What’s Left III – „Dialektik der Aufklärung“

Der Zufall wollte es, dass ich vor kurzem im Kontext einer Diskussion über den Nahostkonflikt  wieder auf die „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno gestoßen wurde, einen Basistext des linken Nachkriegsdiskurses, gerade passend zu meiner Beschäftigung mit den Grundlagen linken Denkens. Es stellte sich als eine ungemein fesselnde Lektüre heraus, viel spannender als vor 20 Jahren, als ich sie das erstemal gelesen hatte. Fesselnd und spannend deshalb, weil sie das dialektische Umschlagen von Aufklärung in Herrschaft, das sie an der bürgerlichen Gesellschaft kritisieren zu müssen glaubt, tatsächlich selbst enthält, ja sogar ein Musterbeispiel dafür ist, wie emanzipatorisches in totalitäres Denken umschlägt!

Ich fasse die Argumentation kurz zusammen (Vergröberungen der überaus komplexen Theorie nehme ich dabei in Kauf, weil es mir nicht darum geht, ein Adorno-Seminar abzuhalten, sondern linke Denkstrukturen herauszuarbeiten; in den linken Ideologiehaushalt ist die „Dialektik“ ohnehin nur in vergröberter Form eingedrungen, in dieser aber umso mächtiger):

Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass Aufklärung nicht nur, wie von Kant postuliert, „der Ausgang des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit“ ist, sondern wesenhaft ein Moment von Herrschaft enthält: Für das aufgeklärte Denken erweist sich ja die Wahrheit einer Aussage an ihrer Anwendbarkeit, d.h. daran, dass er uns zur Manipulation befähigt; zur Manipulation zunächst der Natur, aber eben auch des Mitmenschen und schließlich der Gesellschaft. Aufklärung ist ein Herrschaftsinstrument und damit ein Instrument der Herrschenden, die es im Zuge monopolkapitalistischer Machtkonzentration immer weniger nötig haben – und es sich auch immer weniger leisten können -, ihre Herrschaft liberal und demokratisch zu bemänteln. Am Ende dieses Prozesses steht der Faschismus – als die nackte brutale Herrschaft über den Menschen, der nur noch Herrschaftsobjekt ist. Der Faschismus ist die letzte Konsequenz der Aufklärung. Dieser Konsequenz kann die Aufklärung nur dadurch entgehen und ihr emanzipatorisches Potential nur entfalten, wenn sie den Herrschaftscharakter gesellschaftlicher Verhältnisse entlarvt und die gegebene Gesellschaft nicht als das Gegebene hinnimmt und auf dem berühmten Boden der Tatsachen bloß interpretiert und damit legitimiert, sondern als das zu Überwindende kritisiert. So weit Horkheimer/Adorno.

Hier werden also Demokratie und Liberalismus als raffinierte Maskerade kapitalistischer Herrschaft, mithin als bloße Vorstufe zum Faschismus, eingeordnet, und die Unterschiede zwischen Demokratie und Faschismus scheinen bloß gradueller, nicht aber qualitativer Natur zu sein. Ein erstaunlicher Standpunkt für zwei Autoren, denen die Unterschiede zwischen Faschismus und Demokratie doch qualitativ bedeutsam genug gewesen waren, um vor dem einen in die Arme der anderen zu flüchten. Zugleich eine Denkfigur, die von Gruppen wie der RAF aus der akademischen Theorie in blutige Praxis übersetzt wurde, und die mitverantwortlich dafür sein dürfte, dass die Linke bis heute außerstande ist, Rechtsradikalismus als solchen zu erkennen, wenn er nicht aus einer „aufgeklärten“ westlichen Gesellschaft erwächst, sondern etwa aus einer islamischen. Logisch: Wenn Faschismus das Ergebnis einer sich selbst ad absurdum führenden Aufklärung ist, dann kann er von nichtwestlichen Gesellschaften definitionsgemäß nicht hervorgebracht werden, mögen deren Ideologien auch noch so antirational, antidemokratisch, frauenfeindlich und antisemitisch sein.

Die Kritik beschränkt sich auf kapitalistische Gesellschaften, der Kommunismus bleibt ausgespart. Und das ist verblüffend, denn wenn es je eine Ideologie gegeben hat, für die Horkheimer/Adornos Rechnung ohne Rest aufgeht, dann ist es gerade der Kommunismus: Der Anspruch des Marxismus, die Bewegungsgesetze der Gesellschaft aufgedeckt zu haben, um auf der Basis dieses Wissens Armut und Unterdrückung durch zielgerichtetes politisches Handeln zu überwinden, ist so aufklärerisch wie nur irgend möglich. Genau dieser Anspruch aber legitimierte die aufgeklärte Elite, organisiert in der kommunistischen Partei, mit totalitärer Gewalt der Gesellschaft die Richtung vorzuschreiben, immer glaubend oder vorgebend, damit die wissenschaftlich überprüfbaren Gesetze der Geschichte zu vollstrecken. Der Kommunismus ist der blinde Fleck bei Horkheimer und Adorno. Und das kann auch nicht anders sein, war doch die marxistische Gesellschaftsanalyse die Basis ihrer Theorie. (Zur Ehre der Autoren sei angemerkt, dass sie über den engstirnigen ökonomischen Determinismus der meisten gelernten Marxisten erhaben waren.)

