Gelesen: Karl-Heinrich Bette/Uwe Schimank, Die Dopingfalle

Wenn – wieder einmal – ein Dopingsünder entlarvt wird, teilt sich die sportinteressierte Öffentlichkeit regelmäßig in zwei Fraktionen, nennen wir sie die idealistische und die zynische. Die Idealisten empören sich über „dieses Schwein“, die Zyniker gehen davon aus, dass ohnehin jeder erfolgreiche Sportler gedopt sei und dass die  gedopten sich von den angeblich sauberen nur dadurch unterschieden, dass sie dumm genug gewesen seien, sich erwischen zu lassen.

Beide Fraktionen stellen fest, dass ein schwerer Verstoß gegen offiziell geltende Normen, nämlich gegen das Gebot der sportlichen Fairness, vorliegt; während die Idealisten glauben, dass solche Vertstöße auf charakterliche Defekte zurückzuführen seien, halten die Zyniker die Normen des sauberen Sports bereits als solche für raffiniert inszenierte Heuchelei, die allenfalls der Sozialromantik des Publikums entgegenkommen will.

In jüngster Zeit haben die Zyniker deutlich Oberwasser bekommen, seit sich der gesamte Profiradsport als just der Augiasstall entpuppt hat, für den nicht nur Zyniker, sondern überhaupt alle kritischen Zuschauer ihn immer gehalten haben.

Bette/Schimank haben mit „Die Dopingfalle. Soziologische Betrachtungen“ (Bielefeld 2006) eine soziologische Analyse vorgelegt, die auf den ersten Blick den Zynikern Recht zugeben scheint. Sie stellen nüchtern fest, dass Doping zu weit verbreitet ist, um noch mit bloßen Charakterschwächen Einzelner erklärt werden zu können. Die von Sportfunktionären gern bemühte Metapher von den „schwarzen Schafen“ ist bestenfalls naiv.

Doping, dies die These von Bette/Schimank, wird von den sozialen Strukturen, in denen moderner Spitzensport stattfindet, nicht nur begünstigt, sondern geradezu herausgefordert:

Da ist zunächst der Athlet selbst: Will er zur Weltspitze gehören, so muss er sein gesamtes Leben den Anforderungen des Sports unterordnen, sich mit Haut und Haaren der Athletenrolle verschreiben und auf außersportliche Berufsoptionen ebenso verzichten wie auf ein normales Privatleben. Auch wenn es ein wenig überspitzt ist: Im Prinzip ist das tatsächlich so.

Der Athlet geht damit ein enormes biographisches Risiko ein: Scheitert er nämlich als Sportler – und gescheitert ist bereits, wer es nicht unter die weltweit besten Zwanzig oder Dreißig seiner Sportart schafft -, dann steht er als Dreißigjähriger vor dem Nichts.

Alle Athleten stehen daher unter dem Zwang, das Scheitern zu vermeiden (wobei es in der Natur der Sache liegt, dass Viele scheitern müssen), und alle Athleten wissen das auch voneinander. Was sie nicht wissen, ist, ob der jeweils Andere sich auf die legalen und erwünschten Mittel zur Leistungssteigerung verlässt, oder ob er dopt. Je größer die Zweifel an der Ehrlichkeit der Konkurrenz, desto größer der Anreiz, dem unterstellten Doping Anderer durch eigenes Doping, also defensiv, zu begegnen. Da dies wiederum Alle voneinander wissen („Er glaubt, ich dope, also dopt er, also muss ich ebenfalls dopen“) kann Doping buchstäblich aus dem Nichts entstehen und selbst von solchen Sportlern praktiziert werden, die solche Praktiken an sich ablehnen.

(Eine solche Analyse ist typisch für die Denkweise von Soziologen, und wer möchte, kann die Studie durchaus als Einführung in das soziologische Denken lesen. Der Stil ist übrigens weit entfernt von dem berüchtigten „Soziologenlatein“; natürlich sollte man eine gewisse Erfahrung im Umgang mit abstrakt analytischen Texten haben und nicht schon vor Worten wie „System“, „Akteur“ oder „Komplexität“ kapitulieren, wenn man das Buch mit Gewinn lesen will, aber für den gebildeten Laien ist es gut verständlich.

