Manfred Kleine-Hartlage: Rede zum 17. Juni

(Diese Rede hielt ich am 17. Juni 2013 auf dem Alexanderplatz. Die Veranstaltung wurde von der Partei Die Freiheit ausgerichtet. Eine Videoaufzeichnung ist leider nicht verfügbar.)

Heute vor genau sechzig Jahren, am 17. Juni 1953, geschah in der damaligen DDR das, was alle diktatorischen Regime der Welt am meisten fürchten: Das Volk verlor seine Angst. Ein System der Einschüchterung, bei dem niemand sich traut zu rebellieren, weil er fürchtet, damit allein zu stehen, brach auf einen Schlag in sich zusammen.

Dieses Regime hatte von Anfang an gewusst, dass es vom Volk abgelehnt wurde. Es wusste, dass nur Wenige an seine Ideologie glaubten. Es wusste, dass es – und zwar völlig zu Recht – als Statthalter einer feindlichen Macht betrachtet wurde.

Das Volk wiederum wusste, dass die Früchte seiner Arbeit nicht ihm selbst gehörten, sondern von den Machthabern ins Ausland geschafft wurden – selbstredend nur aus den edelsten Gründen der Solidarität.

Dieses Regime konnte sich nicht leisten, die Menschen mit ihrer eigenen Meinung zu Wort kommen zu lassen. Es war darauf angewiesen, dass der einzelne Bürger sich hütete zu sagen, was er wirklich dachte: dass er seinem Nachbarn misstraute, dass er im Betrieb, in der Schule, in der Universität und überhaupt in der Öffentlichkeit nichts sagte, was der Lehre der Partei widersprach. Dass er sich sogar überlegen musste, was er am Mittagstisch zu seinen eigenen Kindern sagte.

Und es konnte diesem Regime auch nicht genügen, dass der Bürger der Partei nicht widersprach: Er musste von Zeit zu Zeit, und zwar auf Kommando, seine ausdrückliche Zustimmung bekunden, und das nicht irgendwie; sondern in ganz bestimmten vorgegebenen Sprachregelungen, in gestanzten Wortschablonen, in stereotypen Phrasen, die in aller Regel den blanken Unsinn enthielten.

Diese immergleichen Phrasen waren Teil eines Unterwerfungsrituals:

Gerade weil sie so dumm waren, gerade weil jeder wusste, dass sie mit der Wirklichkeit nichts zu tun hatten, gerade weil jeder, der sie aussprach, sich dadurch zum Affen machen musste, und gerade weil es deswegen eine Selbsterniedrigung bedeutete, sie auszusprechen, waren sie das ideale moderne Äquivalent zum Gesslerhut:

Wer nicht mitmachte, war verdächtig. Er war verdächtig, eigene Gedanken zu haben. Er war verdächtig, Charakter zu haben. Er war verdächtig, nicht käuflich, nicht erpressbar und nicht manipulierbar zu sein. Für ein totalitäres Regime sind solche Menschen eine Gefahr.

Und eine Gefahr wäre auch gewesen, wenn diese Menschen in den Massenmedien zu Wort gekommen wären – also kamen sie nicht zu Wort. Die Medien der DDR waren im Wesentlichen gleichgeschaltete Propagandamedien, deren Propaganda nicht einmal gut gemacht war:

Sie erzählten – natürlich wiederum in Phrasen und immergleichen Versatzstücken – von einer lichten Zukunft, von der Jeder, der bis drei zählen konnte, wusste, dass sie nie kommen würde. Vom unverbrüchlichen Bruderbund mit der Sowjetunion – die ihren Vasallenstaat DDR und dessen Volk zur selben Zeit nach Strich und Faden ausplünderte. Vom unaufhaltsamen „Fortschritt“ – von dem Jeder wusste, dass er in Sklaverei und Ruin führen würde.

Eine Gefahr wäre gewesen, wenn Nonkonformisten die Möglichkeit gehabt hätten, als Mulitiplikatoren aufzutreten. Das Regime musste deshalb nicht nur verhindern, dass sie in irgendeiner Form Karriere machten, es musste sie geradezu aus der Gesellschaft ausschließen.

Und es hatte sich eine Ideologie zurechtgelegt, deren Funktion genau darin bestand, den Andersdenkenden, den Oppositionellen, den Feind des Regimes zum Feind des Menschen schlechthin, zum „Menschenfeind“, zu erklären.

Diese Ideologie nannte sich „Antifaschismus“:

Wer die Glaubenssätze der Partei nicht auf Kommando wiederholte, wer sich nicht ausdrücklich und lautstark von Verfemten distanzierte, wer die geforderten Unterwerfungsrituale nicht mitmachte, wer nicht bereit war, auf Geheiß der Partei zu erklären, der Sozialismus sei eine Bereicherung für uns alle, der konnte laut amtlicher Lesart nur ein „Faschist“ sein.

