Meine beiden letzten Artikel sind auf heftigen Widerspruch gestoßen. In dem einen („Der mekkanische Koran: Eine Themenanalyse“) habe ich die These vertreten, dass muslimische Gesellschaften auch heute noch von den Wertentscheidungen des Korans geprägt sind, die als vorbewusste Selbstverständlichkeiten die Weltauffassung und damit auch das politische Verhalten von Muslimen prägen.
In dem anderen („Opa war kein Nazi“) habe ich den Nationalsozialismus als Gemeinschaftsprojekt der deutschen Nation interpretiert, was unter anderem bedeutet, dass das NS-Regime sich auf die Loyalität einer breiten Massenbasis stützen konnte.
In beiden Artikeln geht es um die Beschreibung von Großkollektiven, und beide wurden aus einer individualisierenden Perspektive angefochten: Flowerkraut warf mir vor, zu wenig zu berücksichtigen, wie Muslime heute den Koran subjektiv interpretieren; nicht alle seien Islamisten, die den Koran als leitende Ideologie akzeptierten, und und LePenseur bestand darauf, nicht alle Deutschen der NS-Zeit, höchstens eine Minderheit, seien Nazis gewesen
„in jener Bedeutung, wie heute “Nazi” verstanden wird — hart, zackig, unbarmherzig, Knobelbecher, mordlüstern, fanatisch vernagelt“ (LePenseur zu „Opa war kein Nazi“).
Beide Kritiken sind aus ihrer jeweiligen Perspektive richtig, nur ist diese Perspektive nicht die, die meiner Argumentation zugrundeliegt. Mir geht es nicht darum, ob dieser oder jener Opa persönlich ein Nazi war, und auch nicht darum, wie viele Muslime potenzielle Terroristen sind. Die wenigsten, vermute ich.
Ich will erklären, warum Großkollektive sich verhalten, wie sie es tun. Und das kann ich nur, wenn ich mich von der Erziehung freimache, die wir fast alle durchlaufen haben, und die jede generalisierende Aussage über Personengruppen als ein Vorurteil abstempelt. An diesem Prinzip ist natürlich richtig, dass Menschen individuell verschieden sind, auch wenn sie derselben Gruppe angehören.
Was ich aber beschreibe, wenn ich von einem Kollektiv spreche, ist nicht die Gesamtheit seiner Mitglieder, also etwa alle Deutschen oder alle Muslime, sondern das System der zwischen diesen Mitgliedern bestehenden Erwartungen, insbesondere ihrer Vermutungen darüber, was innerhalb dieses Kollektivs als anerkannter Wert und als geltende Norm unterstellt werden. Dass Menschen soziale Wesen sind, ist eine Binsenweisheit. Diese Binsenweisheit hat aber Implikationen, die nicht Allgemeingut sind: Gewiss sind Menschen verschieden, und daran kann auch das totalitärste System gottlob nichts ändern. Das heißt aber nicht, dass jeder sich ohne weiteres so verhalten würde, wie es seinem persönlichen Charakter entspricht; was die Gesellschaft von ihm erwartet, spielt eine mindestens ebenso große Rolle, und es gibt nur wenige radikale Individualisten, die sich jederzeit benehmen wie sie wollen, notfalls auch wie die Axt im Walde, ohne Rücksicht auf das, was „man“ tut.
Was für die Normen und Werte gilt, gilt in mindestens ebenso hohem Maße für das Verständnis von „Wahrheit“. Ein einzelner Mensch könnte unmöglich unbeeinflusst von der ihn umgebenden Gesellschaft, allein auf sich und seinen Verstand gestellt, definieren, was für ihn „wahr“ ist. Bereits die Begriffe, in denen er denkt, sind soziale Konstrukte, erst recht die Werte, die in sein Denken einfließen.
Weil das so ist, kann man das Verhalten eines Kollektivs nicht als Aggregat von individuellem Verhalten auffassen; der Einzelne findet die handlungsleitenden Parameter als Gegebenheiten bereits vor, und muss sich dann in irgendeiner Weise dazu verhalten. Deshalb kann ein Sozialwissenschaftler, der einen gesellschaftlichen Vorgang erklären will, nicht vorgehen wie ein Kriminalist, der einen „Schuldigen“ sucht, und er kann auch nicht die Gesellschaft einteilen in gute und böse Menschen, um dann den Bösen die Schuld an allen unerwünschten Entwicklungen zuzuschieben.
Zumal die „Bösen“ oft persönlich gar nicht so böse sind. Ein Ziad Jarrah, der am 11.September 2001 das Flugzeug entführte, das dann über Pennsylvania abstürzte, wäre mir, nach allem, was ich weiß, persönlich vermutlich sympathisch gewesen, wenn ich ihn gekannt hätte. Ebenso wie die Veteranen der 1.Gebirgsdivision, die ich während meines Wehrdienstes als Ordonnanz zu bedienen hatte. Das waren wirklich ganz reizende alte Herren, die sich bestimmt nicht als Nazis fühlten, die aber überhaupt keinen Zweifel daran hegten, dass ihr Kriegseinsatz notwendig und sinnvoll gewesen war – wobei wir heute wissen, dass die Geschichte gerade der Ersten Gebirgsdivision vor Blut nur so trieft; und damit meine ich keineswegs das Blut feindlicher Soldaten.
Damit ein Kollektiv sich „böse“ verhält, muss es keineswegs aus bösen Menschen bestehen. Im Gegenteil: Gerade das, was wir schnöde „Konformismus“ nennen, also die Bereitschaft, den Erwartungen der Gesellschaft zu entsprechen, ihre Normen zu erfüllen und zu ihrem Gedeihen beizutragen, ist das, was wir normalerweise das „Gute“ nennen; und wir müssen auch so nennen, weil es die Voraussetzung dafür ist, dass so etwas wie menschliche Gesellschaft überhaupt existieren kann.
Wenn also ein Großkollektiv gigantische Verbrechen begeht, dann habe ich zur Erklärung dieses Vorgangs zwei Möglichkeiten:
Ich kann, wie vermutlich der geschätzte LePenseur, davon ausgehen, dass zwanzig Prozent des Volkes die restlichen achtzig Prozent gezwungen haben, höchst engagiert etwas zu tun, was sie nicht wollten. Das würde bedeuten, dass achtzig Prozent des deutschen Volkes innerlich Nonkonformisten waren, die bloß aus Angst mitgemacht haben. Dabei stoße ich aber auf das Problem der kognitiven Dissonanz: Menschen empfinden es als unangenehm, wenn Denken und Handeln auseinanderklaffen. Normalerweise versuchen sie diese Lücke zu schließen, indem sie entweder ihr Handeln, oder aber, wenn das nicht möglich ist, ihr Denken anpassen. Die katholische Kirche wusste das schon immer zu nutzen: „Erst mal beten, dann stellt sich der Glaube von selbst ein.“ Jeder Einzelne kann natürlich ein Doppelleben führen, also sich im Dauerspagat zwischen Denken und Handeln einrichten. Dass aber ein ganzes Volk das schafft, halte ich für hochgradig unwahrscheinlich.
Wahrscheinlicher scheint mir, dass Sebastian Haffner Recht hatte, als er das Umschwenken großer Teile der Gesellschaft nach März 1933 sinngemäß so beschrieb: Man machte mit, zunächst aus Angst. Nachdem man aber schon einmal mitmachte, wollte man es nicht nur aus Angst tun – das wäre ja verächtlich gewesen -, und so lieferte man die zugehörige Gesinnung nach. Also Aufhebung der kognitiven Dissonanz durch Anpassung des Denkens.
(Es gibt noch eine zweite Strategie dieser Aufhebung; man konnte sie in der DDR beobachten: Man lieferte dem Regime augenzwinkernd die geforderten Lippenbekenntnisse auf Parteichinesisch, vor allem bei Gelegenheiten, wo solche erwartet wurden, und redete sonst anders. Ein kollektives Doppelleben ist also möglich, machte sich aber dadurch als solches bemerkbar, dass dem Regime nicht nur verbal, sondern überhaupt nur das Nötigste gegeben wurde, also durch massive Leistungsverweigerung. Davon kann aber 1933-1945 nicht wirklich die Rede sein.)
Wenn also die Doppelleben-Hypothese, soweit man sie auf die Mehrheit des deutschen Volkes anwenden will, als unwahrscheinlich zu gelten hat (für eine Minderheit kann sie durchaus zutreffen), dann bleibt nur die Vermutung, dass die meisten Deutschen das Regime aus Überzeugung gestützt haben. Wobei die einen früher, die anderen später (und einige wenige überhaupt nicht) zu dieser Überzeugung gekommen (bzw. gegen Kriegsende davon abgekommen) sind.
Das heißt ja nicht, dass Alle den Nationalsozialismus in jeder Hinsicht großartig fanden; irgendetwas hatte wahrscheinlich Jeder auszusetzen, die Korruption von Parteibonzen zum Beispiel, auch die Verfolgung der Juden fanden Viele abstoßend (auch nach damaligen Zeugnissen), und die riskante Außenpolitik war vielen Menschen unheimlich (wurde aber, wenn es wieder einmal gutgegangen war, umso frenetischer bejubelt; irgendwann so um 1940 glaubte wahrscheinlich jeder Deutsche, der Führer habe den direkten Draht zu Gott). Es heißt aber, dass sie das Regime im Großen und Ganzen guthießen, wenn auch sicherlich mit wechselnden Konjunkturen: 1938 waren es bestimmt mehr als 1933 oder nach Stalingrad; die geheimen Lageberichte des SD geben einigen Aufschluss darüber.
Erklärungsbedürftig ist nicht so sehr, warum viele Menschen nach März 1933 zu den Nazis überschwenkten, und zwar durchaus auch im ideologischen Sinne; Konformismus – wie gesagt, nicht nur äußerer, sondern auch innerer – dürfte ein ausreichender Grund gewesen sein, wenn auch vielleicht nicht der einzige. Ich kann ihn auch nicht per se verwerflich finden, denn, wie gesagt: Er ist menschlich. (Verwerflich finde ich höchstens, dass es im Nachhinein keiner gewesen sein will, und äußerst gefährlich finde ich ein optimistisches Menschenbild, das die menschliche Verführbarkeit ebenso unterschätzt wie die Kraft totalitärer Heilslehren, und auf dessen Basis man sich ein Regime wie den Nationalsozialismus daher nicht anders erklären kann als durch die Machenschaften einer bösartigen Minderheit, die die Mehrheit der Guten unterjocht.)
Erklärungsbedürftig ist, dass Hitler durch Wahlen an die Macht kam – ein buchstäblich beispielloser Vorgang! Weder Mussolini noch Franco, auch nicht Lenin oder Mao oder Khomeini verdankten ihre Macht einer Wahl. Man hat viel Tinte vergossen, um zu beweisen, dass Hitler nie eine Mehrheit in freier Wahl errungen hätte, aber das stimmt einfach nicht. Im März 1933 wusste Jeder, der die Deutschnationalen wählte, dass seine Stimme eine für Hitler war; und so muss man nicht nur die NSDAP-Stimmen (mit knapp 44 Prozent ein nie dagewesenes Ergebnis – ein Erdrutsch), sondern auch die DNVP-Stimmen als Hitlerstimmen werten. Hitler hatte rund 51 Prozent – eine klare Mehrheit!
Es stimmt schon, dass der Wahlkampf 1933 von einer Welle an politischem Terror der Nazis begleitet war, der selbst für die krisengeschüttelte Weimarer Republik ungewöhnlich war: Da wurden sozialistische Zeitungen verboten, Versammlungen gesprengt (sofern sie überhaupt stattfinden durften), Funktionäre verhaftet und gefoltert. Das ist alles richtig, beweist aber das Gegenteil von dem, was es beweisen soll. Wenn die Deutschen nämlich ein besonders freiheitsliebendes Volk gewesen wären, so wäre ihnen allerspätestens jetzt klargeworden, was eine Naziherrschaft bedeuten musste. Und sie hatten noch die winzige Chance, in der Einsamkeit der Wahlkabine den Nazis einen Strich durch die Rechnung zu machen. Sie taten das Gegenteil davon.
Warum?
Man kann natürlich auch rein situationsbezogen argumentieren: Deutschland steckte mitten in der Weltwirtschaftskrise, und diese Krise war – nach Weltkrieg, Revolution und Inflation – die vierte existenzielle Gesellschaftskrise innerhalb von zwanzig Jahren. Da mussten die Nerven ja blank liegen, und die Neigung, Jeden zu wählen, der sich wenigstens selber zutraute, den Karren aus dem Dreck zu ziehen, ist durchaus nachvollziehbar; das waren außer den Kommunisten (die ebenfalls von der Krise profitierten) eben nur die Nazis.
Wenn man will, kann man sich damit zufrieden geben und die Ursachenforschung einstellen: Bis 1933 war es Verzweiflung, danach Konformismus (und eine durch Hitlers durchschlagende Erfolge, speziell auf wirtschaftlichem Gebiet, genährte abergläubische Führerverehrung).
Die Frage ist nur, warum der Aufstieg der NSDAP in den Reichstagswahlen schon 1930 anfing, als erste Wirkungen der Krise zwar schon spürbar waren, aber von einer Katastrophe bei weitem nicht die Rede sein konnte. Und die erste demokratische Institution, in der es reichsweit eine braune Mehrheit gab, und zwar schon 1929 (!), waren – die ASten der deutschen Universitäten!
Ausgerechnet die Institution also, in der der Geist zu Hause sein sollte, ergab sich dem Ansturm als erstes, vor der Wirtschaftskrise und bevor Hitler irgendwelche Erfolge vorweisen konnte (und die Professorenschaft war weit davon entfernt, ihren Studenten Paroli zu bieten). Der Nationalsozialismus eroberte zuerst die Eliten, dann die Massen.
Womit ein Teil seines späteren Erfolges zu erklären ist: Welcher Normalbürger, der selbst vielleicht nur Volksschulbildung hat, widerspricht schon einer Ideologie, die von den geistigen Eliten seines Landes formuliert und unterstützt wird? Die Bereitschaft der Deutschen der dreißiger Jahre, Nazi-Ideologie zu akzeptieren, wirkt viel weniger merkwürdig, wenn wir unsere heutige Gesellschaft betrachten und uns bewusst machen, wie tief seit 1968, also beginnend mit der Studentenbewegung, linke Ideologeme – vom „gender mainstreaming“ bis zur „kulturellen Bereicherung“ – in die Gesellschaft eingedrungen sind: so sehr, dass kaum noch einer merkt, dass an ihnen irgendetwas „links“ sein könnte.