Die Soziologie betrachtet soziale Strukturen als Strukturen gegenseitiger Erwartungen. Sie sind also nicht einfach die Summe individueller Absichten und Handlungen, sondern diese Absichten und Handlungen sind bereits vor-entschieden durch die Erwartungen darüber, was Andere tun bzw. erwarten, während sie selbst zugleich auf ebendiese Erwartungen einwirken. Typischerweise stabilisieren sich solche Erwartungen wechselseitig – wie eben im Fall des defensiven Dopings. Ein anderes Beispiel ist die Stabilität politischer Macht: An sich ist es doch erstaunlich, dass sogar höchst unpopuläre Diktaturen sich oft über Jahrzehnte an der Macht halten und nicht einfach einem Volksaufstand zum Opfer fallen. Natürlich ist die Diktatur bewaffnet und das Volk nicht, aber es sind wenige Bewaffnete, die vielen potenziellen Aufständischen gegenüberstehen. Nur glaubt von denen jeder Einzelne, die Anderen würden sich nicht erheben, daher tut er es selbst ebenfalls nicht und bestätigt damit unfreiwillig die Erwartung jedes Anderen, der glaubt, die aus seiner Sicht Anderen würden sich nicht erheben. Das Ergebnis dieser wechselseitigen Erwartungen ist, dass das Volk ruhig und die Diktatur stabil bleibt.)

Dabei ist der Sportler nur das letzte Glied einer Kette von Akteuren, die alle dazu beitragen, den strukturellen Zwang zum Doping zu verfestigen, die aber den Sportler („das schwarze Schaf“) als Sündenbock benutzen, wenn er erwischt wird:

Da ist zunächst das unmittelbare Umfeld – Trainer, Vereine, Mediziner usw., die vom Erfolg des Athleten selbst abhängig sind und entsprechenden Erfolgsdruck aufbauen. Da ist der Verband, der nur die erfolgreichen Sportler fördert. Dieser Verband steht seinerseits unter Druck: Spitzensport funktioniert nur, solange Sponsoren zahlen, Politiker knappe Haushaltsmittel lockermachen, das Fernsehen überträgt und die Zuschauer jubeln. Dies alles geschieht nicht, wenn die Erfolge ausbleiben. Der Sportler, der glaubt, dopen zu müssen (weil die anderen auch…), der Verband, der das dulden zu müssen glaubt (weil die konkurrierenden Verbände auch…), kann die Aufforderung (der Wirtschaft, der Politik, der Medien, des Publikums) gleichzeitig erfolgreich und sauber zu sein, nur als stillschweigende Aufforderung verstehen: „Betrügt uns!“ – ist doch der Misserfolg in jedem Fall mit massiven Sanktionen bedroht, Doping dagegen nur, sofern es auffliegt (und auch dann nur für den Athleten selbst). Die sich aufdrängende Strategie ist in einer solchen Situation die Heuchelei. Der Verband versichert, alles gegen Doping zu unternehmen, lässt es aber bei Scheinaktivitäten bewenden – also bei bloßen Appellen oder bei Verschärfungen der Kontrollen, die gerade ausreichen, damit die Dümmsten – aber eben nur die! – den Kontrolleuren ins Netz gehen, was dann wiederum der „Beweis“ ist, „dass die Kontrollen greifen“, während die raffinierteren Betrüger weiterdopen.

Wer durchaus will, kann „Die Dopingfalle“ als Bestätigung der Zynikerthese lesen, einen sauberen Spitzensport gebe es nicht. Nur wird diese These von den Autoren explizit zurückgewiesen: Sie weisen darauf hin, dass in den ZGS-Sportarten (Zentimeter-Gramm-Sekunde, also alles, wo man Rekorde aufstellen kann) das Leistungsniveau nach Verschärfung der Dopingkontrollen in den neunziger Jahren deutlich zurückgegangen ist; und sie führen eine Reihe von Faktoren an, die dem Doping entgegenwirken:

Es gibt nach wie vor Athleten von so herausragendem Talent, dass sie Doping einfach nicht nötig haben; es gibt die Abschreckungswirkung von Dopingkontrollen (die ja nicht nur Heuchelei sind); es gibt die Angst vor Gesundheitsschäden; es gibt Sportler, die nicht um jeden Preis gewinnen müssen, weil ihnen alternative Karriereoptionen offenstehen. Und es gibt Sportmilieus, in denen Doping geächtet ist und Verbände, die den Kampf dagegen ernstnehmen, in denen gedopte Athleten jedenfalls nicht auf stillschweigende Duldung spekulieren sollten.

