Ernst von Salomon: „Der Fragebogen“ – Rezension

Mancher kennt Ernst von Salomons Roman „Der Fragebogen“ wenigstens vage und dem Titel nach. Fragebogen? Ja, da war mal was. Stand irgendwann mal auf einer Liste deutscher Nachkriegsliteratur, die uns in der elften Klasse ausgeteilt wurde. Haben wir in der Schule sonst irgendetwas darüber gehört? Ich erinnere mich nicht. Vielleicht hat irgendwann eine Mitschülerin, die mit dem Thema nichts anfangen und deshalb das Buch nicht verstehen konnte, eines jener grausigen Schülerreferate gehalten, bei denen man nach 20 Sekunden abschaltet, aber genau weiß ich es nicht mehr. Die Böllschen Langweiler waren ja viel wichtiger.

Und so bin ich erst jetzt auf das Buch gestoßen, das in den fünfziger Jahren – völlig zu Recht – ein Bestseller war: Es ist exzellent geschrieben, es enthält kein überflüssiges Wort, dafür an vielen Stellen einen gewissen federnden Sarkasmus, mit dem der Autor nicht zuletzt sich selber auf die Schippe nimmt. Vor allem aber ist es einfach ein Leseabenteuer; es erzählt die Geschichte der Jahre ab ungefähr 1920 bis 1946 ohne den volkspädagogisch erhobenen Zeigefinger, mit dem andere Werke nichts erklären, nur sich selbst und ihren jeweiligen Autor unerträglich machen. (Wer war nochmal dieser Böll? Richtig, das ist der, dessen Bücher niemand mehr liest, seit er tot ist, und wenn nicht passenderweise die Grünen ihre Parteistiftung nach diesem Paradegutmenschen der siebziger und achtziger Jahre benannt hätten, hätte niemand Anlass, seinen Namen überhaupt noch in den Mund zu nehmen. Marcel Reich-Ranicki nannte ihn einmal „eine Notlösung“; weil erstklassige Schriftsteller sich nicht als Propagandaschreiber hergeben wollten, griff man auf zweitklassige zurück und überschüttete sie mit Lob bis hin zu Nobelpreisen für Literatur, auf dass nur ja niemand ihre Erstklassigkeit anzweifle.)

Von Salomon gehörte zu den erstklassigen. Der Fragebogen, von dem der Roman handelt, ist jener, mit dessen Hilfe die amerikanische Militärregierung nach dem Krieg Deutschland entnazifizieren wollte. 133 hochnotpeinliche Fragen, die den Betroffenen, egal wie er sie beantwortete, zum Kotau zwangen. Es gab dafür durchaus ein historisches Vorbild: Wie Sebastian Haffner in seiner „Geschichte eines Deutschen“ berichtet, musste sein Vater, ein in Ehren ergrauter preußischer Beamter, nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten einen ähnlichen Fragebogen ausfüllen, und konnte die Erniedrigung für den kurzen Rest seines Lebens nicht verwinden.

Überhaupt schienen die alliierten Besatzungsmächte sich bei ihrer Revolution von oben – es ging ja um nicht weniger als die Umerziehung eines ganzen Volkes, möglichst unter Ausschaltung der Führungsschichten – die Politik der Nationalsozialisten ab 1933 zum Vorbild genommen zu haben. Die von Salomon geschilderten Zustände in den amerikanischen Konzentrationslagern, die man deshalb auch so nennen darf, unterschieden sich bis in die Einzelheiten hinein nicht wesentlich von denen, die aus Dachau und Buchenwald geschildert (und den dort hinbeorderten Schülergruppen stets als Beweis für den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus präsentiert) wurden und werden. (Sie entsprechen auch dem, was wir über das französische KZ Algenrodt erfahren haben, über das ich Anfang dieses Jahres schrieb.) Um es kurz zu machen, bestand der Lageralltag aus Hunger, Prügeln und Erniedrigung. Halt – einen Unterschied gab es schon: Die Nazis hatten wenigstens darauf geachtet, ihre wirklichen Gegner zu inhaftieren; wer aber in das Räderwerk der amerikanischen Menschenjagd geriet, ob Nazi oder nicht, der verblieb dort erst einmal. Von Salomon zum Beispiel wurde nach über einem Jahr (!) als „irrtümlich Verhafteter“ entlassen.

Ich war einfach in die Maschinerie hineingeraten, und nun war ich drin. Das ging mir nicht allein so. Eines Tages fuhren Lastwagen vor, und es wurden Internierte abgeladen, etwa zweihundert Mann. Wir fragten sie, sie waren alle aus Landshut und Umgebung. Sie sagten, sie wüßten den Grund ihrer Verhaftung nicht. Wir fragten sie, ob sie in der Partei waren, sie sagten nein, wir fragten, jeden einzeln, was sie von Beruf wären, ob sie in der Wehrmacht waren, – der eine war Arzt, der andere Apotheker, der dritte Zahlmeister, einer war nichts, gar nichts, beim Militär war er Stabsgefreiter. Kodak fand des Rätsels Lösung. (…) Just war von der Anklage in Nürnberg die Forderung erhoben worden, den deutschen Generalstab als Verbrecherorganisation zu erklären. Daraufhin hatte der Landshuter Resident-Officer sich die Fragebogen vorgenommen und alles, was die Bezeichnung „Stab“ vor seinem Range führte, verhaften lassen: Stabsärzte, Stabsapotheker, Stabszahlmeister, Stabsintendanten, Stabsgefreite! (…) Nach fünf Tagen stellte sich der kleine Irrtum heraus, aber sie saßen nun einmal, und sie blieben sitzen.

Warum schreibt Manfred das, wird jetzt vielleicht manch einer fragen. Will er krampfhaft einen Phantomschmerz herbeireden, indem er in dieser längst vergessenen Geschichte wühlt? Will er die unsägliche Phrase vom „Tätervolk“ mit einer ebenso haarsträubenden vom „Opfervolk“ kontern? Geht es ihm darum, die Amerikaner schlechtzumachen, die doch, nehmt alles nur in allem, mit dem geschlagenen Deutschland relativ glimpflich umgegangen sind?

Auch wenn man über die Frage, wie „glimpflich“ dieser Umgang wirklich war, trefflich debattieren könnte, und auch wenn die USA bis heute in Abu Ghreib, Guantanamo und anderswo genau die Politik praktizieren, die sie auch schon in Deutschland praktiziert haben, die Frage also durchaus aktuell ist – das ist nicht der Punkt, um den es mir geht.

Es geht darum, dass diese „längst vergessene Geschichte“ unsere Geschichte ist, und dass an die Stelle der vergessenen – oder vielmehr zu vergessenden und daher totgeschwiegenen – Geschichte eine andere getreten ist, die vielleicht nicht in jedem Punkt gelogen sein mag, aber aus einer Perspektive und von einem Interessenstandpunkt erzählt wird, der mit dem deutschen wenig zu tun hat. Übertragen auf eine Einzelperson ist es ungefähr so, als wäre der Inhalt ihres Gedächtnisses gelöscht und durch eine Fremderzählung ersetzt worden, die der arme solchermaßen manipulierte Mensch nunmehr für seine eigene zu halten gezwungen ist, um überhaupt noch so etwas wie ein „Gedächtnis“ zu haben.

