Die Juden sind ein Volk!

Vor kurzem hat ein Buch mit dem Titel „Die Erfindung des jüdischen Volkes“ Furore gemacht, in dem der israelische Historiker Schlomo Sand behauptete, ein seit der Antike existierendes jüdisches Volk mit gemeinsamer Abstammung gebe es gar nicht. Vielmehr habe das Judentum sich als Religion primär durch Missionierung ausgebreitet.

Es konnte nicht ausbleiben, dass diese Behauptung prompt im antisemitischen Diskurs eine prominente Rolle spielte – so, als wäre die Existenz eines Volkes per se stets an eine gemeinsame Abstammung gebunden, und als gäbe es mithin kein jüdisches Volk, wenn die gemeinsame Abstammung ein Mythos wäre. So, als spielten Religion, Kultur und Tradition keine Rolle für die Konstituierung eines Volkes; so, als wären alle Menschen gemeinsamer Absatmmung automatisch ein Volk. Nach einer solchen Logik wären alle germanischen Völker eigentlich „Deutsche“, während eine Willensnation wie die amerikanische, die eben nicht nur aus Nachkommen von Germanen besteht, kein Volk wäre. Ebenso könnte man die Germanen in kleinere Einheiten auflösen, und dann gäbe es überhaupt kein deutsches Volk, sondern zum Beispiel ein bayrisches und ein sächsisches, und das Siedlungsgebiet des letzteren erstreckte sich ungefähr von Dessau bis an die schottische Grenze.

Volk ist also, was zusammengehören will. Hätten die Juden es geschafft, ohne genetische Verwandtschaft, allein auf der Basis ihrer Religion, ein Volk zu bilden, dann wären sie deswegen nicht weniger ein Volk.

Selbstverständlich ist es nicht nur legitim, sondern leider auch oft genug notwendig, darauf hinzuweisen, dass dieser Wille zur Zusammengehörigkeit, der ein Volk ausmacht, nur im Ausnahmefall ohne das Bewusstsein gemeinsamer Abstammung auskommen wird. Abstammung ist also nicht alles, aber ohne einen Kern gemeinsamer Abstammung wird es normalerweise auch kein Volk geben. Selbst Völker, denen man als Einzelperson beitreten kann, können nur eine begrenzte Anzahl solcher Beitritte absorbieren. Zugespitzt: Zehntausend Afrikaner können Deutsche werden, zehn Millionen können es nicht; das ist keine Frage der Staatsangehörigkeit, sondern des Zusammengehörigkeitsgefühls. Ab einer bestimmten Größenordnung wird die Integrationskraft jedes Volkes überfordert.

Das gilt auch für das jüdische Volk: Man kann ihm beitreten (indem man den jüdischen Glauben annimmt), aber die orthodoxen Rabbiner bauen sehr bewusst hohe Hürden auf, wohl wissend, dass Massenkonversionen das jüdische Volk (und, da beides untrennbar miteinander verwoben ist, auch die jüdische Religion) in der Substanz schwächen würden. Schon deshalb müssen die Thesen von Schlomo Sand als hochgradig unplausibel gelten.

Nun ist man freilich heutzutage nicht auf die mehr oder minder plausiblen Konstruktionen des Historikers angewiesen, wenn es um Fragen gemeinsamer Abstammung geht. Die Genetik, von der der ehrwenwerte Professor anscheinend noch nie gehört hat, erlaubt es, solche Fragen unzweideutig empirisch zu beantworten. Und die Antwort lautet: Sands Thesen sind falsch, die Juden sehr wohl ein Volk, und dies eben nicht nur im Sinne gemeinsamer Religion und Kultur, sondern auch im Sinne gemeinsamer genetischer Herkunft!

Die Süddeutsche Zeitung weist auf eine Studie hin,

…die ein Forscherteam um den Genetiker Harry Ostrer von der New York University School of Medicine in der Juni-Ausgabe der Fachzeitschrift American Journal of Human Genetics (online) veröffentlicht: Demnach deuten Genanalysen darauf hin, dass alle jüdischen Menschen tatsächlich relativ eng miteinander verwandt sind – selbst dann, wenn sie seit langer Zeit getrennt auf unterschiedlichen Kontinenten leben und sich mit den dort lebenden Ethnien vermischt haben.

(…)

Nun widersprechen auch die neuen Genanalysen Sands Thesen mit großer Deutlichkeit. Zwar hatte es schon in den vergangenen Jahren verschiedene genetische Hinweise auf die relativ enge Verwandtschaft unter Juden gegeben, doch die neue Studie zeichnet sich dadurch aus, dass sehr weit voneinander entfernte Gemeinschaften untersucht wurden.

Die Genanalyse ergab, dass Aschkenasen, Sepharden und Mizrachim tatsächlich so viele gemeinsame genetische Merkmale aufweisen, dass man sie als eigenständige Gruppe von der übrigen Weltbevölkerung unterscheiden kann. Zugleich konnten die Forscher bei allen drei Diaspora-Gruppen Ursprünge im Nahen Osten nachweisen sowie eine Vermischung mit der Bevölkerung der jeweiligen Umgebung. (…)

Die Studie zeigt zudem, wie exakt sich Geschichte aus dem Genom ablesen lässt: So belegt die Analyse, dass sich die beiden größten Gruppen – die Juden Europas und des Nahen Ostens – vor ungefähr 2500 Jahren getrennt haben müssen.

(…)

Ein weiterer Marker im askenasischen Erbgut bestätigt eine bekannte demographische Delle, bei der die Zahl der europäischen Juden Anfang des 15. Jahrhunderts auf 50.000 gesunken und bis zum 19. Jahrhundert wieder auf fünf Millionen gewachsen war. „Die Studie stützt also die These, dass alle Juden durch eine gemeinsame genetische Geschichte verbunden sind“, resümiert Ostrer.

Quelle: Süddeutsche Zeitung