Tote Hosen

Campino, der Sänger der Toten Hosen, hat sich meine bleibende Antipathie dadurch gesichert, dass er sich während der Fußball-WM 2006 als England-Fan offenbart hat.

England! Nur Oranje wäre noch perverser gewesen.

Halten wir ihm zugute, dass er einer Gesellschaft entstammt, in der man sich eher mit bedrohten Fledermäusen als mit bedrohten Mitmenschen solidarisiert. In einer Gesellschaft, in der die Kleine Hufeisennase ein Bauprojekt zu Fall bringen kann, der dafür zuständige Bürgermeister aber nicht und die UNESCO schon gar nicht, ist die Solidarisierung mit der englischen Nationalmannschaft eine Verschrobenheit der harmloseren Art. Immerhin beweist Campino damit, dass er ein Herz für Verlierer hat, deren einziger Titel älter ist als ihre ältesten aktiven Nationalspieler und zudem durch die Blindheit respektive Deutschfeindlichkeit eines sowjetischen Linienrichters zustandegekommen ist.

Zumindest diese Eigenschaften haben die Toten Hosen mit besagtem Linienrichter gemein. Ihr neuester Hit hat den Refrain:

„Es gibt 1000 gute Gründe,
auf dieses Land stolz zu sein.
Warum fällt uns jetzt auf einmal
kein einziger mehr ein?“

Tja. Wenn ich es mir recht überlege, habe auch ich erhebliche Zweifel, ob man auf Deutschland wirklich stolz sein kann. Ob man wirklich stolz darauf sein sollte, einer Gesellschaft anzugehören, zu deren prominentesten Künstlern Leute wie die Hosen gehören, die gegen das eigene Land Stimmung machen, oder wie Herbert Grönemeyer, der uns vorschnulzt, es gebe keinen Feind (und schon gar keinen Sieg), und der sich „Kinder an die Macht“ wünscht. Oder wie die Prinzen, die im Gegensatz zu Grölemeyer zwar singen können, dieses Talent aber zu Liedern wie diesem missbrauchen:

…Wir sind besonders gut im auf die Fresse hauen/Auch im Feuer legen kann man uns vertrauen./Wir stehen auf Ordnung und Sauberkeit./Wir sind jederzeit für ’nen Krieg bereit./Schönen Gruß an die Welt — seht es endlich ein:/Wir können stolz auf Deutschland sein./Schwein, Schwein, Schwein …/Das alles ist Deutschland…

Merken diese Leute eigentlich noch, was für einen Stuss sie von sich geben? „Jederzeit für ’nen Krieg bereit“? Ach, wenn es doch nur so wäre! Die afghanischen Zivilisten, deren Zukunft davon abhängt, dass die Taliban geschlagen werden, würden es uns sicherlich danken, und auch um das eigene Land müsste man sich weniger Sorgen machen als jetzt, wo es sich in der eigenen Wehrlosigkeit suhlt.

Interessant – und für den Zustand unserer Gesellschaft aufschlussreich – ist, dass solch mutwillig und gehässig gegen das eigene Land gerichtete Lieder anstandslos im Radio gespielt werden, ohne dass irgendeiner meckert (was allein schon die Texte ad absurdum führt), während vermutlich Zigtausende auf die Straße gingen, wenn es einem Radiosender einfiele, die Böhsen Onkelz oder sonst eine rechte Rockgruppe zu spielen.

Es geht mir nicht darum, ob man dies oder jenes zulassen oder verbieten sollte. Es geht mir um die Wertematrix, die hinter der Akzeptanz des einen bei gleichzeitiger Ablehnung des anderen steht, also um die kuriose Prioritätensetzung, die offenbar so tief verinnerlicht ist, dass kaum noch einer sie irgendwie merkwürdig findet.

Was gilt denn im politischen Bereich als moralisch gut? Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber folgende Dinge dürften dazugehören:

Entwicklungshilfe, Internationalismus, Gewaltlosigkeit, Respekt vor fremden Kulturen und Religionen, verbunden mit Kritik gegenüber der eigenen.

Und was gilt als böse?

Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Diskriminierung, Imperialismus, Nationalismus, kulturelle Arroganz.