Dieser letzte Punkt ist sehr wichtig: Bette/Schimank analysieren Doping als Effekt einer sozialen Konstellation; sie weisen zugleich darauf hin, dass es soziale Konstellationen gibt, die Doping unwahrscheinlich machen. Diesen Punkt führen sie aber nicht weiter aus, weil er jenseits ihres Erkenntnisinteresses liegt; sie wollen ja die Existenz von Doping erklären, nicht die von Dopingabstinenz. Verständlich, aber ein wenig schade.

Denn gerade die Frage, wo Doping wahrscheinlich nicht vorkommt, ist für Sportfans von besonderem Interesse. Wozu ist man denn Fan, wenn nicht dazu, ab und zu Kind sein und sich ganz naiv für etwas begeistern zu dürfen? Da man aber kein Kind ist und deshalb weiß, dass im Spitzensport viel betrogen wird, steht man vor der Wahl, davor entweder die Augen zu schließen – was einem Erwachsenen schwerfallen dürfte – oder sich ganz nüchtern und kritisch zu fragen: Wem kann man trauen? An dieser Stelle verlasse ich die Rezension des Buches und frage selber weiter.

Wer Doping freilich für die unschlagbare Wunderwaffe hält, gegen die kein Kraut gewachsen sei, wird die Frage müßig finden; allerdings müsste er diese seine These erst einmal hieb- und stichfest begründen. Ich kann jedenfalls nicht erkennen, warum die legalen und erwünschten Mittel der Leistungssteigerung den illegalen und unerwünschten von vornherein unterlegen sein sollten. Das wären sie allenfalls, wenn alle Athleten dasselbe Talent hätten, wenn sie gleiche Trainingsmethoden anwendeten, wenn alle Trainer gleichermaßen kompetent wären, wenn Alle die gleiche psychologische Vorbereitung erführen und gleichermaßen perfektionistisch arbeiteten, wenn alle Verbände das gleiche Nachwuchspotenzial, die gleiche Sportförderung, den gleichen trainingswissenschaftlichen Erkenntnisstand und die gleichen Trainingsmöglichkeiten hätten – kurz und gut: Doping bietet den alles entscheidenden Vorteil nur unter Ceteris-paribus-Bedingungen, die in der Realität niemals gegeben sind. Gedreht werden kann an vielen Schrauben; die illegalen sind nicht notwendig die entscheidenden, und der gedopte Athlet muss erst einmal den psychologischen Nachteil kompensieren, dass sein innerer Schweinehund ihm zuflüstert: „Was strengst Du Dich so an, Du hast doch Deinen Zaubertrank…“

Die Frage „Wem kann man trauen?“ ist also weder müßig noch naiv. Natürlich ist niemand Hellseher, aber es gibt schon ein paar Faustregeln, an denen man sich orientieren kann. Es ist sogar bemerkenswert einfach zu entscheiden, zu wem man Vertrauen haben kann und zu wem nicht.

Während ich „Die Dopingfalle“ las, wurde diese Frage plötzlich hochaktuell, als in der vergangenen Woche eine auf einer anonymen Strafanzeige basierende Liste mit den Namen deutscher Biathleten erschien, die angeblich bei einer Wiener Blutbank Blutdoping betrieben haben sollen. Meines Erachtens ist an dieser Beschuldigung kein wahres Wort.

Ich habe bereits in einem der vorherigen Beiträge erwähnt, dass ich Biathlonfan bin. Ich habe also Vertrauen zu den Athleten. Aber nicht deshalb, weil ich Fan bin, sondern umgekehrt: Ich bin Fan, weil ich Vertrauen habe. 

Im Folgenden werde ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Zum einen werde ich das tun, was ich sowieso vorhatte, also die erwähnten Faustregeln entwickeln und begründen; zugleich aber werde ich die Gelegenheit nutzen, die deutschen Biathleten gegen eine offensichtlich aus der Luft gegriffene Verleumdung in Schutz zu nehmen.

(Zu der genannten Anzeige nur ganz kurz, denn sich mit solchem Dreck auseinanderzusetzen ist eigentlich unter meiner Würde: Erstens ist sie anonym; so etwas kann von Jedem nach Belieben in die Welt gesetzt werden. Zweitens enthält sie kein einziges belastbares Indiz. Drittens führt sie als Kronzeugen den österreichischen Skirennläufer Stefan Eberharter an, der das umgehend als völligen Blödsinn dementiert hat – und woher hätte er auch die Namen von dreißig Sportlern wissen sollen, die Kunden bei dieser Blutbank sind? Viertens stehen außer den deutschen Biathleten nur noch solche Sportler auf der Liste, bei denen ohnehin Jeder davon ausgeht, dass sie gedopt sind, nämlich Radrennfahrer und österreichische Biathleten – man denke an Turin 2006. Komisch, nicht wahr? Wie müsste denn eine Liste aussehen, die darauf angelegt wäre, einer Verleumdung den Schein von „Glaubwürdigkeit“ zu verleihen? Genau so!)

