Angezählt

Die Wahl des neuen Bundespräsidenten wird für Angela Merkel zur Zitterpartie. Ihre Partei hat nacheinander eine wichtige Wahl, einen wichtigen Ministerpräsidenten und einen Bundespräsidenten verloren. Die Regierung hat die Medien gegen sich, und dies liegt ausnahmsweise nicht an den Medien, sondern an der Regierung: Selbst mit viel Wohlwollen und Phantasie und der passenden ideologischen Brille auf der Nase könnte man schwerlich erkennen, wie man über diese Regierung etwas Positives sagen sollte.

In dieser Situation hat Merkel zwei Fehler gemacht:

Erstens hat sie den Eindruck zugelassen, dass Ursula von der Leyen ihre Wunschkandidatin sei und sie nur unter Druck Christian Wulff nominiert habe; das stimmt zwar nicht, aber so wird es hängenbleiben.

Zweitens hat sie die Gelegenheit verpasst, rechtzeitig auf den Gauck-Zug aufzuspringen, wie die SPD es ihr noch vor Wulffs Nominierung angeboten hatte.

Eines muss man den Herren Trittin und Gabriel ja lassen: Gauck vorzuschlagen war ein Geniestreich. Er ist wirklich der eindeutig geeignetere Kandidat, und daran ändert auch die Tatsache nichts, dass nunmehr eine Medienkampagne zu seinen Gunsten gefahren wird – manchmal haben auch Medienfuzzis ihre lichten Momente.

Man mag es widerlich finden, wie die Presse die Gelegenheit beim Schopf packt, die Regierung zu stürzen, aber ohne deren eigene Schwäche wären die Mediengeier gar nicht erst in diese Versuchung geraten.

Merkel mag sich ihre Methode, Staatsinteressen dem eigenen Machterhalt unterzuordnen, und daher jeden potenziellen Konkurrenten wegzubeißen oder wegzuloben, zum Teil bei Helmut Kohl abgeguckt haben. Während Kohl aber über ein dichtes innerparteiliches Beziehungsnetz bis hinunter in die Kreis-, ja Ortsverbände verfügte und deshalb jede Krise aussitzen konnte, fehlt Merkel diese Verwurzelung in ihrer Partei. Es ist diese strukturelle Schwäche ihrer Position, die sie immer wieder zu einem kleinkarierten Taktieren zwingt (wie jetzt in der Präsidenten-Krise), das ein wirklich starker Vorsitzender nicht nötig hätte.

Dieser Umstand, kombiniert mit ihren Fehlern, hat dazu geführt, dass die Wahl Wulffs auf der Kippe steht. Wer immer in der Union einen Dolch im Gewande führt – und das dürften ziemlich Viele sein – jetzt hat er die Gelegenheit, ihn der Kanzlerin in den Rücken zu stoßen: Scheitert Wulff, ist Merkel erledigt und die Kanzlerfrage plötzlich offen.

Die Union geht dabei kein wirkliches Risiko ein, weil eine Regierung gegen sie faktisch nicht gebildet werden kann. Sie kann der SPD die Rückkehr zur Großen Koalition anbieten, sie kann auch bei der FDP bleiben, in jedem Fall liegt die Initiative bei ihr.

Das Risiko der FDP ist bei weitem größer, und so ist es erstaunlich, wie sehr Joachim Gauck gerade aus deren Reihen gelobt wird. Wissen die Liberalen eigentlich nicht, dass sie die entbehrlichste Partei des deutschen Politikbetriebes sind? Ihr Vorsitzender dürfte der im eigenen Lande unbeliebteste Außenminister seit Joachim von Ribbentrop sein, und was seine Fähigkeiten als Parteiführer angeht, so gehen seine Visionen nicht über JuLi-Beschlüsse der achtziger Jahre hinaus:

Eine Partei, deren Programmatik sich im Wesentlichen darin erschöpft, in jeder erdenklichen Lage Steuersenkungen zu fordern, ist in der Politik ungefähr das, was in der Wirtschaft ein Management wäre, dessen unternehmerische Strategie sich darin erschöpfte, die Preise zu senken. Wer keine Ziele formulieren kann, sondern bloß Instrumente verabsolutiert (und selbst diese Instrumente nur zur Klientelpolitik nutzt – siehe die Steuersenkungen für Hotels), fällt selbst in einer so atemberaubend schlechten politischen Klasse wie der deutschen noch negativ auf.

Vielleicht ist dies der Grund, dass es gerade in der FDP so heftig rumort. Gut möglich, dass auch dort, wie in der CDU, Mancher auf die Gelegenheit lauert, die eigene Parteiführung abzusägen.

Ist das alles für uns Normalbürger eigentlich wichtig? Wir haben seit der Wahl 2002 drei verschiedene Regierungen gehabt, die alle dieselbe Politik gemacht haben, mit Unterschieden allenfalls in Stil und Nuancen. Rotgrün, Schwarzrot, Schwarzgelb – immer ist dieselbe Kaste und dieselbe Ideologie an der Macht. Nein, auf die farbliche Zusammensetzung der Regierung kommt es schon lange nicht mehr an.