Wenn aber nun ausgerechnet geistige Eliten den Nationalsozialismus attraktiv fanden, so ist dies ein Indiz dafür, dass er konsequent etwas auf den Punkt brachte, das in der Geistesverfassung der Gesellschaft schon angelegt war und nach ideologischer Ausformulierung schrie. Sechs Punkte scheinen mir hier maßgeblich zu sein:
Erstens: Mit Ausnahme der beiden liberalen Parteien hatten alle Parteien der Weimarer Republik ein religiöses Politikverständnis, das heißt, sie fassten Politik nicht als ein Dienstleistungsunternehmen auf, das den Bürgern größtmöglichen Nutzen bringen sollte, sondern fußten auf Prinzipien, von deren Verwirklichung sie sich die schlechthin „gute“ Gesellschaft erwarteten. Sie waren säkularisierte Kirchen. Dieser Ansatz konnte relativ pragmatisch daherkommen, wie beim Zentrum und den Sozialdemokraten, wo die Utopie mehr einen geistigen Horizont markierte als ein konkret zu verwirklichendes Ziel, oder als revolutionärer Utopismus wie bei den Kommunisten.
Diese Auffassung von Politik als der Verwirklichung eines überzeitlichen Ideals versteht sich nicht von selbst, und zu liberalen Verfassungsstaaten passt er schon vom Ansatz her nicht: Deren unausgesprochenes Politikverständnis ist, dass jeder Einzelne seinen Interessen folgt, dass das „Volk“ nur das Aggregat dieser Einzelnen darstellt, und dass es die Regierung auswechselt, wenn sie die Interessen des gedachten Kollektivindividuums „Volk“ nicht verwirklicht. Das Verhältnis der meisten Deutschen zur Politik hatte mit diesem trockenen Pragmatismus wenig zu tun; es war religiöser Natur. Konservative etwa, die der vermeintlichen Herrlichkeit des Kaiserreichs nachtrauerten, warfen der Republik geradezu vor, kein erhebender Anblick, kein mächtiger Bau zu sein, sondern bloß eine Firma. Damit fassten sie das Wesen einer demokratischen Republik in der Tat zutreffend zusammen. (Man sollte diese Kritik auch nicht leichtfertig als reaktionär oder faschistisch abtun; ob religiös aufgeladene Gemeinwesen auf die Dauer den demokratischen Verfassungsstaaten nicht doch überlegen sind, ist eine immer noch offene Frage.)
Am zum Schluss geradezu sturzartigen Niedergang der liberalen Parteien, deren Politikverständnis dem „Firmen“-Ideal am nächsten kam, lässt sich ablesen, wie weitgehend die religiöse Politikauffassung in Deutschland Fuß gefasst hatte.
Zweitens: Eng verwandt mit diesem religiösen ist das militante Politikverständnis, ablesbar bereits an der Selbstdarstellung der Parteien. Es kam in der damaligen Politik in einem heute kaum noch vorstellbaren Ausmaß darauf an, „die Straße“ zu beherrschen; Demonstrationen waren keine Betroffenheitslatschdemos wie heute, sondern militärische Aufmärsche mit Fahnen, Uniformen, Marschmusik, und das sozialdemokratische Reichsbanner unterschied sich in dieser Hinsicht nicht vom Stahlhelm, dem Roten Frontkämpferbund oder der SA; selbst das Zentrum bemühte sich um ein martialisches Gepräge, eine wirkliche Ausnahme stellten – auch hier – allenfalls die liberalen Parteien dar. Die Symbolik entsprach dem Selbstverständnis der Parteien, die sich als Armeen ihrer Sache auffassten, die einen Feind zu vernichten hatten. Mit einem demokratischen Politikverständnis, zu dem notwendig auch der Kompromiss, meinetwegen auch die Kungelei gehört, hatte dies – auch bei den Sozialdemokraten – nichts zu tun.
Es spricht Bände, welche Rolle das Wort „Führer“ schon in den zwanziger Jahren spielte; es kam selbst beim Zentrum niemandem merkwürdig vor, wenn der Prälat Kaas auf Parteitagen nicht etwa als „unser Vorsitzender“, sondern als „unser Führer“ angekündigt wurde. Wenn man sich als Quasi-Armee versteht, ist das konsequent: Eine Armee braucht einen, der zumindest symbolisch vorangeht – ein „Vorsitzender“ kann das nicht leisten, weil er, nun ja, ein Sitzender ist.
Drittens: Schon im Kaiserreich, erst recht nach der Erfahrung des Weltkriegs, war das Ordnungsideal der Deutschen das Militär gewesen: eine straff zentralisierte, hierarchisch gegliederte, auf Befehl und Gehorsam basierende Großorganisation – ein Ideal, das in der Wirtschaft so selbstverständlich galt wie in den Parteien und Gewerkschaften. Es ist nicht einmal besonders boshaft zu behaupten, dass die sozialistischen Parteien und Gewerkschaften zur Militarisierung der Arbeiterschaft mindestens ebenso viel beigetragen haben wie die preußische Armee. Was wir uns heute unter „Zivilgesellschaft“ vorstellen und als Voraussetzung von Demokratie betrachten, wäre damals kaum verstanden worden – wiederum mit Ausnahme der Liberalen -; allein das Wort „zivil“ klang schon schlapp. Das „Führerprinzip“ war für große Teile der deutschen Gesellschaft der Sache nach schon ein Ideal gewesen, lange bevor die Nazis es so nannten.
Viertens: Im Verlauf des Ersten Weltkriegs waren die Kriegsziele (nicht etwa nur der Obersten Heeresleitung, sondern wiederum großer Teile der Gesellschaft) immer weiter ausgeufert; am Ende konnte niemandem verborgen bleiben, dass Deutschland um die Errichtung eines europäischen Imperiums kämpfte. Was ich übrigens nicht kritisiere; ich glaube, dass Europa bis heute besser dran wäre, wenn Deutschland den Ersten Weltkrieg gewonnen hätte – aber das ist ein anderes Thema. Das Erbe dieser Zeit war eine Auffassung von Außenpolitik als eines Machtkampfes der Nationen, das heißt eines Kampfes um Herrschaft. Selbst die Sozialisten machten da keine Ausnahme: Sie kritisierten zwar leidenschaftlich den „Imperialismus“, aber indem sie ihn als unvermeidliche Folge des Kapitalismus deuteten, also als etwas, was im Grunde nur durch eine Weltrevolution (sprich: überhaupt nicht) zu überwinden war, bestätigten sie letztlich nur die sozialdarwinistischen Auffassungen ihrer Gegner.
Sebastian Haffner hat eindrucksvoll beschrieben, wie dieses Denken sich während des Krieges gerade in den Köpfen der 1900 bis 1910 Geborenen festsetzte, die zu jung waren, um am Krieg teilzunehmen, aber alt genug, um den täglichen Heeresbericht zu lesen. Sie waren, schreibt er sinngemäß, auch später außerstande, in Nationen etwas anderes zu sehen als gigantische Sportvereine, die um den „Endsieg“ kämpfen. Es war diese Generation, aus der die Nazis ihre ersten, meisten und leidenschaftlichsten Anhänger rekrutierten.
Fünftens: Franz Janka hat in seiner zu Unrecht wenig beachteten, brillanten Studie „Die braune Gesellschaft. Ein Volk wird formatiert… “ die Idee der „Volksgemeinschaft“ als die zentrale Idee des Nationalsozialismus herausgearbeitet: zentral auch im Hinblick auf seine Fähigkeit, Massenunterstützung zu mobilisieren. Die Idee der „Gemeinschaft“ war schon vor 1914 als Gegenbild zur schnöden „Gesellschaft“ entwickelt worden, in der jeder egoistisch seinen Interessen folgt. Was ursprünglich eine Kategorie soziologischer Analyse gewesen war, wurde sehr schnell politisch aufgeladen und als Utopie gegen die liberale Gesellschaft in Stellung gebracht. Das Erlebnis des Ersten Weltkriegs, speziell des zum nationalen Mythos erhobenen August 1914 illustrierte diese Utopie einer verschworenen (Krieger-)Gemeinschaft auf eine für Viele so eindrucksvolle Weise, dass das bloße Wort „Volksgemeinschaft“ genügte, bei jedem Einzelnen eine Kaskade von meist positiven Bildern und Assoziationen in Gang zu setzen, die alle etwas mit nationaler Solidarität, mit Heldentum und der Überwindung von Klassen- und Konfessionsschranken zu tun hatten. Einer genauen Begriffsbestimmung schien es bei einem emotional so hochgradig aufgeladenen Wort gar nicht zu bedürfen, und selbst sozialistisch geprägten Arbeitern, die den nationalen Mythen noch am skeptischsten gegenüberstanden, schien eine „Volksgemeinschaft“ wenn schon keine materielle Gleichheit, so doch wenigstens gleichen Anspruch auf soziale Anerkennung zu verheißen. Hinzu kam, dass auch die massenwirksamen Gegenideale des Christentums und des Sozialismus letztlich Gemeinschafts-Ideale waren. Kurz und gut: Die Sehnsucht nach „Gemeinschaft“ war die Basisutopie der Deutschen, und nachdem die Nationalsozialisten ihre „Volksgemeinschaft“ erst einmal etabliert hatten, war es auch für viele Christen und Sozialisten nur noch ein kleiner Schritt, ihre alten Gemeinschaftsideale über Bord zu werfen und sich in die „Volksgemeinschaft“ einzufügen.
Sechstens: Wenn ich den Antisemitismus als sechsten Faktor anführe, so muss ich zunächst einem denkbaren Missverständnis vorbeugen: Ich vertrete nicht die Goldhagen-These, wonach die Ermordung der Juden ein deutsches Nationalprojekt gewesen sei, das die Billigung einer Mehrheit gefunden hätte (was nichts daran ändert, dass in einem rein objektiven Sinne praktisch Alle in irgendeiner Form darin verstrickt waren – auch ein Vernichtungslager stand ja nur so lange, wie die Front hielt). Ich halte die Goldhagen-These für überzogen, weil es keine empirischen Anhaltspunkte dafür gibt, dass auch nur der Boykott vom April 1933 oder die Nürnberger Gesetze breite Billigung gefunden hätten – von der Ermordung der Juden ganz zu schweigen, die dementsprechend so geheim wie möglich vollzogen wurde. Auch an den Verbrechen der Reichskristallnacht beteiligten sich meines Wissens nur diejenigen, die dazu abkommandiert waren (weswegen ich auch nicht den politisch korrekten Ausdruck „Reichspogromnacht“ verwende – für mich ein klassisches Beispiel für die unvermeidliche Dummheit von Political Correctness: Das Wort „Pogrom“ enthält ein Moment spontaner Massengewalt, und wer es in Bezug auf den 9.November 1938 verwendet, übernimmt praktisch die Goebbelssche Lesart, wonach es sich um einen spontanen Ausbruch des Volkszorns gehandelt habe). Auf sehr viele Deutsche, vielleicht eine Mehrheit, wirkten sie ausgesprochen abstoßend.
Andererseits war die wüste antisemitische Propaganda der NSDAP für die Mehrheit der Deutschen kein Grund, Hitler nicht zu wählen, und taten der Judenboykott, die Arierparagraphen, die Nürnberger Gesetze der Popularität Hitlers keinen merklichen Abbruch, auf die Dauer auch nicht die Kristallnacht. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass die deutsche Gesellschaft sehr wohl bereit war, der Ermordung der Geisteskranken Einhalt zu gebieten, nicht aber der der Juden. Und es gibt aus der Zeit vor Hitler ungezählte Zeugnisse dafür, dass Antisemitismus im Sinne einer allgemeinen (nicht unbedingt gegen Einzelpersonen gerichteten) Abneigung gegen Juden, sehr weit verbreitet, ja fast schon selbstverständlich war. Ich vermute, dass es sich um die Einstellung einer Mehrheit handelte.
Ganz sicher die Einstellung einer Mehrheit war aber, dass die Juden nicht zu „uns“, also zur Wir-Gruppe der Deutschen gehörten, und wenn sie zehnmal mit dem Eisernen Kreuz dekoriert waren. Unter dieser Voraussetzung musste es spontan einleuchten, wenn die starke Position von Juden in Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst von den Nationalsozialisten als eine Art „Fremdherrschaft“ gebrandmarkt wurde, von der es das deutsche Volk zu „befreien“ gelte. Die Bereitschaft, antisemitische Ideologie zu akzeptieren, war also durchaus vorhanden. Sie ist nicht einfach dasselbe, wie die Bereitschaft einen Massenmord zu begehen oder auch nur zu billigen, wohl aber die Voraussetzung dafür, ein antisemitisches Regime, das solches tut, zu dulden und ungeachtet seines Antisemitismus zu unterstützen.
Fassen wir zusammen: Die überwältigende Mehrheit der Deutschen, einschließlich der Sozialisten und engagierten Christen, hielt Politik für die Verwirklichung religiöser oder quasi-religiöser Ideale, fand es selbstverständlich, dass man zu diesem Zeck politische Gegner physisch bekämpfte, betrachtete das Führerprinzip als Ordnungsideal, hielt internationale Politik essenziell für einen Machtkampf von Nationen, betrachtete Juden als fremde Eindringlinge und sehnte sich der Volksgemeinschaft.
Und nun frage ich: Welche Ideologie und welches politische System passte zu einem solchen Volk?
Die Frage stellen heißt sie beantworten.
Hallo Manfred,
ein sehr schöner Artikel. Vielen Dank!
Lassen Sie mich noch einen siebten Punkt hinzufügen:
Weil niemand mehr die Weimarer Republik wirklich wollte. Sowohl Rechte als auch Linke, die beide recht stark waren, lehnten die Republik ab. Die Rechten wollten ihren Kaiser wieder und lehnten die Weimarer Verfassung ab oder hatten ganz eigene Vorstellungen von ihrem Staat, die Linken wollten den Sozialismus. Dazwischen gab es allenfalls noch das Zentrum, dessen Eintreten für die Republik zwischen Zweifeln und Verzweifelung oszillierte. Und auch von Papen, der als Zentrumspolitiker zum Reichskanzler ernannt wurde, war alles andere als ein Demokrat oder Verfechter des Weimarer Systems. Diese Konstellation führte dazu, dass es eben keine Gemeinschaft der Demokraten gab, die einem Hitler entgegentreten konnte oder wollte.
Im übrigen: Auch die Liberalen waren am Kampf um die Straße nicht unbeteiligt. Der Jungdo war im Stile eines Freikorps organisiert und trat ebenfalls als militärischer Verband auf.
Viele Grüße
Robin
@ Robin:
Danke für den Hinweis auf den Jungdo; das war mir neu.
Jungdo? Ist das eine Kampfsportart, wie Nintendo?
:o)
Spannend zu beobachten, wie sich in zahlreichen Veröffentlichungen immer und immer wieder mit dem Trauma des Nationalsozialismus beschäftigt wird. Das ist gut und hilft der aktuellen Politik dabei, von ihr abzulenken.
