Charakterwäsche

Passend zum Thema des vorherigen Artikels möchte ich auf Hans-Joachim von Leesens Essay „Die Umerziehung der Deutschen als Teil der psychologischen Kriegsführung“ aufmerksam machen. Hier ein kurzer Auszug als Appetithäppchen:

Die Deutschen Journalisten standen unter strenger amerikanischer bzw. britischer Aufsicht. Sie hatten umzusetzen, was die Psychologische Kriegführung vorgegeben hatte. Hauptziel war, dass „die Deutschen ihre Kollektivschuld eingestanden und von ihrer Minderwertigkeit überzeugt wurden“, wie Helmuth Mosberg in seiner auch als Buch erschienenen Dissertation „Reeducation – Umerziehung und Lizenzpresse im Nachkriegsdeutschland“ schreibt. Jeder Journalist hatte ein Umerzieher zu sein.

Der deutsche Charakter wird gewaschen

Auf die Dauer konnte man die Deutschen nicht allein mit den Zeitungen und Rundfunksendungen der alliierten Militärbehörden abspeisen. So suchte man Deutsche, die geeignet erschienen, neu gegründete Zeitungen zu verlegen. Darüber hat Caspar von Schrenck-Notzing bereits 1965 in seinem grundlegenden Werk „Charakterwäsche“ berichtet, das in immer neuen Auflagen und kürzlich in einer Neufassung erschien. Die neuen deutschen Zeitungs- und Zeitschriftenverleger sollten das „andere Deutschland“ verkörpern, also Menschen sein, die sich von den bisherigen Deutschen deutlich unterschieden. Bei der Auswahl ging es erst in zweiter Linie um fachliche Eignung, vor allem aber um die charakterlichen Eigenschaften.

Die Siegermächte gingen davon aus, dass die meisten Deutschen einen falsch entwickelten Charakter hatten, da sie durch ihre autoritären Familien geprägt worden waren. Wie die neue Elite in der Medienwelt geartet sein soll, das hatte eine Fachgruppe von Wissenschaftlern unter der Leitung von Max Horkheimer erarbeitet (auch er begegnet uns wieder bei den Vordenkern der 68er Revolte) und in einem fünfbändigen Werk „Studies in Prejudice“ vorgelegt, einem Werk, zu dessen Autoren u. a. Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson, R. Nevitt Sanford gehörten. Sie wollten die Vorurteile, unter denen die Deutschen angeblich leiden, aufdecken und ausrotten. Wörtlich: „Ausrottung meint Umerziehung, die wissenschaftlich geplant wird.“ Damit sollten „potentiell faschistische Individuen aufgedeckt werden“.

So suchte man Menschen, bei denen die in Deutschland typischen Werte, wie „äußerlich korrektes Benehmen, Fleiß, Tüchtigkeit, physische Sauberkeit, Gesundheit und unkritisches Verhalten“ nicht vorhanden waren, denn diese Eigenschaften verbergen angeblich „eine tiefe Schwäche des eigenen Ichs“.
Man befragte die ins Auge gefassten Persönlichkeiten u. a. danach, wie ihr Verhältnis zu Vater und Mutter war. Bevorzugt wurden Männer, die zu ihren Eltern ein gebrochenes Verhältnis hatten, also nicht durch die autoritäre deutsche Familie geformt waren. Und sie gingen mit gutem Gewissen vor, waren doch, wie sie behaupteten, die Deutschen krank, waren Patienten, die von ihrer Paranoia geheilt werden mussten. Die neuen Zeitungsverleger und Chefredakteure wurden entsprechenden Tests unterzogen, und wenn sich herausstellte, dass sie solche gebrochenen Charaktere hatten, dann kamen sie in die engste Wahl.

