James Sheehan: „Kontinent der Gewalt. Europas langer Weg zum Frieden“

(Kurzrezension)

James Sheehan beschreibt „Europas langen Weg zum Frieden“ als einen Umweg: Der Zustand eines nach innen und außen weitgehend befriedeten Europa, den wir heute genießen, war nämlich vor 1914 schon einmal erreicht gewesen. Man ist sich heute dessen gar nicht mehr so bewusst, weil man ja weiß, was danach kam. Stefan Zweig hat in seinen Lebenserinnerungen („Die Welt von Gestern“) die Zeit vor 1914 „das Zeitalter der Sicherheit“ genannt.

 

Ich fasse Sheehans Argumentation zusammen:

 

Das Jahrhundert vom Wiener Kongress 1815 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs war das friedlichste in der Geschichte Europas gewesen; seit 1871 hatte es überhaupt keinen Krieg der Großmächte mehr gegeben, und die Abschaffung des Krieges überhaupt schien erstmals eine reale Möglichkeit zu sein.

 

Freilich war sie auch eine Notwendigkeit: Die hochtechnisierten Massenheere der europäischen Großmächte, das sahen hellsichtige Analytiker schon im 19. Jahrhundert, konnten den Krieg gegeneinander nur als totalen Krieg führen, der eine entsprechend umfassende Zerstörung hinterlassen würde.

 

Genau so kam es. Der Erste Weltkrieg vernichtete nicht nur Menschenleben, Staaten und Kapital. Er zerstörte die friedfertige Zivilität, die bis dahin die Völker Europas ausgezeichnet hatte. Die Gewaltideologien des Faschismus und des Kommunismus verhinderten die Rückkehr Europas zu einer rationalen und friedlichen Politik, die zumindest in den westlichen Staaten angestrebt wurde.

 

Dort erwuchs aus der apokalyptischen Erfahrung des Weltkriegs ein leidenschaftlicher Pazifismus, der die speziell vom Nationalsozialismus ausgehende Gefahr bagatellisieren zu können glaubte. Die daraus resultierende Appeasement-Politik ermöglichte Hitler erst die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs und die Zerstörung Europas.

 

Paradoxerweise war es gerade der Kalte Krieg, der zur Entmilitarisierung der europäischen Politik führte. Unter dem eisernen Panzer der Supermächte verloren die europäischen Staaten de facto die Fähigkeit zur autonomen Kriegführung und zugleich jedes Interesse daran.

 

Die westeuropäischen Staaten der Nachkriegszeit waren und sind zivile Staaten in dem Sinne, dass sie das Ziel maximalen Wohlstands für ihre Völker verfolgen und in Institutionen wie der EU in einem Maße zusammenarbeiten, das vor 1914 unvorstellbar gewesen wäre.

 

Sogar im Ostblock war das Maß an Repression in der Ära nach Stalin bei weitem nicht vergleichbar mit den Gewaltexzessen der Revolution und des Stalinismus, und so erscheint es wie der folgerichtige Abschluss dieser Entwicklung, dass Gorbatschow den sowjetischen Imperialismus kassierte, Osteuropa freigab und auf friedliche innere Reform setzte.

 

Wer freilich die zivile, ja pazifistische Disposition des heutigen Europa zum Modell machen und als solches dem amerikanischen „Militarismus“ polemisch entgegensetzen will, verkennt, dass Europa nach wie vor in einer hochgradig gefährlichen Welt existiert und auf eigene Gewaltanwendung nur deshalb verzichten kann, weil die USA nach wie vor zur Kriegführung fähig und gegebenenfalls auch bereit sind.

 

Europa, das hat sich spätestens beim Zerfall Jugoslawiens gezeigt, ist ein amerikanisches Protektorat, das unfähig ist, seine eigenen vitalen Interessen zu wahren, zumindest dann, wenn dazu die Anwendung militärischer Gewalt erforderlich ist.

 

Dies wird auch so bleiben, sofern Europa sich nicht zu einem Bundesstaat mit eigenem Militär und eigener Außenpolitik mausert. Ein solcher Staat wäre eine Supermacht; aber er wird nicht entstehen, weil es für die Europäer wesentlich bequemer ist, den Schutz Amerikas in Anspruch zu nehmen, an dem festzuhalten, was von der nationalen Souveränität noch übrig ist, und die Abhängigkeit von den USA als notwendiges Übel in Kauf zu nehmen.

 

Soweit Sheehan. Ich kann nicht behaupten, dass mir seine Schlussfolgerung gefällt, aber wenn ich einen größeren Betrag wetten müsste, würde ich seiner Prognose realistischerweise eine größere Chance auf Verwirklichung einräumen als meiner eigenen Hoffnung, dass Europa wieder lernt, seine eigenen Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen und seine eigenen Interessen selbst zu vertreten.

 

Es ist nun einmal einfacher, auch bequemer, auch billiger, die eigene Sicherheit einem Anderen anzuvertrauen, und den Preis in Gestalt von Abhängigkeit zu bezahlen. Solange dieser Andere ein freundlicher Hegemon ist wie Amerika, der Europa seine Abhängigkeit nur gelegentlich und nur mäßig spüren lässt, mag das alles angehen.

 

Was aber, wenn Amerika sich zurückzieht? Was, wenn es zum unfreundlichen Hegemon wird? Was, wenn es den Preis erhöht? Was, wenn es nicht mehr stark genug ist, seine Protektorenrolle zu spielen?