Kriegsenkel – Eine Generation am Scheideweg

Die Ursache für die linke Hypermoral ist psychologischer Natur: Aufgewachsen in traumatisierten Familien bilden die „Kriegsenkel“ eine Generation von Muttersöhnchen, die ihre Unsicherheit mit aggressivem Konformismus kompensieren. Die Zukunft Deutschlands hängt davon ab, ob sie endlich erwachsen werden.

Der Abstieg der Linken hat viele Gründe. Nicht der unbedeutendste ist ihre Neigung, jeden herausragenden Kopf abzuschlagen und jeden Intellektuellen zu exkommunizieren, dessen Gedanken in der linken Szene Pawlowsche Bell- und Beißreflexe auslösen.

Da die – meist rechte – Opposition wiederum neue und zukunftsweisende Ideen nur so aufsaugt und solchen Denkern ein interessiertes Publikum bietet, gewinnen ihre Diskurse eine Klasse, die der Linken schon lange abhanden gekommen ist. Die geistige Sterilität, der Konformismus und das Denunziantentum links der Mitte sind das folgerichtige Ergebnis eines selbstverschuldeten und sich selbst verstärkenden osmotischen Prozesses: In dessen Verlauf diffundieren Kreativität und intellektuelles Format nach rechts, während Konformismus und geistige Zweitklassigkeit sich auf der Linken derart anreichern, dass sie bereits zum linken Markenkern gehören.

Seelische Trümmerfelder

Raymond Unger, Die Wiedergutmacher, Das Nachkriegstrauma und die Flüchtlingsdebatte, Europa Verlag 2018, 416 Seiten, 24,90 €

Der Berliner Maler Raymond Unger, bisher wohletabliert in linksliberalen Künstlerkreisen, ist eines der jüngsten Opfer der linken Exkommunikationsmechanismen. Nach jahrelanger Beschäftigung mit den seelischen Defiziten der Generation der Kriegsenkel hat er mit seinem Buch „Die Wiedergutmacher – Das Nachkriegstrauma und die Flüchtlingsdebatte“ ein Tabu gebrochen. Nicht das Kriegsenkelthema als solches ist neu, eher schon der Bogen, den er zwischen diesen Defiziten und dem existenzgefährdenden politischen Missmanagement unseres Landes schlägt, in dem gerade diese Generation (etwa die Jahrgänge 1955-1975) die Schaltstellen besetzt. Diesen Zusammenhang hatte bis dahin fast nur Gabriele Baring („Die Deutschen und ihre verletzte Identität“) thematisiert. Mit Unger ist ein Mann hinzugekommen, der aus dem politisch korrekten Juste Milieu stammt, und seit 2018 mit zwei weiteren Büchern zur Lage und Seelenlage der Nation von sich reden gemacht hat: „Vom Verlust der Freiheit“ und „Das Impfbuch“.

Ungers Analyse könnte der Linken zu denken geben, denn in ihrer panischen Flucht vor den eigenen Lebenslügen spielt die Linke der Opposition ein Thema von besonderer Brisanz zu – ein Thema, das Unger überzeugend entfaltet:

Die Inkompetenz der Kriegsenkelgeneration hat etwas mit seelischen Verwüstungen zu tun, die noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammen und an sie nur vererbt wurden. Während die materiellen Schäden nach dem Krieg zügig beseitigt wurden, gleichen viele Seelen immer noch Trümmerfeldern, die erst seit rund zwanzig Jahren vermessen werden:

Bücher wie das von Sabine Bode über „Die vergessene Generation“ und Filme wie der von Andreas Fischer über den „Hamburger Feuersturm 1943“ und seine Nachwirkungen verbreiteten die Erkenntnis, dass Kriegserlebnisse wie Bombardierungen, Vertreibung, Fronterlebnisse, Vergewaltigungen, Gefangenschaft oder politische Verfolgung nicht nur die damals Erwachsenen traumatisierten, sondern auch deren Kinder. Und diese Generation von „Kriegskindern“ gab ihre eigenen unverarbeiteten Traumata ihrerseits an die eigenen Kinder weiter – die Kriegsenkel.