Gerade deshalb ist Salomons Buch so wichtig. Es handelt nicht etwa nur von den amerikanischen Lagern, es ist ein Geschichtsbuch der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre, in dem allerhand zur Sprache kommt, was in der offiziösen Geschichtsschreibung weggelassen oder als Fußnote behandelt wird, zum Beispiel die Geschichte der Landvolkbewegung, jener Selbstverteidigungsbewegung schleswig-holsteinischer Bauern Anfang der dreißiger Jahre. Ein Geschichtsbuch freilich – und das macht es so angenehm zu lesen -, das uns keine Antworten liefert, schon gar nicht ideologisch vorgestanzte Antworten im Stil des etablierten Geschichtskatechismus; es liefert Material, das es überhaupt erst ermöglicht, sinnvolle Fragen zu formulieren, und das ist schon weitaus mehr, als der etablierte Diskurs zu liefern vermag. Wer kennt nicht jenes merkwürdige Gefühl von geistiger Leere, das sich einstellt, wenn man das Phänomen „Nationalsozialismus“ auf der Basis der etablierten Prämissen zu erklären versucht? Ich selbst habe es in Jahrzehnten nicht geschafft, und heute weiß ich auch, warum: weil man auf der Basis von Ideologien, die im Grunde gar nicht erst beanspruchen, die Welt zu erklären, sondern ihr vorschreiben wollen, wie sie zu sein hat, naturgemäß nichts erklären kann. Die Ideologien, auf denen die BRD basiert, und die sie deshalb für sakrosankt erklärt, gehören zu denen, an denen die Weimarer Republik gescheitert ist.

Von Salomon, der 1922 an der Ermordung Walter Rathenaus beteiligt gewesen war und deshalb mehrere Jahre im Zuchthaus verbracht hatte, gehörte damals zum Umfeld der konservativen Revolution; sozusagen der ideale Standort für einen, der über diese Zeit berichtet: kein Nazi, kein Kommunist, nicht in der Reichswehr, aber nahe genug an allen dran, um sinnvoll davon erzählen zu können.

Am faszinierendsten finde ich, wie er den Zeitgeist der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre einfängt. Dass die Republik gescheitert war, gescheitert an der Unfähigkeit ihrer Eliten, lag damals schon vor aller Augen, und die intellektuelle Berliner Szene sprudelte nur so von Ideen, was ihr nachfolgen sollte. Die Nationalsozialisten waren in allen diesen Debatten die großen Abwesenden. Sie interessierten sich nicht dafür, sie versuchten niemanden zu überzeugen. Wovon auch? So etwas wie eine politische Philosophie, ein „System“, ein Ordnungsideal hatten sie nicht, auch wenn sie bisweilen so taten, als hätten sie eins. Als sie tatsächlich an die Macht kamen, war ihr System eines der permanenten Improvisation, bei dem oft mehrere nationalsozialistische Dienststellen in einer Art bürokratischem Darwinismus miteinander um Kompetenzen und die Gunst des Führers konkurrierten. Die Nazis nannten sich „Bewegung“, und eines ihrer Lieblingswörter war „Dynamik“; sofern der Nationalsozialismus überhaupt einen definierbaren Inhalt hatte, lag er in der Entfesselung aller Kräfte der Nation, und in der Beseitigung aller hemmenden Strukturen, notfalls auch derjenigen, die die Nazis selbst erst geschaffen hatten. Es ging ihnen darum, die Dinge in Fluss zu bringen, und wie das bei Flüssigkeiten so ist: Ihnen fehlt die Struktur.

Es ist dieser Aspekt, der für Konservative wie Salomon, aber auch Ernst Jünger und Andere, so abstoßend war und sie in eine Art politischer splendid isolation trieb. Von einem konservativen Standpunkt sind die Skrupellosigkeit und die Verbrechen der Nationalsozialisten leicht zu erklären, nämlich als logische Folge der „linken “ Züge des Nationalsozialismus: der Mobilisierung großer Volksmassen, der systematischen Zerstörung hergebrachter Strukturen, der Unterordnung staatlicher Autorität unter die Imperative einer Volksbewegung, der Auflösung von Staatlichkeit in einem Kompetenzenbrei. Die Auflösung der Strukturen, die immer auch ein Moment von Machtbegrenzung in sich getragen hatten, musste zwangsläufig totalitär wirken. Der totalitäre Staat ist, wie Salomon richtig feststellt, nicht die etwas radikalere Variante eines autoritären Staates, sondern dessen Gegenteil. Man glaubt dem Autor deshalb auch ohne Weiteres, dass er nie in Versuchung war, Nationalsozialist zu werden.

An diesem Punkt stellt sich aber auch eine der beunruhigenden Fragen, die das Buch aufwirft:

Warum hat Hitler sich durchgesetzt, und warum sind die Konservativen, die seiner Herr zu werden versuchten, allesamt gescheitert? Schleicher, der ihn verhindern, Papen, der ihn „einrahmen“, Schmitt, der ihn auf Ordnungsgefüge festlegen, Stauffenberg, der ihn umbringen wollte?

Die banalste Antwort (die aber deswegen nicht falsch ist), lautet, dass Hitler eine Massenbewegung hinter sich hatte, während Konservative bereits das Wort „Masse“ kaum anders als mit aristokratischem Naserümpfen auszusprechen vermögen. Die subtilere Antwort lautet, dass Konservatismus grundsätzlich und vom Ansatz her ungeeignet ist, so etwas wie eine Zukunftsvision (womöglich gar eine Utopie – igitt!!!) hervorzubringen. Genuiner Konservatismus verteidigt, was die Geschichte hervorgebracht hat; er greift dem Wirken Gottes nicht vor. Das gibt ihm seine Stärke und Würde, macht ihn aber etwas hilflos in einer Situation, in der die Szene von Revolutionären beherrscht wird, die Fakten schaffen, ohne zu diskutieren.

Die Frage ist keineswegs nur von historischem Interesse. Es geht um die höchst drängende und aktuelle Frage, wie man als Konservativer mit einer Republik ohne Republikaner umgeht. Die Weimarer Republik war eine solche, die heutige ist es auch. Die freiheitliche Demokratie ist ein sehr anspruchsvolles politisches Konzept: Sie lebt davon, dass die Auseinandersetzung zwischen Links und Rechts scharf genug ist, eine wirkliche Wahl zwischen Alternativen zu bieten; zugleich aber darf diese Auseinandersetzung nicht so scharf sein, dass der Konsens über die Spielregeln dabei verlorengeht.

