Erik Lehnert hat in der aktuellen Sezession Nr. 52 die seit Monaten sich dahinscharmützelnde „Islamdebatte“ zwischen einigen Autoren der Sezession zum Anlass genommen, einige grundsätzliche Überlegungen zur Struktur solcher Debatten anzustellen. Lehnert zufolge hängt ihr Wert für den Leser davon ab,
daß man entschlüsseln kann, aus welcher Perspektive ein Debattenbeitrag verfaßt ist. Das setzt wiederum voraus, daß man weiß, daß es … keine unabhängig von uns existierende Wahrheit gibt, sondern daß diese Wahrheit im wesentlichen von der Perspektive desjenigen abhängt, der sich über einen Gegenstand verbreitet.
Wenn Lehnert damit nur sagen wollte, daß man denselben Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten kann, und daß der relative Wert einer bestimmten Perspektive davon abhängt, ob und wie weit sie zur Erhellung einer bestimmten Fragestellung beiträgt, so würde kein vernünftiger Mensch ihm widersprechen wollen. Allerdings wäre eine solche Binsenwahrheit es kaum wert,
auf eng begrenztem Raum und mit eng begrenzten Ressourcen
breitgetreten zu werden, und in der Tat will Lehnert auch auf etwas ganz anderes hinaus:
Der Historiker wird sich eher den Phänomenen zuwenden und letztendlich die Auffassung vertreten, daß sich die Wirklichkeit nicht in Formeln fassen läßt. (…)
Der Soziologe hat die Ebene der Phänomene und Individuen verlassen, um sich den Strukturen zuzuwenden. Das Hauptaugenmerk seiner Analyse liegt dann auf diesen Strukturen, von denen Abweichungen nur in anderen Strukturen möglich sind: Diese Nivellierung ist sicher sinnvoll, um bestimmte Entwicklungen zu erhellen. Die Wirklichkeit erfassen kann sie nicht.
Lehnert behauptet also, der Unterschied zwischen Geschichtswissenschaft und Soziologie bestehe darin, daß die eine sich mit Phänomenen, die andere mit Strukturen befasse. Da aber – dies ist jedenfalls die Quintessenz – „Phänomene“ in der Wirklichkeit existierten, „Strukturen“ jedoch nur in den Köpfen der Soziologen, könne die eine Disziplin „Wirklichkeit erfassen“ – und die andere eben nicht. Es fällt schwer, in solchen Thesen etwas anderes zu sehen als die anspruchsvoll formulierte Version des populären Vorurteils, Soziologen würden nur herumlabern.
Wenn es stimmen würde, daß man nur durch die Beschäftigung mit „Phänomenen“, nicht aber durch die mit Strukturen „Wirklichkeit erfassen“ könne, dann hieße das, daß man „Wirklichkeit erfaßt“, wenn man sich mit Bäumen, nicht aber, wenn man sich mit dem Wald beschäftigt; daß also Bäume real sind, der Wald aber nicht. Ich weise darauf hin, daß dieser Fehlschluß von der Existenz von Bäumen auf die Nichtexistenz des Waldes im Deutschen als metaphorische Umschreibung für Borniertheit gilt.
Dabei stimmt schon die Prämisse nicht: Es ist schlechterdings objektiv – und daher auch für Historiker – unmöglich, eine Aussage über Phänomene zu treffen, die nicht zugleich eine Aussage über ihre Struktur ist, allein schon, weil jeder Begriff eine Strukturaussage impliziert. Daß manche Historiker die in ihren Thesen enthaltenen Strukturaussagen nicht hinreichend reflektieren, steht auf einem anderen Blatt, ist aber keine wissenschaftliche Tugend, auch keine geschichtswissenschaftliche; schon gar nicht ist es ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Geschichtswissenschaft und Soziologie.
Darüberhinaus gehört es selbstverständlich zu den Aufgaben der Geschichtswissenschaft, Strukturen zu erforschen, und dies gegebenenfalls auch auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau, sozusagen aus der Vogelperspektive, aus der die einzelnen Phänomene vergleichsweise winzig sind und als Teile eines übergreifenden Musters, eines Mosaiks erscheinen, das weitaus mehr ist als bloß die Summe der Steinchen, aus denen es besteht. Es wäre doch absurd – um nur dieses Beispiel zu nennen – zu bestreiten, daß Ernst Noltes Thesen zum Europäischen Bürgerkrieg unter anderem eine empirisch wohluntermauerte Theorie über die Struktur der europäischen Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts darstellen.