Von Schrenck-Notzings Buch

Charakterwäsche. Die Re-education der Deutschen und ihre bleibenden Auswirkungen

habe ich zwar schon gehört, es aber bisher noch nicht gelesen. Allein das Vorwort zur Neuauflage 2005, das dankenswerterweise im Netz verfügbar ist, macht aber Lust auf mehr. Hier ein Auszug:

Die Szene, die sich Mitte der 60er Jahre in einer norddeutschen Buchhandlung abspielte, war bezeichnend. Eine ältere Dame kommt herein, verlangt hinter vorgehaltener Hand flüsternd „das verbotene Buch“, die ratlose Verkäuferin ruft den Buchhändler, und nach einigem Hin und Her verläßt die Kundin wieder den Laden, in der Einkaufstasche das gewünschte Buch mit dem Titel „Charakterwäsche“. Mitte der 60er Jahre waren die alles zudeckenden Werbekampagnen der Großverlage, die Verwertungsketten global operierender Medienkonzerne und der ganze Bestsellerrummel erst im Kommen. In Windeseile hatte sich herumgesprochen, daß erstmals ein Buch über die amerikanische Besatzung in Deutschland und ihre Folgen zu haben sei, einem Thema, von dem relativ viele Leser, wie konnte es auch anders sein, sich existentiell betroffen fühlten. Die „Charakterwäsche“ hatte schon ihren Leserkreis, als nach einem Vierteljahr die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ mit einer umfangreichen Rezension (in der Silvesternummer 1965) Aufsehen erregte. Die angesehene Journalistin Margret Boveri verriet, ihr sei dringend geraten worden, „die „Charakterwäsche“ dürfe nicht einmal verrissen, sie müsse totgeschwiegen werden.“ Dieser Rat empörte Margret Boveri so sehr, daß sie schrieb: „Das wäre dieselbe totalitäre Methode, mit der im Dritten Reich eine Figur wie Thomas Mann aus dem Bewußtsein der Deutschen gelöscht werden sollte. Solche Methoden rächen sich früher oder später an denen, die sie anwandten.“

Margret Boveris Rezension ließ in drei Sätzen ebenso viele Katzen aus dem Sack, die am schönen Bild der nach dem Ende der „restaurativen“ Ära Adenauer sich rasch liberalisierenden Bundesrepublik ungebührlich kratzten. Ad 1: Das Totschweigen, amerikanisch „silent treatment“ genannt, war eines unter mehreren Mitteln einer „neuen Zensur“ (J. F. Revel), die sich dem „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (J. Habermas) angepaßt hatte. Das Grundgesetz (Art. 5: „Eine Zensur findet nicht statt“) ahnte noch nichts von der „neuen Zensur“ und ihren technischen und politischen Voraussetzungen, tagte doch der Parlamentarische Rat in der schrecklichen, der fernsehlosen Zeit. Inzwischen haben immer neue Technologien nicht nur die Kommunikationsformen umgewälzt, sondern auch die Politik in ein neues medienbestimmtes Koordinatensystem gestellt. Gleichzeitig breitete sich die „neue Zensur“ fast unbemerkt aus: „Wenn man sich unter Zensur nicht einen fleißigen Beamten vorstellt, der mit dem Rotstift dicke Bände durchgeht, sondern die Technik, mit der eine Seite verhindert, daß die andere zu Wort kommt, dann kann nur unterstrichen werden, daß in der modernen Demokratie die Zensur ihren Höhepunkt erreicht hat. Der größte Erfolg der „neuen Zensur“ ist jedoch, das Publikum überzeugt zu haben, daß es keine Zensur mehr gibt“ (Thomas Molnar).