Eben dies beobachten wir aber in dieser späten BRD. Es gibt zwischen den nennenswerten politischen Kräften zwar einen Konsens, aber gerade nicht einen Konsens, die Grundlagen des Gemeinwesens zu bewahren, sondern sie zu untergraben; es gibt einen Konsens über die Auflösung von Strukturen, einschließlich der Staatlichkeit, und es gibt einen Konsens, das auf diesem Wege selbstgeschaffene Chaos durch einen schleichenden Totalitarismus zu bändigen. Unter diesen Umständen sind die bestenfalls ein paar hundert konservativen Intellektuellen, die auf die Bewahrung machtbegrenzender Strukturen pochen, die letzten Republikaner, die es in dieser Republik noch gibt.

So beunruhigend die Diagnose sein mag, sie sei wenigstens zur Diskussion gestellt: Kann es sein, dass die liberale Demokratie spätestens in dem Moment, wo ihr inneres Gleichgewicht zerstört ist, ganz von selbst und mit schicksalhafter Zwangsläufigkeit zum Totalitarismus tendiert, und dass die möglichen Alternativen, die sie auf den Plan ruft, ihrerseits totalitär sein müssen? Dass Hitler sich deshalb durchsetzt, weil sein totalitäres, „linkes“ Politikkonzept das modernere war? Dass die Moderne selbst die Dinge über kurz oder lang zwangsläufig so in Bewegung bringt, dass ein im strengen Sinne konservatives Konzept gar keine realistische Option ist? Dass uns am Ende also nur die Wahl zwischen verschiedenen Totalitarismen bleibt, wenn überhaupt eine?

35 Gedanken zu „Ernst von Salomon: „Der Fragebogen“ – Rezension“

  1. „Unter diesen Umständen sind die bestenfalls ein paar hundert konservativen Intellektuellen, die auf die Bewahrung machtbegrenzender Strukturen pochen, die letzten Republikaner, die es in dieser Republik noch gibt.“

    Ganz genau! Und deswegen werden wir auch ständig unter den Verdacht gestellt, „Extremisten“, „Antidemokraten“ und „Verfassungsfeinde“ etc. zu sein.

  2. @ Bonifaz

    Salomon war zu diesem Zeitpunkt alles andere als ein „ordnungsliebender, skrupelbeladener Konservativer“, sondern ein sher junger und heißblütiger Nationalrevolutionär und Freikorpskämpfer.

    • Die Aussage „Man glaubt dem Autor deshalb auch ohne Weiteres, dass er nie in Versuchung war, Nationalsozialist zu werden“ ist schwer nachzuvollziehen, wenn der Autor selber erst wenige Jahre zuvor in die terroristische Vorhut ebendieser anarchisch-antisemitschen Massenbewegung verwickelt war.

  3. Auch ich habe das Buch vor ca. einem Jahr für mich entdeckt und es mit großem Interesse und Erkenntnisgewinn gelesen. Es ist immer hilfreicher die Berichte von Zeitgenossen zu lesen als die Betrachtungen von mehr oder weniger seriösen Historikern, die sich anmaßen, über zurückliegende Geschehnisse aus heutiger Betrachtungsweise zu urteilen.
    Deshalb meine weitergehende Empfehlung: Wer sich ernsthaft für neuere Geschichte interessiert, der soll auf die zahlreichen vorliegenden Berichte von den Leuten zugreifen, die das, worüber sie schreiben, selbst erlebt haben. Das bedeutet natürlich nicht, solche Berichte etc. unkritisch zu lesen. Doch bringt es allemal mehr Erkenntnisse und trägt viel zum Verständnis bei, als es neue Publikationen je zun könnten.

  4. „Dass die Moderne selbst die Dinge über kurz oder lang zwangsläufig so in Bewegung bringt, dass ein im strengen Sinne konservatives Konzept gar keine realistische Option ist? Dass uns am Ende also nur die Wahl zwischen verschiedenen Totalitarismen bleibt, wenn überhaupt eine?“

    Das hieße doch, sich dem Zeitgeist zu opfern. Gerade das aber ist im persönlichen eben nicht „alternativlos“.

    Aber möglicherweise war ja Hitler damals „alternativlos“? Er machte Wahlversprechen, hat sie teilweise erfüllt, und den Preis zahlten dann millionen von Toten und spätere Generationen. Die Alternativen dazu? Emigration oder Widerstand.

    Und heute? Wahlversprechen ohne Ende, schon kurz nach dem Krieg. Steigende Renten, Arbeit und Urlaub für alle, Eigenheim, Luxus usw. bis Energiesparen für alle. Bis die Kassen leer sind und Schulden bis zum abwinken. Nun heißt es wieder „alternativlos“. Atomausstieg, Euro, Libyen…

    Früher mußten Produkte gut sein und überzeugen, der „Markt“ regelte das. Heute wird die Glühbirne verboten, basta, Energiesparlampen sind schlecht aber alternativlos oder man nimmt Kerzen.

    Haben wir eine Wahl? Nur wenn es Alternativen gibt.

  5. Nein, Manfred, die Demokratie müsste nicht scheitern – wenn man sie an die Moderne anpassen würde.
    Das Problem der heutigen Demokratie ist, dass sie gegen Ende des 18./ erste Hälfte des 19.Jahrhunderts entstand und somit auf längst überholten Prämissen beruht.
    Zunächst einmal verorten die heutigen Demokratietheoretiker, Politologen und Verfassungsrechtler die Entscheidungs- und Machtprozesse an der falschen Stelle. Man geht davon aus, dass diese sich im staatlichen System abspielen, im Parlament und allenfalls noch in den oberen Bereichen der Exekutive und Judikative. Das mag auch im Jahr 1820 so gewesen sein – als politischen Parteien im heutigen Sinne nicht existierten, der Staatsapparat schlank, der Staat auf Kernfunktionen wie Verteidigung und Sicherheit beschränkt war; als in den Parlamenten noch wohlhabende und gediegene Honoratoren saßen – die sich einen Rücktritt oder eine Wahlniederlage sozial und finanziell leisten konnten – statt Berufspolitikern, die ihren Spendern und Parteien knechtisch ergeben sind; als es noch keine MASSENMEDIEN gab. Heute hingegen sind Parlamente Makulatur. Die relevanten Entscheidungen fallen außerhalb, in den Medien, den politischen Parteien und den wuchernden trans- und internationalen Organisationen. Und diese Einrichtungen sind der Mitbestimmung durch die Mehrheitsbevölkerung nicht zugänglich,
    was nicht zuletzt an dem ebenfalls überholten Charakter demokratischer Grund- und Bürgerrechte liegt. Diese sind als Abwehrrechte konstruiert, aus den Erfahrungen des Absolutismus heraus, als das Hauptproblem darin bestand, König und Kirche an Übergriffen zu hindern. Heute hingegen verhindern sie, dass gegen die neuen Despoten in den Medien (Meinungs- und Pressefreiheit) und den Parteien (Versammlungsfreiheit) vorgegangen wird.