Soziologische Theoriebildung wiederum zielt darauf ab, empirische Phänomene zu erklären (worauf denn sonst?) und gerade nicht, sie zu ignorieren. Indem die Soziologie soziale Phänomene als Ergebnis sozialer Strukturen und ihrer immanenten Dynamik beschreibt, erschließt sie sich einen Zugang zu gleichartigen Phänomenen, die unter Umständen räumlich und zeitlich weit voneinander entfernt auftreten und deshalb von einem phänomenologischen Ansatz her nicht miteinander in Beziehung zu bringen sind und nichts miteinander zu tun zu haben scheinen: zum Beispiel, daß muslimische Organisationen an Christen im Westen im Wesentlichen dieselben Erwartungen richten, die sie deren Glaubensbrüdern im Nahen Osten schon vor Jahrhunderten erfolgreich aufgezwungen haben; oder daß bei linker Politik, egal, ob sie in Frankreich 1789, in Russland 1917 oder in Deutschland 2013 verfolgt wird, grundsätzlich das Gegenteil dessen herauskommt, was (angeblich) herauskommen soll; oder daß dieselben Mechanismen, mit denen Ortsvereine von alten Sozialdemokraten sich gegen neue Themen und Perspektiven abschotten – und ich weiß, wovon ich rede -, auch in scheinbar ganz andersgearteten politisch-ideologischen Zusammenhängen auftauchen.
Dabei ist die Besonderheit der Soziologie nicht, daß sie die einzelnen Phänomene von der Struktur her deutet, innerhalb deren sie auftreten; das kann ein Historiker gegebenenfalls genauso machen.
Spezifisch soziologisch ist vielmehr die Antwort auf die Frage, was „soziale Strukturen“ eigentlich sind: nämlich Strukturen wechselseitiger Erwartungen. Damit wird es möglich zu erklären, warum Strukturen gegebenenfalls über lange Zeiträume stabil bleiben: Da solche Strukturen sich in tatsächlichem menschlichem Verhalten oder Unterlassen manifestieren, kann von Stabilität nur die Rede sein, solange diese Verhaltensmuster aufrechterhalten bleiben, d.h. diese Strukturen sind nichts Substanzielles, wie etwa ein Haus, das, einmal errichtet, einfach stehenbleibt, sondern bedürfen der fortlaufenden Reproduktion.
Dies ist aber ein Gesichtspunkt, der in den Fragestellungen von Historikern typischerweise nicht auftaucht (und auch nicht aufzutauchen braucht) – so, wie ein Physiker normalerweise auch nicht danach fragt, warum ein fester Körper fest ist, während der Chemiker danach sehr wohl fragt. Zugespitzt gesagt, ist für den Historiker erst die Veränderung einer Struktur erklärungsbedürftig, für den Soziologen bereits die Nicht-Veränderung.
(Zwischenbemerkung: Für Konservative sollte gerade diese soziologische Perspektive von besonderem Interesse sein. Ihre argumentative Schwäche gegenüber der systematischen Destabilisierungspolitik der Linken liegt nicht zuletzt darin, dass sie auf deren ständiges unbekümmertes „Warum denn nicht?“ keine hinreichend präzise begründete Antwort geben können, weil ihnen ihr eigenes Wissen um die Existenzbedingungen einer zivilisierten Gesellschaft vor allem in Form von mehr oder minder religiös begründeten Glaubenssätzen präsent ist, die an sich zwar zutreffend sind, aber gegenüber „Ungläubigen“ nicht die argumentative Kraft soziologischer Analyse entfalten können. Konfrontiert mit einer Politik, die eben diese Existenzbedingungen untergräbt, handelt man unklug, wenn man ausgerechnet diejenige empirische Disziplin verteufelt, die analytische Antworten auf die Frage geben kann, was die Gesellschaft zusammenhält. Eine politische Rechte freilich, die nach fünfzig Jahren unaufhörlicher Niederlagen immer noch nicht der Meinung ist, sie habe möglicherweise etwas dazuzulernen, verdient auch nichts Anderes als die Niederlage.)
Mit dieser Definition sozialer Strukturen als Strukturen wechselseitiger Verhaltenserwartungen geraten auch Stabilitätsbedingungen in den Blick, die von einem rein „phänomenologischen“ Ansatz her latent und selbstverständlich (und daher kein „Phänomen“) sind: Phänomenologisch betrachtet, ist etwa der Staat eine mehr oder minder fixe und leicht abgrenzbare Größe – hier der Staat, dort die Bürger. Soziologisch betrachtet existiert der Staat aber nur, solange er bestimmte Erwartungen der Bürger erfüllt, etwa die Erwartung, daß Rechtsbrecher bestraft werden. Erfüllt der Staat diese Erwartung nicht, verschwindet zuerst die Erwartung und dann zügig auch der Staat.
