Auch wenn einige meiner Stammleser mir jetzt den Kopf abreißen: Ich bin mir nicht sicher, dass China im Unrecht ist, wenn es die Unruhen in Tibet niederschlägt.
Mir kommt die chorale Einstimmigkeit unserer Medien allzu verdächtig, weil allzu vertraut vor.
Es ist erst wenige Wochen her, da behandelte man die Unabhängigkeit des Kosovo als ein quasi selbstverständliches Recht,
– obwohl sie im Völkerrecht nicht die geringste Grundlage findet,
– obwohl die Kosovaren nicht einmal einen ausnahmsweise exkulpierenden Notstand für sich geltend machen können,
– obwohl das Milosevic-Regime schon lange gestürzt ist und
– obwohl Serbien zur Gewährung einer so weitgehenden Autonomie bereit war, dass die serbische Souveränität nur noch symbolischer Natur gewesen wäre.
Wenn unsere Medien das offensichtliche Unrecht der Abspaltung Kosovos als „Recht“ behandeln, so haben wir es mit der kombinierten Auswirkung von gleich zwei Journalisten-Unsitten zu tun:
Zum einen fragen sie nicht nach Recht im juristischen Sinne, sondern nach „Gerechtigkeit“. Was soviel bedeutet wie: Wer „Opfer“ ist, ist im Recht.
Zum anderen bleiben die Täter-Opfer- bzw. Gut-Böse-Rollen, einmal verteilt, bis ans Ende aller Tage erhalten:
Seit dem Krieg gegen Kroatien 1991 sind die Serben uwiderruflich als „Täter“ bzw. als „die Bösen“ gebrandmarkt, was es den Kosovaren bereits in den neunziger Jahren leicht machte, sich als „die Guten“ zu präsentieren, obwohl ihre UCK schon damals keinen Deut sauberer war als etwa die ETA oder die IRA. Eher schlimmer, denn die UCK war – und ist – obendrein in die Organisierte Kriminalität verstrickt. Für die Medien sind die Kosovo-Albaner trotzdem „die Guten“, aber nicht, weil sich dies aus dem Sachverhalt ergäbe, sondern weil es zur unhinterfragten Selbstverständlichkeit geworden ist, dass Interessen und Ansprüche des serbischen Staates illegitim seien.
Einem ähnlichen Medienchor sind wir täglich ausgesetzt, wenn es um den Nahost-Konflikt geht. Da werden die Palästinenser als „Opfer“ präsentiert, weil der israelische Staat seine Pflicht erfüllt, sich und seine Bürger gegen Terroristen zu verteidigen, und kaum einer fragt danach, ob diese Rollenzuweisung, die sich irgendwann in den achtziger oder neunziger Jahren durchgesetzt hat, irgendetwas mit der Realität zu tun hat; vor allem aber: welchen Maßstäben sie folgt.
Und nun also Tibet. Seit Jahren das Lieblingskind der Political Correctness, gegen das niemand etwas sagen will, weil es alle romantischen Klischees bedient – von der östlichen Weisheit bis zum Befreiungskampf des unterdrückten Volkes ist alles vertreten, was das Herz grüner Parteitagsdelegierter höher schlagen lässt.
Ich will mich über die Tibeter bestimmt nicht lustig machen (eher über ihre einheimischen Fans); ich bin mir auch keineswegs sicher, dass die chinesische Regierung im Recht ist. Trotzdem würde ich deren Perspektive gerne kennenlernen, und dies nicht nur aus dem Mund eines steifen Funktionärs, der seine Floskeln herunterbetet. So bekommen wir die chinesische Sicht nämlich präsentiert. Nach und nach sickern aber Informationen durch, die mich nachdenklich stimmen:
Aussagen und Videos von Touristen, die behaupten, die Unruhen seien ohne erkennbaren Anlass losgebrochen; es seien tatsächlich Geschäfte und öffentliche Gebäude angezündet und tatsächlich Chinesen angegriffen worden. Und warum muss der Dalai Lama seinen Rücktritt für den Fall androhen, dass seine Landsleute zu den Waffen greifen? Das kann doch nur bedeuten, dass diese Gefahr real besteht?
Angenommen, die Chinesen sagten die Wahrheit. Angenommen, die Unruhen seien tatsächlich inszeniert worden – wenn auch nicht vom Dalai Lama -, angenommen, sie hätten tatsächlich bereits vor Einschreiten der Staatsmacht bürgerkriegsartige Dimensionen erreicht, und angenommen, dabei seien tatsächlich friedliche chinesische Bürger getötet worden. Ist unter solchen Umständen nicht jeder Staat, Diktatur oder nicht, verpflichtet, solche Unruhen niederzuschlagen, notfalls auch mit eiserner Faust?
Früher war es auch in demokratischen Staaten üblich, dass die Polizei bei bürgerkriegsartigen Unruhen in die Menge schoss, um die Kontrolle zurückzugewinnen. Und üblich waren auch schwere Strafen für Unruhestifter.
Wenn das heute in Europa alles sanfter vonstatten geht, wenn regelmäßig die De-Eskalation versucht wird, so ist dies gewiss kluge Strategie. Ein Anspruch, auf den Gewalttäter sich berufen könnten, ist es aber keineswegs!
Schon gar nicht, wenn Unbeteiligte betroffen sind, wenn ihr Eigentum zerstört oder sie selbst getötet werden. Ein de-eskalierend pazifistischer Staat mag eine gute Presse haben, aber er verletzt seine Schutzpflichten gegenüber dem loyalen Bürger.
Mir scheint, dass man die Unruhen in Gang gesetzt hat, um eine PR-Schlacht gegen China zu entfesseln; mir scheint, dass man von den Kosovaren und den Palästinensern gelernt hat, wie man die Schwächen des westlichen Mediensystems für sich ausbeutet. Und allem Anschein nach haben auch die Chinesen ihre Schlussfolgerungen aus der Tatsache gezogen, dass die freie Berichterstattung (z.B. aus dem Gazastreifen) nicht die differenzierte journalistische Analyse gefördert hat, sondern die Sensations- und Meinungsmache durch spektakuläre Gewaltbilder. Kann man ihnen wirklich übelnehmen, dass sie sich das nicht antun wollen, von der Journaille auf dieselbe unfaire und verleumderische Art und Weise durch den Dreck gezogen zu werden wie Israel?
„Mir scheint“ heißt: Ich weiß es nicht. Die Informationen sind zu spärlich. Wer aber nach einem Olympiaboykott ruft, muss mir schon stärkere Argumente anbieten, als bisher erkennbar sind.