Denn es ist wieder soweit, daß Millionen Menschen perspektivlos in die Röhre schauen und sich nichts weniger wünschen, als das mal jemand so richtig aufräumt „da oben“. Ich will sicherheitshalber hinzufügen, daß das nicht meine Sehnsucht spiegelt und ich ein Gegner jeglichen politischen Konformismus‘ bin. Und doch freue ich mich schon auf die Politikblogs in 50 Jahren, wenn darüber geschwafelt wird, wie es Anfang des 21. Jahrhunderts schon wieder „soweit kommen konnte“: Es ist dasselbe System, wie in den 20er Jahren: Neue Massenmedien und neue Konsumgüter, soziale Gerechtigkeit für viele Menschen und politische Hetze in alle Richtungen. Darüber wird völlig vergessen, daß die politische Elite ausschließlich mit ihrer Selbstversorgung beschäftigt ist (und war). Und weil die Parlamente so mit sich selbst beschäftigt sind, sehen sie das drohende Unheil nicht. Denn es droht ja nicht ihnen, sondern dem Volk.
Ich weiß nicht, was auf uns herniederprasseln wird. Es wird mit Sicherheit kein Führerstaat und keine absolutistische Diktatur alter Prägung. Es wird eine neue Form, die wieder zu Armut, Unrecht und Haß führt.
Deshalb halte ich es für überflüssig, den zigtausendsten Artikel zum 3. Reich und seiner Entstehung zu schreiben. Es ist dringend notwendig, sich konsequent und lautstark mit der aktuellen Politik auseinanderzusetzen.
Und nun frage ich: Welche Ideologie und welches politische System passte zu einem solchen Volk?
Die Frage stellen heißt sie beantworten.
Wer Fragen so stellt, hat für die rechte Antwort bereits gesorgt. Und wenn die Antwort bereits feststeht, braucht man darüber auch nicht mehr zu diskutieren. Woran ich mich natürlich halten werde.
Schade. Ich hatte eigentlich mehr erwartet.
@LePenseur:
Mit Verlaub: Die Frage stand am Ende des Artikels, in dem ich für die Antwort in der Tat schon gesorgt hatte, und zwar mit einer ziemlich ausführlichen Argumentation (3431 Wörter, wenn Du es genau wissen willst), mit der Du Dich anscheinend nicht auseinandersetzen möchtest.
„Schade. Ich hatte eigentlich mehr erwartet.“
NOCH mehr? Was denn bitte?
Ich darf Dir sagen, dass ich von Dir ebenfalls mehr erwartet hatte als diese patzige Replik.
@ Robin, Apokryphe:
Der Groschen fällt pfennigweise, doch er fällt: Robin meinte den „Jungdeutschen Orden“, eine tatsächlich als halbfaschistisch geltende, in jedem Fall aber martialisch auftretende Organisation. Mit der hat die DDP fusioniert und sich zur „Deutschen Staatspartei“ vereinigt. Das geschah aber erst in der Endphase der Weimarer Republik und illustriert den verzweifelten Versuch der Liberalen, einem Zeitgeist hinterherzulaufen, der mit liberalen Vorstellungen nichts am Hut hatte.
@ falkschettler:
Natürlich interessiere ich mich für Geschichte, aber ich schreibe Artikel wie diesen nicht aus einem rein akademisch historischen Interesse. Ich wundere mich ein wenig, dass noch niemand mir den scheinbaren Widerspruch hingerieben hat, der zwischen der betont patriotischen Tendenz meiner sonstigen Artikel (siehe die Kritik an Seyran Ates) und einem Artikel wie diesem klafft. Scheinbar.
Tatsächlich gibt es keinen Widerspruch: Ich bin überzeugt davon, dass die offenkundige politische Schwäche unseres Landes, also seine Unfähigkeit, eigene Interessen zu definieren und zu verfolgen, mit der tiefen Verunsicherung aufgrund der braunen Vergangenheit der Nation zusammenhängt. Ein solches Volk wird ganz leicht zum Opfer linker Demagogen, die ihm einreden, Patriotismus, Militär usw., im Grunde alle konservativen Werte und Institutionen hätten PER SE irgendetwas „Faschistisches“ an sich.
Mir geht es demgegenüber darum zu zeigen, dass die Deutschen, auch die, die sich für Demokraten hielten, in einer TOTALITÄREN Gedankenwelt befangen und DESWEGEN für den Nationalsozialismus anfällig waren. Totalitär waren dabei weniger diese oder jene INHALTE (zum Teil natürlich auch die), sondern bereits die Grundannahmen darüber, was Politik ist bzw. sein sollte.
In den letzten 40 Jahren hat sich ein linker „Faschismus“-Diskurs durchgesetzt, zu dessen Folgen eine grundlegende Gefährdung der liberalen Demokratie durch linkstotalitäre Ideologie gehört. Mir geht es darum, die Basisannahmen dieses Diskurses zu erschüttern und, soweit das einem kleinen Blogger möglich ist, zur Durchsetzung eines antitotalitären Diskurses beizutragen. Dazu gehört aber zwingend, dass man sich die Funktionsweise spezifisch totalitärer Ideologien und Systeme vor Augen hält; und zu der gehört, dass das Volk zum überzeugten, wenn nicht begeisterten Mitmachen gebracht wird. Den Blick auf diesen Sachverhalt kann man aber nicht freibekommen, wenn man den Nationalsozialismus als blanke Gewaltherrschaft einiger weniger böser Menschen begreift.
@Manfred:
Ich bedauere, daß Ihnen meine Antwort patzig erschienen ist — es war von meiner Seite keineswegs so gemeint. Eher resignativ. Aber ich gebe zu, daß ich nach Ihrem (sehr ausführlichen) Posting keinen wirklichen Sinn darin sah, en detail zu replizieren.
Und dieser Mangel an Sinnhaftigkeit stellt sich mir nochmals offensichtlich dar, wenn ich in Ihrem nächsten Posting u.a. lese:
Mir geht es demgegenüber darum zu zeigen, dass die Deutschen, auch die, die sich für Demokraten hielten, in einer TOTALITÄREN Gedankenwelt befangen und DESWEGEN für den Nationalsozialismus anfällig waren. Totalitär waren dabei weniger diese oder jene INHALTE (zum Teil natürlich auch die), sondern bereits die Grundannahmen darüber, was Politik ist bzw. sein sollte.
M.a.W.: die Deutschen, auch die, die sich für Demokraten hielten, aber — natürlich! Denn sie waren ja Deutsche — keine waren, in einer TOTALITÄREN Gedankenwelt befangen. Sorry, ich halte das für Unsinn. Das ist Pauschalurteilen par excellence. Ich sehe nicht, warum dies ein spezielles Merkmal „der“ Deutschen sein sollte, wenn mich meine Erfahrung (und die tägliche Lektüre von Pressemeldungen aus aller Welt) lehrt, daß das ebenso in anderen Ländern und Kulturen gang und gäbe ist.
Saatsgläubigkeit ist kein Merkmal „der“ Deutschen, sonst wären Blair, Obama oder Sarkozy auf einmal nazismusanfällige Deutsche (was Sie, ich hoffe Ihre Zustimmung zu finden, wohl nicht sind). Und genau das, was sich in Deutschland in unerfreulicher Zuspitzung im NS-Regime realisierte, war damals weltweit recht verbreitet! Nicht nur in den diversen „Faschismen“ Italiens, Spaniens, Portugals, sondern ebenso in dem korporativ-autoritär grundgestimmten Kemalismus, in den unzähligen Diktaturen Südamerikas, ja sogar im „New Deal“ der USA. Die 30er/40er-Jahre waren kein Hort der Demokratie — weltweit nicht!
Keine Frage, daß dieser a-demokratische, korporatistisch-kollektivistische Ungeist in anderen Fällen nicht annähernd so bedauernswerte Entgleisungen zeitigte wie in der NS-Herrschaft! Ebenso ist es für den historisch Interessierten keine Frage, daß eine Unzahl schlimmer Entgleisungen durch die besonders schlimmen Entgleisungen des NS-Regimes einfach „zugedeckt“ wurden und aus dem Gedächtnis (oder wenigstens: dem offiziell aussagbaren Gedächtnis) der Menschen verdrängt wurden.
Man wundert sich manchmal, warum z.B. großbritannien oder die USA nicht gegen die Benachteiligung von Juden in bereits relativ frühen Zeiten des 3. Reiches aufgetreten sind. Man wundert sich weniger, wenn man weiß, daß die Rassentrennung in den USA ja im Prinzip nichts anderes war, als der Judenstern, daß die gesetzlichen Verbote von Mischehen, die Verweigerung von Wahlrecht und bürgerlichen Freiheiten in britischen Kolonien das Modell der Nürnberger Gesetze.
Sie (und nicht nur Sie!) projizieren das ahistorische Bild einer — heute! — von political correctness und Antidiskriminierung geradezu besessenen angelsächsischen Welt in eine Vergangenheit, die uns dann als leuchtender Gegenentwurf einer demokratischen Gesellschaft erscheint, der sich vor der dunklen Folie der Naziherrschaft besonders schön abhebt. Nur: das Bild trügt! Noch deutlich nach dem 2. Weltkrieg haben die US-Truppen, als sie z.B. Haiti besetzten, als erstes dort eine strikte Rassentrennung eingeführt. Noch deutlich nach dem 2. Weltkrieg hat die britische Kolonialmacht z.B. in Kenia rassistisch motivierte Greueltaten wie gezielte Völkermorde angeordnet und teilweise auch ausgeführt, die einem die Frage aufdrängen: „Haben die aus Auschwitz nichts gelernt?“ Antwort: nein, mußten sie auch nicht. Denn sie waren (und sind bis heute) schließlich die „Guten“ ….
Das klingt zynisch und wird mir von der allzeit bereiten Antifa-Front sofort den Vorwurf, ich „verharmlose“ und „relativiere“, eintragen. Geschenkt! Als ob die in britischen KZs gefolterten, ermordeten und gezielt dem Hungertod preisgegebenen Kikuyu des Mau-Mau-Aufstandes weniger wert wären, als in Nazi-KZs gefolterte, gezielt dem Hungertod preisgegebenen und vergaste polnische Juden … (wer sich informieren möchte, findet in dem — des Nazismus wohl recht unverdächtigen — Guardian vom 27.12.2005 einen Artikel: „The Turks haven’t learned the British way of denying past atrocities“ — viel „Spaß“ beim Lesen!).
Aber lassen Sie mich nochmals auf Ihre Zusammenfassung eingehen, die mir eigentlich eine Replik wenig zielführend erscheinen ließ. Sie schreiben:
Fassen wir zusammen: Die überwältigende Mehrheit der Deutschen, einschließlich der Sozialisten und engagierten Christen, hielt Politik für die Verwirklichung religiöser oder quasi-religiöser Ideale, fand es selbstverständlich, dass man zu diesem Zeck politische Gegner physisch bekämpfte, betrachtete das Führerprinzip als Ordnungsideal, hielt internationale Politik essenziell für einen Machtkampf von Nationen, betrachtete Juden als fremde Eindringlinge und sehnte sich der Volksgemeinschaft.
1. Die „überwältigende Mehrheit … einschließlich der Sozialisten und engagierten Christen“ sah all dies nicht bedeutend anders, als die gesamte (!) westliche Welt zu jener Zeit! Blicken Sie z.B. in die Zwischenkriegsgeschichte Österreichs: hier wurde kein Nazi-Regime geboren, aber es gab einen quasi-religiösen Machtkampf zwischen Austromarxisten (die z.B. Wien zu Musterstadt des wahren, des reinen Sozialismus machen wollten) und Heimwehren. Nazis spielten in Österreich bis zur Machtübernahme Hitlers in Berlin keine nennenswerte Rolle. Ihr Argument wackelt somit. Es wackelt noch mehr, wenn sie die ebenso „quasi-religiösen“ Auseinandersetzungen in Spanien ansehen, oder in Frankreich, oder in England, oder in Irland, oder in Mexiko, oder … f… ragen Sie besser: „Wo fanden solche denn nicht statt?“ Die Liste wird deutlich kürzer sein!
2. Die physische Bekämpfung politischer Gegner war damals allgemein. Auch hier ist nichts „speziell deutsches“ zu ermitteln.
3. Das Führerprinzip herrschte damals vom Kommunismus über die christlichen Hierarchievorstellungen bis ins konservative Lager — einfach überall, außer in ein paar liberalen Zirkeln. Die aber (man denke bloß an den dramatischen Niedergang der Whigs in den 20er-Jahren) praktisch überall (!) zu Randerscheinungen mutierten.
4. Man „hielt internationale Politik essenziell für einen Machtkampf von Nationen“, und darin unterschieden sich die Nationen ebensowenig voneinander. Ein paar Sonntagsreden in Genf mochten anders klingen — aber der Völkerbund war doch in Wahrheit eine schon von Anfang an gescheiterte Sache. Gescheitert nicht erst am Austritt der pösen Nazis in den 30er-Jahren, sondern an der Verlogenheit der Politik seiner Gründungsnationen, die unter schönklingenden Schlagworten beinharte Machtpolitik betrieben (man denke nur an die „Entkolonialisierung“ durch „Mandatsverwaltungen“ — eine Augenauswischerei sondergleichen!)
5. Man „betrachtete Juden als fremde Eindringlinge und sehnte sich [nach] der Volksgemeinschaft“ — auch hier wieder: Mainstream! Antisemitismus war damals praktisch überall zu finden — das mag man zu Recht bedauern, aber es war damals so. Hieraus eine speziell „deutsche“ Fehlhaltung zu konstruieren, ist einfach Geschichtsklitterung! Und was die Volksgemeinschaft betrifft: was war denn die treibende Kraft all der Nationalstaaten, die aus der Zerschlagung Österreich-Ungarns hervorgingen? Dreimal dürfen Sie raten …
So: nun ist meine Antwort um einiges länger geworden, als ich es eigentlich beabsichtigte. Es war aber auch notwendig, um darzutun, warum ich eine Antwort auf Ihr Posting eigentlich vermeiden wollte — denn zu jedem meiner Absätze können Sie locker 5 Absätze Replik schreiben, auf die ich ebenso locker jeweils 5 Absätze duplizieren kann … irgendwann haben wir die Länger der Illias überschritten, und spätestens dann liest’s ohnehin keiner mehr …
Ich schlage vor, uns damit zu bescheiden, festzustellen: we agree to disagree. Argumente werden uns beiden kaum ausgehen, wohl aber irgendwann die Zeit und die Lust …
Lassen wir’s besser …
Wow. Eine sehr gelungene Darstellung der Weimarer Situation. Gerade die unterschiedlichen Auffassungen von Politik, also auf der einen Seite diejenigen, die eine Ideologie verfolgen, also eher eine Kirche für die Nicht-Christen geworden sind, gegenüber denjenigen, die pragmatisch und daher „unsexy” daherkommen, sind in der heutigen Politik ja ebenso gut zu beobachten.
Der Artikel, und hier widerspreche ich Falkschettler ausdrücklich, ist daher um so spannender, weil er anhand der damaligen Situation Dinge beschreibt, die auch heute noch Gültigkeit haben. Heute ist natürlich vieles anders: Weder wird das Militär als positiv gesehen, noch gibt es einen Konsens um den Führerkult. Aber grundsätzlich ist es eben immer noch oder schon wieder so, daß die Menschen Visionen haben, sich von Ideologien führen lassen wollen, auch wenn die Inhalte heute andere sind.