Als „gut“ gilt, was Anderen nützt, als „böse“, was Anderen schadet. Die Verfolgung der Interessen des eigenen Gemeinwesens kommt in diesem Tugendkatalog gar nicht oder mit negativer Wertung vor.

Der ideologische Code unserer Gesellschaft basiert also auf einer ausschließlich altruistischen Wertematrix. Man erkennt darin unschwer die aufs Kollektiv projizierte christliche Individualethik, die vor der Selbstgerechtigkeit warnt („Richtet nicht, auf dass Ihr nicht gerichtet werdet“) und der Liebe zum Feind einen höheren ethischen Rang zuweist als der zum Freund („Und wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Dank habt ihr davon? Denn auch die Sünder lieben ihre Freunde“ (Lk 6,32))

Es scheint niemandem (mehr) aufzufallen, dass eine solche Bevorzugung der fremden Gruppe gegenüber der eigenen Allem ins Gesicht schlägt, was seit Anbeginn der Menschheit als ethisch wertvolles Verhalten gilt, und zwar auch in den christlichen Gesellschaften der ersten beiden Jahrtausende.

Noch vor einem halben Jahrhundert galten auch in westlichen Gesellschaften sowohl Familiensinn als auch Patriotismus ganz selbstverständlich als hohe Tugenden; allgemein gesprochen galt die Solidarität mit der je eigenen Gruppe – auch und gerade im Konflikt mit Fremdgruppen – von jeher als zentrale Sozialnorm. Zentral deshalb, weil eine Gesellschaft, in der sie nicht gegolten hätte, als nicht überlebensfähig eingeschätzt worden wäre.

Warum das so gesehen wurde? Nun, vielleicht bestanden die zehntausenden von Generationen, die uns vorangingen, aus xenophoben Chauvinisten respektive unaufgeklärten Dummbeuteln, und erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts fand die Menschheit, zumindest aber deren weißer, westlicher und christlicher Teil, zu einer wahrhaft humanen und aufgeklärten Ethik. Plausibel ist das nicht, aber als zumindest hypothetische Möglichkeit sei es in Betracht gezogen.

Welche ethischen Normen müssen eigentlich gelten, damit so etwas wie „Gesellschaft“ möglich wird?

Beginnen wir, de Einfachheit halber, mit der Grundnorm unseres eigenen Kulturkreises, der sogenannten Goldenen Regel:

„Wie Ihr wollt, dass die Leute Euch tun sollen, also tut Ihnen auch.“ (Lk 6,31)

Die säkulare Variante ist als Kategorischer Imperative bekannt und lautet:

„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“

Diese Normen beinhalten zunächst die Aufforderung, nicht einfach egoistisch seine persönlichen Interessen durchzusetzen, sondern sich an bestimmte Regeln zu halten, geschriebene wie ungeschriebene. Und da wir empirisch keine Gesellschaften beobachten können, die auf die Dauer auf der Basis des schieren Individualegoismus existieren, vielmehr feststellen müssen, dass in allen Gesellschaften (die nicht gerade in Auflösung begriffen sind) bestimmte Regeln gelten und vom Einzelnen verinnerlicht werden (sollen), können wir die oben genannten Prinzipien als universell gültig unterstellen.

Machen wir uns nun an ein paar einfachen Beispielen klar, dass Ethik für den Einzelnen eine Zumutung darstellt: Ein Wahlbürger verzichtet darauf, den Sonntagnachmittag auf dem Sofa zu verbringen und marschiert hunderte von Metern zum Wahllokal, womöglich bei strömendem Regen, obwohl er genau weiß, dass seine Stimme nicht die Wahl entscheidet. Ein U-Bahn-Fahrgast bezahlt sein Ticket, obwohl er weiß, dass die Gefahr, beim Schwarzfahren erwischt zu werden, denkbar gering ist, und dass die U-Bahn auch fährt, wenn er nicht bezahlt. Ein Soldat riskiert sein Leben für sein Land, wohl wissend, dass sich am Kriegsausgang nichts ändern würde, wenn er einfach nach Hause ginge und das Siegen Anderen überließe.