Kriegsenkel haben oft Eltern, deren Weltvertrauen bereits in der Kindheit durch massive Gewalterfahrungen erschüttert wurde, und zu deren prägenden Erfahrungen die Abwesenheit der Väter gehört, die an der Front oder in Gefangenschaft waren und gar nicht oder schwer traumatisiert zurückkehrten. Viele dieser Kinder wurden von ihren überforderten Müttern in eine Verantwortung gezwungen, der sie nicht gewachsen sein konnten. Lebenstüchtig wurden viele von ihnen durchaus, aber um einen Preis, den wiederum ihre eigenen Kinder zu bezahlen hatten.

Die Kriegsenkel

Die verdrängten, nie geheilten frühen Verletzungen machten viele dieser Eltern unfähig, zu ihren Kindern emotional offene Beziehungen aufzubauen. Manche jungen Väter flüchteten in die Arbeit, in Hobbys, in Liebschaften oder in den Alkohol, nur weg von der Familie. Mütter suchten unbewusst bei ihren Kindern die Zuwendung, die sie von den Eltern nicht bekommen hatten und vom Partner nicht bekamen. Folgerichtig stiegen Anzahl wie Quote der Ehescheidungen von 1960 an bis in die frühen 2000er Jahre hinein rapide an und sinken erst seit etwas mehr als zehn Jahren wieder.

Was unter diesen Umständen heranwuchs, war eine zutiefst verunsicherte Generation. Sie hatte Mühe, sich aus der ungesunden Abhängigkeit von Müttern zu lösen, die ihnen auf einer subtilen, unbewussten Ebene die Botschaft vermittelt hatten: „Du, Kind, bist für mein Glück verantwortlich.“ Der moderne Habitus dieser Elterngeneration war oft nur ein dünner Firnis, der aber die Manipulation undurchschaubar machte und die Kinder in der ihnen zugedachten Rolle festhielt.

Dass viele Eltern dieser Generation auch noch die Bindung ihrer Kinder an die Großeltern, überhaupt die Herkunftsfamilie und sogar das eigene Volk untergruben, hatte wenig mit „Vergangenheitsbewältigung“ zu tun, wie der Achtundsechziger-Mythos heute noch glauben machen will. Die Kinder sollten vielmehr für ihre Eltern – und nur für die Eltern! – da sein, speziell für die Mütter, von denen manche ihren natürlichen Konkurrenzvorteil dazu missbrauchten, den Vater aus der Familie zu drängen, um die Kinder für sich allein zu haben.

So wuchsen die Kriegsenkel heran – nicht alle, aber viele: Verstrickt in ein System von Doppelbindungen („Du darfst tun, was du willst; du musst tun, was ich will; du darfst nicht leugnen, dass beides dasselbe ist!“), ausgestattet mit einer ihnen aufgedrängten fiktiven Autonomie, ohne eine Vorstellung davon, was ein gelungenes Leben sein könnte, weil ihre Eltern selbst keines gelebt hatten, und ohne ihren eigenen Willen von dem ihrer Mütter unterscheiden zu können. Sie stolperten in ein Leben hinaus, das sich nicht selten durch häufigen Berufswechsel, Alkohol- und Drogenprobleme, prekäre finanzielle Verhältnisse, wechselnde (Ehe-)Partner und problematische Beziehungen zu ihren eigenen Kindern auszeichnete. Und durch eine politische Ideologie, die all dies schönredete.

Generation Nice Guy

Auch politisch waren und blieben die Kriegsenkel nämlich fremdgesteuerte Stellvertreter ihrer Elterngeneration, der Kriegskinder, zu der auch die in den 1940er Jahren geborenen Achtundsechziger gehörten. Von ihnen übernahmen sie die Themen, die Ideologie, auch die selbstheroisierenden Mythen. Der „Kampf gegen Rechts“, also gegen imaginäre Nazis, ist ein Kampf, den die heute Fünfzigjährigen sich als vermeintlich eigene Angelegenheit unterjubeln ließen, obwohl es sich um einen Krieg ihrer Eltern gegen die Großeltern handelte.