Faustregel Nummer eins lautet, dass der Vorteil von gedopten Athleten umso größer und Doping daher umso wahrscheinlicher ist, je stärker eine Sportart die Grenzen menschlichen Leistungsvermögens schlechthin ausreizt: Über einen gedopten Gewichtheber wird man sich weniger wundern als über einen gedopten Fechter.

Die zweite Faustregel besagt, dass Doping umso weniger wahrscheinlich ist, je komplexer die Sportart ist. Da kein Athlet alle Komponenten einer komplexen Sportart gleichermaßen gut beherrscht, steht ihm als Alternative zum Doping stets die Option zur Verfügung, seine Leistung bei denjenigen Komponenten zu verbessern, bei denen er die Möglichkeiten der legalen Leistungssteigerung noch nicht ausgeschöpft hat; natürlich kann er trotzdem gedopt sein, aber der strukturelle Zwang ist geringer. Beispiel: Ein Langläufer, der merkt, dass er auch unter Ausschöpfung aller legalen Mittel keine Chance hat, an die Weltspitze zu kommen, steht vor der Alternative, sich damit entweder abzufinden oder eben zu dopen. Ein Biathlet dagegen hat die Option, seine Schießleistungen zu optimieren; und es gibt etliche Athleten – Martina Glagow zum Beispiel -, die gar keine herausragenden Läufer, aber dafür so phantastische Schützen sind, dass sie allein dadurch regelmäßig Erfolge einheimsen.

(Fasst man diese beiden Faustregeln zusammen, so muss man dem Biathlon als Sportart eine mittlere Dopinganfälligkeit bescheinigen: Es ist nicht so, dass Doping überhaupt nichts bringen würde, und es hat auch schon spektakuläre Dopingfälle gegeben – Pylewa, Rottmann, Perner, Varis -, aber der strukturelle Zwang ist deutlich geringer als bei Marathonläufern, Langläufern oder Schwimmern.)

Die Theorie, wonach bereits die bloße Gelegenheit zum Doping – bei kalkulierbarem Risiko – zwangsläufig dazu führen müsse, dass Jeder dopt, krankt bereits daran, dass sie der Alltagserfahrung widerspricht. Es gibt im Leben jedes Menschen Gelegenheiten, sich durch Verletzung von Sozialnormen Vorteile zu verschaffen: durch Zechprellerei, Schwarzfahren oder Steuerhinterziehung zum Beispiel. Da aber weder die Gastronomie noch die öffentlichen Verkehrsbetriebe noch der Staat pleite sind, drängt sich der Schluss auf, dass die meisten Menschen von diesen Gelegenheiten keinen Gebrauch machen.

Warum? Ich vermute, dass die meisten Menschen ein Bedürfnis danach haben, mit geltenden Sozialnormen nicht in Konflikt zu geraten (und dies gilt erst recht für Sportler, die aus einem konservativen ländlichen Milieu stammen). Natürlich gibt es den gewissenlosen Kriminellen, der auf jede Norm pfeift, aber dieser Typus dürfte selbst unter Gefängnisinsassen nicht die Regel sein. Genauso selten freilich ist der makellose Heilige, der eher verhungert, als ein Stück Brot zu stehlen. Die meisten Menschen (achtzig Prozent? neunzig Prozent? Ich weiß es nicht.) sind weder das eine noch das andere; sie sind schon fähig, Normen zu übertreten, aber sie fühlen sich nicht wohl dabei, versuchen es zu vermeiden und legen sich, wenn sie es doch tun, Rechtfertigungen zurecht – dieser Punkt wird weiter unten noch eine Rolle spielen.

Am leichtesten fällt daher die Normübertretung innerhalb von Gruppen, die die gesellschaftlich gültigen durch gruppenspezifische Normen ersetzt haben. Ein Extrembeispiel hat Harald Welzer am Beispiel deutscher Polizeieinheiten analysiert, die Massaker an Juden begingen. Diese Männer orientierten sich durchaus an sozialen Normen – nur eben nicht an denen der Gesellschaft, sondern an vor Ort entwickelten (durch das NS-System freilich abgesegneten) Gruppennormen, zu denen das Tötungsverbot nicht mehr gehörte.

