen Euro-Islam geben, der mit demokratischen Werten vereinbar ist? Ist es nicht arrogant, dem Islam von vornherein jede Anpassungsfähigkeit abzusprechen?
Nun, ich würde eher sagen, dass es arrogant ist, eine fremde Religion nicht von ihrem Selbstverständnis her zu verstehen, sondern ihren Anhängern von vornherein eine christliche Denkweise zu unterstellen. Ich möchte nicht ein- für allemal ausschließen, dass es für Muslime möglich sein könnte, vielleicht auf der Basis einer historisch-kritischen Koraninterpretation zu einem demokratiekompatiblen Islamverständnis zu gelangen, und ich wäre sehr glücklich, wenn man mir in der Praxis beweisen würde, dass meine Thesen falsch sind. Nur: Ich sehe das nicht.
Ich sehe nicht, wie man theologisch sauber aus den Grundlagen des Islam, dem Koran und dem Hadith, einen demokratischen Euro-Islam ableiten will. Für eine historisch-kritische Koraninterpretation sehe ich keinen Raum. Wer einwendet, es gebe doch auch eine kritische Bibelinterpretation, verkennt den spezifischen Charakter der islamischen Religion:
Jede der drei monotheistischen Religionen kennt genau ein Kriterium, das trennscharf und mit letzter Verbindlichkeit die Grenze bestimmt, jenseits derer eine theologische Position nicht mehr als jüdisch, christlich oder eben islamisch akzeptiert werden kann: Für Juden ist dies das Volk Israel als das Volk Gottes, für Christen Jesus Christus als der Sohn Gottes, für den Islam der Koran als das Wort Gottes. Natürlich sprechen auch Juden und Christen von ihrer jeweiligen Bibel als dem „Wort Gottes“; als Jude oder Christ kann man das auch ganz wortwörtlich verstehen, man muss es aber nicht! Schlimmstenfalls wechselt man die Gemeinde oder Konfession, aber man hört nicht auf, Jude/Christ zu sein, wenn man nicht an die Verbalinspiration der Bibel glaubt – weil eben Judentum und Christentum sich nach anderen Kriterien definieren.
Der Islam dagegen steht und fällt mit der absoluten Gültigkeit des Koran. Die zu bestreiten, ist nicht etwa eine alternative islamische Theologie – es ist schlicht und einfach „Kufr“ – Unglaube!
Für Muslime ist der Koran nicht das, was für uns Christen die Bibel ist; er ist das, was für uns Jesus Christus ist – der archimedische Fixpunkt! Der in einem christlichen Kontext entwickelte Begriff „Fundamentalismus“ – womit diejenigen christlichen Lehren gemeint sind, die von der Verbalinspiration und absoluten Wahrheit der Bibel ausgehen, im Unterschied und Gegensatz zur Position der Mehrheit, die dies ablehnt – ist in Bezug auf den Islam strenggenommen sinnlos und sogar irreführend, weil der Islam in sich fundamentalistisch im oben beschriebenen Sinne ist. Natürlich gibt es Muslime, die privat Allah einen guten Mann sein lassen, aber sie gründen keine Glaubensgemeinschaften und propagieren keine liberale Theologie. Eine solche gibt es im Christentum wie im Judentum. Im Islam gibt es sie nicht.
Aktuelle Literatur zum Thema „Islam“
Aktuelle Literatur zum Stichwort „Djihad“
Die Bücher von Hans-Peter Raddatz, von Oriana Fallaci, von Udo Ulfkotte, von Henryk M. Broder