Ein weiteres Zensurmittel machten die „neuen Zensoren“ in der Zeitschrift „Neue politische Literatur“ publik. Sie fragten sich, ob es dem Verfasser der „Charakterwäsche“ gelungen sei, sich einen Namen zu machen, und befanden, er habe sich eine „kleine Nische in der politischen Publizistik ziseliert“. Dort solle man ihn stehen lassen: „ganz allein und für Vorübergehende deutlich erkennbar.“ Die Nische sei mit abschreckenden Hinweisen auf den schlechten Umgang des Angeprangerten auszuschmücken. Das Zensurmittel der Isolation gegen Gruppen, Parteien und Einzelne, die aus dem „herrschaftsfreien Diskurs“ ausgeschlossen werden sollen, erfreut sich noch heute regen Zuspruchs. Ad 2: Margret Boveri ordnete den Totalitarismus-Begriff nicht mehr ausschließlich dem Kommunismus und dem Faschismus bzw. Nationalsozialismus zu, sondern beging den Tabubruch, totalitäre Tendenzen auch bei liberal-demokratischen Institutionen für möglich zu halten. Ad 3: Margret Boveri warnte, daß ein rücksichtsloser Umgang mit vermeintlich Andersdenkenden auf denjenigen zurückschlägt, der seine Machtstellung mißbraucht. Sie warnte zu einem Zeitpunkt, als die Machtausübung von den Handelnden auf die Meinenden überging und Moralisten das Wort führten. Für diese bestand die Lösung aller Fragen darin, die Mitbürger in Gute und Böse zu unterteilen. Denn ist nicht, wo das Böse unterwegs ist, dem Guten alles erlaubt?

Die Besatzungszeit und ihre Folgen waren für die damaligen Zeitgeschichtler eine terra incognita. Zehn Jahre nach dem formalen Ende der Besatzung wirkte wohl noch nach, daß jede Kritik der Alliierten unter Strafe gestellt worden war. Man hoffte, daß Sachkenntnis eines nicht allzu fernen Tages nachgeliefert werden würde, und behalf sich mit ebenso naheliegenden wie weit hergeholten Argumenten. Die „Frankfurter Rundschau“, die als einzige Lizenzzeitung sich nicht in Schweigen hüllte, nannte den Verfasser eine „zurückgestoßene Kokotte“, eine „gedemütigte, abgewiesene Konkubine“, die einer psychoanalytischen Behandlung bedürfe, denn der Psychoanalytiker würde mehr aus ihm herauskriegen als ihm lieb wäre. Statt des eigentlich zuständigen „Instituts für Zeitgeschichte“, das abgewinkt hatte, da eine Überprüfung des Buches umfangreiche Forschungsarbeiten voraussetze, zu denen es nicht in der Lage sei, saß die „Gesellschaft für Vorurteilsforschung“ in einer Tagung über den Verfasser zu Gericht.

Die „politisch Korrekten“ hatten Mitte der 60er Jahre erst mit dem „langen Marsch“ durch die Institutionen begonnen. So sollte das Presseecho des in der relevanten Öffentlichkeit boykottierten Buches nicht verwundern (100 positive, 13 neutrale, 15 negative Besprechungen). Manche Mitglieder der Kriegsgeneration, die ein neues berufliches Unterkommen gesucht hatten, waren in Fach-, Verbands- und Kulturzeitschriften oder den Lokalzeitungen untergekommen, um so den Gesinnungs-TÜV der Lizenzpresse zu vermeiden. So kam es zu zwei publizistischen Ligen, der ersten der meinungsbildenden Presse, die sich als Sprachrohr der gesamten Öffentlichkeit gerierte, und der zweiten, die zahlenmäßig gar nicht so klein war, aber zunehmend zur „schweigenden Mehrheit“ gerechnet wurde. Diese zweite publizistische Liga ist mittlerweile fast vollständig wegkommerzialisiert worden.