Und doch ist es bezeichnend, dass diese Kaste nicht mehr stark genug ist, ihr höchstes zu vergebendes Amt aus den eigenen Reihen zu besetzen. Der Zuspruch für Gauck, gerade unter Normalbürgern, ist nicht durch einen Medienhype erzeugt, er wird durch diesen höchstens verstärkt. Er ist ein Misstrauensvotum gegen die etablierte Politik. Der Typ des „Bürgerpräsidenten“, der der regierenden Kaste auch mal die Meinung sagt – ein Typ, den Horst Köhler in die deutsche Politik eingeführt hat – ist so eindeutig gewollt und wird so lautstark gefordert, dass das Machtkartell nicht mehr daran vorbeikommt. Dieses „Wir können euch nicht mehr sehen!“ ist noch weit davon entfernt, zu wirklicher Aufmüpfigkeit zu führen, ganz zu schweigen von revolutionärer Stimmung, aber es würde von einer weniger inkompetenten politischen Klasse als Alarmzeichen aufgefasst werden.

Sollte Gauck sich durchsetzen, so wäre dies für diese Klasse ein Menetekel (das sie selbstredend ignorieren wird). „Ein Stück Machtwechsel“, wie Gustav Heinemann das nannte, wäre es noch nicht – aber doch immerhin ein Stückchen.

Verräter allerorten

Die „Steuersenkungspartei“ FDP prüft die Einführung einer PKW-Maut. Dabei hat diese Partei doch sowieso nicht allzuviel Programm; das bisschen, das sie hat, besteht im Wesentlichen darin, dass der Staat den Bürgern möglichst wenig Geld aus der Tasche ziehen soll. Und nicht einmal daran hält sie sich! Ob die FDP-Wähler das erwartet haben?

Die SPD in Thüringen vollzieht den „Politikwechsel“ – und versteht darunter nicht etwa einen Wechsel der Landes-, sondern ihrer eigenen Politik, also den Wechsel zur CDU. Ob die Thüringer SPD-Wähler das erwartet haben?

Die Grünen im Saarland vollziehen ebenfalls den „Politikwechsel“ – und verstehen darunter wiederum nicht etwa einen Wechsel der Landespolitik, sondern ebenfalls den Wechsel zur CDU. Ob die Grün-Wähler im Saarland das erwartet haben?

Die CDU in beiden Ländern ist plötzlich gegen Atomkraft und Studiengebühren, aber für die Grünen. Es sagt über die CDU mindestens soviel aus wie über die Grünen, dass eine angeblich christliche und konservative Partei für eine feministische, pazifistische, multikulturalistische, männer-, deutschen- und christentumsfeindliche Gutmenschenpartei der Partner der Wahl ist. Ob die CDU-Wähler das erwartet haben?

(Das einzige, was noch fehlt, ist eine Koalition zwischen CDU und Linkspartei, aber das kommt bestimmt auch noch – hat ja in der DDR auch funktioniert, sogar vierzig Jahre lang!)

Nicht, dass fünf linke Parteien im Wesentlichen dieselbe Ideologie teilen, ist der Skandal. Auch nicht, dass sie diesen Sachverhalt zu verschleiern suchen, um dem Wähler vorzumachen, er habe etwas zu entscheiden.

Der Skandal ist vielmehr, dass sie diese Wahrheit durch ihr Handeln offenlegen, verbal aber weiterhin abstreiten. Der Skandal ist, dass diese Parteien – und hier speziell die Union – etwas anderes zu sein behaupten, als sie sind.

Wir sollen uns an Koalitionen gewöhnen, die noch vor zehn Jahren ohne weiteres als politische Sodomie gegolten hätten – schwarz-rot, schwarz-grün, Ampel, Schwampel etc. -, weil sie den elementaren Kampf zwischen Links und Rechts außer Kraft setzen; zugleich sollen wir aber weiterhin glauben, es gebe für den Wähler etwas zu entscheiden. Wir sollen den Wettbewerb zwischen fünf linken Parteien nicht für eine Neuauflage des Blockparteiensystems der DDR halten, sondern für pluralistische Demokratie. Und wir sollen jede Partei, die die Ideologie der Kartellparteien nicht teilt, für extremistisch halten.

Vor der Wahl die Versprechungen ein wenig zu übertreiben, ist eine Sache. Nach der Wahl aber das genaue Gegenteil des Versprochenen zu praktizieren, ist Betrug und Verrat. Und diese Neigung zu Betrug und Verrat ist unseren sogenannten Eliten offenkundig derart zur zweiten Natur geworden, dass sie nach Verratsgelegenheiten sogar dann Ausschau halten, wenn es keinen zwingenden Grund dazu gibt. Als wollten sie ausprobieren, wieviel demonstrierte Verachtung man den „Bürgerinnen und Bürgern“ entgegenbringen kann, ohne dass die rebellisch werden. Trügen Politiker aus allen Parteien T-Shirts mit dem Slogan „Wir scheißen auf eure Erwartungen!“ – die Beleidigung und Demütigung des Volkes würde damit nicht dreister zur Schau getragen als mit dem, was täglich vor unseren Augen geschieht.

Ich bin nur über eines froh: Dass ich keines dieser verlogenen Machtsyndikate gewählt habe!