Selbstverständlich will ich Doping nicht mit Massenmord moralisch gleichsetzen. Es geht mir darum zu zeigen, wie groß der Einfluss des Umfeldes ist. In einem Milieu, in dem Doping stillschweigend oder offen als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird, fällt dem Athleten die Normübertretung leicht – ist sie doch eine bloß scheinbare Übertretung, denn die für ihn geltenden Normen, die seines Umfeldes, übertritt er ja nicht.

Die Bedeutung des Umfeldes dürfte sich in den vergangenen Jahren sogar noch erhöht haben, weil der Kontrolldruck seit Mitte der neunziger Jahre sukzessive verstärkt wurde: Konnte ein Athlet noch in den achtziger Jahren mit geringem Risiko praktisch einwerfen was er wollte, so braucht er heute zunehmend medizinische Expertise, teure Präparate und organisatorischen Aufwand – kurzum: Wer ohne Unterstützungsnetz dopt, fliegt wahrscheinlich auf. Individuelles Doping wird zunehmend unwahrscheinlich. Wenn gedopt wird, dann im Rahmen von Mannschaften, Verbänden, ganzen Sportarten.

Aus diesen Sachverhalten ergeben sich für Doper eine ganze Reihe von typischen Problemen, denen er mit ebenso typischen Lösungsstrategien begegnet; an diesen Lösungsstrategien kann man sie mit hoher Trefferwahrscheinlichkeit erkennen.

Ist denn überhaupt schon einmal jemand des Dopings überführt worden, von dem ein halbwegs kritischer Zuschauer gesagt hätte: „Na, von dem hätte ich mir das aber überhaupt nicht vorstellen können“? Soweit ich mich erinnern kann, sind bisher nur solche Sportler als Doper enttarnt worden, von denen man entweder wenig wusste, oder denen man, wenn man etwas über sie wusste, ohnehin misstraut hatte.

(Die einzige Ausnahme war der Fall Dieter Baumann, und hier machen die besonderen Umstände es wahrscheinlich, dass er tatsächlich, wie von ihm behauptet, einer Intrige zum Opfer gefallen war: Ihm war die Einnahme von Nandrolon nachgewiesen worden, und dieses Mittel fand sich schließlich in seiner Zahnpasta. Der naheliegende Verdacht, er habe das Nandrolon selbst in die Zahnpasta gespritzt, um Sabotage vorzutäuschen, scheitert daran, dass er nicht wissen konnte, dass es überhaupt möglich ist, einem Menschen Nandrolon auf diese Weise zuzuführen. Wissen konnte das nur, wer Zugang zu einer geheimen DDR-Studie hatte, in der genau das bewiesen worden war. Bedenkt man des weiteren, dass Baumann ein früher profilierter Verfechter eines strikten Anti-Doping-Kurses war, so liegt das Motiv für diese Intrige ebenso auf der Hand wie die Parallele zu der aktuellen Affäre im Biathlon.)

Wir haben es beim Doping mit einem Vergehen zu tun, das normalerweise eine Mehrzahl von Beteiligten, zumindest aber Mitwissern voraussetzt. Damit stellt sich schon einmal das Problem, dass Alle dichthalten müssen, auch und gerade gegenüber Journalisten. (Damit sind jetzt nicht solche Journalisten gemeint, deren Arbeitgeber eigene Interessen an sportlichen Erfolgen haben; in Deutschland sind dies insbesondere die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, denen man bescheinigen muss, beim Radsport die Öffentlichkeit jahrelang getäuscht und betrogen zu haben, um sich ihre Einschaltquoten nicht zu versauen. Wenn ich sage, dass ich zu den deutschen Biathleten Vertrauen habe, dann jedenfalls nicht deshalb, weil ich so einfältig wäre, an die journalistische Unabhängigkeit der ihre Rennen übertragenden Sender ARD und ZDF zu glauben.)

Es bleibt nicht aus, dass Journalisten, die nahe am Geschehen sind, Wind davon bekommen, wenn in einer Sportart etwas nicht stimmt: Ein vielsagendes Schweigen hier, ein Augenzwinkern dort, und man weiß Bescheid, auch wenn man keine belastbaren Belege hat. Ein aufmerksamer Leser findet entsprechende Hinweise zwischen den Zeilen und weiß sie zu deuten. Eine Zeitschrift wie der „Spiegel“, der als investigatives Organ einen Ruf zu verlieren hat, der Doping oft thematisiert, und der die unschönen Seiten auch des deutschen Biathlons unter die Lupe nimmt – Stasi-Verstrickungen von Funktionären zum Beispiel – würde, wenn er solche Hinweise hätte, sie in Gestalt von Andeutungen zwischen die Zeilen streuen. Er tut es nicht, also hat er sie nicht.