Ethisches Verhalten ist also geprägt durch ein deutliches, im Falle des Soldaten sogar extremes Missverhältnis zwischen den Kosten, die der Einzelne auf sich nimmt, und dem Gewinn, den er individuell überhaupt nicht und als Teil der Gesellschaft auch dann hätte, wenn er die Kosten nicht auf sich nähme. Ökonomisch gesehen bedeutet Ethik also Privatisierung der Kosten und Sozialisierung der Gewinne.

Es ist leicht zu zeigen, dass keine Gesellschaft ohne solche ethischen Normen existieren kann, und doch gibt es keinen Weg, den Einzelnen rational davon zu überzeugen, dass er sich ihnen unterwerfen sollte. Ethisches Verhalten muss, so gesehen, als außerordentlich unwahrscheinlich gelten, trotzdem ist es die Regel, nicht die Ausnahme. Wie ist dieses täglich stattfindende Wunder zu erklären?

Fragen wir kontrafaktisch: Würde der Fahrgast seine Karte auch dann bezahlen, wenn er wüsste, dass die Anderen es nicht tun? Würde der Soldat kämpfen, wenn er wüsste, dass seine Kameraden lieber davonlaufen? Die Fragen stellen heißt sie beantworten: Natürlich nicht! (Beim Wähler liegt der Fall etwas anders, denn dessen Stimme würde ja die Wahl entscheiden, wenn er als einziger zur Abstimmung ginge.)

Niemand will der Dumme sein, der als Einziger die Regeln befolgt. Werden sie befolgt, so ist dies offensichtlich auf die Erwartung des Einzelnen zurückzuführen, dass alle (oder doch die meisten) Anderen sich ebenfalls ethisch verhalten. Diese Gegenseitigkeit der Erwartung also bringt ethisches Verhalten hervor. Ethik – und damit die Existenz von Gesellschaft schlechthin – beruht auf Solidarität.

(Ein denkbarer Einwand lautet, ethisches Verhalten sei vor allem durch die Angst vor Strafe motiviert. Dieser Einwand gilt, wenn wir bei unseren Beispielen bleiben, für den Wähler gar nicht; die Strafdrohung gegen den Schwarzfahrer ist wegen der geringen Sanktionswahrscheinlichkeit wenig zwingend; und den Soldaten kann man mit Drohungen allenfalls vom Desertieren abhalten, aber nicht zur Tapferkeit zwingen. Tatsächlich spielen Sanktionsdrohungen eine wichtige Rolle; sie wirken aber auf zweierlei Weise: einmal direkt durch Abschreckung, aber wir haben gesehen, dass sie in dieser Hinsicht häufig ein stumpfes Schwert sind. Die Hauptwirkung ist indirekter Natur: Das Wissen um die Existenz der Sanktionsdrohung bestärkt jeden Einzelnen in seiner Erwartung, die Anderen würden sich an die Regeln halten, und motiviert ihn damit, es selbst ebenfalls zu tun.)

Solidarität – so viel dürfte klar geworden sein – hat nichts mit Altruismus zu tun (mit dem sie oft verwechselt wird), also mit dem Handeln zugunsten Anderer. Sie ist als Geschäft auf Gegenseitigkeit vielmehr ein erweiterter und reflektierter Egoismus. Wie kommt Solidarität zustande? Durch altruistisches Handeln? Rein theoretisch könnte man sich das vorstellen: Ich verhalte mich altruistisch, rege dadurch einen Zweiten an, es mir gleichzutun, was wiederum einen Dritten und Vierten veranlasst, sich ebenfalls altruistisch zu verhalten und so fort, bis am Ende eine Solidargemeinschaft entstanden ist, in der man realistischerweise solidarisches Handeln Aller unterstellen kann. Ich spare mir an dieser Stelle die Mühe zu beweisen, etwa mithilfe spieltheoretischer Modelle, dass dies blankes Wunschdenken wäre; ich ziehe es vor, mich auf die Lebenserfahrung und den gesunden Menschenverstand zu berufen.

