Der Deutsche Buchpreis 2022 …

… geht an einen Roman, dessen Autor uns bei Wikipedia als „nichtbinäre schweizerische Person“ vorgestellt wird, sein Geburtsjahr mit „2666“ angibt und sich bei der Preisverleihung öffentlich die Haare abschneidet, um gegen die Unterdrückung der Frauen im Iran zu protestieren.

(Ach, möchte man sagen, es gibt wieder Frauen? Dann sollte man vielleicht aufhören, J.K. Rowling dafür zu verteufeln, dass sie sich weigert, von „menstruierenden Menschen“ zu sprechen.)

NTV jubelt:

Der Deutsche Buchpreis möchte die Aufmerksamkeit „auf die Vielschichtigkeit der deutschsprachigen Literatur lenken“, sagte Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, bei der Preisverleihung: „eine Einladung, die Grenzen der eigenen Wahrnehmung zu erweitern. Bestenfalls holen wir uns damit gegenseitig aus unseren Filterblasen heraus …“

Nein, das ist keine Satire: Die merken wirklich nicht, dass ein solcher Roman und ein solcher Autor unfreiwillige Karikaturen just der Filterblase sind, in der der ganze Medienbetrieb schwebt.

Bei so viel ideologischer Eintracht des Autors, des Verlages, der Preisjury und der Medien käme der Roman sicherlich auch ganz ohne Text aus. Aber – Überraschung: Er hat sogar einen! Der Verlag Dumont schreibt:

»Die Erzählfigur in ›Blutbuch‹ identifiziert sich weder als Mann noch als Frau. Aufgewachsen in einem schäbigen Schweizer Vorort, lebt sie mittlerweile in Zürich, ist den engen Strukturen der Herkunft entkommen …«

Den Rest können wir uns dann wohl denken.

Ich werde mich selbstverständlich hüten, Bücher zu rezensieren, die ich nicht gelesen habe. Aber bei derart penetrantem „Virtue Signalling“ aller Beteiligten drängt sich der Verdacht auf, dass hier nicht die literarische Qualität des Werks, sondern seine Tendenz ausgezeichnet wird, und dass der schrille Habitus des Autors (pardon: der nichtmenstruierenden Schreibenden) über Mängel an anderer Stelle hinweghelfen soll.

Und die Frauen im Iran? Die werden bestimmt entzückt sein, wenn das iranische Staatsfernsehen die Bilder der Preisverleihung zeigt – und zwar in Dauerschleife –, verbunden einer ausführlichen Würdigung von Autor und Werk und der Frage:

„Dahin hat der Westen es gebracht. Wollt ihr so etwas auch bei uns?“

Josef Haslinger: „Opernball“ – Rezension

41DE5BCTFPL._SL210_Als ich neulich Uwe Tellkamps Roman „Der Eisvogel“ rezensierte, fiel mir ein, dass das Thema „Terrorismus von rechts“ schon in den neunziger Jahren in einem Bestseller bearbeitet worden war. Josef Haslingers Thriller „Opernball“, erschienen 1995, war 1998 in einem spektakulären, hochkarätig besetzten und preisgekrönten Zweiteiler auf den Bildschirm gekommen. Ich hatte ihn damals gesehen und habe jetzt die Romanvorlage gelesen, die, wie so oft, weitaus besser, vor allem tiefschürfender ist als die Verfilmung.

Kurz zur Handlung: Auf den Wiener Opernball wird ein Giftgasanschlag verübt, bei dem praktisch die gesamte politische Elite Österreichs (nebst viel sonstiger Prominenz) ausgelöscht wird. Der Journalist Kurt Fraser, der bei diesem Anschlag seinen Sohn verliert, macht sich auf die Suche nach den Hintergründen und interviewt verschiedene Zeugen und Beteiligte. Aus deren Aussagen nebst Frasers eigener Schilderung setzt der Roman sich zusammen; formal hat er damit durchaus Ähnlichkeit mit „Der Eisvogel“, ist aber in seiner Gesellschaftsdiagnose klarer und schärfer und – als Thriller – deutlich unterhaltsamer als „Der Eisvogel“.