Liberale Parteien haben damals wie heute keine Chance, bei der Masse anzukommen, weil sie nichts anzubieten haben. Sie sind langweilig, weil sie keine Revolution fordern, sie bieten keine einfachen Lösungen für komplexe Zusammenhänge, im Gegenteil: Sie scheinen auf den ersten Blick kälter und unmenschlicher als die schönredenden Ideologen.
Mittlerweile, und das ist eben auch ähnlich wie in der damaligen Situation, werden liberale Gedanken sogar schon regelrecht verabscheut. Die Ideologie gewinnt immer. Sie ist dem träumerischen Ideal einer gerechten Welt nahe. Wir sind ein Volk von träumenden Idealisten, was an sich ein sympathischer Charakterzug ist, der sich aber leicht mißbrauchen läßt. Die Mechanismen dazu haben Sie ja beschrieben.
Gibt es überhaupt so etwas wie eine völlig ideologiefreie, undogmatische Art, Politik zu machen? Das dargestellte Ideal einer Politik als Agentur, als Dienstleistungsunternehmen für das aggregierte Gesamtinteresse scheint mir nicht nur sehr fern, sondern auch nirgends auf der Welt verwirklicht.
So haben die liberalen Parteien und deren Anhänger zumeist ein ganz und gar außerrationales Verständnis vom Markt, d.h. sie glauben, man müsse nur ausreichend viele staatliche Aufgaben in private Hände abgeben, Marktprozesse auch dort wirksam werden lassen, wo bisher ein öffentliches Interesse daran bestand, dass sie gerade nicht wirksam waren (Telekommunikation, Verkehr, Universitäten, Gesundheits- und Pflegewesen, vielleicht bald sogar Geld- und Militärwesen?), und ein idealer Zustand wäre erreicht. Auch wenn diese Liberalen gern alle religiösen Termini weit von sich weisen, so fungiert in einem derartigen Verständnis der Markt als Heilsbringer. Dass aber „der Markt“ oft zynisch gegenüber den elementarsten Bedürfnissen der Menschen ist und sich ganz problemlos mit Sklavenhalter- und totalitären Gesellschaften vereinbaren läßt (z.B. dem hungernden Afrika, über das hochkorrupte Stammesführer blutig herrschen, oder dem prosperierenden Rotchina), muss jedermann skeptisch machen gegen eine solche liberale Ideologie. Eine rein utilitaristische, dem wertfreien Markt huldigende Auffassung würde Werte wie z.B. das Lebensrecht behinderter oder alter Menschen, Demokratie und Mitbestimmung nur solange tolerieren, wie sie potente Marktteilnehmer nicht behindern, die z.B. Gift-Cocktails frei anbieten möchten oder sich von einem Sklavenmarkt wirtschaftliche Impulse versprechen. Politik gerät zudem, im Rahmen der Globalisierung mehr und mehr, auch in Europa, unter den zersetzenden Einfluss der Korruption, und eine marktliberale Politik, die sich von den Erfolgreichen des Marktes in deren Interesse korrumpieren und instrumentalisieren läßt, wird den freien Markt einen Bärendienst erweisen – und dennoch ihre Positionen als die einzig „marktliberalen“ unters Volk bringen.
Die Menschen haben überdies nicht nur physische Bedürfnisse und materielle Interessen, sondern wollen so etwas wie Sinngebung. Könige leiteten ihren Herrschaftsanspruch von göttlicher Abstammung, heiligem Auftrag oder Ähnlichem her, und in moderner Zeit (bis in die 60er Jahre) hatten die Kirchen noch ein gewichtiges Wort mitzureden in der Politik; d.h. wenn von der Kanzel vor der Wahl bestimmter Parteien (meistens der Kommunisten) abgeraten wurde, so wirkte sich das verheerend auf das Wahlergebnis aus. In der heutigen säkularisierten Zeit ist dieses Bedürfnis nach Sinngebung nicht einfach verschwunden, sondern von den überkommenen Institutionen auf neue gerichtet worden: Konsum, Fernsehen, Sport – und Politik. Wenn sich Sigmar Gabriel mit dem süßen Knut ablichten läßt oder Frau Merkel sich bevorzugt bei Fußballländerspielen medienwirksam blicken läßt, so geschieht das aus dem Wunsch heraus, sich an Emotionen – und damit das Sinnbedürfnis – der Bürger zu heften. Daher hätte eine politische Partei mit einem rein technischen, rein nützlichkeitsorientierten Politikverständnis, selbst wenn es eine solche gäbe, keine Chance beim Wähler. Die derzeitigen guten Umfragewerte der FDP hängen zusammen mit der überbordenden Steuerlast und mit dem Versagen der Volksparteien, nicht mit ihren tatsächlichen Programmpunkten; die lassen die Wähler kalt. Würden CDU und SPD eine am Interesse des Bürgers nach Sinngebung in der globalisierenden Welt orientierte Politik machen, statt nach dem TINA-Prinzip (There Is No Alternative) alles abzusegnen, was aus Brüssel kommt, dann hätten die Freidemokraten nach wie vor mit der 5%-Hürde zu kämpfen.
Menschen sind nun einmal so; im Gestus des Oberlehrers herzugehen und einen neuen Menschen, der das Verlangen nach Sinngebung, das natürlich totalitär missbrauchbar bleibt, nicht mehr hat, als die bessere Alternative anzusehen, hat selbst etwas Umerzieherisches, vielleicht im Ansatz Totalitäres. Ich muss LePenseur insoweit Recht geben, als das menschliche Verlangen nach Sinngebung durch Politik nicht auf Deutsche beschränkt ist. Wer einmal die quasireligiöse Hingabe amerikanischer Schulkinder an ihre Landesflagge beobachtet hat, wer um die hohen Zustimmungswerte Francos bei den katholischen Eliten Spaniens weiß (die dieser durch Verwendung katholischen Vokabulars zu stärken wusste) oder darum, wie die tiefe Religiosität des russischen Volkes es Gewaltherrschaften von Iwan Grosny bis zu Stalin er- und mittragen ließ, der wird eine solch arrogante Behauptung nicht machen.
Die beiden Passagen
[…] ich glaube, dass Europa bis heute besser dran wäre, wenn Deutschland den Ersten Weltkrieg gewonnen hätte […]
und
Fassen wir zusammen: Die überwältigende Mehrheit der Deutschen, einschließlich der Sozialisten und engagierten Christen, hielt Politik für die Verwirklichung religiöser oder quasi-religiöser Ideale, fand es selbstverständlich, dass man zu diesem Zeck politische Gegner physisch bekämpfte, betrachtete das Führerprinzip als Ordnungsideal, hielt internationale Politik essenziell für einen Machtkampf von Nationen, betrachtete Juden als fremde Eindringlinge und sehnte sich der Volksgemeinschaft.
Und nun frage ich: Welche Ideologie und welches politische System passte zu einem solchen Volk?
Die Frage stellen heißt sie beantworten.
widersprechen sich in geradezu krasser Weise, vorausgesetzt, dass sie nicht von einem verkappten Nationalsozialisten stammen. Was soll man denn von diesem Artikel nun halten; mir sind Zweifel gekommen, ob der Autor nicht doch ein sehr gespaltenes Verhältnis zu seiner Nation hat. Andere Nationen hatten in den 30er- und 40er Jahren ebenfalls illiberale und quasireligiöse Auffassungen von Politik, Judenfeindlichkeit war nicht nur unter Deutschen, sondern weltweit verbreitet (es scheint jedenfalls in der menschlichen Natur zu liegen, sich über genetische und kulturelle Unterschiede mit der eigenen Gruppe zu identifizieren, und eine Gemeinschaft, die trotz erheblichen Assimilationsdrucks ihre religiöse Tradition bewahrt, indem sie eine jiddische Sprache pflegt und fast nur intern heiratet, zieht diskriminierende Reaktionen geradezu auf sich, diskriminiert sich ja im Wortsinn geradezu selbst), so dass abgesehen von dem Verbrechen des Holcausts eigentlich gar kein so fundamentaler Unterschied zwischen Deutschen und Nichtdeutschen besteht. Und wenn sich der Holocaust in Russland, in Italien oder in Argentinien ereignet hätte, wäre dort das Volk – vor dem Hintergrund der jeweils eigenen Traditionen, mit seinem antiliberalen Politikverständnis und dem universell vorkommenden Konformismus (von Böswilligen auch gern Duckmäusertum genannt) wohl in der Lage gewesen, skrupellosen Gewaltherrschern in den Arm zu fallen?
Das grundlegende Mißverständnis bei der Betrachtung des Marktliberalismus ist die Betrachtung als eine Spielart der Ideologie.
Das Gegenteil ist richtig. Glauben Sie, daß ein echter Liberaler andere Ziele verfolgt als Sie, Thatcher? Also, daß er im Kern etwas anderes will als möglichst vielen Menschen ein möglichst angenehmes Leben zu bescheren, inklusive Randgruppenschutz etc? Wenn ja, dann erliegen Sie demselben Irrtum wie viele Menschen, die ideologisch denken.
Liberalismus, egal ob nun in bezug auf Markt oder Meinungen, ist immer die Skepsis vor Menschen. Diese Skepsis sollte uns allen mittlerweile zur Genüge bewiesen worden sein. Eine Skepsis vor Machtbündelung. Je weniger Menschen Macht haben, und je größer diese Macht ist, desto mehr werden sie korrumpiert.
Als Liberaler glaubt man nicht daran, daß Menschen grundsätzlich zu ändern sind. Daß sie netter, sozialer, umsichtiger oder schlauer werden. Und genau deswegen schafft man ein nicht-otpimales System, das nur einen Zweck hat: Möglichst viel Verantwortung zu verteilen.
In bezug auf den Markt bedeutet das: Nicht ein einziger Politiker soll entscheiden, in welche Richtung investiert wird. Oder eben nicht nur eine Partei. Sondern es sollen alle Richtungen ausprobiert werden. Nehmen Sie eine beliebige Wirtschaftsfrage: Sie werden von 10 befragten Menschen mindesten 11 Meinungen hören.
Anstatt also zu hoffen, daß man selbst die richtige Antwort hat – so wie das Ideologen tun –, sagt man einfach: OK, dann sollen diese Menschen doch bitte probieren, was funktioniert. Dann mag der eine in diese Richtung investieren, der andere in eine andere. Wiederum andere fungieren als Geldgeber und teilen somit das Risiko weiter auf.
Im Endeffekt funktioniert genau dieser Ansatz auch so gut, weil er jedem Menschen seine schlechten Eigenschaften läßt und sie im Gegenteil zu etwas Positivem nutzt.
Reine Lehre. De fakto muß natürlich auch im Liberalismus irgendwo eine Kontrolle her, da sich, das hat der Autor dieses Blogs ja auch schon in einem früheren Artikel dargelegt, ansonsten zu starke Strukturen herausbilden, die der Konkurrenz keine Chance lassen. Monopole. Für einen Liberalen ist es nämlich völlig unerheblich, ob es sich um Staats- oder „Wirtschafts”monopole handelt: Ein Monopol zerbricht diese Ordnung.
Also muß das auch die Aufgabe eines Staates sein.
Sklavenhandel etc. sind gutklingende Argumente, aber der Sklavenhandel hat in einem kapitalistischen System keinerlei Chance. Das wurde schon im Norden der USA gegenüber dem Süden bewiesen. Ein sklavenbasiertes System bringt unmotivierte Arbeitskräfte, die in der heutigen Wirtschaft noch viel weniger zu gebrauchen sind als früher.
Und in bezug auf die Juden diskreditieren Sie sich schon selbst, wenn Sie den Juden vorwerfen, daß sie sich ja quasi selbst diskriminiert hätten.
Zuerst zum Letzten, germanpsycho: ich verwendete „diskriminieren“ ausdrücklich im Wortsinne, also insbesondere wertungsfrei. „discriminare“ heißt nichts anderes als: [sich] unterscheiden [von]. Und das tun Juden schon dadurch, dass sie in einer nichtjüdischen Umgebung ihr Judentum bewahren. Internheirat ist eines der wirksamsten Mittel, inmitten nichtjüdischer Umgebungen den jüdischen Charakter zu erhalten; ohne diese hätten sich Juden ebenso schnell dem Mainstream angenähert wie andere ethnische Minoritäten.
Und zum Rest: In der Tat unterstelle ich vielen als „Liberale“ auftretenden Politikern, dass sie in Wirklichkeit andere Absichten verfolgen als die, ein möglichst gutes Leben für möglichst viele Menschen zu verwirklichen. Die derzeitige Politikerkaste hat zuvorderst ihre eigenen Interessen nach Posten, Einkünften und Alterssicherung im Blick. In Brüssel werden zudem Dinge wie GATT/GATS ohne Debatte durchgewinkt, während in den Einzelstaaten Steuern und Bürokratie wuchern und dem Unternehmer das Leben immer schwerer machen, wenn er nicht gerade Eigentümer eines Großkonzerns ist. Wie „liberal“ ist der Freihandel also wirklich?
Warum gehen Sie auf den Einwand der Korruption nicht ein? Noch nirgends auf der Welt ist es gelungen, eine mafia-ähnliche Struktur zu beseitigen. Ich halte es für durchaus wahrscheinlich, dass ein liberalisierter Markt in einer mafiösen Plutokratie endet, indem die finanziell potentesten Paten sich „liberale“ Parteien halten, die unter Liberalismus das Recht des Stärkeren verstehen.
Zum Thema Sklaverei: Viele Unternehmen haben heute eine beängstigende Vorstellung davon, was ein Arbeitnehmer alles leisten soll: er soll möglichst passgenau ausgebildet sein; er soll bereit sein, Überstunden zu machen; er soll rund um die Uhr erreichbar sein; er darf keinerlei Nebentätigkeit nachgehen; er soll zuerst an das Wohl der Firma denken; er soll, wenn weiblich, den Kinderwunsch an die Bedürfnisse der Firma anpassen oder sich damit abfinden, später nicht wieder reinzukommen (was für den zu beobachtenden Geburtenrückgang viel stärker verantwortlich ist als verfehlte Familienpolitik); er soll Lohnzurückhaltung üben trotz steigender Inflation; er soll akzeptieren, dass er zweimal jährlich den Arbeitgeber wechselt, ohne dabei das Büro zu wechseln (was oft mit Einkommensverlusten verbunden ist); er soll hinnehmen, dass ihm wegen nichtiger Gründe gekündigt werden darf. Daher wundert mich die schlechte Motivation und die innerliche Kündigung vieler Mitarbeiter nicht im Geringsten: Der Mensch spürt nun mal, wenn er ausgepresst wird.
@Manfred – Danke für die Information, das war mir absolut unbekannt.
Eine Frage an die Leser: Wie hoch war die Beteiligung der Bevölkerung der Weimarer Republik insgesamt an Wahlen und am politischen Prozeß?