Dabei gehört kaum ein Mensch bloß einer Solidargemeinschaft, bloß einem System gegenseitiger Solidaritätserwartungen an. Diese Systeme bauen vielmehr aufeinander auf, erfüllen je spezifische Funktionen und entlasten einander, wobei die Intensität der Solidaritätserwartungen mit zunehmender Größe des Systems tendenziell abnimmt:

Meiner Familie bin ich stärker verpflichtet als meinem Land, meinem Land stärker als meinem Kulturkreis und diesem wiederum stärker als der Menschheit insgesamt. Salopp gesagt ist mir auf jeder Ebene das Hemd näher als der Rock.

Dabei können diese Systeme einander nicht substituieren: Die Familie kann nicht die Aufgaben der Nation übernehmen und die Nation nicht die der Familie; die Menschheit wiederum kennt zwar auch Solidarität – wir spenden für Flutopfer in Bangladesh – aber die ist nur schwach ausgeprägt – wir spenden vielleicht 20 Millionen, aber eben nicht 20 Milliarden -, weswegen die Menschheit nicht die Nation ersetzen kann.

Es ist wichtig zu sehen, dass die Solidarität innerhalb eines solchen Systems ihre notwendige Kehrseite im Ausschluss aller nicht dazu gehörenden Menschen von der Sorte Solidarität hat, die für das betreffende System konstitutiv ist: Wer seinem Nachbarn beim Tapezieren hilft, weil er davon ausgeht, dass dieser Nachbar sich irgendwann revanchieren wird, ist noch lange nicht bereit, Jedermann beim Tapezieren zu helfen. Oder, ins Politische gewendet: Die Westdeutschen, die – nicht ohne Murren, aber letztlich doch anstandslos – eine Billionensumme aufbrachten, um Ostdeutschland auf die Beine zu helfen, hätten es zu Recht als absurde Zumutung zurückgewiesen, dasselbe für Polen oder Russland zu tun.

Ein altruistisches Verhalten – also: Jedem beim Tapezieren zu helfen oder alle Völker zu subventionieren – wäre für den Einzelnen eine unmenschliche Überforderung und für ein Kollektiv das Ende: Es wäre nicht nur ruiniert, es würde buchstäblich aufhören, als Solidargemeinschaft zu existieren, weil der Einzelne ja wüsste, dass seine solidarisch erbrachte Leistung, in diesem Fall also seine Steuergelder, in keiner Form an ihn zurückfließen, auch nicht langfristig oder in der verwandelten Gestalt von Stabilität oder Sicherheit; sie würden einfach über die Welt verstreut – eine Welt, die eben keine Solidargemeinschaft ist.

Wir können nunmehr die oben gestellte Frage beantworten, ob unsere Vorfahren bis zurück zu Adam und Eva etwa Faschisten oder Hinterwäldler waren, weil sie den Dienst an und die Loyalität gegenüber der je eigenen Solidargemeinschaft unter Indifferenz, notfalls auch Feindseligkeit gegen alle fremden, als höchste Tugend angesehen haben: Nein, das waren sie keineswegs. Sie haben einfach instinktiv erkannt, dass menschliche Gesellschaft auf der Existenz einander ausschließender Solidargemeinschaften basiert und dass die genannten Tugenden daher zwingende Notwendigkeiten darstellen. Bezeichnend für den geistigen Zustand unserer Gesellschaft ist aber, dass ich hier und heute umständlich beweisen muss, was zu allen Zeiten zu Recht als Selbstverständlichkeit galt.

Als ob nicht Jedem, der die Geschichte kennt, klar sein müsste, dass schon unzählige Gesellschaften an ihrem Mangel an innerer Solidarität zerbrochen sind, aber noch keine einzige an so etwas wie „Fremdenfeindlichkeit“.

10 Gedanken zu „Tote Hosen“

  1. Ein ganz hervorragender Artikel, von dem sich unzählige Klugsch…wätzer eine dicke Scheibe abschneiden könnten — wenn sie’s nur wollten!

  2. Hut ab! Wie immer glasklar und überzeugend!

    Es geht vielleicht noch einfacher: Die „Evolution“ hat unter Anderem auch zur Entwicklung von Gruppen geführt, weil das vorteilhaft für die Erhaltung einer Art war (diejenigen, die sich nicht an das Gruppenleben anpassen konnten, haben ihre Gene nicht weitergeben können). Die „Bestie Mensch“ lebt seit 200.000 Jahren in Horden. Moral und Ethik sind der „Evolution“ wesensfremd, es sind nur (neumodische) Begriffe, die der Mensch erfunden hat, um sein gruppenangepasstes Verhalten zu verbrämen. Die „Evolution“ durchdringt übrigens alles, also auch das Wissen. Deswegen schreibt Peter Sloterdijk in „Gottes Eifer“ mit Recht, dass die Monotheismen der Evolution des Geistes vorgreifen.

