Tom Segev: Die ersten Israelis

(Kurzrezension)

Ich denke mir etwas dabei, wenn ich meinen Buchempfehlungen meist Links zu Presserezensionen beifüge. In der Regel taugen die ja etwas. Dass ein Buch, das nur einen Totalverriss verdient, in der Presse fast durchweg positiv rezensiert wird, ist eine krasse Ausnahme. Und es spricht Bände, dass solche Ausnahmen vor allem bei den Büchern nicht irgendwelcher Autoren gemacht werden, sondern bei denen israelischer Autoren, die einen besonders unfairen Blick auf das eigene Land werfen.

Der israelische Historiker Tom Segev hat jüngst in einem denkwürdigen Essay für den „Spiegel“ geschrieben:

„Viele Israelis sind höchst dankbar für auswärtige Stimmen, die zum Beispiel die systematischen Verletzungen der grundlegendsten Menschenrechte in den Palästinensergebieten verurteilen. Sie wissen, dass keine Gesellschaft derartige Erscheinungen allein mit eigener Kraft aus der Welt schaffen kann. Stets braucht es auch Druck von außen. Sie sehen in solcher Kritik Schützenhilfe für ihre Bemühungen, in Israel eine gerechtere – viele sagen, eine „zionistischere“ – Gesellschaft aufzubauen. Sie kommen gar nicht auf die Idee zu behaupten, Kritik an der Unterdrückung der Palästinenser sei Ausdruck einer antiisraelischen oder antizionistischen oder gar notwendigerweise antisemitischen Einstellung.“

Abgesehen davon, dass es hanebüchener Stuss ist zu behaupten „keine Gesellschaft“ könne Menschenrechtsverletzungen „mit eigener Kraft aus der Welt schaffen“, sondern „stets“ brauche es „Druck von außen“; und abgesehen davon, dass die Ursachen für diese Menschenrechtsverletzungen von den Palästinensern selbst gezündet worden sind, zeugt es von einem haarsträubenden Demokratieverständnis, wenn der, der seine Landsleute nicht mit Argumenten überzeugen kann, dieses Defizit durch „Druck von außen“ kompensieren möchte – was ja nichts anderes bedeuten kann als die Aufforderung an die Länder des Westens, die israelische Regierung zu existenzgefährdenden Risiken zu nötigen. Zu Risiken, die diese Länder selbst in vergleichbarer Lage keineswegs eingehen würden. Auch wenn es nicht justiziabel sein mag: Im moralischen Sinne des Wortes ist für ein solches Verhalten der Ausdruck „Landesverrat“ durchaus angemessen.

Segevs Ruf als „neuer Historiker“, der die Gründungsmythen seines Landes „kritisch“ hinterfragt, gründet sich nicht nur, aber auch nicht zuletzt, auf das hier besprochene Werk, das bereits 1986 erschien, nunmehr aber erstmals in deutscher Sprache erhältlich ist.

Das Thema des Buches sind die Anfangsjahre des Staates Israel. Segev gliedert den Stoff anhand von vier Problemfeldern, die damals eine Rolle spielten. Es handelt sich um die politischen Konflikte

 

  • zwischen Juden und Arabern

  • zwischen Veteranen und Neuankömmlingen

  • zwischen Orthodoxen und Säkularen

  • zwischen Vision und Realität.

     

Hierbei geht es ihm darum, deutlich zu machen, dass zwischen dem, was man den Gründungsmythos Israels nennen könnte, und der historischen Wirklichkeit eine Kluft bestehe. Insbesondere hebt er hervor, dass viele Araber tatsächlich vertrieben worden seien, wie von ihnen selbst behauptet; dass sich die Israelis am Eigentum der geflohenen Araber bereichert hätten; dass die kulturelle Kluft zwischen askenasischen (europäischen) und sephardischen (orientalischen) Juden so tief gewesen sei, dass die gegenseitigen Vorurteile an Rassismus grenzten; dass viele Einwanderer lange in Lagern unter menschenunwürdigen Bedingungen hausen mussten; dass es eine nationale Identität der Israelis nicht von Anfang an gegeben habe, und dass sie, soweit es sie gab, vielfach mit der jüdischen in Konflikt lag; dass in den ersten Jahren die israelische Wirtschaft eine Kriegs- und Planwirtschaft war, die von einer kafkaesken Bürokratie dirigiert wurde. Außerdem schildert Segev ausführlich das Ringen um den religiösen bzw. säkularen Charakter des entstehenden Staates.

