Das Niggemeier-Urteil

Wie allgemein bekannt, hat das Landgericht Hamburg jüngst den Journalisten Stefan Niggemeier in dessen Eigenschaft als Blogger verurteilt, weil er zugelassen hat, dass einer seiner Kommentatoren rechtswidrige Äußerungen veröffentlicht hat. Und dies, obwohl der Blogger den Kommentar umgehend entfernt hatte. Das Gericht war der Meinung, der Blogger habe eine Pflicht zur Vorzensur.

Im Berliner „Tagesspiegel“ applaudierte Joachim Huber diesem Urteil: „Zensur? Nein Zivilität. Das Internet vor Gericht“, (Tagesspiegel vom 12.12.07), unter anderem mit der Begründung, dass ja auch Zeitungen eine Vorab-Auswahl unter ihren Leserbriefen treffen müssten, und dies sei deshalb auch Bloggern zuzumuten.

Da mein Leserbrief zum Thema der „Tagesspiegel“-Zensur zum Opfer gefallen ist – ts, ts, warum nur? – veröffentliche ich ihn hier:

„Wer die Kommentarspalten von Internetblogs mit den Leserbriefspalten von Zeitungen gleichsetzt, weiß nicht, wovon er redet. Blogkommentare nehmen sowohl auf den jeweiligen Beitrag als auch aufeinander Bezug. Da werden in Rede und Gegenrede die Argumente ausgetauscht, sicherlich auch manche Polemik; da entsteht ein Maß an lebendiger Öffentlichkeit, das für das Medium „Zeitung“ naturgemäß unerreichbar ist – das aber davon abhängt, dass die Kommentare in Echtzeit erscheinen können.

Eine Vorzensur durch den Blogger zu verlangen ist so, als würde man dem Fernsehen die Live-Übertragung von Diskussionsrunden verbieten, aus Angst, da könnten irgendwelche rechtswidrigen Dinge geäußert werden. Die zu Recht beliebten Kommentatorendebatten könnten dann nur noch in Blogs stattfinden, deren Betreiber es sich leisten können, rund um die Uhr einen Zensor vom Dienst zu bezahlen, und das sind die allerwenigsten.

Das Urteil gegen Stefan Niggemeier ist nicht deshalb skandalös, weil der Blogger verpflichtet wird, auch die Kommentare zu kontrollieren, sondern weil er dies vorab tun soll: Otto Normalverbraucher wird von der Nutzung des Mediums „Weblog“ faktisch ausgeschlossen, wenn diese an unzumutbare Bedingungen („keine spontanen Kommentare“) oder unerfüllbare Voraussetzungen („ständige Kontrolle“) geknüpft wird.

Hier ist daran zu erinnern, dass Meinungs- und Pressefreiheit sogenannte Jedermanns-Grundrechte sind. Sie sind also nicht das Oligopol der schreibenden Zunft; erst recht nicht das sprichwörtliche Privileg von zweihundert Leuten, zu entscheiden, was das Volk lesen darf. Zumindest sollten sie das nicht sein.

Das Internet verschafft, durchaus im Sinne unserer Verfassung, buchstäblich Jedem die Möglichkeit, sich publizistisch zu betätigen. Es ist gewiss verständlich, dass diejenigen, die sich bisher exklusiv als Inhaber der „Vierten Gewalt“ fühlen durften, über den ihnen drohenden Bedeutungsschwund frustriert sind; menschlich nachvollziehbar ist auch, dass sie die Schuld für den Erfolg von Weblogs nicht bei sich und den von ihnen gestalteten Medien suchen. (Manches Blog – darunter auch mein eigenes  – würde gar nicht existieren, gäbe es im etablierten Journalismus mehr Mut zu unkonventionellen Standpunkten, mehr analytische Tiefe, weniger Herdentrieb, weniger Political Correctness.)

Verständlich also ist das alles. Es rechtfertigt nur keine Sprüche vom Kaliber:

‚Es ist überhaupt kein Fortschritt, wenn die früheren Klosprüche heute die Wände des Internets verunzieren. Wahrlich erstaunlich ist es, wie sehr die professionellen und die selbst ernannten Welterklärer in Text- und Videoblogs die Sau rauslassen … Das Netz pumpt offensichtlich manches Ego zur XXL-Größe auf.‘

Solche Parolen sind erstens selber kaum mehr als bessere Klosprüche und zweitens unschwer als das Gemaule von schlechten Verlierern zu erkennen.“