  3. Wie meine beiden Vorkommentatoren lese auch ich Ihre Tagebucheinträge ebenfalls immer mit Interesse und stets mit tiefer Bewunderung Ihres Kenntnisreichtums, Ihrer Fähigkeit im Umgang mit der deutschen Sprache sowie der Gründlichkeit und Originalität Ihres Denkens (das gilt im übrigen gleichermaßen für die von Ihnen verfassten Kommentare etwa in Eisvogels hervorragendem Blog). Mein Einwand ist daher eher eine Frage als eine Kritik: Sie versuchen die These zu widerlegen, ethisches Verhalten sei in erster Linie durch die Angst vor Strafe motiviert. Nach meiner Ansicht kommt es bei einem solchen Versuch jedoch darauf an, wie weit man den Begriff der Strafe fasst. Es ist ja nicht das Bußgeld (merkwürdig übrigens, dass der neutestamentliche Begriff der Buße ausgerechnet in diesem Zusammenhang überlebt hat) von 40 Euro, das mich vom Schwarzfahren abhält, sondern vielmehr die mit dem Erwischtwerden verbundene Demütigung vor aller Augen. Und was das Beispiel vom Soldaten angeht: entsprechende Untersuchungen legen nahe, dass der Soldat (ich war lange Jahre ein solcher) keineswegs für König, Volk und Vaterland kämpft, sondern vor allem für seine Kameraden: er möchte nicht, dass ihnen etwas passiert; vor allem aber möchte er sich vor ihnen nicht als Feigling bloßstellen. Die Angst vor dem Verlust sozialer Achtung ist, so glaube, ich, eine der großen Triebkräfte unsres Tuns und Lassens. Wenn das zutrifft, ist es um so bedenklicher, dass die Wirkmächtigkeit ungeschriebener sozialer Normen offenbar abnimmt; die in meiner Kindheit noch häufig zu hörende und niemals „hinterfragte“ Aussage „Das tut man nicht!“ jedenfalls ist heutigen Tages kaum noch zu vernehmen. Wenn man nicht mehr damit rechnen muss, für sein Verhalten missbilligt oder gar verachtet zu werden, sondern etwa als Opfer beispielsweise eines ungünstigen familiären Hintergrunds und damit als therapiebedürftig gilt, nimmt auch das Risiko ab, dass man bei Regelverletzungen eingeht, und ihre Auftretenswahrscheinlichkeit nimmt zu. Auch mit dem Altruismus ist es zumindest im Alltag nach meiner Ansicht nicht weit her. Es dient doch in erster Linie der Pflege des eigenen sozialen Ansehens, wenn ich mir in der Öffentlichkeit die von Ihnen aufgeführten Tugenden (Entwicklungshilfe, Internationalismus, Gewaltlosigkeit, Respekt vor fremden Kulturen und Religionen, verbunden mit Kritik gegenüber der eigenen.) zu eigen mache; ich glaube nicht, dass jemand im Ernst von mir verlangt, ich müsse mein Konto zugunsten von Burkina Faso leeren, bei Fußballspielen lauter für Brasilien als für Deutschland schreien, mit jemandem, der meinem Kind etwas zuleide tut, ein „sozialthemenzentriertes interaktives Gespräch“ zu führen oder beim Geschrei des Muezzins die gleiche Ehrfurcht zu empfinden wie bei der Matthäuspassion.

  4. @ vielosauf:

    Vielen Dank für den Hinweis auf die genetischen, evolutionären Grundlagen unseres Gruppenverhaltens. Ich würde daraus allerdings nicht den Schluss ziehen, dass Moral und Ethik dem Menschen wesensfremd wären, sondern dass sie Rationalisierungen eines Verhaltens sind, das er auch dann an den Tag legen würde, wenn er nicht darüber nachdenken würde.