    Eine in der heutigen Gesellschaft lebensfähige Demokratie müsste demokratische Mitbestimmung, checks n balances nicht nur auf Bereiche außerhalb des politischen Apparats ausdehnen, sondern sich gerade auf die Kontrolle DIESER Bereiche KONZENTRIEREN. Und sie bräuchte ein neues Rechtsverständnis, dass die Pflichten des Individuums gegenüber der Gemeinschaft in den Vordergrund stellt.

    • Wenn Du das demokratietheoretische Problem, dass die öffentliche Sphäre, die Politik, von (niemandem verantwortlichen) Privaten kontrolliert wird, dadurch zu lösen versuchst, dass Du diese Privaten ihrerseits einer öffentlichen, meinetwegen demokratischen Kontrolle unterwirfst, dann ist das das Rezept für einen totalitären Staat.

  6. @Melmoth. Selbstverständlich sind Demokratien auch heutzutage auf dem Papier möglich. Aber das war wohl nicht Frage.

    Ich stelle mir ja dieselben Fragen.

    Knüpfen wir doch da an, denn wo sollte man sonst anknüpfen? Sagen wir, wir haben etwas auf dem Papier, das ersichtlicherweise unsere größten Probleme lösen würde.

    Das muß und soll auch keineswegs eine Utopie sein. Konkrete Maßnahmen, konkrete Verbesserungen der heutigen Mißstände.

    Gibt es eine Chance, die in Recht umzusetzen?

    Ich sehe da nur zwei Wege, auf welchen das gelingen kann.

    1. Subversion. Das Einverständnis einer Gruppe sie für sich zum Recht zu machen, selbst wenn es auf staatlicher Ebene illegal ist.

    2. Wahlerfolg einer entsprechenden Partei.

    Natürlich wird man nicht dieselben Dinge zum Recht erheben wollen, wenn man sich für 1. entscheidet und in gewisser Weise ist das ja auch nicht ganz das, wonach wir hier suchen.

    Bleibt dann aber nur 2. Ich will mal nicht zu pessimistisch sein. Was für diese Variante spricht: Es ist noch nie versucht worden. Wenn man das wirklich sinnvoll im Detail ausarbeitet und moderne Mittel der Verbreitung dieser Vorschläge verwendet, kann man womöglich Erfolg haben.

    Eine solche Partei müßte Reformpartei oder so heißen und sie müßte einen eher apolitischen, technizistischen Charakter haben.

    Sie müßte sich auch bewußt beschränken und nicht versuchen, auf jede Frage eine Antwort zu formulieren, also im Klartext, da machen wir das, was immer unser Koalitionspartner will.

    Stellte sich die Frage, ob man unwichtige, aber populäre Reformvorschläge aufnimmt. Ich würde dagegen plädieren. Beschränkung auf das Allerwesentlichste und so die Bundestagswahl de facto zu einer Volksabstimmung über die angestrebten Gesetze machen.

    Es hängt, denke ich, wirklich davon ab, ob man dort Gesetze findet, welche nicht als Richtungsentscheidungen, sondern als Reparaturen wahrgenommen werden und auch so wirken.

    Ich gebe aber folgendes zu bedenken: Es muß jedem auch nur halbwegs intelligenten Menschen klar sein, daß er nicht einen Bruchteil der Probleme hätte, welche er hat, wenn er selbst über Gesetze abstimmte, anstatt der Parteien. Und dennoch gibt es eine wahrhaft bescheuerte Ablehnung der direkten Demokratie auch unter solchen Menschen, welche von ihr ausschließlich profitieren würden.

    Wie erzieht man Kinder? Macht man alles für sie oder läßt man sie auch mal selbst was versuchen? Und wenn man ersteres tut, was passiert dann?

    Das weiß doch jeder, die meisten sogar aus eigener Erfahrung!

    Und dennoch…

    Übrigens ist ja in einer direkten Demokratie scheinbar alles im Fluß, aber durchaus nur scheinbar, denn die Mehrheit der Menschen will Strukturen und wenn sie sich selbst dafür verantwortlich fühlt, schafft sie auch welche.

    Die Angst vor ihr auf republikanischer Seite speist sich daraus, daß man das Verhalten eines Menschen, welcher weiß, daß er eh nur beschissen wird und also versucht mit allen nur möglichen Tricks das Beste für sich herauszuschlagen, mit dem Verhalten eines Menschen, welcher sich seiner Verantwortung als Gesetzesgeber bewußt ist, verwechselt. Der Mensch wächst an seinen Aufgaben. Oder eben umgekehrt.

    Und das ist im KERN das, was uns heute begegnet, den Trend zur Schrumpfung des Menschen aufgrund sich stets verkleinernder Verantwortung (was natürlich ein Teufelskreis ist, denn ja kleiner der Mensch, desto weniger Verantwortung darf man ihm auch nur überlassen.)

    Dieses läuft zwangsläufig auf eine Tyrannei hinaus, ja.

    Der Erfolg hängt davon ab, diesen Trend umzukehren. Wenn sich niemand verantwortlich fühlt, wird auch niemand eine Reformpartei wählen oder gleich für die direkte Demokratie auf die Straße gehen.

    Die Prämisse der Tyrannei ist: Ich kann niemandem vertrauen. Der Tyrann ist der einzige, welcher das Gleichgewicht der Kräfte aufrecht erhalten kann.

    Ich habe davon geschrieben vor längerer Zeit. Natürlich kann kein einziger Mensch so entsetzlich sein, daß jeder vor ihm Angst hat, aber ein einziger Mensch kann ein so geschickter Händler sein, daß man es niemandem sonst zutraut, einen Deal auszuhandeln, bei welchem alle verhältnismäßig gut weg kommen.

    Das, und nichts anderes, ist eine Tyrannei. (Regeln gibt es nicht, denn sie setzten Vertrauen voraus.)

    Wodurch kann man also den Menschen Verantwortung zurückgeben? Oder sie dazu bringen, die Verantwortung auch auszufüllen, welche sie noch haben?

    In dem Zusammenhang, und nur in dem Zusammenhang, ist auch der höchst fragwürdige staatliche Einsatz für die Gurtpflicht zu sehen, daß man jedes Mal, wenn man ins Auto einsteigt, unterschreibt, daß man nicht selbst für seine körperliche Unversehrtheit verantwortlich ist, sondern der Staat und man selbst nur verantwortlich dafür ist, dem Staat zu gehorchen.

    Ist das zwangsläufig modern?

    Wenn man das bejaht, sitzt man sehr schnell mit dem Unabomber in einem Boot.

    Ich würde darum bitten, es anders zu versuchen. Durch Umkehrung dieses Trends, oder, wenn das nicht gehen sollte, durch Subversion.

  7. Einige Gedanken zu Aussagen des Artikels

    „…dass Konservatismus grundsätzlich und vom Ansatz her ungeeignet ist, so etwas wie eine Zukunftsvision (womöglich gar eine Utopie …) hervorzubringen.“

    Scheint nicht die konservative Vorstellung eines tätigen Daseins in Frieden unter seinesgleichen und ohne staatliche Eingriffe in das Naturrecht erleiden zu müssen angesichts der heutigen Realität schon etwas Utopisches zu sein? – Wenn damit jedoch nur eine Wiederherstellung vergangener Zeiten gemeint wäre, dann wäre dies mehr als reaktionär, es wäre bloße Illusion, da sich die Vergangenheit nie wiederherstellen läßt.