Bei allem, was ich bisher gelesen habe, scheint es mir, daß die Bevölkerung um 1930 sehr hochgradig politisiert war. Stimmt das?
Heute ist ja eines der Hauptprobleme dieses absolute Desinteresse vieler Menschen an Politik. Das macht es ja gerade ideologisch hochmotivierten Gruppen (wie der Linkspartei) so leicht, die schwächelnde SPD nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen.
„Diskriminieren” ist keinesfalls wertungsfrei. Ich stell mich ja auch nicht hin und sage: Ich spreche jetzt vom Führer, aber ich meine das ganz wertungsfrei. 😉
Außerdem ist die Einstellung dahinter so gefährlich: Die Juden diskriminieren sich selbst, also ist es ja quasi ihre eigene Schuld, wenn sie unter sich bleiben. Der Rest, also von hier bis zur Endlösung, ist es zwar immer noch sehr weit, aber es ist ein Grundstein. Manfred hat das sehr schön in einem seiner vorigen Beiträge dargestellt.
Zumal die Behauptung ja auch gar nicht zutrifft. Gerade in Deutschland waren die Juden eine sehr gut integrierte Gruppe, unter anderem ja auch im Kriegseinsatz im 1. WK.
Aber langsam werden hier zwei Diskussionen draus.
Zur anderen: Sie benutzen ja eine lustige rhetorische Formel, indem Sie mir vorwerfen, auf etwas nicht einzugehen, sich aber anschließend nur kleine Teile meiner Argumentation herauspicken, um auf diese zu antworten.
Außerdem widersprechen Sie sich doch selbst, wenn Sie den Politikern insgesamt mißtrauen, dafür aber gegen eine liberale Wirtschaftsordnung sind. Wer, wenn nicht die Politiker sollen denn in Ihrem System wirtschaften, wenn es nicht die einzelnen Menschen dürfen?
Sie suchen wohl mit aller Kraft den Dissens, germanpsycho?
Selbstverständlich kann ich „diskriminieren“ wertfrei meinen; glauben Sie, so wie Sie meine Sätze verstehen, genau so müsste ich sie gemeint haben?
Auch wenn vom „Führer“ die Rede ist, muss nicht Adolf gemeint sein: Bei der Eisenbahn gibt es Lokomotivführer, in der Nationalmannschaft Spielführer und bei der Bundeswehr Zugführer.
Die Juden können noch so gut integriert sein; die Tatsache, dass sie nicht bereit sind, ihr Judentum aufzugeben (und das Konzept einer „Minderheit inmitten einer fremden Mehrheit“ gehört zum Konzept des Diaspora-Judentums durchaus dazu), bewirkt bereits, dass sie diesbezüglich „unter sich bleiben“ wollen. Sie wollen sich schließlich dadurch von Deutschen unterscheiden, dass sie jüdisch sind, auch wenn sie sonst in jeder Hinsicht „deutsch“ sind, bis hin zum EK. Um aus dieser Tatsachenfeststellung eine Rechtfertigung für irgendwelche Gewalttaten gegen Juden herauszulesen, muss man schon von Absicht getrieben sein.
Seine Identität wahren zu wollen, sehe ich übrigens als das Recht einer jeden ethnischen Gemeinschaft an: wenn die Deutschen unter sich bleiben wollen und keine Ausländer akzeptieren wollen, die die deutsche Kultur nicht annehmen, dann sollen sie das dürfen und nicht als „Ausländerfeinde“ verschrieen werden. Wenn ein Moslem die deutsche Kultur so annähme wie es Juden im 19. und frühen 20. Jahrhundert taten, darüberhinaus aber Muslim bliebe (wobei man den Islam gar nicht so praktizieren kann, aber das ist ein anderes Thema), dann läge es mir fern, ihn ausweisen zu wollen. Leider haben wir hier Millionen Muslime, die auf die islamische Machtübernahme hinarbeiten, und die muss ich nicht dulden.
Ich misstraue nicht den Politikern insgesamt, sondern der derzeitigen Politikerkaste, die sich von der Kontrolle durch die Bürger abgekoppelt haben und dem von Teilen der Wirtschaft erhobenen „Primat der Wirtschaft über die Politik“ keinen Widerstand leisten. Demokratisch legitimierte Politik muss die Macht haben, Kartelle und Absprachen zu verhindern und dem Wohle aller zu dienen, und nicht nur so zu tun als ob. Die Frage ist, ob dies überhaupt organisatorisch erreicht werden kann oder ob es dazu einer Art Ehrenkodex bedarf, und zwar sowohl bei Politikern als auch bei Unternehmern.
@germanpsycho:
(Übrigens: toller Nick! Läßt tief blicken 😉
Ich will mich hier in Ihre nette Diskussion mit Kollegen Thatcher keineswegs einmengen … aber doch der eine oder andere Punkt dazu aus meiner Sicht, wenn’s gestattet ist:
1.) Selbstverständlich kann man „diskriminieren“ wertungsfrei verwenden. So, wie auch das Wort „Führer“. Wenn man dazusagt, wie’s gemeint ist — wo sollte dabei das Problem sein?
2.) Daß Thatchers Wortmeldung in Sachen Juden nicht eben glücklich ist, belegt Ihre — vorherssagbare — Reaktion darauf. Na klar, wer sagt, daß Juden sich schon inder Vergangenheit absonderten, der will damit zur Endlösung anregen. Na klar, wir sind ja nicht so und wollen Thatcher schon mal zubilligen, daß er sie nicht gleich selbst vergasen will, also konzedieren wir großzügig, daß es bis zur Endlösung noch sehr weit ist, aber immerhin ein Grundstein sei gelegt …
Ich habe nicht die Absicht, Sie persönlich anzugreifen, geschätzter Kollege Germanpsycho (was Sie — ebenfalls vorhersehbar — nicht daran hindern wird, sich angegriffen zu fühlen und entsprechend zu reagieren), aber genau diese Argumentationslinie finde ich in ihrer Undifferenziertheit schlicht und einfach eines: widerlich.
Nein, es ist nicht bloß „Der Rest, also von hier bis zur Endlösung, […] zwar immer noch sehr weit“, sondern es ist ganz was anderes! Die Juden wurden von den Nazis nicht vergast, weil sie sich absonderten und einem religiösen Heilsexklusivismus huldigten, sondern ganz im Gegenteil, weil sie von den Nazis beschuldigt wurden, die arische Rasse unterwandern zu wollen. Also genau die Integrations- und Assimilationsfähigkeit in gesellschaftlichen Belangen hat man ihnen damals zu Vorwurf gemacht. Also interpretieren Sie jetzt nicht Thatchers ganz eindeutige Aussage:
… eine Gemeinschaft, die trotz erheblichen Assimilationsdrucks ihre religiöse Tradition bewahrt, indem sie eine jiddische Sprache pflegt und fast nur intern heiratet, zieht diskriminierende Reaktionen geradezu auf sich, diskriminiert sich ja im Wortsinn geradezu selbst
zu der dann nochmal dazu explizit klargestellt wird, daß „diskriminieren“ ausdrücklich im literalen Wortsinne zu verstehen sei, zu einem Freibrief fürs Vergasen um. Das ist einfach polemisch und unterste Schublade!
LePenseur, können Sie mir kurz erklären, wie die Sätze „ich habe nicht die Absicht, Sie persönlich anzugreifen” und „toller Nick! Läßt tief blicken” sowie „widerlich”, „polemisch und unterste Schublade” zusammenpassen? Wenn Sie nicht die Absicht haben, mich persönlich anzugreifen, dann tun Sie’s einfach nicht. Inhaltlich haben Sie ja keinesfalls irgendetwas Neues zu der Diskussion beizutragen, denn Sie wiederholen nur, was Thatcher bereits sagte.
Jedenfalls können Sie Beleidigungen nur vermeiden, indem Sie sie nicht aussprechen. Sie aber auszusprechen und sie gleichzeitig zu dementieren, ist ein netter Versuch. Aber auch nicht mehr.
Thatcher:
Zugegeben, der Führer war ein ziemlich bescheuertes Beisiel. Aber das Wort „diskriminieren”, und jetzt driftet die Diskussion ins Sprachliche ab, ist bei uns eindeutig belegt. Es hat eine Wertung im Deutschen, die beim lateinischen noch nicht vorhanden war. Da gibt es auch eigentlich keine Definition mehr. Sprachgebrauch (Wikipedia) und Duden sind sich da einig. Ich glaube nicht, daß man Wörter, die de iure und de facto etwas bedeuten, einfach umdeuten kann, auch wenn ihre Bedeutung in der Sprache, aus der sie entlehnt wurden, eine andere war.
Ich nehme übrigens an, daß wir in punkto Moslems recht schnell zu einem Konsens kämen. Vielleicht auch in bezug auf das Zusammenleben von Juden und Deutschen in der Zeit vor Hitler.
Und wieder zum ursprünglichen Hauptthema:
Ein Ehrenkodex kann nicht funktionieren, das lehrt uns die Geschichte. Denn die Sozialisten/Kommunisten in der ganzen Welt sind ja auch nicht angetreten, um eine Diktatur aufzubauen. Anfangs wollten die alle ganz sicher den Traum verwirklichen, der aber einfach nicht zu verwirklichen war.
Und das geht eben bei allen Ideologien so. Weil sie zwei Dinge voraussetzen:
1. Einen Konsens in der Bevölkerung über die zu erreichenden Ziele
2. Eine Politikerkaste, die erstens integer sein muß und zweitens stets die richtigen Entscheidungen treffen muß
Beides sind aber Voraussetzungen, die niemals erreichbar sind. Konsens in politischen Fragen ist immer nur auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu bekommen. Und Macht korrumpiert. Das ist eben nicht nur bei unserer Politikerkaste so.
Die einzige Chance, solchen Tendenzen zu begegnen, ist es nunmal, ein System zu schaffen, das diese menschlichen Eigenschaften berücksichtigt, um sie möglichst ins Positive umzukehren. Das macht eben das liberale System erfolgreich (siehe Bundesrepublik Deutschland auch heute noch, wenn auch mit Abstrichen mittlerweile), aber langweilig und in den Augen der Wähler wenig „sexy”.
Absolut einig sind wir uns ja in bezug auf Kartelle und Monopole. Hier, und das sagte ich ja schon im ersten Kommentar, ist es absolut nötig, daß der Staat eingreift, damit der Wettbewerb erhalten bleibt. Das ist genau die wesentliche Aufgabe des Staates im Gegensatz zum völlig freien Markt, der eben deswegen auf Dauer nicht frei bleibt, weil sich Monopole bilden.
Diese Kontrollfunktion übt der Staat nicht mehr sauber aus in Deutschland. Dafür mischt er sich mit Subventionen und Umverteilungswahn in andere Bereiche ein, für die das Politische einfach nichts taugt.
Genauso, wie es Bereiche gibt, für die ein Konkurrenzsystem nichts taugt: Militär, Polizei, Straßenbau, meines Erachtens auch Strom, Öffentlicher Personennahverkehr, wobei natürlich die letzteren zu diskutieren sind.
@germanpsycho
Auf eine Sprachdiskussion lasse ich mich nicht ein; so kann man ja jedes Thema zerstören. Wenn Sie so idiosynkratisch sind und nur die Ihnen genehme Interpretation des Wortes „diskriminieren“ gelten lassen, egal wie oft ich erwähne, dass es im Wortsinn, also ohne Wertung verwendet wird, dann viel Spaß. Ich habe dazu alles gesagt.
Und wenn ich „Tisch” sage, meine ich „Stuhl”.
Wer ist jetzt nicht auf Konsens aus?
@Germanpsycho:
Wenn Sie nicht die Absicht haben, mich persönlich anzugreifen, dann tun Sie’s einfach nicht.
Was ich auch nicht getan habe. Ich habe ausdrücklich nur Ihre erkennbare krasse Fehlinterpretation von Thatchers Statement angegriffen. Da ich jedoch keine Absicht habe, Sie persönlich anzugreifen, habe ich’s eben dazugeschrieben, da ich häufig die Erfahrung machte, daß die meisten Menschen nicht zwischen sachlicher Gegnerschaft und persönlicher Feindschaft unterscheiden können oder wollen.
Und was Ihren Nick betrifft: wer sich selbst „Germanpsycho“ nennt, darf sich über fragend gewölbte Augenbrauen nicht wundern.
Noch abschließend: ich wüßte gar nicht nicht, was an dem Satz „Das ist einfach polemisch und unterste Schublade“ beleidigend sein sollte. Es ist eine Wertung eines Sachverhaltes — nämlich der in Ihrem Posting gewählten Argumentation —, zu der Sie selbstredend Stellung nehmen können. Ich habe durch meinen Hinweis, Sie nicht persönlich anzugreifen hinlänglich dargelegt, daß mir ein Werturteil über Ihre Person fernliegt. Ein solches ist auch daraus nicht erkennbar. Sollten Sie den Vorwurf der „Beleidigungen“ hingegen untechnisch im Sinne von „Üble Nachrede“ gemeint haben, ersuche ich Sie, mir mitzuteilen, inwieweit eine solche hier vorliegen soll bzw. wieso Sie davon ausgehen, daß diese von mir bewußt intendiert worden sei.
Im übrigen: lassen wir’s — es bringt nichts.
@Manfred
Es sind ja nicht nur die „linken Demagogen“, die das Volk verführen. Es ist eine Medienpolitik, die gezielt auf Zusammenhangslosigkeit und Gewalt als Inhalt setzt und dem Rezipienten unterbewußt klar macht: wer den Schnabel zu weit aufreist, der wird medial verbrannt und in Luft aufgelöst – nicht mal vor einem Postchef machen „wir“ halt…
So gesehen haben wir die totalitäre Politik längst, spätestens aber seit 1990.
Und wahrhaft gefährlich ist die Besatzerpolitik, die dafür gesorgt hat, daß (im Westen) amerikanische Kultur als „cool“ gilt, daß (im Osten) die Kinder „Buratino“ kennen und „Pinocchio“ für eine Fälschung halten…
Es ist das gebrochene Rückgrat, in das immer und immer wieder von den Besatzern nach 1945 getreten wurde. Und ich sage immer wieder zur Warnung: Wo ein gesunder Nationalismus nicht gedeihen kann, dort entwickelt sich ein ungesunder Nationalismus.
Das war in den 20er Jahren so und es ist heute wieder so.
Wir haben keinen „linken Faschismus“. Wir haben das Diktat der Wirtschaft und die ist verdammt konservativ, also politisch rechts. Von denen wird natürlich das linke Gespenst immer und immer wieder an die Wand gemalt, denn die Linke stellt tatsächlich eine Gefahr da: allerdings nur für Adel, kapitalistische Geldsäcke und deren Kollaborateure. Die politisch rechte Seite, selbst die rechtsextreme, vergreift sich nicht an denen (auch wenn sie das in ihrer Propaganda anders darstellen, um das Volk zu ködern).