Ist dieses Beispiel auch noch banal und so offenkundig, daß es sich kaum lohnen würde, seinetwegen eine eigene Theorie zu entwickeln, so wird die Tragweite des Ansatzes, der das Publikum und seine Erwartungen als integralen Teil der Struktur behandelt, deutlicher, wenn man etwa das Verhältnis von Muslimen und Islamisten beleuchtet. Selbstverständlich sind die meisten Muslime keine Islamisten, aber die muslimische Gemeinschaft als Ganze erzeugt das Phänomen „Islamismus“ nicht zufällig und sporadisch, sondern regelmäßig und systematisch, wenn auch nur unter bestimmten Voraussetzungen. Für Islamisten ist die muslimische Gemeinschaft als Ganze nicht nur Rekrutierungsfeld und Resonanzboden, sondern auch eine Gemeinschaft, die nach bestimmten und bekannten Regeln funktioniert, der gegenüber man daher bestimmte Verhaltenserwartungen hegen und die man deshalb vor den Karren des Dschihad spannen kann. Das gilt auch für solche Muslime, die von einem theoretischen islamischen Ideal abweichen, unter Umständen sogar sehr weit abweichen.
Dieses Beispiel illustriert auch, wie falsch Lehnert liegt, wenn er behauptet, der soziologische Ansatz impliziere, daß „Abweichungen [von den analysierten Strukturen] nur in anderen Strukturen möglich sind: Ohne entsprechende soziale Voraussetzungen könne es kein abweichendes Verhalten geben.“ Ich würde wirklich gerne wissen, aus welchem sozialwissenschaftlichen Werk er ein solches Prinzip herausgelesen haben will; es kann sich nicht um einen mir bekannten Autor handeln.
Das Gegenteil ist richtig: Aus soziologischer Perspektive wäre ein System, das über keine adäquaten Strategien zum Umgang mit abweichendem Verhalten verfügt, zum schnellen Untergang verurteilt. Umgekehrt ist es umso stabiler, je mehr es sich sogar das abweichende Verhalten zunutze machen kann. (Wie sehr auch die Devianz noch Teil eines Systems sein kann, erkennt man am Beispiel totalitärer Systeme (und solcher, die es werden wollen), die regelmäßig Feinde – also die extremstmögliche Form von Abweichlern – erfinden, wo es sie nicht gibt, oder sich solche machen, wo vorher keine waren, um diese fiktive bzw. selbsterzeugte Feindschaft zur eigenen Stabilisierung zu benutzen.)
Wirklich lustig wird es allerdings, wenn Lehnert fortfährt:
Der Vorteil dieser [von ihm kritisierten soziologischen] Perspektive – weshalb sie sich auch großer Beliebtheit erfreut – liegt in der Tendenz, die Entwicklungen in ein Muster zu fassen, in dem die einzelnen Phänomene ihren Platz haben.
Es scheint ihm nicht in den Sinn zu kommen, daß eine Theorie, die dies nicht leistet, ganz einfach eine schlechte Theorie wäre, und Herr Doktor Lehnert dürfte der weltweit einzige Akademiker sein, der es fertigbringt, einer Theorie ihre Widerspruchsfreiheit und Erklärungskraft zum Vorwurf zu machen:
Die Pauschalisierung täuscht eine einprägsame Plausibilität vor …
Erstens ist eine generalisierende Aussage noch keine Pauschalisierung, zweitens ist der Vorwurf der systematischen Pauschalisierung schon deshalb Fehl am Platze, weil die Soziologie, wie gesehen, das abweichende Verhalten einbezieht und es eben nicht ausblendet, drittens kann man Plausibilität nicht „vortäuschen“, weil die Plausibilität im Kopf des Lesers entsteht, der eine Theorie plausibel findet; richtig muss sie deswegen freilich noch nicht sein. Aber wenn Lehnert fortfährt
…die sich auf der Ebene der einzelnen Phänomene als unzureichend erweist.
so ist dies nun in der Tat eine Pauschalisierung, und zwar eine diffamierende, gerichtet gegen einen ganzen Wissenschaftszweig, und ohne auch nur den Versuch einer empirischen Untermauerung wenigstens anhand eines konkreten Beispiels: ein merkwürdiges Vorgehen für einen Historiker, der sich den „Phänomenen“ verpflichtet weiß, weil er grundsätzlich nicht glaubt, mit abstrakten Strukturaussagen (wie er sie soeben vorgebracht hat) „Wirklichkeit erfassen“ zu können, weil das nur zu „Pauschalisierungen“ führen könne. Nun, was seine eigene Argumentation angeht, stimmt es ja auch.