    „…während Konservative bereits das Wort ‚Masse‘ kaum anders als mit aristokratischem Naserümpfen auszusprechen vermögen.“

    Den Grund dafür, daß der Begriff der „Masse“ negativ besetzt ist, sehe ich darin, daß „Masse“ das Ergebnis der modernen Vernichtung traditioneller Strukturen ist. Wenn der Konservative die individuelle Identität jedes einzelnen Menschen bejaht, da wird dies nicht ohne eine Wiederherstellung vor allem sozialer und religiöser Strukturen möglich sein, innerhalb deren dann der Mensch wieder Heimat findet.

    „Dass uns am Ende also nur die Wahl zwischen verschiedenen Totalitarismen bleibt, wenn überhaupt eine?“

    Wäre der totalitäre Massenstaat alternativlos, dann wäre alles Suchen nach einer Alternative vergebens. Doch der totalitäre Staat wird letztlich immer brüchig bleiben, so denke ich, weil er sich nicht auf (Gott und) die Natur gründet, sondern auf die Willkür modernen Denkens und diese totalitär durchzusetzen sucht, indem er das Leben der Menschen bis ins Einzelne bestimmt; aber dies ist auf die Dauer nicht möglich, weil es die Regierung überfordert(, die sich letztlich an die Stelle Gottes zu setzen sucht).

    „Der totalitäre Staat ist…nicht die etwas radikalere Variante eines autoritären Staates, sondern dessen Gegenteil.“

    Dies scheint mir ein äußerst wichtiger Gedanke zu sein. Gerade der „Masse“ entspricht der totalitäre Staat, denn die Menge von entwurzelten Individuen, herausgerissen aus überlieferten Strukturen, wogt im Wind der veröffentlichten Meinungen hin und her, ohne jemals einen sicheren Standpunkt zu gewinnen. Darum läßt sich mit der „Masse“ auch keine Demokratie verwirklichen, weder eine direkte noch eine indirekte, sondern sie verlangt nach totalitärer Lenkung.

    Eine Demokratie setzt als Staatsform, so denke ich, eine gewisse Überschaubarkeit der Verhältnisse voraus. Darum können demokratische Entscheidungen dort getroffen werden, wo man mit Problemen vertraut ist und einander kennt. Wenn also ein Land mit vielen Millionen Einwohnern nur noch schein-demokratisch regiert werden kann, dann bestünde die Alternative dazu in der Herrschaft einer bestimmten Gruppierung oder eines einzelnen. Eine solche Staatsform wäre autoritärer, weil sie nicht vorgibt, alle Menschen an der Regierung des Landes zu beteiligen. Sie muß deshalb aber nicht totalitär sein. Im Gegenteil. Gerade sie hat die Möglichkeit, den einzelnen wieder in seinem Alltag entscheiden zu lassen, wie er leben will; freie Meinungsäußerung ist aber nicht darauf zu beschränken. Nach dem Subsidiaritätsprinzip könnten die allermeisten Entscheidungen nach „unten“ verlagern“, während sich die Obrigkeit nur die Beantwortung letzter Fragen wie die von Krieg oder Frieden vorbehält. Der Rechtsstaat muß sich an die eigenen Gesetze halten und geschlossene Verträge unbedingt respektieren. – Das Gegenteil erleben wir zur Zeit. Willkür herrscht. Bis in die Einzelheiten hinein wird aus einer Zentrale durch eine aus Demokratien hervorgegangene Oligarchie unser Leben dirigiert, die den Bürger noch nicht einmal mehr darüber selbst entscheiden läßt, wie er sein Zimmer beleuchten will. Schwerste Eingriffe ins Naturrecht sind an der Tagesordnung; z.B. wird das Recht auf Eigentum nicht mehr respektiert, wenn man einem Hausbesitzer vorschreibt, daß er sein Haus zu isolieren hat. Zudem dient der Staat nicht mehr dem Gemeinwohl, wenn er Menschen nach ihrer Herkunft oder wegen ihres Geschlechts bevorzugt, um moderne „Gleichheit“ herzustellen. Stattdessen: Natürliche Ordnung, die auch das Recht auf die eigene kulturelle Geschichte und die Unterscheidbarkeit des einen Volkes vom anderen einschließt.

    Eine konservative Zukunftsvision bestünde aus meiner Sicht darin, die Vorstellung eines am Naturrecht und nach dem Subsidiaritätsprinzip gestalteten Gemeinwesens zu konkretisieren, um seine Verwirklichung in Angriff nehmen zu können. Sollte es unter den momentanen geschichtlichen Bedingungen tatsächlich nicht als Demokratie konstituiert werden können, dann wäre dies zu berücksichtigen und nicht von vornherein aus ideologischen Gründen zu verwerfen.

    Wenn man Utopie als „Nicht-Ort“ versteht, der nur in den mehr oder weniger abwegigen Gedanken menschlichen Geistes vorhanden ist, dann gibt es keine konservative Utopie. Wenn man den „Nicht-Ort“ hingegen als etwas nie völlig Verwirklichtes, in der Moderne jetzt aber fast gänzlich Verschwundenes ansieht, dessen Realisierung in einer zeitgemäßen Form grundsätzlich immer, also auch zukünftig wieder möglich ist, weil dies der (von Gott geschaffenen) Natur entspricht, dann darf man m.E. von einer konservativen Zukunftsvision, ja von einer Utopie sprechen.

    • Eine konservative Zukunftsvision bestünde aus meiner Sicht darin, die Vorstellung eines am Naturrecht und nach dem Subsidiaritätsprinzip gestalteten Gemeinwesens zu konkretisieren, um seine Verwirklichung in Angriff nehmen zu können.

      Schön und gut. Ich sehe nur nicht, wie Du daraus eine massenwirksame Parole machen willst.

      • Kann man durch Gewinnung der „Masse“ eine gesellschaftliche Ordnung herstellen, deren Ziel es ist, die „Masse“ in wiederherzustellende Strukturen zurückzuführen, so daß sie ihren Charakter als „Masse“ verliert und wieder zu einer Menge von durch die jeweilige Umgebung geprägten und dafür verantwortlichen Persönlichkeiten wird? Eher könnte, so denke ich, eine (militärische) Elite eine solche Ordnung herstellen, doch dürfte sie nicht isoliert von der „Masse“ sein, weil sonst das Scheitern vorprogrammiert wäre. Die Verbindung mit der „Masse“ muß m.E. keineswegs politischer Art sein; es wäre natürlich sehr wünschenswert, wenn dies möglich wäre, aber wahrscheinlich würde es die meisten Menschen überfordern. Darum scheint mir die (katholische) Religion eher geeignet, auch wenn sie z.Z. noch so verwüstet ist. Sie impliziert eine Soziallehre und bestimmt damit politische Auffassungen, die einen gesellschaftlichen Konsens ermöglichten. Dadurch könnte eine Ordnung, wie ich sie versucht habe zu skizzieren, hergestellt werden, also so etwas, das die sozialistische Gegenseite als klerikal-faschistisch zu diffamieren pflegt.