Ferner können wir am Beispiel des Radsports lernen, dass eine Krähe der anderen kein Auge aushackt, überhaupt, dass gedopte Sportler dem ganzen Thema auch dann ausweichen, wenn Verdächtigungen sich gar nicht gegen sie persönlich richten; typisch ist das unwirsche aggressive Abbürsten des Themas. Das hat auch seine Logik, denn wie gesagt: Doper verstehen die Signale der Öffentlichkeit als Aufforderung: „Betrügt uns!“ und halten kritische Nachfragen deshalb unwillkürlich für einen Ausdruck von Heuchelei.

Folgerichtig hat es auch noch nie einen überführten Doper gegeben, der vor seiner Entlarvung Andere des Dopings bezichtigt hätte. Nicht nur, um der anderen Krähe kein Auge auszuhacken, sondern auch, um keine schlafenden Hunde zu wecken (Meine Güte, heute habe ich’s aber mit den abgedroschenen Redensarten!). Ich sage nicht, dass das nicht geschehen kann – Motto: „Haltet den Dieb!“ – nur ist es eben bis jetzt nie geschehen.

Es kommt allerdings überhaupt selten vor, dass Sportler ihre Konkurrenten öffentlich des Dopings verdächtigen; in der Regel tun sie das allenfalls bei überwältigend starken Verdachtsmomenten, man will ja niemanden zu Unrecht beschuldigen. Wenn es aber doch geschieht, wenn also etwa Kati Wilhelm durch die Blume die inzwischen tatsächlich überführte Finnin Kaisa Varis verdächtigt, dann spricht die empirische Erfahrung dafür, dass der, der den Verdacht ausspricht, selber sauber ist.

Wie schon gesagt, Doper sind meist keine amoralischen Zyniker, sondern legen sich für sich selbst Rechtfertigungen für ihr Handeln zurecht, und die spiegeln sich in ihren Statements.

„Ich habe nie jemanden betrogen“ (Jan Ullrich) sagt der, der davon ausgeht, dass auch alle Konkurrenten gedopt sind.

„Es hat nie eine positive Dopingprobe gegeben“ sagt der, der sein Gewissen damit beruhigt, Doping sei nur, was auch nachweisbar sei.

„Ich wäre ja schön dumm, wenn ich dopen würde“ (Kaisa Varis kurz vor ihrer Überführung) sagt, wer Doping nicht für verwerflich, sondern höchstens für riskant hält.

Und aufschlussreich ist auch die Reaktion auf die Überführung anderer Athleten. Dass Jan Ullrich gedopt war, wusste man spätestens in dem Moment, als Lance Armstrong aufflog, der ihm mehrfach den Sieg bei der Tour de France weggeschnappt hatte. Ein sauberer Jan Ullrich hätte sich empört, statt es, wie Ullrich es tatsächlich tat, ziemlich gleichmütig wegzustecken (und bezeichnend ist wiederum der Kontrast zu der Reaktion etwa von Ricco Groß auf den Rottmann-Perner-Skandal).

Schließlich gilt für Funktionäre dasselbe wie für Sportler: Ein Verband, der auf nachgewiesenes Doping beleidigt, verstockt, als verfolgte Unschuld oder mit Winkeladvokatensophistik reagiert, der also Problembewusstsein nicht erkennen lässt, hat auch keines. Solche Verbände bemühen sich auch nicht, Transparenz herzustellen, und unternehmen gegen Doping nur genau das, wozu sie gezwungen werden. (Paradebeispiel ist der Österreichische Skiverband; und wieder fällt der Unterschied zum Deutschen Skiverband auf, der schon seit Jahren Blutprofile seiner Athleten hinterlegt, ohne dass ihn irgendjemand dazu aufgefordert oder gar gezwungen hätte.) Wenn man bedenkt, was ich oben über die Bedeutung des Umfeldes geschrieben habe, so ergibt sich von selbst, dass Sportler, die einem unsauber arbeitenden Verband angehören, hochgradig verdächtig sind.

Und so lauten die Faustregeln Nummer 3, 4, 5, 6 und 7:

Wo gedopt wird, steht in der Zeitung (wenn man sie aufmerksam liest).

Doper reden niemals freiwillig über Doping.

Doper verraten sich durch Bezugnahme auf Rechtfertigungsstrategien.