    Also hat Ethik ihre eigentliche Grundlage in unserer genetischen Ausstattung und ist insofern „natürlich“. Aber nur so weit, wie sie die Solidarität mit der engeren Gruppe, der mit der erweiterten Gruppe vorzieht. Was uns heute als „Ethik“ entgegentritt, also die Solidarisierung mit dem Fernerstehenden bei Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Gruppe, verkennt, dass die naturwüchsige Ethik des Steinzeitmenschen eine Funktion erfüllt, die auch heute nicht obsolet geworden ist.

  5. @ Friedel B.:

    Ich fasse Ihren Kommentar gar nicht als Kritik auf, sondern (ebenso wie den von vielosauf) als wichtige Ergänzung, der ich voll zustimme. Mit Ausnahme des letzten Satzes:

    „…ich glaube nicht, dass jemand im Ernst von mir verlangt, ich müsse mein Konto zugunsten von Burkina Faso leeren, bei Fußballspielen lauter für Brasilien als für Deutschland schreien, mit jemandem, der meinem Kind etwas zuleide tut, ein “sozialthemenzentriertes interaktives Gespräch” zu führen oder beim Geschrei des Muezzins die gleiche Ehrfurcht zu empfinden wie bei der Matthäuspassion.“

    Ich fürchte, genau das WIRD verlangt.

    Wie, Sie empfinden „beim Geschrei des Muezzins“ nicht „die gleiche Ehrfurcht … wie bei der Matthäuspassion“? Sie sind ein unverbesserlicher eurozentrischer, islamophober, kulturimperialisteischer, arroganter Chauvinist! 😀

  6. Ich werde nur auf den ersten Abschnitt eingehen. Nämlich den, der sich mit einem weiteren Manifest deutscher Selbsthasser beschäftigt. Auf die angeblich altruistische Wertematrix gehe ich an anderer Stelle ein.

    Ich weiss nicht, ob Campino mit dem Lied noch allzu viele Menschen erreichen wird, denn es spricht eine Attitüde an, welche Anfang der 1990er hochkam, als viele Bürgern befürchteten, dass es im geeinten Deutschland zum Wiederaufleben des Nationalismus kommen könne. Die Linke hat heute andere Themen, nämlich den Hass gegen die Erfolgreichen zu schüren, das Konzept des starken Staats zu stärken, den Markt zu verteufeln und mit dem Geschwurbel von der sozialen Gerechtigkeit die Stimmen der Dummen aufs Wählerkonto zu verbuchen. Das sind Themen, welche von der Linkspartei und ihrem Umfeld bestimmt werden, während SPD und Grüne nur noch hinterher rennen.

    Zwar hat das scheinbare Selbsthassertum nach dem jämmerlichen Krepieren des Sozialismus vor der eigenen Haustür seine wesentliche Ursache im schmerzhaften Theorie- und Perspektivverlusts enttäuschter linker Fanatiker, insbesondere dem DKP nahen Spektrum entsprungene, jedoch handelt es sich dabei im Westen um typische Auswüchse des marginalisierten Sektierertums, während es seine qualitativ und quantitativ stärkste Ausprägung im Osten hat und zwar unter denen, welche selbst heute noch dem verlorenen sozialistischen Paradies nachtrauern.

    Jeder der vom Fach ist, weiss auch sehr genau, dass auch das zitierte Ressentiment der Prinzen den Langzeiteffekten der SED Propaganda vom „imperialistischen Westen“ entspricht. Der „Antifaschistische Schutzwall“ diente ja auch angeblich zum Schutz der sozialistischen Versager vor den aggressiven, militaristischen Faschisten des Westens. Zeigte bereits die bolschewistische Mordhetze gegen die „Kulaken“ deutlich rassistische Züge, so setzte der zutiefst verkommene SED Staat die von Rosa Luxemburg bereits bekannte Strategie der Umdeutung kapitalismuskritischer Konzepte zu personifizierten Feindbildern fort. Es ist die Ironie der Geschichte, dass neofaschistische Konvertiten aus der ehemaligen DDR der Öffentlichkeit jüngst mitteilten, dass das neofaschistische Millieu des Ostens den Westen mit einer faschistischen Einstellung identifiziert.