        • Eine Anmerkung zu dem, was ich geschrieben habe:
          Wenn ich das Problem einmal nicht unter dem Gesichtspunkt der „Masse“ betrachte, sondern dem des herrschenden vierten Standes, dann ergibt sich eine Alternative zu dem, was ich oben geschrieben habe. – Es ist ja klar, daß eine parlamentarische Demokratie als Form der Herrschaft des dritten Standes (wie im 19. Jahrhundert) nicht mehr dieselbe sein kann wie eine ebensolche Staatsform, in der aber der vierte Stand bestimmend ist; es ist versucht worden, dies Phänomen zu erfassen unter, wenn ich es recht verstehe, dem Begriff der Postdemokratie. Der Staat droht (nach aristotel. Verständnis) zu entarten, sobald die anderen Stände (heute: Lehrstand, Wehrstand, Nährstand) neben dem vorherrschenden nicht mehr ausreichende Berücksichtigung ihrer Interessen finden. Eine Verbesserung der Lage wäre demnach zu erreichen, wenn z.B. Familienbetrieben günstigere Bedingungen eingeräumt würden als (global tätigen) Aktiengesellschaften, Bauern(-Genossenschaften?) bessere als landwirtschaftlichen Großbetrieben; dies in bezug auf den dritten Stand. Statt Massen-Universität die Gelehrtenrepublik; dies in bezug auf den ersten Stand. Statt Bürger in Uniform ein traditionsbewußtes Militärwesen; dies in bezug auf den zweiten Stand. Zur Durchsetzung solcher Ziele (insbesondere hinsichtlich des dritten Standes) könnte auch die politische Linke beitragen, doch nur, wenn sie ihr Ziel der Errichtung einer Diktatur des Proletariats aufgibt, denn eine solche Staatsform erhebt gerade die Beseitigung aller Stände außer dem vierten zum Programm.

  8. „Aber warum schlagen Sie mich nicht tot? Sie müssen doch wissen, daß ich eines Tages, komme ich hier lebend heraus, alle Schweinereien, die hier geschahen, veröffentlichen werde, mit allen Namen!“ Er hatte lächelnd erwidert: „Oh, bis dahin ist keiner von uns mehr bei der Army!“

    Ernst von Salomon,
    Der Fragebogen

  9. „Was bei jedem Versuch mit einem Amerikaner ins Gespräch zu kommen, das Wort in den Mund zurückschlägt, das ist ihre ungeheuerliche Selbstgerechtigkeit. Sie beweisen jeden Augenblick, daß sie gar nichts wissen, aber sie wissen alles besser. Von allen möglichen Maßnahmen wählen sie mit Elan und Sicherheit die schlechtesten.“

    Ernst von Salomon,
    Der Fragebogen
    1951

    „Der Erfinder des historischen Idealismus, Friedrich von Schiller hat einmal festgestellt, daß die Wahrheit in allem nur teilweise steckt, nirgends aber ganz und in ihrer reinen Gestalt vorhanden ist. Um sich ihrer zu bemächtigen, bedarf es einer größtmöglichen Anzahl von Zeugnissen, -die Wahrheit in ihrer reinen Gestalt muß also bestimmt sein durch die Quantität der erfaßten Beziehungen des Geschehnisses. Nun, das ist nichts anderes als das Ergebnis einer Untersuchung, die der Erfinder des historischen Materialismus, Karl Marx, veranstaltet hat, -er fand den Punkt, an dem die Quantität in die Qualität umschlägt. Wenn zwei so verschiedene Geister zu dem gleichen Resultat gelangen, so muß das wohl zu denken geben. Nun gehören beide, Schiller wie Marx, zwar einer Nation an, deren Zeugnisse in der Welt keinen sehr guten Ruf genießen, sie haben die barbaresken Züge eines Volkes, das nun schon seit Tausenden von Jahren hinter den Hügeln lagert und von dem man sich selbst jetzt noch manches gewärtigen muß.
    Aber wenn ich angesichts des Fragebogens den Forderungen des Gewissens zu folgen gehalten bin, dann doch in den Fragen der Wahrheit, und da bietet sich mir in der Tat keine andere Methode an als die von Schiller und Marx.“

    Ernst von Salomon

  10. Ausgesprochen glänzende Rezension von Dir, Manfred.

    Ich hatte das Glück, schon als Jugendlicher in der DDR im Bücherschrank meiner Eltern den Fragebogen zu finden. (Meine Eltern müssen mutig gewesen sein).

    Habe ihn dann später noch mehrfach gelesen, ebenso wie die „Kadetten“ und die „Geächteten“.

    v. Salomon hatte seine Kindheit nur bis 11, dann wurde er praktisch ein „Kindersoldat“ in der Kadettenanstalt Karlsruhe.
    Das hat ihm möglicherweise schwer geschadet, aber nur seelisch, nicht intellektuell.

    Mit 16 war er einevon militärischer Gewalt begeisterte Kampfmaschine (Baltikum, Oberschlesien) und mit 30, nach dem Zuchthaus, ein kultivierter, ziviler, sogar ein bißchen frankophiler, Bürger. Diese Entwicklung hat mich immer fasziniert und ich habe sie mir nie wirklich erklären können.

    Also an Alle: unbedingter Lesebefehl für E. v. Salomon (ausgenommen seine späteren Bücher, die etwas nachlassen.)

    Geonaut

  11. Überraschend, gerade jetzt und heute eine Rezension des „Fragebogens“ zu lesen. Für mich war das Buch vor ein paar Jahren ein absoluter Augenöffner, ein Perspektivwechsler und, ja eine „Einstiegsdroge“. Zuerst für alles, was von Salomon zuvor publiziert hatte und dann für die Gedankenwelt der konservativen Revolution. Ein ausgezeichneter Denker und Schriftsteller, der leider viel zu wenig Beachtung findet.

    Danke und liebe Grüße!

  12. Es ist viel besser, anhand von Berichten von Zeitzeugen sich ein Bild der Geschichte zu machen als von Historikern. Ein solches Buch ist zum Beispiel „Blick durchs Prisma – Lebensgeschichte eines Arztes“ von Wilhelm zur Linden. Er hatte den ersten Weltkrieg mitgemacht, die Revolution von 1918, wurde unter der Regierung Ebert-Scheidemann Mitglied des Freikorps
    unter Lüttwitz gegen die radikalen Kommunisten in Berlin und Leipzig, schlich sich als V-Mann unter Lebensgefahr beim Spartakusbund ein und half die kommunistischen Aufstände niederzuschlagen. Dabei war er kein blinder reaktionärer, adliger Bolschewistenhasser, sondern hatte viel Verständnis für die Anliegen der Arbeiter. Sein Hauptmotiv war zu verhindern, dass Deutschland in Anarchie und Bürgerkrieg abglitt. Er weigerte sich aber, mit den Putschisten unter Ludendorff am Kapp-Putsch teilzunehmen und war ein überzeugter Gegner Hitlers. Nur seine Auszeichnungen im ersten Weltkrieg, seine Mitgliedschaft im Freikorps und seine Freunde in der Armee retteten ihm im zweiten Weltkrieg das Leben vor dem Kriegsgericht. Ein Stelle von ihm in seinem Buch möchte ich hier wiedergeben. Er geht da auf die Rolle von Dr. Frank ein, der als kleiner Rechtsanwalt unter Hitler zum Juristenführer befördert wurde, aber nach einer Rede, als er den Gedanken des Rechtsstaates verteidigt hatte, nach Krakau strafversetzt wurde.