Doper empören sich nicht über das Doping Anderer.

Verbände ohne Problembewusstsein haben mit hoher Wahrscheinlichkeit gedopte Athleten.

Klar kann man einwenden, dass von den sieben Faustregeln fünf sich auf das Verhalten von Sportlern bzw. Trainern und Funktionären beziehen. Selbstverständlich kann man sich ausmalen, dass ein Doper durchtrieben genug sein könnte, sich vorzustellen, wie ein sauberer Athlet sich verhalten würde, und sich dann exakt so zu verhalten.

Dagegen, dass dies im Einzelfall so sein könnte, spricht zunächst der empirische Befund: In den letzten zehn Jahren sind derart viele Doper überführt worden, dass es gerechtfertigt ist, die dabei gemachten Erfahrungen zu verallgemeinern; kein Einziger der ertappten Sportler hat es verstanden, so raffiniert zu heucheln, wie das Gegenargument unterstellt.

Eine solche glaubwürdige Heuchelei ist auch theoretisch allenfalls als krasse Ausnahme zu erwarten, weil sie, zumal wenn sie über Jahre hinweg durchgehalten wird, eine oscarverdächtige schauspielerische Leistung darstellt; und wir haben es hier mit Sportlern und Funktionären zu tun, nicht mit geschulten Charakterdarstellern. Ganz und gar phantastisch aber ist die Vorstellung, dass ganze Mannschaften mitsamt zugehörigem Betreuerstab und vorgesetzten Funktionären kollektiv zu einer solchen Leistung imstande sein sollten.

Wer durchaus glauben möchte, die deutschen Biathleten und ihr gesamtes Umfeld hätten eine solche Leistung vollbracht – und dabei sogar den „Spiegel“ hinters Licht geführt – nun, der möge es glauben.

Er kann dann allerdings ebensogut glauben, der Papst sei evangelisch.

 

[Zum Thema „Doping“ siehe hier auch ein hochinteressantes Interview mit dem Dopingdealer Angel Heredia im „Spiegel“]

Wir sind Weltmeister!

Zur Abwechslung etwas Unpolitisches: 

Die deutschen Frauen sind wieder Fußballweltmeister, und wenn man ihren Erfolg gerecht würdigen will, muss man sich vergegenwärtigen, dass es das erste Mal seit 1962 (und erst das zweite Mal in der Fußballgeschichte überhaupt) ist, dass eine Nationalmannschaft ihren Weltmeistertitel verteidigen konnte (1962 gelang das den Brasilianern um Pelé), und dass sie der erste Weltmeister sind, der ein ganzes Turnier ohne Gegentreffer gespielt hat. Na gut, im Finale kam die Null ziemlich ins Taumeln, aber sie fiel nicht!

Trotzdem keine Fanmeile, kein Autokorso, kein Fahnenmeer in Schwarz-Rot-Gold, und die Deutsche Fußball-Liga fand auch nichts dabei, zeitgleich zum WM-Finale Zweitligaspiele anzusetzen, in der (seufz!) wahrscheinlich richtigen Annahme, dass die Fans lieber ein Zweitligaspiel Hoffenheim-Mainz sehen, als ein WM-Endspiel Deutschland-Brasilien, sofern das eine von Männern und das andere von Frauen ausgetragen wird.

Wieso eigentlich? Und warum werden Frauen-Bundesligaspiele auch weiterhin vor der überschaubaren Kulisse von einigen hundert Zuschauern stattfinden?

Manche sagen, weil Frauenfußball unweiblich sei, und die intellektuell beschlageneren formulieren es so: Frauenfußball entspreche nicht dem gesellschaftlich etablierten geschlechtsspezifischen ästhetischen Ideal. Hm. Merkwürdigerweise jubeln sie aber den Walküren zu, die im Kugelstoßen, im Diskus-, Speer- und Hammerwerfen Medaillen für Deutschland holen. Die werden ernstgenommen, Fußballerinnen nicht. Der Subtext lautet: Wenn sie schon nicht anständig spielen, sollen sie wenigstens hübsch aussehen!

Spielen sie nicht anständig? Noch vor wenigen Jahren hätten die einen von „Zeitlupenfußball“ gesprochen und die anderen politisch korrekt geantwortet,  ein Vergleich von Frauen- und Männerfußball sei ein unfairer Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen, weil Frauenfußball naturgemäß langsamer und weniger aggressiv, dafür aber spielerischer, harmonischer und insofern ästhetischer sei. Eigentlich seien es zwei Sportarten.

