Bei den gestrigen Parlamentswahlen in Belgien haben die flämisch-nationalen Parteien zusammen rund 44 % der flämischen Wählerstimmen auf sich vereinigen können, und man kann davon ausgehen, dass auch unter den Wählern anderer Parteien die Forderung nach Abspaltung Flanderns populär ist. Schließlich liegt die Agonie des belgischen Staates, dieses unregierbaren Zerrbildes einer Demokratie, seit Jahren offen zutage.
Die fortschreitende Desintegration Belgiens hat damit einen vorläufigen Höhepunkt erreicht: Es ist nicht mehr möglich, eine Regierung zu bilden, ohne den Regionen, d.h. Flandern weitere bisher zentralstaatliche Kompetenzen zu überlassen, und der Wahlsieger Bart DeWever hat bereits angekündigt, dass dieser Machttransfer so lange fortgesetzt werden soll, bis der Staat Belgien schon aufgrund mangelnder politischer Relevanz den letzten Rest seiner Legitimität einbüßt und mit einem leisen Winseln eingeht.
Das Ende Belgiens, des Kernlandes der Europäischen Union, ist für Letztere in zweierlei Hinsicht entlarvend:
Zum einen ernten die EU und ihre Sozialtechnologen hier die Früchte ihrer Politik der Entnationalisierung. Es wird wenig beachtet, dass die EU die Souveränität ihrer Mitgliedsstaaten nicht nur von oben (also durch Usurpation ihrer Kompetenzen) aushöhlt, sondern auch von unten: Die Politik, die subnationalen Regionen aufzuwerten, indem man ihnen unter anderem eine direkte Vertretung in Brüssel zugesteht und grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Regionen fördert, zielt direkt auf die Entmachtung der Nationalstaaten und die Schwächung nationaler Solidaritäten ab. In einem solchen Europa wird Regionalegoismus auf Kosten der Nation immer mehr zur alltäglichen Erscheinung: Für Schotten, Katalanen, Basken, Korsen, Norditaliener und andere mehr wirken die Nationen immer mehr wie Gefängnisse, aus denen sie mit mehr oder weniger Erfolg auszubrechen versuchen – wobei in der Regel offiziell die Forderung nach mehr Autonomie im Vordergrund steht, während man von Zeit zu Zeit mit einem Zaunpfahl winkt, auf dem „Unabhängigkeit“ steht.
Es liegt in der Natur der Sache, dass der Zerfallsprozess gerade in demjenigen Staat am weitesten fortgeschritten ist, der von allen europäischen Staaten am wenigsten Grund hat, sich „Nationalstaat“ zu nennen: in Belgien. Weder gibt es dort, wie etwa in Spanien, ein dominierendes Mehrheitsvolk, noch gibt es die engen kulturellen Bande, die selbst zwischen Schotten und Engländern bestehen. In Belgien wurde, aus nicht einmal aus ideologischen Gründen, sondern aus solchen britischer Machtpolitik zusammengeklebt, was nicht zusammengehört, und dies zu einem Zeitpunkt (1830), als dergleichen bereits anachronistisch war.
Der Zerfall Belgiens, und dies ist der zweite Grund, warum er der EU peinlich sein sollte, widerlegt zugleich schlagend die Prämisse „europäischer“ Politik, dass man nämlich die Angehörigen unterschiedlicher Völker quasi beliebig in Staaten zusammensperren könne, weil es auf die politische Solidarität, die die Völker zusammenkittet, ohnehin nicht ankomme. Auf der Basis einer solchen Ideologie kann man freilich weder in der schleichenden Durchsetzung eines europäischen Quasistaates (der sich ganz von alleine zur Diktatur entwickelt) ein Problem erkennen, noch in der forcierten Massenmigration zur Durchmischung der Völker.
Das belgische Problem ist aber gerade deswegen virulent geworden, weil die Flamen nicht bereit sind, das (sozialistische) Armenhaus Wallonien durchzufüttern. Flamen und Wallonen sind füreinander Fremdvölker, die einander deswegen auch keine Solidarität schulden. Der Unterschied zwischen einem ideologischen Kunstprodukt wie Belgien und einem wirklichen Volk, wie es etwa das deutsche immer noch ist (trotz der fortdauernden Versuche seiner herrschenden Klasse, es aufzulösen), wird augenfällig, wenn man sich vergegenwärtigt, mit welcher Selbstverständlichkeit öffentliche Gelder zwischen den deutschen Regionen unterschiedlicher Wirtschaftskraft hin- und herschoben werden: in den fünfziger Jahren von NRW in das damals rückständige Bayern, in jüngerer Zeit von den Südstaaten nach Norden, vor allem aber von West nach Ost. West- und Ostdeutsche haben nach vierzigjähriger Teilung zwar mächtig gefremdelt, aber allen dummen Nachwendewitzen zum Trotz (Sagt der Ossi zum Wessi: „Wir sind ein Volk!“, sagt der Wessi: „Wir auch!“) sind wir eben tatsächlich ein Volk, und die Billionenhilfe für den Aufbau Ost wurde mit ein wenig Gegrummel, aber letztlich doch klaglos aufgebracht. Vor allem wäre kein westdeutsches Bundesland auf die Idee gekommen, deshalb aus der Nation auszuscheiden.
Diese Art Solidarität kann aber nicht politisch verordnet werden: Sie ist entweder vorhanden oder eben nicht.
Den Deutschen konnte die politische Klasse die unaufhörlichen Zahlungen an die Umverteilungsmaschine EU, sprich an die ärmeren europäischen Staaten, nur so lange schmackhaft machen, wie sie ihnen vorspiegeln konnte, es handele sich letztlich um ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Spätestens mit den milliardenschweren Rettungsprogrammen der letzten Wochen ist dieser Betrug aufgeflogen. Was die Deutschen jetzt noch veranlassen kann, sich weiter schröpfen zu lassen, sind allenfalls noch Gewohnheit und Trägheit, nicht Überzeugung und schon gar nicht Solidarität.
Belgien ist eine EU im Kleinen. Es wäre hilfreich, wenn von dort das Signal ausginge, dass die wohlhabenden Völker sich nicht länger melken lassen. Unglücklicherweise scheint dieses Signal auch jetzt wieder nicht zu kommen.
In diesen Tagen, wo sportive Vergleiche jedermann sofort auf der Zunge liegen, sehen die flämischen Politiker aus wie eine Bande von ballverliebten Dribbelkünstlern, die im gegnerischen Strafraum zaubern und zaubern, aber den Weg zum Tor nicht finden. Was soll das, immer neue Forderungen zu stellen, die das Ende des politischen Tollhauses Belgien letztlich nur verzögern können, damit aber noch für Jahre seine kostspielige und zermürbende politische Ineffizienz am Leben erhalten? Wem soll das noch nützen? Etwa dem flämischen Volk?
Wenn Flandern sich morgen für unabhängig erklären würde – wer sollte das verhindern? (Theoretisch wäre es gewiss möglich, dass der belgische Staat seine Souveränität in Flandern mit Gewalt aufrechtzuerhalten versucht. Daran aber glaubt ernsthaft doch niemand.)
Wenn das Ziel doch ohnehin die Unabhängigkeit ist, dann ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, sie zu verwirklichen und ein Ende mit Schrecken herbeizuführen.
Flandern, mach’s endlich!