Was sich durch die Gesellschaft zieht, ist eine ganz simple Zensur, ein Meinungsdiktat das ausgeht von amerikanischen Think-Tanks und daraus ableitend eine völlig verfehlte Nationalpolitik. Die wird im Übrigen auch von der seriösen Linken scharf kritisiert.
@ LePenseur, Thatcher, Germanpsycho:
Ich bin begistert von Eurer engagierten Debatte! Nur erlaube ich mir den zarten Hinweis an Alle, dass bei Diskussionen normalerweise mehr herauskommt, wenn man sich strikt an die Sachthemen hält.
@ falkschettler:
Ich bitte um Entschuldigung, dass ich auf Deinen Kommentar nur kurz eingehe, weil ich schon mit der Antwort auf Thatchers und LePenseurs Kommentare vom Montag „ausgelastet“ war. Daher nur einige Anmerkungen:
Meines Erachtens sind Zusammenhanglosigkeit und Gewalt typisch für das Medium „Fernsehen“; einfach, weil es auf bewegten Bildern beruht. Ein Ergebnis von Medienpolitik kann ich darin nur insofern erkennen, als mit der Einführung des privaten Fernsehens die Politik sich weitgehend aus der Verantwortung für das Fernsehen zurückgezogen hat. Selbst bei öffentlich-rechtlichen Sendern ist unter dem Druck der privaten Konkurrenz das Quotendoping längst wichtiger als die politisch motivierte Meinung des Rundfunkrats. Wobei ich gerne zugebe, dass es für die Politik bequem ist, das Volk mit bunten Bildern ruhigzustellen, und dass ein zunehmend oberflächliches Fernsehen, das den Zuschauer vor allem unterhalten, nicht aber gedanklich fordern will, ein gefundenes Fressen für politisch korrekte Mainstreamjournalisten darstellt.
Die amerikanische Kultur gilt überall auf der Welt als „cool“ (sogar im Iran, man möchte es nicht glauben; dort darf es natürlich keiner zugeben), also nicht nur dort, wo die Amerikaner als Besatzungsmacht aufgetreten sind.
Die Wirtschaft ist nicht konservativ, sie ist allenfalls antisozialistisch. Zumindest dann, wenn man unter „Konservatismus“ die Bewahrung gewachsener Werte und Strukturen versteht. Die Wirtschaft ist weder patriotisch, noch ist sie christlich, noch familienfreundlich, noch predigt sie irgendwelche Tugenden. Die Wirtschaft ist liberal in dem von Thatcher zu recht kritisierten neoliberalen Sinne.
Und ob das Merinungsdiktat, das es in der Tat bis zu einem gewissen Grade gibt, von amerikanischen Thinktanks ausgeht, wage ich zu bezweifeln. Wenn ja, müsste man denen angesichts des grassierenden Antiamerikanismus in Deutschland groteske Inkompetenz bescheinigen.
@ Apokryphe:
Das Interesse an Politik war in der Weimarer Republik auf hohem Niveau schwankend. Am stärksten war es naturgemäß in den politisch unruhigen Phasen 1919-1923 und dann wieder ab 1930. Bei den Reichstagswahlen danach war die Wahlbeteiligung extrem hoch.
@ LePenseur:
Jetzt begreife ich erst, wo Ihr Problem liegt. Ich hatte mir eigentlich eingebildet, eine ziemlich klare deutsche Prosa zu schreiben; insofern wundere ich mich, dass Sie in meine Texte etwas hineinlesen, was nicht drinsteht, und sie in einen Zusammenhang stellen, den ich nicht einmal angedeutet habe. Ich kann mir das nur so erklären, dass Sie allergisch gegen bestimmte deutschfeindliche Argumentationsmuster sind (was ich verstehen kann; ich selbst bin es auch) und deswegen meinen Text in den falschen Hals bekommen haben.
Sie widerlegen mit Ihren Argumenten ausschließlich Behauptungen, die ich nicht aufgestellt habe: Ich habe nicht behauptet, dass es die angesprochenen Phänomene anderswo nicht gegeben hätte. Ich habe nicht behauptet, dass es sich um überzeitliche und womöglich unveränderbare Eigenschaften des deutschen Nationalcharakters handele; ich habe mich ausdrücklich ausschließlich auf die Deutschen der zwanziger und dreißiger Jahre bezogen und kann nicht wirklich verstehen, wie Sie daraus einen Pauschalvorwurf gegen alle Deutschen, also auch die heutigen, herauslesen können (oder habe diesmal ich Sie missverstanden?). Ich habe erst recht nicht behauptet, andere – etwa die westlichen – Völker seien irgendwie „besser“ oder hätten keine Verbrechen begangen. Ich habe insbesondere nicht
„das a-historische Bild einer – heute! – von political correctness und Antidiskriminierung geradezu besessenen angelsächsischen Welt in eine Vergangenheit projiziert, die uns dann als leuchtender Gegenentwurf einer demokratischen Gesellschaft erscheint“:
In Wirklichkeit hatte ich die angelsächsische Welt mit keinem Wort erwähnt. Das, was Sie über die Briten und Amerikaner schreiben, ist genau das, was ich einem Briten oder Amerikaner hinreiben würde, wenn er mir mit deutschfeindlichen Sprüchen käme.
Ich fühle mich nur nicht verpflichtet, jeder Kritik am eigenen Land ein „Die Anderen haben ja auch…“ hinzuzufügen.
Sie haben mich also missverstanden. Sofern Ihr einer Kommentar auf diesem Missverständnis basierte, nehme ich den Vorwurf der „Patzigkeit“ mit Bedauern zurück.
Nun zum einzelnen:
Es ist unstrittig, dass faschistische Bewegungen zur damaligen Zeit in großen Teilen Europas Erfolg hatten; besonders großen hatten sie in Süd- und Ostmitteleuropa einschließlich Österreichs und des Balkans. Die Demokratien bzw. liberalen Verfassungsstaaten, die es 1920 dort noch gegeben hatte, waren Mitte der dreißiger Jahre fast völlig verschwunden. Es scheint mir auch plausibel anzunehmen, dass eine Kombination aus Antisemitismus, autoritären Ordnungsvorstellungen, politischer Militanz und religiös aufgeladenen völkisch-nationalistischen Gemeinschaftsideologien dort eine ähnlich verhängnisvolle Rolle spielte wie in Deutschland, und wenn ich Sie richtig verstehe, sehen Sie das genauso. Nur ist das eben keine Widerlegung, sondern eine Bestätigung meiner These, dass ein Zusammenhang zwischen solchen Einstellungsmustern und der Entstehung totalitärer, mindestens aber autoritärer Systeme besteht. Die physische Bekämpfung von politischen Gegnern war in solchen, aber eben nur in solchen Ländern tatsächlich allgemein.
Aus Großbritannien, den USA, Holland oder Skandinavien ist mir dergleichen aber nicht bekannt, jedenfalls nicht als allgemeiner Zug der politischen Kultur.
Wenn Sie die Auffassung von Außenpolitik als eines Machtkampfes von Nationen für allgemein verbreitet halten, so entgeht Ihnen der fundamentale Unterschied zwischen einer realistischen Analyse und einer sozialdarwinistischen Ideologie:
Es ist normalerweise realistisch zu unterstellen, dass Staaten ihre Interessen verfolgen und dabei gelegentlich zu den Waffen greifen. Ebenso realistisch ist es, wenn man mit Blick auf die Geschichte (z.B. auf das alte Griechenland, das frühneuzeitliche Italien, das Heilige Römischen Reich Deutscher Nation, den Deutschen Bund oder das Europa der Zwischenkriegszeit) davon ausgeht, dass regionale polyzentrische Staatensysteme über kurz oder lang instabil werden und dann entweder unter die Herrschaft ihrer eigenen stärksten Macht oder auswärtiger Mächte geraten; in diesem Sinne hatte ich gesagt und gemeint, dass ein Sieg Deutschlands im Ersten Weltkrieg für Europa besser gewesen wäre (als die Folgen seiner Niederlage).
Die Vorstellung, Staaten seien Systeme zur Erringung von Weltherrschaft, deswegen sei der Krieg der Normal- und der Frieden der Ausnahmezustand, und Politik bestehe im wesentlichen aus Kriegsvorbereitung, ist etwas vollkommen ANDERES. Genau diese Vorstellung war aber in Deutschland – von den Marxisten bis zu den Nazis – Allgemeingut. Was immer am Völkerbund Illusion oder Heuchelei gewesen sein mag: Die Westmächte waren alles, aber nicht kriegerisch (das war ja gerade das Verhängnis).
Das Führerprinzip als Ordnungsideal für alle Lebensbereiche einschließlich des Staates, und die damit korrespondierende Ablehnung der politischen Demokratie mag wiederum in Ostmittel- (und Süd-)Europa Allgemeingut gewesen sein (insofern gilt das, was ich oben geschrieben habe, nämlich, dass es meine Thesen bestätigt); in den demokratischen Staaten des Westens (und dazu zähle ich im wesentlichen die, die ich oben genannt habe, mit Abstrichen auch Frankreich) war das offensichtlich nicht der Fall.
Antisemitismus ist in christlichen (wie auch islamischen) Gesellschaften allgegenwärtig, seit es solche Gesellschaften gibt, auch heute noch (heute tarnt er sich meist als „Antizionismus“). Was sich aber unterscheidet, ist das Maß an politischer Aufladung: Es ist ein Unterschied, ob man Juden nicht mag, oder ob man sie für einen Feind oder Parasiten hält. In keinem der genannten westlichen Staaten hat es Politiker mit ernsthaften Ambitionen auf nationale Führungspositionen gegeben, die ihr Programm auf antisemitische Ressentiments gründeten (Zumindest in den USA mit seinem hochgradig kompetitiven System hätte es solche Politiker aber geben müssen, wenn ein verbreitetes Interesse an einer solchen Politik bestanden hätte). Es trifft zu, dass GB und USA nicht gegen die Verfolgung der Juden in Deutschland eingeschritten sind; das heißt aber nur, dass nach wie vor ihre eigenen Interessen verfolgten und ihre Politik nicht von denen der deutschen Juden abhängig machten; mit Sympathie für die Judenpolitik der Nazis hat das nichts zu tun, und für die öffentliche Meinung in diesen Ländern war die Judenpolitik der Nationalsozialisten nicht etwa etwas, für das man als „nationale Selbstverteidigung“ Verständnis hätte haben müssen, sondern einfach Barbarei.
Die Gleichsetzung von Antisemitismus mit Rassismus mag für Turniere moralischer Empörung taugen („Und wie habt Ihr Eure Neger behandelt?…“), aber nicht zur Erhellung poltisch-historischer Zusammenhänge. Die amerikanische Gesellschaft war wahrscheinlich auch damals rassistischer als die deutsche. Deren Rassismus unterscheidet sich aber vom deutschen Antisemitismus in zweierlei Hinsicht: Erstens richtete er sich gegen eine UNTERSCHICHT, während der Antisemitismus sich gegen eine (vermeintliche oder tatsächliche) OBERSCHICHT richtet: Rechtfertigt ordinärer Rassismus die Unterdrückung von Unterschichten bzw. von rückständigen und schwachen Völkern, so traut der Antisemitismus, so wie die Nazis ihn vertraten (nämlich nicht als soziales Vorurteil, sondern als politische Ideologie) den Juden geradezu übernatürliche Fähigkeiten zu. Gerade das ist ja die Voraussetzung dafür, sie als FEIND zu brandmarken und im Grunde nichts anderes zuzulassen als ihre Vernichtung – und eben nicht ihre Unterdrückung.
Moralisch verwerflich mag das eine wie das andere sein, meinetwegen auch das eine mehr und das andere weniger. Nur interessiert mich so etwas überhaupt nicht. Ich warne grundsätzlich davor, der politischen Analyse moralische Prämissen zugrunde zu legen. Wenn ich eine politische Einstellung nicht deshalb ablehne, weil die ihr zugrundeliegenden Tatsachenbehauptungen UNWAHR sind, sondern weil ich sie für VERWERFLICH halte, dann habe ich mich bereits auf die Prämissen der Political Correctness eingelassen und muss mir gefallen lassen, dass u.U. auch wahre Behauptungen als Pfuipfui stigmatisiert werden.
(Ungeachtet dessen haben Sie mich mit Ihrer Kritik an den Praktiken des westlichen Imperialismus auf einen sehr wichtigen Punkt gebracht: Wahrscheinlich waren Rassenideologien im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert vor allem deshalb populär, weil die Kolonialpolitik der europäischen Großmächte einer sie rechtfertigenden Ideologie bedurfte, und da drängten sich Rassentheorien geradezu auf. Mir scheint es mehr als nur ein bezeichnendes Detail zu sein, dass die prominentesten Rassenideologen des neunzehnten Jahrhunderts – Gobineau und Chamberlain – gerade ein Franzose und ein gebürtiger Engländer waren, also aus den Völkern der großen und traditionellen Kolonialmächte stammten. Insofern besteht tatsächlich ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Imperialismus des Westens und dem Nationalsozialismus. Es ist sogar eine Überlegung wert, ob der Wahn der Political Correctness und der Antidiskriminierung, den es ja überall im Westen, nicht nur in Deutschland gibt, darauf beruht, dass alle westlichen Völker sich aufgrund ihrer imperialen Vergangenheit unbewusst selber eine Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus zuschreiben.)
Schließlich gab es im Bereich der westlichen Demokratien kein Äquivalent zum ideologischen Kollektivismus, der in dem deutschen Wort „Volksgemeinschaft“ steckt und der ausdrücklich einen Gegensatz zu Individualismus und Pluralismus darstellte; schon gar nicht als mehrheitsfähige Ideologie. Es gibt nicht einmal eine adäquate englische Übersetzung für „Volksgemeinschaft“ – „national community“ wäre jedenfalls keine. Natürlich gab es „communities“ – aber eben nur im Plural.
Ihre Kritik an meiner Position weist eine interessante Parallele etwa zu Flowerkrauts Kritik an meiner Korananalyse auf: Hatte Flowerkraut argumentiert, dass etliche Faktoren, die ich am Islam kritisiere, sich ähnlich auch im Christentum finden, so argumentieren Sie, dass jeder einzelne der Faktoren, die ich für die Entstehung des Nationalsozialismus verantwortlich mache, sich auch anderswo gefunden hätten. Der springende Punkt ist aber der, dass ich ein SYNDROM beschreibe, also das Zusammenwirken von Faktoren, die jeder für sich nicht in der Lage wären, ein System wie den Nationalsozialismus hervorzubringen (bzw. den Islam zur totalitären Ideologie zu machen). NUR ein religiöses Politikverständnis oder NUR Antisemitismus oder NUR ein sozialdarwinistisches Verständnis von internationaler Politik, hätten, selbst wenn sie jeweils eine Mehrheitsmeinung dargestellt hätten, kaum ausgereicht, ein Drittes Reich zu etablieren. Das ZUSAMMENWIRKEN all dieser Faktoren aber schon; und diese Kombination, verbunden mit der Position einer Großmacht, gab es so nur in Deutschland, nicht aber bei den westlichen Demokratien.