    Über die Effekte der Einheit jedoch redet man jedoch nicht gerne. Man weiss es auch nicht und will es auch nicht wissen. Besser man prügelt auf die 68er ein. Das ist einfach und verschafft einem rasch inzestiöse Bestätigung durch zahllose Gleichgesinnte.

    Leider waren es jedoch nicht so viele Linke, welche – man beachte- ca 10 Jahre nach 1968(!) solche welterschütternden Handlungen begangen, wie -beispielsweise- auf dem Campus symbolisch den eigenen Pass „verbrennen“ (in Wirklichkeit eine Fotokopie desselben). Wir reden hier von ein paar Hand Voll Studenten unter mehreren Tausenden. Die verbleibenden Studenten erfuhren entweder niemals etwas von der Aktion, oder aber schüttelten nur den Kopf.

    Natürlich könnte man noch weiter in die Vergangenheit eintauchen, um die 68er Ursachen von Selbsthassertum und Verklärung fremder Kulturen zu erforschen. Da fällt mir das Indiengedöns der 1960er ein und damit indische Gurus, glimmende Räucherstäbchen und bunten Bildchen vedischer Gottheiten an der Wand. Nur, was hat das mit Campino und dem Jahr 2008 zu tun? Wer weiss überhaupt noch, wer Richard Alpert war?!

    Von einem gleichwie gearteten Selbsthassertum oder gar dem Hass auf die Gesellschaft überhaupt, konnte ich 1968 nichts erfahren. Dem amerikanische Zentrum der neuen Linken kann man nicht ernsthaft Familiensinn als auch Patriotismus absprechen wollen, ohne die Lacher auf seine Seite zu bekommen und was die lächerlichen deutschen Trittbrettfahrer betrifft, nun, Campino wäre damals von den Genossen schlichtweg verprügelt worden. Bezüglich der Verklärung fremder Kulturen, so sollte man sich einmal vor Augen führen, dass es dabei primär um die begehrte „Bewusstseinserweiterung“ ging und zwar ausnahmsweise einmal ohne Drogen. Yoga und Meditation sollten noch höhere Bewusstseinsstufen ermöglichen, als LSD. Man kann das bei Richard Alpert und Allen Ginsberg nachlesen. Deren Literatur kann man übrigens eine gewisse Massenwirksamkeit nicht absprechen und nach dem Verkünden des Ablebens des in der Volksmusik verankerten Oberhippies Jerry Garcia (er konnte ausnahmslos alle Bluegras Songs auf dem Banjo spielen) schlossen nicht nur die Betriebe seiner Familie (deutsche „Übersetzung“: Kommune) vorzeitig, sondern gleich die gesamte Wall Street vor Trauer — auch und vor allem die amerikanischen Patrioten.

  7. Wieso wäre Campino von den Genossen verprügelt worden??? Und was Antiamerikanismus angeht: Der war auch schon in den früheren Siebzigern in Amerika en vogue, und seitdem ist es schlimmer geworden. Von Patriotismus kann im linksakademischen Milieu dort kaum noch die rede sein. Den größten Hass auf weiße, reiche, christliche Amerikaner propagieren heute weiße, reiche, christliche Amerikaner.

  8. Ich habe diesen herorragenden Blog leider erst heute entdeckt und lese mich gerade quer durch die Artikel.
    Zu diesem hätte ich eine Anmerkung zu machen:
    Fairerweise sollte erwähnt werden, dass Campino Halbengländer ist und Teile seiner Kindheit/Jugend in England verbracht hat. Seine Sympathien für die englische Nationalmannschaft sind daher nicht allein mit der Ablehnung Deutschlands zu erklären.

  9. ich hatte das glueck (bin ein grosser fan der hosen)
    campino mal kennenzulernen.
    die kinder frege sind in england ins internat gegangen.
    man sollte diese antideutschen tendenzen nicht ueberbewerten
    und kann das denke ich auch im kontext sehen, hoffe ich.
    ansonsten ist campino ganz nett, faehrt einen kleinwagen (oeffentlich) und einen (ja – spiessig 😀 ) mercedes E, T-Modell.

    alles fein deutsch soweit

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