Diese Ansicht können wir nach dieser WM getrost zu den Akten legen. Was sich innerhalb weniger Jahre abgespielt hat, ist nicht weniger als ein Quantensprung: Der Frauenfußball ist enorm schnell und athletisch geworden. Dass Frauen nicht den Antritt und die Schusskraft von Männern haben, würde heute nur noch dann auffallen, wenn sie direkt gegeneinander spielen würden – am Bildschirm oder im Stadion merkt man es bei einer Frauenpartie nicht. Männer- und Frauenfußball sind vergleichbar geworden.

Und genau deswegen fällt jetzt auf, dass zumindest in der Spitze Männer immer noch (noch!) den besseren Fußball spielen. Ich glaube nicht, dass ich die Leistung der deutschen Mannschaft schmälere, wenn ich sage, dass sie sich während des Turniers eine Anzahl an Fehlpässen und Stockfehlern geleistet hat, mit der eine Männermannschaft kaum die Vorrunde überstanden hätte. Trotzdem beendete sie das Turnier mit einundzwanzig zu null Toren, und trotzdem musste man bis zum Finale warten, um mit Brasilien einen ihr ebenbürtigen Gegner zu sehen. Dieses Finale war denn auch die einzige Partie, in der wirklicher Spitzenfußball geboten wurde. Es gibt weltweit nur zwei Nationalmannschaften, die nach einem einigermaßen strengen Maßstab erstklassig sind, und ein paar weitere (man braucht nicht die Finger einer Hand, sie aufzuzählen), die wenigstens halbwegs mithalten können.

Das Problem des Frauenfußballs ist nicht, dass Frauen nicht spielen könnten (überhaupt eine lächerliche These, auf die in anderen Sportarten niemand käme), sondern dass die Spitze (noch!) so verzweifelt dünn besetzt ist. Man sieht das nicht nur bei Weltmeisterschaften, sondern auch im Vereinsfußball. Man sehe sich die Schlusstabelle der Saison 2005/2006 an: Turbine Potsdam beendete die Saison mit einem Torverhältnis von 115 zu 13 (!), beim Letztplazierten FSV Frankfurt ist das Verhältnis (im Negativen) noch gespenstischer: 5 zu 142! Das entspricht einer Leistungsdifferenz von sechs oder sieben Spielklassen in einer einzigen Liga, die obendrein nur zwölf Vereine umfasst.

Die Frauen, deren Fußball erst seit Mitte der siebziger Jahre vom DFB zugelassen wird, haben, je nach Rechnung, rund achtzig bis hundert Jahre Rückstand aufzuholen. Das betrifft die Anzahl der Spieler, die Infrastruktur, die Finanzierung und die Akzeptanz durch die Fans. Vereine wie Schwarz-Weiß Essen, Holstein Kiel oder Borussia Neunkirchen können in der Oberliga – viertklassig – spielen, aber sie haben einen Namen und deshalb einen Anhängerstamm, von dem selbst die Turbinen oder der FFC nur träumen können. (Für Fußballdeutschland zählt eben der Schweinsblasen-Faktor: Ein Verein wird im Zweifel nicht ernstgenommen, wenn seine Tradition nicht in die Zeit zurückreicht, wo man den Ball nur mit viel Wohlwollen „rund“ nennen konnte, weil er aus höchst eigenwilligen Naturmaterialien bestand.)

Aber das wird sich ändern (wenn auch nicht so rapide wie etwa im Biathlon, wo noch vor knapp zwanzig Jahren die Fans nach Hause gingen, wenn das Männerrennen beendet war und die Frauen starteten; zehn Jahre später war ein Biathlon-Tag ohne Uschi Disl ein verlorener Tag). Es spricht Bände, dass einige der besten Spielerinnen des Turniers (Marta, Laudehr, Bajramaj) gerade erst um die zwanzig sind: Da wächst viel nach, und die Qualität steigt dramatisch. Ich freue mich jetzt schon auf die nächsten Turniere, und in fünfzehn oder zwanzig Jahren, da gehe ich jede Wette ein, wird Frauenfußball unter den Fans dieselbe Akzeptanz haben wie der von Männern.

Übrigens: Falls Feministinnen mitlesen, die der Meinung sind, ich hätte statt von Spielern und Weltmeistern von Spielerinnen und Weltmeisterinnen sprechen sollen, hört Birgit Prinz zu: „Bei uns kämpft Jeder für Jeden.“ Nicht Jede für Jede. Frauen, die wirklich emanzipiert sind, haben political correctness nicht nötig.