    „An dem Tage, an dem Hitler auf die Rede Franks wutschäumend antwortete, begegnete mir auf der Strasse mein Freund, Dr.jur.Georg Strickrodt, der nach dem Kriege Finanzminister in Hannover war und sagte in großer Erregung zu mir: Merke dir diesen Tag, heute hat Hitler ein Verbrechen begangen, das in Jahrzehnten nicht wieder gut zu machen ist. Er hat nämlich dem deutschen Volk das Rechtsbewußtsein, das in Jahrhunderten gewachsene substantielle Wissen, was Recht und Unrecht ist, zerstört. Mit dem Satz „Recht ist, was dem Volke nützt, den er heute proklamiert hat, kann er nämlich seine Taten
    entschuldigen.“

    Das Buch ist in der ersten Hälfte ein interessanter und authentischer Blick in die jüngste Vergangenheit und erklärt zum Teil die Erfolge Hitlers aufgrund der Mobilisierung der verarmten Arbeiterschaft.

    Meiner Meinung haben heute die etablierten Linken selbst durch die Anwendung doppelter Maßstäbe in Justiz und Bildung (Migrantenbonus), durch die groteske Umkehr der Täter-Opferrollen, durch geförderte Verantwortungslosigkeit zwar nicht ganz das Rechtsbewußtsein zerstört, sondern sich in eine unhaltbare konträre Position zum gewachsenen Rechtsbewußtsein manövriert, aus der sie nicht mehr herauskommen können ohne Gesichtsverlust. Eine denkbare „konservative Revolution“ wird niemals auf die Mobilisierung breiter Wählerschichten setzen können. Sie sollte hier am Rechtsbewußtsein ansetzen und durch Einzelne, die eine offensive Gegenposition vertreten und dies trotz aller Diffamierungen auch durchhalten, getragen werden. Diese Menschen könnten einmal als Avantgarde und Vorbild dienen, wenn…

    …wenn die wenigen hundert Rechtsintellektuellen endlich ihre Angst vor dem Verlust ihrer bürgerlichen Existenz aufgeben würden, sich mutig als Konservative in einem Meer linker bürgerlicher Spießer bekennen würden, das Zerrbild linker Medien durch persönliche Integrität widerlegen würden, das Phlegma und den Defätismus durch Spontanität und Kreativität überwinden
    könnten. Aber wahrscheinlich erwarte ich hier zuviel und bin selbst nicht mutig genug, diesen Schritt zu gehen.

    • Meiner Meinung haben heute die etablierten Linken selbst durch die Anwendung doppelter Maßstäbe in Justiz und Bildung (Migrantenbonus), durch die groteske Umkehr der Täter-Opferrollen, durch geförderte Verantwortungslosigkeit zwar nicht ganz das Rechtsbewußtsein zerstört, sondern sich in eine unhaltbare konträre Position zum gewachsenen Rechtsbewußtsein manövriert, aus der sie nicht mehr herauskommen können ohne Gesichtsverlust.

      ‚Gesichtsverlust‘ vor wem? Wieviele Leute denken über das, was Sie allein im obigen Satz geschrieben haben, denn auch nur nach? Sehen Sie … – auf die paar Wähler können die etablierten Linken gerne verzichten.

  13. @ Fremder:
    Eben. Man muss nicht soweit gehen, Parteien oder Medien ihre Inhalte vorzuschreiben (obwohl fast alle Demokratien dass in mehr oder weniger geringem Ausmaß machen, siehe „Boden der Verfassung“). Aber man kann sehr wohl für mehr Transparenz, Vielfalt und Bürgerbeteiligung sorgen.

    Ich sehe z.B. nicht ein, warum es große Medienkonzerne/Mogule wie etwa Bertelsmann, Berluvsconi oder Murdoch geben sollte. Dass einige wenige Personen oder Firmen die Massenmedien ganzer Nationen und damit die Meinungsbildung kontrollieren, macht jeden Wettstreit der Meinungen (worauf Demokratie letztendlich beruht) zur Farce. Wenn wir bei Kabelherstellern oder Müllentsorgern keine Kartelle dulden, warum dann in dem Bereich, der für das Funktionieren unsere politischen Systems maßgeblich ist?

    Ich sehe auch nicht ein, wieso Ausländer Fernsehsender oder Zeitungen besitzen sollten. Wenn etwa militärisch relevante Industrien von ausländischen Einflüssen freigehalten werden, wieso nicht auch die Medien?

    Auch im Inland sollte bestimmten Gruppen untersagt sein, überhaupt Medienbeteiligungen zu besitzen. Die SPD etwa kontrolliert – wovon die meisten Deutschen nie gehört haben – seit Jahrzehnten ein gewaltiges Medienimperium mit relevanten Beteiligungen an aberdutzenden Zeitungen.

    Überhaupt sollten die Besitzverhältnisse in der Medienbranche sehr viel transparenter sein.

    Was die Parteien angeht – wo bleibt dort die (übrigens vom GG selbst geforderte) innerparteiliche Demokratie? Warum gibt es in Deutschland etwa keine Vorwahlen nach US-Vorbild?

    • Absolut richtig. Eigentümlich frei und Blogger Zettel haben sich in der letzten Zeit mit der Macht der Medien befasst. Was man früher mal als 4. Gewalt bezeichnet hat, zeigte in den Hetzkampagnen der letzten Jahre doch ein sehr totalitäres Gesicht. Für Konservative und Libertäre heißt das, sich noch vielmehr mit den Vernetzungen und Besitzverhältnissen der Massenmedien auseinander zu setzen, wenn eine erfolgreiche Gegenbewegung in Gang kommen soll.