Und da die Grundphilosophie der Richter und Henker des Regimes lautete, Faschismus sei keine Meinung, sondern ein Verbrechen, landete mancher als „Faschist“ gebrandmarkte Oppositionelle in einem sibirischen Konzentrationslager – aus dem Viele nicht zurückgekehrt sind.

George Orwell hat die Logik totalitärer Sprachverwirrung offengelegt. Wo totalitäre Tyrannen herrschen, da – und nur da! – gelten Schlagworte wie „Krieg ist Frieden“ oder „Freiheit ist Sklaverei“ – und man könnte hinzufügen: „Intoleranz ist Toleranz“. Und aufgrund genau derselben Logik, einer Logik, die nur totalitären Ideologen und ihren Blutrichtern in den Sinn kommen kann, war es möglich, eine Ideologie, wonach der Andersdenkende ein Untermensch ohne Bürgerrechte sei, also eine Ideologie, die in diesem entscheidenden Punkt eins zu eins die Ideologie von Roland Freisler ist, ausgerechnet „Antifaschismus“ zu nennen!

Das Regime nannte seinen Staat bekanntlich „demokratisch“. Und was es unter Demokratie verstand, hat Walter Ulbricht auf den Punkt gebracht: „Es muss alles demokratisch aussehen, aber wir“ – also die Kommunisten – „müssen alles in der Hand haben“. Es gab mehrere Parteien in der DDR, nicht nur die SED, aber die anderen Parteien wussten genau, was sie sagen – und vor allem: was sie nicht sagen durften.

Unter diesen Umständen hätte sich die SED das System der Einheitslisten sogar sparen können. Wenn in allen wesentlichen Fragen ohnehin alle Parteien dasselbe sagen, und das bis in die Phraseologie hinein, dann kann im Prinzip auch ein totalitäres Regime sich leisten, solche Parteien nominell miteinander konkurrieren zu lassen. Das Ergebnis wäre trotzdem dasselbe gewesen, und vor allem hätte dann alles noch ein bisschen demokratischer ausgesehen. Die DDR des Jahres 1953 hätte dann fast so ausgesehen – wie die BRD des Jahres 2013.

Totalitarismus erkennt man als solchen nicht an den Zielen, auf die er sich beruft, sondern an den Mitteln, derer er sich bedient.

Man erkennt ihn schon in seinen frühesten Phasen daran, dass er eine politische Moral propagiert, wonach das edle Ziel – welches auch immer: ob das nun die Volksgemeinschaft ist, oder die klassenlose Gesellschaft, oder auch die multikulturelle Gesellschaft – jedes Mittel heiligt, auch den Rechtsbruch, auch Zensur, auch Gesinnungsjustiz und Terror.

Man erkennt den Totalitarismus daran, dass die Herrschenden ihre Gegner als den Inbegriff des Bösen hinstellen und das Volk zum Rechtsbruch gegen Andersdenkende aufhetzen und vesuchen, eine Pogromstimung zu erzeugen.

Man erkennt ihn daran, dass sie versuchen, bestimmte Gruppen aus der Gesellschaft auszuschließen, aus Vereinen und aus Kirchen, dass man sie um ihren Arbeitsplatz und ihre Bankkonten bringt, und dass man eine Art inoffizielles Kontaktverbot über sie verhängt. Es soll nicht mehr möglich sein, den Anderen als einen Menschen wahrzunehmen: Er soll hinter einem ideologisch definierten Feindbild, einer Karikatur, restlos verschwinden.

Man erkennt ihn daran, dass jeder Bürger und jede Institution zum „Kampf“ und zur „Wachsamkeit“ aufgerufen wird, und dies auch und gerade in unpolitischen Lebensbereichen, wo solcher Kampf und solche Wachsamkeit normalerweise nichts zu suchen haben.

Man erkennt ihn daran, dass insbesondere die Wissenschaft und die Medien mit einem politischen„Kampfauftrag“ versehen werden – und diesen auch erfüllen, und wenn sie ihr eigenes Ethos damit noch so sehr verraten.

Man erkennt ihn daran, dass die Machthaber sich nicht damit begnügen, dass die Bürger sich gesetzesloyal verhalten, sondern dass sie dazu übergehen, auch Meinungen, Gedanken und Gefühle zu kontrollieren, sie zum Maßstab staatbürgerlicher Loyalität zu machen und den Bürger, der die aus Regimesicht „falschen“ Gedanken und Gefühle hat, deswegen zum Staatsfeind zu stempeln.