Und noch etwas: Ich zitiere nochmal die ersten drei Absätze meines Artikels:
„Meine beiden letzten Artikel sind auf heftigen Widerspruch gestoßen. In dem einen („Der mekkanische Koran: Eine Themenanalyse“) habe ich die These vertreten, dass muslimische Gesellschaften auch heute noch von den Wertentscheidungen des Korans geprägt sind, die als vorbewusste Selbstverständlichkeiten die Weltauffassung und damit auch das politische Verhalten von Muslimen prägen.
In dem anderen („Opa war kein Nazi“) habe ich den Nationalsozialismus als Gemeinschaftsprojekt der deutschen Nation interpretiert, was unter anderem bedeutet, dass das NS-Regime sich auf die Loyalität einer breiten Massenbasis stützen konnte.
In beiden Artikeln geht es um die Beschreibung von Großkollektiven, und beide wurden aus einer individualisierenden Perspektive angefochten: nicht alle Muslime seien Islamisten, die den Koran als leitende Ideologie akzeptierten, und nicht alle Deutschen der NS-Zeit, höchstens eine Minderheit, seien Nazis gewesen…“
Heißt: Wenn sie den Nationalsozialismus aus einer individualisierenden Perspektive sehen und nicht als die notwendige Folge kollektiver Wertorientierungen, wenn sie ihn darüberhinaus als das Werk einer Minderheit von Extremisten auffassen, dann treffen Sie implizit bestimmte Annahmen über das Funktionieren von Gesellschaft schlechthin wie auch über die Art und Weise, wie Totalitarismus funktioniert. Und diese Annahmen zwingen Sie, jedenfalls wenn Sie konsequent bleiben wollen, das Argument zu akzeptieren, nicht der Islam sei das Problem, sondern allenfalls eine Minderheit von Extremisten, die man von der Mehrheit der gemäßigten und netten Muslime radikal unterscheiden müsse.
Des weiteren müssten Sie die Behauptung akzeptieren, linke Ideologie sei nicht per se gesellschaftszerstörend und totalitär, sondern erst, wenn sie mit offener Gewalt durchgesetzt wird. Ich gestehe durchaus zu, dass die meisten Deutschen auch damals keine „harten, zackigen, unbarmherzigen, Knobelbecher tragenden, mordlüsternen, vernagelten Fanatiker“ waren – natürlich nicht. Ebenso wie ich zugestehe, dass die meisten Muslime keine Terroristen und die meisten Linken keine Stalinisten oder RAF-Mörder sind.
Wenn ich aber solche charakterlichen Unterschiede zur Grundlage der politischen Analyse mache, wenn ich also einen radikalen Trennstrich zwischen der Mehrheit der damaligen Deutschen und der Minderheit „der Nazis“ ziehe, dann bleibt mir nichts anders übrig, als in analoger Weise zwischen Islam und Islamismus und zwischen Linken und Kommunisten zu unterscheiden und die Wechselwirkung zwischen den angeblich Gemäßigten und den Extremisten auszublenden.
@ Thatcher:
Damit dürfte auch ein Teil Deiner kritischen Einwände beantwortet sein. Ich wundere mich nur, mit welcher Selbstverständlichkeit mein Versuch, den Nationalsozialismus kausal zu erklären, als MORALISCHE Kritik an den damaligen Deutschen aufgefasst wird. Nochmal: Ich will erklären, WARUM etwas geschehen ist. Ob das Verhalten des Volkes bzw. seiner Mehrheit gut oder böse war, interessiert mich schlicht und einfach nicht.
Genau deswegen geht meine Analyse auch von der Prämisse aus, dass ich es mit normalen Menschen zu tun habe. Die heute gängige Erwartung, anständige Menschen hätten doch „dagegen sein“ oder „Widerstand leisten“ müssen, halte ich für vollkommen unrealistisch, und nichts anderes geht aus meinem Text hervor. Ich KRITISIERE ja gerade, dass man das heute nicht wahrhaben will, weil man glaubt, die Akzeptanz einer bestimmten Ideologie habe vor allem etwas mit dem individuellen Charakter zu tun und ein „böses“ System könne nur von „bösen“ Menschen unterstützt werden.
Da ich von diesem Ansatz ausgehe, also von den Bedürfnissen, die Menschen wirklich haben, und sie zur Erklärung von historischen Sachverhalten einsetze (statt ein Geschichtsbild zu pflegen, das politisch korrekte Edelmenschen voraussetzt, die bloß von einer bösartigen Minderheit unterdrückt worden seien), ist mir wirklich völlig unerfindlich (Herrgott, drücke ich mich denn wirklich SO unklar aus?), wie Du diesen Ansatz in sein Gegenteil verkehren und behaupten kannst, ich wollte den Menschen ihr Bedürfnis nach Sinnstiftung austreiben. Ich will niemandem etwas austreiben.
Ich weise nur darauf hin, dass demokratische Staaten sich schlecht mit einem Volk vertragen, bei dem das Bedürfnis nach Sinnstiftung jede ANDERE Erwartung an Politik in den Schatten stellt. (Ich spreche auch nicht davon, dass das „Firmen-Ideal“ von Politik irgendwo verwirklicht wäre; ich spreche von den ERWARTUNGEN an Politik, nicht von der Politik selbst) Und ich weise darauf hin, dass dieser Sachverhalt eine Achillesferse von Demokratien überhaupt darstellt: An der Stelle, wo ich über die religiöse Politikauffassung schreibe, habe ich ausdrücklich hinzugefügt:
„Man sollte diese Kritik [der Konservativen an der demokratischen Republik] auch nicht leichtfertig als reaktionär oder faschistisch abtun; ob religiös aufgeladene Gemeinwesen auf die Dauer den demokratischen Verfassungsstaaten nicht doch überlegen sind, ist eine immer noch offene Frage.“
Eine Bemerkung, die wohl nicht sehr sinnvoll wäre, wenn ich Sinnstiftungsbedürfnisse nicht als menschliche Bedürfnisse einkalkulieren würde. Wahrscheinlich enthält die amerikanische „Zivilreligion“, auf die Du zutreffend hinweist, genau den Schuss an gesunder Inkonsequenz, den eine Demokratie braucht, um nicht ihren eigenen Widersprüchen zum Opfer zu fallen. (Sehr eingehend habe ich mich mit diesem Problem in dem Beitrag „Christlicher Fundamentalismus“
http://korrektheiten.wordpress.com/2008/01/10/christlicher-fundamentalismus/
auseinandergesetzt; ungefähr ab der Mitte des Artikels).
Aus meinem Text den Schluss zu ziehen, ich hätte „ein gespaltenes Verhältnis“ zu meiner Nation, ist wieder so etwas, was ich nicht nachvollziehen kann. Ich glaube, dass es für Völker genauso wichtig wie für Einzelpersonen ist, sich selbst zu mögen – und zwar so, wie man tatsächlich ist, nicht wie man nach irgendwelchen unreifen und unrealistischen Phantasien sein sollte oder wie die Gesellschaft es erwartet. Dazu gehört auch, dass man das eigene Leben akzeptiert, und dass man das, was man verkehrt gemacht hat, als eigenen Fehler und eigenes Versagen akzeptiert, ohne deswegen in Sack und Asche zu gehen, aber auch ohne es sich schönzureden und ohne einem Anderen die Verantwortung oder Schuld in die Schuhe zu schieben. Um mich mit meiner Nation zu identifizieren, muss ich sie mir nicht schönsaufen.
Was Deine Kritik am Marktliberalismus – überraschend radikal aus dem Mund von jemandem, der sich ausgerechnet „Thatcher“ nennt 😉 – angeht: Die teile ich im wesentlichen. Wenn ich die liberalen Parteien von meiner Beschreibung der vorherrschenden politischen Dispositionen ausgenommen habe, dann nur wegen des historischen Sachverhalts, dass sie von diesen Dispositionen relativ am wenigsten geprägt waren, nicht etwa aus ideologischen Gründen. Mein politisches Leitbild ist die Offene Gesellschaft – das ist nicht dasselbe wie Liberalismus. Es besagt vielmehr, dass ich nicht in einer Gesellschaft leben möchte, in der ein gesellschaftlicher Teilbereich – sei es die Politik, sei es die Religion, sei es die Wirtschaft – alle anderen Lebensbereiche nach seiner Logik umkrempelt. In dem, was man Neoliberalismus nennt, steckt die Idee, alle sozialen Beziehungen zu Marktbeziehungen umzubauen. Eine totalitäre Idee bereits in der Theorie, erst recht in der Praxis. Eine Gefahr für die Offene Gesellschaft, nicht deren Verwirklichung.
Ich glaube, dass Deine Meinungsverschiedenheit mit germanpsycho bezüglich Liberalismus und Marktwirtschaft darauf basiert, dass Du Liberalismus mit Marktradikalismus gleichsetzst. Auf den klassischen Liberalismus trifft das m.E. allenfalls bedingt, wenn überhaupt zu.
Noch ein Wort zu Deinen Bemerkungen über das Judentum: Es ist zutreffend, dass die Juden sich über Jahrhunderte hinweg von der sie umgebenden Gesellschaft abgegrenzt haben, um ihre Religionsgemeinschaft, die ja zugleich ein Volk war, zusammenzuhalten. Richtig ist auch, dass sie lange Zeit deswegen als Fremdkörper empfunden wurden; die klassische Judenfeindschaft, wie wir sie bis Mitte des 19. Jahrhunderts antreffen, ist sicherlich durch diesen Sachverhalt mit angeheizt worden.
Charakteristisch für den modernen „rassisch“ begründeten Antisemitismus ist aber gerade, dass er sich zeitgleich mit der fortschreitenden Assimilierung der Juden entwickelte. Wäre der Antisemitismus ein bloßes soziales Vorurteil gewesen, das aus der wechselseitigen Fremdheit resultierte, so wäre zu erwarten gewesen, dass er in dem Maße zurückgeht wie die Assimilierung voranschreitet. Das Gegenteil geschah aber. Das hatte auch seine innere Logik: Wenn man Juden nicht mehr an ihrem Kaftan und an ihrer jiddischen Sprache erkennt, aber trotzdem seine antisemitischen Denkmuster nicht aufgeben will, so bleibt kaum etwas anderes übrig, als das fiktive Unterscheidungsmerkmal „Rasse“ ins Feld zu führen; und wenn man den Juden nicht mehr ihr Verhalten vorwerfen kann (weil es sich kaum von dem von Nichtjuden unterscheidet), dann muss man ihnen ein fiktives Verhalten zum Vorwurf machen, nämlich den, dass sie eine Weltverschwörung anzetteln würden. Daran, dass dies geschah, lässt sich ablesen, dass der Antisemitismus pure Ideologie war, die mit sozialen Sachverhalten nichts zu tun hatte.
Die Propaganda der Nazis richtete sich demgemäß auch nicht gegen orthodoxe Rabbiner, sondern gegen jüdische Journalisten, Unternehmer, Wissenschaftler, also gegen Angehörige der weitgehend assimilierten Eliten. Was einer der Gründe ist, warum ich (man möchte schon sagen: gebetsmühlenartig) davor warne, den Antisemitismus vor allem als soziales Vorurteil gegen Angehörige einer Fremdgruppe aufzufassen (ein solches Erklärungsmodell passt z.B. auf den Antiziganismus, aber eben nicht auf den Antisemitismus). Der Antisemitismus funktioniert ganz unabhängig davon, was die Juden tun oder lassen.
@Manfred:
Herzlichen Dank für Ihre ausführliche Replik, auf welche ich allerdings erst in ein bis zwei Tagen substanziell antworten kann. Ob ich nun Opfer meiner Lesebrille geworden bin, oder ob Sie jetzt versuchen, Mißverständliches umzubiegen, lasse ich jetzt einmal dahingestellt. Ich muß einmal alle Ihre Texte nochmal genau lesen — ich will Ihnen ja nichts Böses unterstellen!
P.S.: Ihre Anmerkungen @Thatcher bezüglich „offener Gesellschaft“ erfreuen mein Herz — das ist nämlich genau der Grund, weshalb ich mit „Hardcore-Libertären“ irgendwie nicht zusammenkomme. Auch dazu später mehr.
Einem Punkt muß ich klar widersprechen: Hitler sei durch Wahlen an die Macht gekommen. Das stimmt nur insofern, als seine Wahlerfolge sicherlich ihn erst in die zur Machtübernahme nötige Position gebracht haben – es hat ja niemand Ludendorff mit der Regierung beauftragt – aber an die Macht gekommen ist er dadurch, daß Hindenburg ihn ernannt hat und er anschließend die nocht existierenden Schranken aus dem Weg geräumt bzw. sich unterworfen hat hat (Parlament, Hugenberg, Papen, SA, Wehrmacht). Und die in den Wahlen sich ausdrückende populäre Basis hat es ja eben auch im Falle Mussolinis und Francos gegeben.
Was LP’s 20-80 Relation angeht, finde ich, daß diese hier nicht richtig ernstgenommen bzw. dargestellt wird. Wenn 20% überzeugte Nazis sind, heißt das ja nicht, das 80% Nonkonformisten (was auch immer das sein soll) wären. Nein, diese 80% stehen dem Staat mit einer gewissen Distanz gegenübern, erkennen ihn aber trotzdem an, nehmen Vorteile in Kauf, machen hier und da Zugeständnisse in ihrem Handeln und auch im Denken usw. Es geht nicht darum, daß diese von den 20% gezwungen wurden, sondern daß die 20 – wenn im Besitz der Macht – das Ganze in ihre Bahnen lenken können, vor allem wenn sie es nicht frontal angehen und gleich von allen alles verlangen.
„Fassen wir zusammen: Die überwältigende Mehrheit der Deutschen, einschließlich der Sozialisten und engagierten Christen, hielt Politik für die Verwirklichung religiöser oder quasi-religiöser Ideale, fand es selbstverständlich, dass man zu diesem Zeck politische Gegner physisch bekämpfte, betrachtete das Führerprinzip als Ordnungsideal, hielt internationale Politik essenziell für einen Machtkampf von Nationen, betrachtete Juden als fremde Eindringlinge und sehnte sich der Volksgemeinschaft.“
Wie kommen sie zu solch kuriosen Behauptungen (wobei sie hier plötzlich entschärfen – weiter oben war noch absurderweise von Weltherrschaft die Rede)? Und macht das alles schon einen Nazi aus? Ist das nicht doch wieder nur der alte Antifaschismus?
Noch so eine Halbwahrheit:
„Und auch von Papen, der als Zentrumspolitiker zum Reichskanzler ernannt wurde …“
Ähem, die Ernennung Papens bedeutete die Absetzung des Zentrumspolitikers Bürning und führte direkt zum Ende von Papens Parteimitgliedschaft,
Man kann also Papen nicht als Beispiel für die Zentrumspartei anführen.