Nun ist nichts leichter – oder sollte für den Historiker nichts leichter sein -, als Geschichtsmythen zu demontieren. Solche Mythen können in einem geschichtswissenschaftlichen Sinne nicht „wahr“ sein, weil sie eine politische, keine wissenschaftliche Funktion erfüllen. Die Frage ist, was der Historiker dem jeweiligen Mythos entgegensetzt.

Israel ist ein demokratischer Nationalstaat mit starken Minderheiten. Es konnte nicht ausbleiben, dass die inneren Widersprüche des Konzepts „demokratischer Nationalstaat“ sich gerade in der Gründungsphase dieses Staates schmerzhaft bemerkbar machen würden:

Es gibt letztlich keine Demokratie ohne Nation; und zwar deshalb nicht, weil die Akzeptanz demokratischer Entscheidungen durch die im Einzelfall unterlegene Minderheit davon abhängt, dass diese Minderheit sich als Teil des Ganzen fühlt. Ethnische und nationale, d.h. auf Dauer gestellte und obendrein politisierte Minderheiten sind für jede Demokratie eine – unter Umständen existenzielle – Belastung.

Zugleich gibt es keine Demokratie ohne Liberalität, sprich ohne individuelle Grundrechte, ohne Gleichheit vor dem Gesetz und ohne eine Rechtsstaatlichkeit, die den Einzelnen als Bürger ohne Rücksicht auf ethnische Zugehörigkeit behandelt.

Demokratie erfordert also die Existenz eines Kollektivs (der Nation) und zugleich dessen Ignorierung. Diesen Widerspruch muss jeder demokratische Staat aushalten, der mit ethnischen Minderheiten zu tun hat, und es gibt keine Möglichkeit, ihn nach der einen oder anderen Seite aufzulösen. Dementsprechend konnte der Anspruch Israels, ein jüdischer Staat zu sein, in dem aber vollständige Gleichberechtigung herrschen würde, nie mehr sein als eben dies: ein Anspruch.

(Es war und ist aber auch nicht weniger als ein Anspruch, und zwar einer, der sehr wohl praktische und für die israelischen Araber positiv fühlbare Konsequenzen hat).

Tom Segev hätte diesen – oder auch irgendeinen anderen – analytischen Bezugsrahmen entwickeln können, um die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit zu erklären. Das hat er aber nicht getan. Stattdessen nervt er den Leser mit Details, die er unaufhörlich auf ihn einplätschern lässt, ohne dass ein roter Faden erkennbar würde, und verzichtet im Wesentlichen auf die theoretische Einordnung. Nicht einmal das Spiel „Was-wäre-gewesen-wenn“, mit dem Historiker sonst gerne Problemlagen verdeutlichen, gönnt er dem Leser. Er versucht gar nicht erst, den Handlungsspielraum der politisch Verantwortlichen analytisch auszuloten. Stattdessen stellt er dort, wo er überhaupt problematisiert, mit einer für einen Historiker erstaunlichen Naivität Anspruch und Wirklichkeit einander gegenüber und belässt es bei einer analytisch substanzlosen moralischen Anklage:

Wenn er zum Beispiel referiert, dass israelische Politiker überlegten, bevorzugt junge, qualifizierte und nicht zuletzt kampffähige (statt alter und kranker) Einwanderer ins Land zu holen, und dies zu einem Zeitpunkt, wo der Staat von Einwanderern geradezu überrannt wurde und nicht wusste, wo und wie er sie unterbringen sollte, dann kommentiert Segev naserümpfend, dies sei eher eine israelische als eine jüdische und nicht einmal eine zionistische Sichtweise (S.183).

Segevs eigene Sichtweise ist die dabei die des kleinen Max, der soeben festgestellt hat, dass der Weihnachtsmann nicht existiert, sich aber noch nicht zu der Erkenntnis durchgerungen hat, dass der Weihnachtsmann gar nicht existieren kann; sondern der seine Nichtexistenz damit erklärt, er müsse wohl ermordet worden sein. Und sich auf die Suche nach dem Mörder macht.

Bleibt nur die Frage, wieso ein derart schlechtes Buch zwanzig Jahre nach seinem ursprünglichen Erscheinen auf den deutschen Markt geworfen werden und Lesern präsentiert werden muss, die mehrheitlich wahrhaft mehr als genug Vorurteile gegen Israel hegen.