Wer sich die Physiognomien typischer Vertreter dieser Generation ansieht – in willkürlicher, beliebig fortsetzbarer Aufzählung etwa Christian Wulff, Johannes B. Kerner, Gerhard Delling, Peter Altmaier – erkennt unschwer das eigentümlich „Nette“, Weiche, Unreife und Unmännliche dieser Generation. Es sind brave Bubis, die ihrer Mama gefallen wollen. Dass manche von ihnen ihre Kanzlerin ausgerechnet „Mutti“ nennen, ist mehr als ein sprechendes Detail.

Diejenigen Kriegsenkel, die Karriere gemacht haben und die Geschicke unseres Landes kontrollieren, sind – entgegen dem Anschein – nicht etwa der Antityp zu den in ihrer Generation so häufigen Studienabbrechern und gescheiterten Existenzen. Sie sind selbst Gescheiterte, und dies nicht nur bei dem Versuch, stabile Familien zu gründen. Die innere Verunsicherung, die für ihre ganze Generation charakteristisch ist, kompensieren sie durch einen Konformismus von grotesken Ausmaßen, der sie unfähig macht, eine vom Mainstream abweichende Meinung zu tolerieren, geschweige denn zu erwägen. Sie sind demokratieunfähig. Sie können sich von der Masse selbst dann nicht lösen, wenn die offenkundig auf Katastrophen zusteuert: Mit einer solchen Mentalität kann man persönlich aufsteigen, aber kein Land führen. Es ist die Tragik der Zweiten Republik, dass gerade solche Menschen in ihren Institutionen Karriere machen. Ihre eigene Psyche haben sie mit Ach und Krach stabilisiert – allerdings um den Preis der Destabilisierung des Landes.

Dabei gibt es durchaus Kriegsenkel, die sich mit ihren Lebenslügen (und denen ihrer Eltern) auseinandersetzen und das Erwachsenwerden nachholen – als Vierzig-, Fünfzig- oder sogar Sechzigjährige haben sie jetzt die letzte Chance dazu. Es sind sogar so viele, dass man sie getrost eine Bewegung nennen kann.

Unglücklicherweise droht ein Teil dieser Bewegung jedoch dem Sirenenklang einer trügerischen Selbstheroisierung zu folgen. Der Tenor geht etwa so: „Ja, man hat uns Hypotheken auferlegt, ja, viele von uns sind in ihrem persönlichen Leben daran fast gescheitert, ja, wir haben einen schmerzhaften Prozess der Selbsterkenntnis hinter uns. Aber gerade dies hat uns zu Bannerträgern einer künftigen besseren Welt und unser Land mit seiner Willkommenskultur zum Vorbild für die Menschheit heranreifen lassen.“

Es versteht sich, dass diese Denkfigur erst ab der Grenzöffnung 2015 aufkam und popularisiert wurde. Verständlich, dass manche der Verlockung erlagen, den Verwüstungen in ihren Seelen nachträglich einen quasi religiösen Sinn zu verleihen. Mit Selbsterkenntnis, mit der Erringung von Autonomie, mit Erwachsenwerden aber hat dieses Schönreden der eigenen Komplexe gerade nichts zu tun. Ganz im Gegenteil: Was als gesunde Aufklärung über die eigenen verborgenen Handlungsmotive begann, mündet auch diese Art und Weise erneut in eine entfremdete Selbststilisierung, die einen gerade außerstande setzt, die Pathologien zu durchschauen, an denen die Gesellschaft genauso krankt wie man selbst.

Die politischen Themen, entlang denen die Front zwischen Establishment und Opposition verläuft, gewinnen an Klarheit und Tiefenschärfe, wenn man die ihnen zugrundeliegende Psychologie einer verstörten Generation berücksichtigt. Diese Generation steht an einem Scheideweg, von dem möglicherweise die Zukunft der Nation abhängt.

 

[Dieser Artikel erschien erstmals in Compact 02/2019; er wurde für die Neuveröffentlichung geringfügig überarbeitet.]