Germanpsycho,
Das Gegenteil ist richtig. Glauben Sie, daß ein echter Liberaler andere Ziele verfolgt als Sie, Thatcher? Also, daß er im Kern etwas anderes will als möglichst vielen Menschen ein möglichst angenehmes Leben zu bescheren, inklusive Randgruppenschutz etc? Wenn ja, dann erliegen Sie demselben Irrtum wie viele Menschen, die ideologisch denken.
„Liberalismus, egal ob nun in bezug auf Markt oder Meinungen, ist immer die Skepsis vor Menschen.“
Ähem. Genau das tut der Liberalismus nicht. Im Gegenteil, er hat eine grundsätzlich opitimistische Sicht auf den Menschen, der gut ist und dem man nur die Freiheit geben muß. Der deshalb auch mit der Vernunft sich seine bessere Welt bauen soll.
Es ist der alte Konservatismus, der gegenüber Menschen und ihrem Denken skeptisch ist und deshalb vorsichtig ist, daß angeblich überholte abzuschaffen, der althergebrachte Kontrollen verteidigt.
Nur weil der Liberalismus inzwischen gesiegt hat und allenthalben regiert, mithin nun konservativ geworden ist, heißt das nicht, daß sich seine Grundprinzipien einfacht so ändern lassen.
Mein Kommentar sollte so aussehen:
Germanpsycho,
“Liberalismus, egal ob nun in bezug auf Markt oder Meinungen, ist immer die Skepsis vor Menschen.”
Ähem. Genau das tut der Liberalismus nicht. Im Gegenteil, er hat eine grundsätzlich opitimistische Sicht auf den Menschen, der gut ist und dem man nur die Freiheit geben muß. Der deshalb auch mit der Vernunft sich seine bessere Welt bauen soll.
Es ist der alte Konservatismus, der gegenüber Menschen und ihrem Denken skeptisch ist und deshalb vorsichtig ist, daß angeblich überholte abzuschaffen, der althergebrachte Kontrollen verteidigt.
Nur weil der Liberalismus inzwischen gesiegt hat und allenthalben regiert, mithin nun konservativ geworden ist, heißt das nicht, daß sich seine Grundprinzipien einfacht so ändern lassen.
@ str1977:
Ich weiß nicht, wo Sie das mit Papen herhaben, von mir stammt das Zitat jedenfalls nicht.
Ihre Bemerkungen zu den Umständen von Hitlers Machtergreifung nehme ich mit Dank als Präzisierung des konkreten historischen Ablaufs zur Kenntnis, taugt aber nicht als Gegenargument gegen irgendeine meiner Thesen.
Der von Ihnen zitierte letzte Absatz des Artikels ist explizit als Zusammenfassung des Vorhergehenden gekennzeichnet. Wenn Sie also wissen möchten, wie ich zu meinen Ihrer Meinung nach kuriosen Behauptungen komme, lesen Sie am besten den Artikel. Daraus geht dann auch hervor, dass der „Machtkampf von Nationen“ als Kampf um Weltherrschaft zu verstehen ist. Generell bitte ich darum, die Debatte nicht auf der Ebene von – pardon – kleinlicher Wortklauberei zu führen.
Was die 20-80-Relation betrifft, so glaube ich bereits im Artikel „Opa war kein Nazi“ hinreichend deutlich gemacht zu haben, dass man die Nähe oder Ferne zum Nationalsozialismus am besten als ein System konzentrischer Kreise auffasst; dass aber wirkliche Regimegegner, und seien sie nur Gegner im Geiste, eine periphere Minderheit darstellten.
Im übrigen habe ich nicht darüber geschrieben, was „einen“ Nazi ausmacht, sondern was ein ganzes Volk anfällig für den Nationalsozialismus macht.
@ Flowerkraut:
Danke für Deinen Kommentar, und dass Du ein Stück mitgefahren bist! Ich hatte schon befürchtet, ich hätte Dich mit meiner allzu grantelnden Reaktion auf Deine letzten Kommentare vergrätzt.
@Manfred
Da du mich in deinem Artikel und in der Diskussion mehrmals erwähnt hast, möchte ich mich doch mal kurz melden. Es gäbe zu vielen Details in der Diskussion einiges zu sagen, aber das überfordert mein Zeitbudget und meinen Schreibeifer. Ich gehöre auch nicht zu den Anhängern jeder Art von -ua. sozialwissenschaftlicher 😉 – Gnostik, die meinen alles verstehen und erklären zu können. Ich möchte nur kurz einiges deutlich machen, denn unsere Denkweise ist in der Tat sehr verschieden, selbst wenn wir gelegentlich zu ähnlichen Schlüssen gelangen.
Du hattest meine Argumente aus der Korandiskussion in einen Zusammenhang mit der deutschen „Geschichtsaufarbeitung“ gestellt. Also gut, ich setze mich in dein Auto und fahre ein Stück mit dir!
Es gibt viele Dinge auf der Welt, die sind unangenehm, vielleicht sogar hinderlich, fortschrittsfeindlich oder schlecht ohne dass sie deshalb auch hochgradig gefährlich und epidemisch sind. Beziehungsweise sie sind nur für die Akteure selbst und ihren engeren Umkreis gefährlich (bestimmt fundamentale Sekten könnte man hier als typisches Beispiel anführen).
Es wurde zu Recht erwähnt, das es im Europa des letzten Jahrhunderts viele rechtsautoritäre oder „faschistische“ Gruppierungen, Parteien und sogar Regierungen gab. Nur sollten wir dabei einige Fakten nicht aus den Augen verlieren: Das faschistische Spanien beteiligte sich am 2. Weltkrieg fast nicht. Das faschistische Italien lieferte seine Juden, ebenso wie Spanien, nicht an die deutschen Betreiber der Gaskammern aus. Finnland kämpfte an Seite Deutschlands einen Kampf um seine staatliche Existenz. Es scherte sich aber einen Dreck um die nationalsozialistische judenfeindliche Rassenpolitik. Faschistische Regime in anderen Ländern konnten oft nur durch deutsche Mitwirkung etabliert werden und deren Funktionieren bedurfte oft eines weiteren deutschen „Engagement“. Es fällt angesichts dieser und anderer Unterschiede in der Tat schwer, bei diesem deutschen Sonderweg nicht von einem nationalen Projekt der Deutschen zu sprechen, bei allen Einschränkungen die einzelne Individuen und einzeln Gruppen betreffen. Ein Sonderweg der eifrigen Perfektion und des kaltblütigen Fanatismus. Ich bin mir aber nicht sicher, ob dein „quasireligiöser“ Erklärungsversuch, zutreffend und umfassend ist, aber ich habe selbst auch keine Erklärung dafür. Ich sehe nur eine sehr lange Abfolge falscher Überzeugungen, falscher Entscheidungen und Handlungen sowohl von Einzelnen und Kollektiven. Auch der von anderen Teilnehmern geäußerte Verweis auf die Abstumpfung und Verrohung durch die Gräuel im ersten Weltkrieg und in den Kolonialunternehmungen überzeugt mich nicht.
Du hast völlig zu Recht in der Diskussion festgestellt, dass das Argument „die anderen haben aber hier und dort auch dies und jenes gemacht“ allenfalls zu einer kurzfristigen Verblüffung oder Sprachlosigkeit führen kann, aber sonst keinerlei erklärende Kraft hat. Jede Gemeinschaft/Gesellschaft muss schon selbst einsehen und verstehen wollen, dass und warum ihr Weg in die Sackgasse und zum Massenmord geführt hat und das es von der Zivilisation zur Bestialität manchmal nur ein kleine Abweichung in die falsche Richtung ist.
Zum Schluss noch zwei kurze Anmerkungen:
Jugendverbände: Auch im kirchlichen Umfeld gab es -teilweise wohl auch um die Jugendlichen bei der Stange zu halten- beinahe „paramilitärische“ Gruppierungen. Im Anbetracht der diversen Karate- und Kampfsportclub in unseren Großstädten scheint mir das nur dann ein signifikantes Element zu sein, wenn damit auch eine bestimmtes Weltbild, wie z.B. bei rechten Wehrsportgruppen, vermittelt wird.
Führer: Nicht der ubiquitäre Begriff ist das Problem, sondern das Führerprinzip, dh. die Ausschaltung eines internen demokratischen Meinungsbildungs- und Handlungsprozesses, bzw. dessen Reduzierungen auf einen rein formalen oder akklamatorischen Akt.
Ciao
Manfred,
ich wollte Dir sagen, dass ich immer mitlese und nur deshalb keine Kommentare hinterlasse, weil ich Deine Thesen sehr einleuchtend finde.
„Ich hatte schon befürchtet, ich hätte Dich mit meiner allzu grantelnden Reaktion auf Deine letzten Kommentare vergrätzt.“
I wo! Mit Widerspruch und anderen Ansichten solange sie halbwegs normal „verpackt“ sind, kann ich durchaus leben, nur glaube ich, dass es in deinem essayistischen Blog nicht immer sehr sinnvoll und passend ist, Diskussionen, die sich aufgrund unterschiedlicher Auffassungen im Kreis bewegen, endlos weiterzubetreiben. Das stört den Gesamteindruck. 😀 😉
Der von mir kritisierte Papenkommentar stammt nicht von Ihnen, sondern von Robin im ersten Kommentar.
Damit ein Kollektiv sich „böse“ verhält, muss es keineswegs aus bösen Menschen bestehen. Im Gegenteil: Gerade das, was wir schnöde „Konformismus“ nennen, also die Bereitschaft, den Erwartungen der Gesellschaft zu entsprechen, ihre Normen zu erfüllen und zu ihrem Gedeihen beizutragen, ist das, was wir normalerweise das „Gute“ nennen; und wir müssen auch so nennen, weil es die Voraussetzung dafür ist, dass so etwas wie menschliche Gesellschaft überhaupt existieren kann.
@ Manfred
Zunächst: Ein lesenswerter Aufsatz.
Aus dem oben zitierten Absatz lese ich eine gewisse Moralkritik heraus. Ich will dir in diesem Zusammenhang insoweit beipflichten, als sich Opportunismus und Überzeugungstäterschaft realtypisch gesehen nicht völlig ausschließen (so verstehe ich jedenfalls Haffner sinngemäß) und hier – jeder Vergleich hinkt – die Übergange in etwa so fließend sind, wie jene zwischen Islam und Islamismus.
Dennoch möchte ich – wenn man so will: idealtypisch – den Unterschied Opportunismus und Überzeugungstäterschaft im Kontext von Individualverhalten in Diktaturen deutlicher heraustellen.
Beim Opportunisten regt sich noch (mal mehr, mal weniger) ein Gewissen. Der Opportunist verdrängt. Seiner Anpassungsleistung unter der Diktatur zum Trotz spürt er einen Widerspruch zwischen Individualmoral und der geltenden Moral der Diktatur.
Den Überzeugungstäter hingegen ficht das nicht an. Er hat die Moral der Diktatur internalisiert. Er hat im Gegensatz zum Opportunisten nichts, oder doch zumindest vergleichsweise wenig, zu verdrängen. Die Diktatur verkörpert(e) das „Gute“.
Warum sage ich das?
Totalitäre Ideologien bzw. die Motive für dieselben lassen sich meiner Ansicht nach im Kern eben nicht aus purem Machtstreben und/oder Opportunismus erklären, sondern, so merkwürdig und umständlich das klingen mag, aus tief empfundenen Überzeugung von Menschen, das „Gute“ zu tun, zuvörderst hochmoralisch und danach erst (für sich selbst) nützlich zu handeln.
Aus Machtreben und/oder Opportunismus allein erwächst keine totalitäre Ideologie. Beides ist Bedingung für das Ausmaß ihres (zeitweisen) Erfolgs, aber nicht für ihr Sein.
@ N.Neumann:
Ich stimme Dir zu und fasse Deinen Kommentar als Ergänzung zu meinen Thesen auf, nicht als Gegenposition. Mir ging es in der Tat darum, den Erfolg totalitärer Ideologien zu erklären, nicht aber darum, zu behaupten, zwischen Opportunisten – oder, freundlicher aber nicht falsch ausgedrückt: Menschen, die sich beeinflussen lassen – und Überzeugungstätern gebe es keinen Unterschied.
Ein sehr schöner Aufsatz. Ich freue mich schon, Ihre früheren Postings durchzustöbern!
Nur ein Punkt: „Hitlers durchschlagende Erfolge, speziell auf wirtschaftlichem Gebiet“ hören sich nach dem alten Mythos an, die Nazis hätten die Weltwirtschaftskrise innerhalb Deutschlands überwunden und seien auf wirtschaftlichem Gebiet kompetent gewesen, abgesehen vielleicht von ihren Zwangsmaßnahmen.
In Wirklichkeit war die Wirtschaftspolitik unter Hitler analog zum Schlägertypen, der, als er kein Geld mehr für Alkohol hat, erst sein Mobiliar zum Pfandleiher trägt, dann seine Nachbarn aggressiv anpumpt und sich schließlich mit dem Springmesser in der Hand zu einem Bier nach dem anderen „einladen“ lässt – kurzfristig sind die Probleme gelöst, langfristig eher nicht. Sehr gut hierzu Adam Tooze, „The Wages of Destruction“.
@ Gorgasal:
Stimmt, aber das wissen wir heute, dass die deutsche Wirtschaft damals mit schädlichen Drogen aufgeputscht worden ist. Wahrscheinlich hätte man es auch damals schon wissen können, wenn man sich dafür interessiert hätte. Der psychologischen Wirkung der Reduzierung der Arbeitslosigkeit von 6 Millionen auf Null tat das aber keinen Abbruch.
@Manfred und LePenseur
Vielen Dank für Eure aufschlussreiche Diskussion.
Ich habe viel Verständnis für Eure Ablehnung jeglichen gesellschaftlichen Umbaus, egal unter welchem Etikett. Die Idee eines bewussten Umbaus hin zu liberalen Strukturen und gegen die Menschen muss freilich als absurd erkannt werden, denn wo gesellschaftlicher Umbau dekretiert wird, kann von Liberalität nicht mehr gesprochen werden. „Privatisierung“ unter den Vorzeichen von Regulierung und Marktzutriffsverboten ist mit dem Versuch vergleichbar, per Parlamentsbeschluss einen Fußballmeister zu küren, der am Wettspielbetrieb nicht teilnehmen soll. Vielleicht geben Euch Artikel von Robert Nef, etwa „Lob des Non-Zentralismus“ einen Hinweis darauf, was unter radikaler Liberalität verstanden werden kann, wenn sie der Gier, sofort auf politischem Wege einen Pyrrhus-Sieg zu erringen, entsagt. Der wirklich Hardcore-Libertäre verlangt nicht eine konkrete Umgestaltung, sondern er bemüht sich, die von den anderen Menschen im Markt beeinflussten Gegebenheiten zu erkennen und die Möglichkeiten seiner Reaktion darauf abzuwägen. Zugleich gilt sein Interesse den historischen Entwicklungen gesellschaftlichen Lebens, um daraus Wege für sein eigenes Verhalten abzuleiten. Unter wertewirtschaft.org ist allerlei davon zu finden.