  14. Skizzen:
    Das Buch von Ernst von Salomon ist großartig. Ideal für einen ehemaligen Linken wie mich, einen überaus kenntnisreichen und dazu unterhaltsamen Einstieg in rechtskonservatives Gedankengut zu finden. Das Buch sollte in unseren Schulen Pflichtlektüre werden, damit das elende und unzutreffende Vorurteil „Rechtskonservativ = Nazismus“ endlich beerdigt werden kann. Denn dieses Vorurteil muss beerdigt werden, will die Rechte in der politischen Arena erneut Fuß fassen, d.h. Politik machen und nicht nur darüber reden.
    Nur ein Traum ? Ich denke nicht, denn die Lage kann sich verändern, was heute noch aussichtslos erscheint, kann morgen bereits eine realisierbare Option darstellen.
    Was ich mich bei der Lektüre von Salomons „Der Fragebogen“ gefragt habe ist u.a., was wäre geschehen, wenn der „Kapp-Putsch“ gelungen wäre, wenn integre Menschen wie Ehrhardt die Regierung übernommen hätten ? Oder Schleicher hätte eine autoritäre Regierung installiert ?
    Mit Sicherheit hätte es keinen eliminatorischen Nationalsozialismus gegeben, keine nationalsozialistische Machtübernahme.
    Und was den 2. Weltkrieg anbelangt, ist es schwer zu sagen, wie sich die Dinge entwickelt hätten, wie sich die USA, England/Frankreich, Russland gegenüber einer rechtskonservativ-nationalen Regierung verhalten hätten oder welches außenpolitisches Programm eine solche Regierung vertreten und umgesetzt hätte.

    Es herrschten seinerzeit außergewöhnliche Verhältnisse in Deutschland, ein verlorener Krieg, Ausplünderung (Massenelend), Zerstückelung Deutschlands durch gewisse Siegermächte und bürgerkriegsähnliche Zustände/teilweise direkter Bürgerkrieg im Land.

    Eines haben die Nationalsozialisten nach ihrem gescheiterten Putschversuch in München begriffen, ohne einen wesentlichen Anteil der Bevölkerung „mitzunehmen“ war es nicht möglich, die Macht im Land zu erringen. Einige Eliten ohne Massenbasis in der Bevölkerung konnten keine wie auch immer definierte Veränderung der politischen Verhältnisse (von Oben) erfolgreich durchführen.
    Bereits damals stellte sich die Frage, wie nehme ich die Bevölkerung oder zumindest weite Teile der Bevölkerung mit auf meinen Weg?
    Manfred hat es in der Rezension angesprochen, wer auf diese Frage keine Antwort weiß oder sich prinzipiell vor dieser Frage drückt, der wird politisch scheitern. Da hilft dann auch keine Lobbyarbeit, zumindest nicht bezüglich fundamentaler Fragen, bestenfalls lassen sich einige finanzielle Vorteile oder gewisse periphere Zugeständnisse für seine Klientel herausschinden (beispielsweise die Senkung des Spitzensteuersatzes unter Rot/Grün, oder das Steuergeschenk der FDP an die Hoteliers).
    Was dagegen die nationale Existenz, das Überleben als deutsche Nation, als deutsches Volk anbelangt, lassen die Globalisierer nicht mit sich reden.

    Die Devise „take the money and run“ mag für internationalisierte Besitzeliten eine akzeptable Option sein, für einen rechtskonservativen Deutschen (wie Ernst von Salomon) war sie undenkbar.
    Den meisten Menschen hier im Land stellt sich diese Frage als solche auch nicht, ihre Existenz ist so mit diesem Land verwoben, daß wenn Deutschland „untergeht“, auch sie untergehen werden, selbst wenn es ihnen nicht bewußt ist.

  15. Eines noch, Ernst von Salomon war offenbar kein Freund des Gedankens, die Masse der Bevölkerung zu mobilisieren. Ich denke, das hängt mit der preußischen Tradition der „Revolution von Oben“ zusammen, die er verinnerlicht haben dürfte (aufgrund seiner Erziehung in einer preußischen Kadettenanstalt). Das mag für die Zeit damals eine noch zumindest denkbare Option gewesen sein (in der Theorie), praktisch dagegen auch seinerzeit bereits nicht mehr umzusetzen. Heute ist diese Vorstellung bereits „nicht mehr von dieser Welt“. Wer politisch etwas bewegen will, der muss zumindest weite Teile der Bevölkerung „mitnehmen“. Um das hinzubekommen, braucht es wahrscheinlich einen Zugang zu den Massenmedien, allein schon um sich der Bevölkerung wirkmächtig mitteilen zu können. Solch einen Zugang zu erlangen, dürfte schwer genug sein, angesichts der Hegemonie des politischen Gegners in diesem Bereich. Freiwillig wird der kein Terrain preisgeben.
    Es gilt also „dicke Bretter zu bohren“, was Zeit braucht, ob wir diese Zeit noch haben, wird sich herausstellen. Versuchen müssen wir es jedenfalls.

    Wer sich näher mit Ernst von Salomon in seiner Zeit beschäftigen will, der sollte sich das Buch/die Biographie von Markus Josef Klein – „Ernst von Salomon — Revolutionär ohne Utopie“ besorgen.
    Hier eine Seite über Ernst von Salomon:
    http://www.ernst-von-salomon.de/00001.html

  16. Die ersten 200 Seiten finde ich ein wenig trocken, doch danach ist es einfach nur brillant. Mir fällt kein Autor ein, der mich mit seiner Sprachgewalt so beeindruckt hat, wie EvS. Eine absolut faszinierende Persönlichkeit. Ein Treppenwitz der Geschichte, daß sein Sohn heute Chef von Spiegel TV ist!

    • Ruth, wie sie sehen hat Manfred die „Wirklichen“ kursiv gesetzt.
      Er wollte damit sagen, dass die Nazis diejenigen, die sie als ihre Gegner erkannt haben (ob politisch oder auf Grund ihres Lebensstils oder auf Grund ihres Volkstums etc.) verfolgt und eingesperrt haben. Die Allierten haben da erstmal wahllos (nach dem Motto „Zur falschen Zeit am falschen Ort“) abgeführt.
      Lesen Sie bitte nochmal den Absatz!

  17. Der Leidensweg des Ernst von Salomon begann im Mai 1945 als „big Nazi“ und endete im September 1946 mit der Entlassung als „erroneous arrestee“, als irrtümlich Verhafteter.

    Der „Herbst des Mittelalters“ dauert fort bis ins 19. Jahrhundert. Dann nimmt der „Winter des Abendlandes“ seinen Anfang.

    Nicolás Gómez Dávila,
    Auf verlorenem Posten

  18. Entschuldigung, dies ist ein bißchen OT und überdies weit unterhalb Ihres Niveaus, aber als Zeitzeugnis ganz nett.
    1945 oder 1946 trug ein Freund meines Vaters diesem einen Bonifatius-Kiesewetter-Vers vor:
    Bonifatius Kiesewetter einen Fragebogen erhält,
    der war vom CIC ihm ausgestellt.
    Dann kommen zwei Zeilen, die ich leider vergessen oder von Anfang an nicht richtig mitbekommen habe; ich war damals erst 14 und hatte noch nie einen Kiesewetter-Vers gehört. Dann:
    Boni schreibt mit fester Hand
    einfach „Scheiße“ an den Rand.
    Moral: Wer „Scheiße“ schreibt statt Ja und Nein,
    der kann kein Demokrate sein.
    Vielleicht kann einer Ihrer Leser die zwei fehlenden Zeilen liefern.

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