Man erkennt Totalitarismus als solchen schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt daran, dass die gesamte staatliche Bildungspolitik, die Schulen, Universitäten, bis hinunter zu den Kindergärten, darauf ausgerichtet wird, die Maßstäbe für rationales Argumentieren zu zerstören und durch ideologiegesteuerte Pawlowsche Reflexe ersetzen.

Und man erkennt ihn nicht zuletzt an der penetranten Allgegenwart ideologischer Propagandaphrasen in allen Lebensbereichen – bis hinein ins Fußballstadion.

Leider wird niemand behaupten können, dass solche Zustände der real existierenden BRD des Jahres 2013 fremd seien:

Dieselbe Allgegenwart von Kampf- und Wachsamkeitsparolen, von geisttötender Indoktrination und Umerziehungskampagnen, von unerträglicher geistiger Öde in den Medien, dieselbe Diffamierung des Andersdenkenden als „Faschist“ und „Menschenfeind“. Die Rechtfertigungsdoktrin für all dies hieß in der DDR „Antifaschismus“, und heißt in der heutigen BRD ebenfalls Antifaschismus. Warum auch nicht? Sie erfüllt ja dieselbe macht-technische Funktion, nämlich sich selbst von der Pflicht zu Einhaltung demokratischer Spielregeln zu entbinden.

Worin sich beide Systeme aber vor allem ähnlich sind, ist, dass sie ein ideales Biotop sind, in dem Kretins definieren, was Intellektualität ist – weil ja jede geistige Leistung, die über die bloße Phrasenmontage hinausgeht, von vornherein dissidenzverdächtig ist.

Während des Kalten Krieges entwickelten Politikwissenschaftler die sogenannte Konvergenztheorie, wonach die Zustände in Ost und West sich im Zeitverlauf immer mehr einander angleichen würden. Und obwohl es den Realsozialismus heute nicht mehr gibt, feiert die Konvergenztheorie ihre späten Triumphe.

Ein Staat – oder sagen wir genauer: ein Regime, das heißt eine zusammenhängende Machtstruktur, von der der eigentliche Staat nur ein Teil ist – ein Regime also, das es nötig hat, seine Bürger umzuerziehen, einzuschüchtern und mundtot zu machen, gibt dadurch zu, dass es ein Feind des eigenen Volkes ist und zu diesem Volk in demselben Verhältnis steht wie eine Besatzungsarmee zum Feindesland.

Die Mittel, mit denen die politische Klasse der BRD und ihre Komplizen die Konformität der Bürger zu erzwingen versuchen, gleichen nicht zufällig denen, die das DDR-Regime anwandte, sondern offenbaren die innere Verwandtschaft beider Regime.

Dass wir uns hier noch versammeln können, vedanken wir nicht dieser Klasse, die unser Versammlungsrecht sofort kassieren würde, wenn sie es könnte. Wir verdanken es dem Grundgesetz, das aus einer Zeit stammt, als die Bundesrepublik Deutschland sich noch als bewusst antitotalitäres Staatswesen verstand. Wir verdanken es, genauer gesagt, der Tatsache, dass die Versuche der herrschenden Klasse, dieses Grundgesetz auszuhöhlen, umzudeuten, zu entstellen, zu manipulieren, zu beugen und zu brechen zwar schon viel zu weit gediehen sind, dass sie es aber noch nicht geschafft haben, den Kern der deutschen Rechtsstaatlichkeit zu zerstören.

Die BRD ist ein Staat im Übergang. Es gibt noch bedeutende Restbestände an überlieferter liberaler und rechtsstaatlicher Substanz, die zu verteidigen sich lohnt, aber dieser Staat befindet sich auf der Bahn in den Totalitarismus, weil er von seiner eigenen politischen Klasse dorthin geführt wird.

Sämtliche Blockparteien, die man deswegen auch so nennen darf, betreiben im Kern ein und dieselbe Politik, und sie verheimlichen es nicht einmal, sie rühmen sich dieser Politik sogar, wenn auch in ideologisch-propagandistischen Verklausulierungen.

Diese Politik zielt darauf ab, staatliche Kompetenzen von der nationalen auf die supranationale Ebene zu verschieben und sie dadurch demokratischer Kontrolle zu entziehen. Sie zielt darauf ab, das eigene Volk zugunsten dieser supranationalen Einheiten, zugunsten fremder Staaten und nicht zuletzt zugunsten des Finanzsektors auszuplündern. Sie zielt darauf ab, ungehemmte Masseneinwanderung herbeizuführen und dadurch das deutsche Volk als solches, das heißt als Solidargemeinschaft, aufzulösen. Nach dem 17. Juni 1953 hatte Bertolt Brecht der DDR-Regierung empfohlen, sie möge doch das Volk auflösen und sich ein neues wählen. Das war damals ironisch gemeint. Heute ist es Staatsdoktrin.