Der Journalist kommt auf die Spur einer Art Terrorsekte, die es unter einem messianischen Führer, der sich „der Geringste“ nennt, darauf abgesehen hat, durch einen gigantischen Terroranschlag den Selbstbehauptungswillen der abendländischen Zivilisation zu wecken. Es handelt sich nicht etwa um Neonazis – man erkennt es daran, dass der einzige wirkliche Nazi der Gruppe (namens Feilböck) zum Verräter wird – obwohl der „Geringste“ bei Bedarf bedenkenlos auf nazistisches Gedankengut zurückgreift. Der „Geringste“ ist vielmehr Christ – freilich ein Christ der ganz speziellen Art – und tief fasziniert von der Gestalt des Judas:

Der Leser wird schon ganz zu Beginn mit der überraschenden und für den Roman wegweisenden Idee konfrontiert, dass eigentlich Judas Iskarioth der Begründer des Christentums war, das ohne seinen Verrat nicht hätte entstehen können. Dieser Verrat bedeutete für Judas selbst die ewige Verdammnis durch Gott und die Menschen, aber nur durch Judas wurde Jesus gezwungen, sich für die Menschheit zu opfern: kein Selbstopfer Jesu ohne das des Judas. Dieses Motiv des notwendigen Verrats (Judas‘ an Jesus, Feilböcks an der Gruppe, der Gruppe an der Gesellschaft, deren Selbstheilungskräfte sie stärken will) zieht sich durch den ganzen Roman, in dessen Verlauf immer deutlicher wird, dass die Terroristen Mitwisser und stille Unterstützer in hohen Polizeirängen haben – Verräter aus Not auch sie.

Deren Verhalten wird plausibel durch die Perspektive des von Fraser interviewten Polizisten, der am Abend des Opernballanschlages Dienst hatte, und dessen Erzählungen einen zentralen Beitrag zu Haslingers Panorama einer sich im Verfall befindlichen Gesellschaft beitragen. Die Schilderung eines zerstörungswütigen linken Mobs aus der Sicht des Polizisten gehört für mich zu den beeindruckendsten und gelungensten Teilen des Romans, weil er so zukunftsweisend ist. Das Buch, wie gesagt, erschien 1995, aber ich habe unwillkürlich mehr als einmal nachgesehen, ob ich mich da nicht verguckt habe, so sehr ähnelt das Verhalten dieses Mobs (mitsamt seinen Verbindungen zur Islamistenszene und zur Muslimbruderschaft) dem, was wir heute beobachten.

Es ist dieses seismographische Gespür für die Brüchigkeit des Gesellschaftsgefüges, für seine schleichende Zersetzung, für die Risse im Fundament, mit dem der Autor das Verhalten der Terroristen so plausibel macht. Der Autor erklärt das Verhalten seiner Figuren nicht primär aus ihrem Charakter, sondern deutet es als Reaktion auf den Verfall der sie umgebenden Gesellschaft. Dadurch kann er es sich sparen, sie zu dämonisieren oder zu verurteilen oder verächtlich zu machen. Die religiöse Inbrunst, mit der sie glauben, etwas Unausweichliches zu tun, wirkt vor diesem Hintergrund nicht wie künstlich vom Autor erzeugter Fanatismus – nein, das passt alles.

„Opernball“ ist weit mehr als ein Unterhaltungsschmöker aus der Bahnhofsbuchhandlung. Als reiner Thriller hätte der Roman vielleicht sogar noch unterhaltsamer sein können (er ist aber auch so noch spannend genug); die Präzision, mit der der gesellschaftliche Hintergrund ausgeleuchtet wird, macht ihn zu einem bedeutenden Stück Literatur. Es könnte durchaus sein, dass dieses Werk von künftigen Kulturhistorikern als der Schlüsselroman der Jahrtausendwende eingestuft werden wird.

In eigener Sache

Die „Korrektheiten“ haben ein Brüderchen bekommen:

Alle hier erschienenen Buchbesprechungen werden in einem neuen Blog „Manfreds politische Literatur“ zusammengefasst. Der Sinn der Sache ist, dass Anwender, die speziell nach Rezensionen googeln, leichter auf diejenigen meiner Essays stoßen sollen, die sich speziell mit einzelnen Büchern befassen. 

Allerdings versäumt niemand etwas, der weiterhin nur die „Korrektheiten“ liest. Bis auf weiteres erscheinen alle Rezensionen auch hier, parallel zu ihrer Veröffentlichung in „Manfreds politische Literatur“.