Mitte der 60er Jahre griffen vor allem Angehörige der Kriegsgeneration zur „Charakterwäsche“. Ihnen war es darum zu tun, die eigenen Erlebnisse in einen größeren historischen Zusammenhang einordnen zu können. Es ging ihnen weniger darum, daß die Siegermächte im Lande das Sagen hatten. Denn die Ereignisse hatten sie zu Realisten gemacht. Womit sie nicht fertig wurden, war das Gefühl, daß sie selbst mit ihren Erinnerungen und Erfahrungen im Interpretationsrahmen der fremden Besatzer und der einheimischen „Mit- und Spätsieger“ (Roman Schnur) ungefragt zu beliebig manipulierbaren Objekten sozialwissenschaftlicher, vor allem sozialpsychologischer, Experimente wurden, zu Meerschweinchen im Dienst der Züchtung „demokratischer Charaktere“. Dabei klaffte ein schwer verständlicher Widerspruch zwischen der auf Menschenrechten gegründeten individualistischen Anthropologie des amerikanischen Liberalismus und kollektiven, dem Einzelnen entzogenen Zuordnungen, die später in der Zugehörigkeit zum „Tätervolk“ gipfelten. Die Briefmarke der Bundespost zu Ehren der „großen Rede“ des Bundespräsidenten von Weizsäcker zum 40. Jahrestag der Kapitulation der deutschen Streitkräfte am 7./9. Mai 1945 hob sein Wort „Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung“ hervor. Doch das Menschenrecht auf die eigene Erinnerung des Einzelnen war in den Menschenrechtskatalogen anscheinend vergessen worden. Wie persönlich das re-education-Thema genommen wurde, zeigte sich etwa, wenn sich Vater und Sohn die „Charakterwäsche“ signieren ließen, da die gemeinsame Lektüre den auch in ihre engere Familie durch Vergangenheitsbewältigung hineingetragenen Generationenkonflikt beendet hatte.

Zur Wirkungsgeschichte der „Charakterwäsche“ zählt, daß der Verfasser einer anderen Generation angehörte als seine ersten Leser. Die sog. Flakhelfergeneration, wenige Jahrgänge der zwischen 1926 und 1929 Geborenen, war die eigentliche „skeptische Generation“ (Helmut Schelsky). Sie hatte persönlich den Niedergang und den Zusammenbruch des Dritten Reiches in dem ihr zugänglichen kleinen Ausschnitt erlebt, ohne an den kollektiven Hoffnungen und Erwartungen der Zeit vor Stalingrad teilgenommen zu haben, falls sie nicht gerade in einem nationalsozialistischen Elternhaus aufgewachsen waren. Wenn der Leser aus der Kriegsgeneration in der Besatzungszeit eine Kriegsfolge sah, so sah der Verf. in ihr den Vorboten eines Kulturwandels, dessen einschneidende Auswirkungen sich erst mit dem Fernerrücken des Krieges zeigen würden. Der Zufall wollte, daß der Verfasser den Paradigmenwechsel der Jahre von 1958 bis zum Bau der Berliner Mauer, als dieser Kulturwandel sozialverbindlich zu werden begann, intensiv erleben konnte. Zwischen 1957 und 1961 hatte er drei Winter in Indien zugebracht. Im Sommer hatte ihn das Schreiben eines Buches über die neuere indische Geschichte seit der Gründung des indischen Nationalkongresses beschäftigt. In deutsche Zeitungen hatte er kaum geblickt. Als er nach Erscheinen des Indien-Buches 1962 den Duisburger Historikertag besuchte, bemerkte er völlig überrascht, daß an die Stelle der Bonner Bundesrepublik, die er 1957 verlassen hatte, eine – nicht im Detail, aber in der Tendenz – neue Republik, die Frankfurter (aber auch Hamburger) Meinungs- und Medienrepublik, getreten war. Die Einzelheiten können in dem von Clemens Albrecht u. a. herausgegebenen Sammelband „Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule“ nachgelesen werden.

Der Paradigmenwechsel des Jahres 1960 griff als fortschreitender Wertewandel um sich. In den verschiedensten Lebensbereichen setzte sich die Auffassung fest, daß „nicht Konflikt und Wandel, sondern Stabilität und Ordnung der pathologische Sonderfall des sozialen Lebens“ (Helmut Schelsky) sei. Einsprüche wurden auf einen latenten deutschen Kulturpessimismus zurückgeführt, der einem angelsächsischen Optimismus gegenüberzustellen und „als politische Gefahr“ (Fritz Stern) auszubuhen sei. Paradigmawechsel und Wertewandel kamen unvorhergesehen und überraschend. Sie hatten jedoch ihre Vorgeschichte, zu der die amerikanische Besatzung zählt. Daß just dieser Zeitabschnitt (1945-1955) aus der Betrachtung ausgespart werden sollte, war merkwürdig und weckte die Neugier.