Es handelt sich um eine Politik des Kalten Staatsstreiches, bei der von der Demokratie nicht mehr übrig bleiben soll und wird als eine bloße Fassade. Es handelt sich um eine Politik, die nicht anders als die Politik der DDR darauf abzielt, eine Utopie zu verwirklichen, diesmal die Utopie einer „One World“, die man sich auf grünen Parteitagen als ein Reich der Harmonie vorstellt, wo sich alle ganz doll liebhaben.

Die Wirklichkeit in den Teilen unserer Stadt, wo man dieser Utopie schon etwas näher gekommen ist, erst recht die Wirklichkeit in Ländern wie Frankreich, England und Schweden spricht aber eine ganz andere Sprache. Sie ist ein Vorgeschmack auf die „One World“, und bereits dieser leichte Vorgeschmack lässt schon ahnen, was für eine Hölle das sein wird. Die One World, genau wie vorher der Kommunismus, ist eine Kopfgeburt von utopistischen Ideologen: Was sie versprechen, ist immer der Himmel. Und was sie liefern, ist immer die Hölle. Allerdings eine Hölle, die aus ihrer Sicht den ganz eminenten Vorteil hat, dass sie selber darin die regierenden Oberteufel sind.

Je mehr Menschen diesen Betrug durchschauen – und über kurz oder lang kommt Jeder dahinter, welches Spiel hier gespielt wird –, desto mehr ist das Regime gezwungen, auf repressive und manipulative Praktiken zurückzugreifen, auf Propaganda, auf Lügen und Indoktrination und vor allem auf Einschüchterung. Je weiter die BRD auf ihrem Weg in den Abgrund voranschreitet, desto ähnlicher wird sie deshalb zwangsläufig der DDR.
Es liegt eine gewisse Logik darin, dass die BRD den 17. Juni als Nationalfeiertag abgeschafft hat. Die heutigen Machthaber stehen nämlich nicht in der Tradition der Aufständischen, sie treten in die Fußstapfen des SED-Regimes.

Ihre Achillesferse ist dieselbe, die 1953 dem SED-Regime zum Verhängnis geworden wäre, wenn nicht sowjetische Panzer zu seiner Rettung bereitgestanden hätten. Und bedenken wir: Die heute Herrschenden haben keine Besatzungsarmee im Rücken, die bereit wären, ihnen zuliebe das Volk zusammenzuschießen.

Die Achillesferse der Herrschenden ist ihre Abhängigkeit. Sie sind, und zwar in immer stärkerem Maße, davon abhängig, dass ihr immer dichter werdendes Netz aus Mobterror, Meinungsparagraphen, Gesinnungsjustiz, Indoktrination, politischer Korruption, Bespitzelung, Denunziation und Propaganda ungebrochen funktioniert und nicht an irgendeiner Stelle reißt. Sie sind davon abhängig, dass die Bürger jeden Tag ihre eigene bessere Einsicht vergewaltigen. Irgendwann kommt der Punkt, an dem sie dazu nicht mehr bereit sind. Und der Tag, an dem dies geschieht, ist der Alptraum aller Herrschenden, die gegen das eigene Volk arbeiten.

Der 17. Juni 1953 war der Tag, an dem das Volk seine Angst verlor. An dem es seine Rechte und seine Würde zurückforderte. Es war der Tag, an dem es den Herrschenden zeigte, dass es nicht bereit war, als Versuchskaninchen in utopistische Menschenversuche herzuhalten. Dass es nicht bereit war, sich für fremde Interessen melken zu lassen. An dem die Menschen aber vor allem zeigten, dass die Deutschen keineswegs das Volk von obrigkeitshörigen Duckmäusern sind, das eine (von wem auch immer) verbreitete Legende aus ihnen machen will, und dass ein totalitäres Regime an dem Tag stürzt, wo die Menschen sich von ihrer Angst befreien.

Heute erfordert es leider Gottes Mut, zur eigenen Überzeugung zu stehen. Aber es erfordert bei weitem nicht den Mut, den die Aufständischen vor sechzig Jahren zeigten, als sie den sowjetischen Panzern entgegentraten. George Orwell hat einmal gesagt: Wo die Lüge herrscht, ist die Wahrheit auszusprechen ein revolutionärer Akt. Lasst uns in diesem Sinne Revolutionäre sein!