Sehr erhellend ist in diesem Zusammenhang der Abschnitt über die „Kulturindustrie“: Sie sei ein Mittel, mit dem die Herrschenden das Volk in ihrem eigenen Interesse manipulierten, nicht so sehr durch im strengen Sinne unwahre Informationen, sondern indem das Gesamtangebot, speziell an Unterhaltung, gesellschaftskritische Reflexion unmöglich mache. Dem Konsumenten werde die Freiheit der Wahl bloß vorgegaukelt, damit er sich umso williger an das Gängelband der Herrschaftsinteressen legen lasse. Erhellend ist das deshalb, weil hier idealtypisch und auf höchstem Niveau eine zentrale linke Denkfigur entwickelt wird, nämlich die des „falschen Bewusstseins“. Schon Marx und Engels waren sich darüber im klaren gewesen, dass das, was das Volk von sich aus will, nicht unbedingt identisch ist mit dem, was die Linke für das Volk will, und sie hatten deswegen den „Blitzschlag des Gedankens in den naiven Volksboden“ und die Erziehungsaufgabe der Partei postuliert; das Proletariat sollte befähigt werden, seine Interessen zu erkennen und selbständig wahrzunehmen. Bei Lenin findet sich dieser Gedanke schon radikalisiert: Da das Proletariat von sich aus bestenfalls zu einem gewerkschaftlichen Bewusstsein komme, könne die Diktatur des Proletariats – Voraussetzung für die Entwicklung zu Sozialismus und Kommunismus – nicht durch die Arbeiter selbst ausgeübt werden, sondern durch die Partei, in der die historische Mission der Arbeiterklasse gleichsam objektiviert sei.

Dieser Umschlag von herrschaftskritischem in herrschaftslegitimierendes Denken, zeigt in der Tat eine „Dialektik der Aufklärung“ – aber eben nicht der bürgerlichen und systemimmanenten Aufklärung, die die Autoren kritisieren, sondern der herrschaftskritischen, systemtranszendierenden linken Aufklärung, weil die nur ihre eigenen Maßstäbe, d.h. den Blick durch die Brille der Herrschaftskritik, gelten lässt (weil alles andere ja zum Faschismus führen würde, siehe oben) und deshalb auch in liberalen, demokratischen Gesellschaften nur das Element der Herrschaft erkennen kann. Wer sich – obwohl weder reich noch mächtig – in einer solchen Gesellschaft subjektiv „frei“ fühlt, kann demgemäß nur ein „falsches“, weil bestehende Herrschaftsverhältnisse nicht reflektierendes Bewusstsein haben. Ein äußerst gefährlicher Gedanke, dessen Tragweite den meisten Linken wahrscheinlich gar nicht bewusst ist: Wenn nämlich das, was subjektiv „Freiheit“ zu sein scheint, „objektiv“ Unterdrückung ist, dann spricht kein rationales Argument dagegen, dass das, was subjektiv, z.B. aus der Sicht eines verfolgten Dissidenten, Unterdrückung zu sein scheint, „objektiv“ Emanzipation ist.

So führt der herrschaftskritische Ansatz, der die linke Identität konstituiert, ganz von selbst zu Legitimierung der totalitären Diktatur – dass Teile der Linken diese Schlussfolgerung nicht akzeptieren, ändert daran nichts: Solche Linken sind nur inkonsequent, und werden daher gegenüber konsequenten, d.h. radikalen, Linken stets die schlechteren Argumente haben.

[Und hier noch ein hervorragender Aufsatz zum Thema: Michael Holmes, Zur Kritik der Kritischen Theorie]

"What's Left" I – Anmerkungen zu Nick Cohen

Es ist ja bemerkenswert, dass politische Feindschaften oft ein wesentlich zäheres Leben haben als die Umstände, denen sie ihre Entstehung verdanken.

Warum zum Beispiel habe ich 2005 noch einmal Rot-Grün gewählt? Aus politischer Überzeugung? Ja, doch. Schon. Auch.

Ein paar politische Gründe hatte ich schon, die dafür sprachen – aber noch mehr sprachen dagegen, und ein Fan von Angela Merkel war ich obendrein, auch damals schon. Aber Rot-Grün – das war die Konstellation, die ich immer gewollt hatte, seit ich Anfang der achtziger Jahre begonnen hatte, an einem erzkonservativen bayerischen Gymnasium als einziger die rote Fahne hochzuhalten. Als rote Insel im Schwarzen Meer sozusagen.

Was habe ich sie gehasst, diese bürgerlichen Milchgesichter. Natürlich hatte ich selbst ein Milchgesicht, aber ich tarnte es mit Stoppelbart und verwegenem Indianerlook. Was habe ich sie gehasst, diese Platitüdendreschmaschinen von der Jungen Union mit ihren nassforschen Sprüchen, ihrem präpotenten Jungmanagergetue, ihren wichtigtuerischen Diplomatenköfferchen, ihrer unerschütterlichen Überzeugung, dass ein Joschka Fischer niemals regieren könne. Und wenn ich 20 Jahre später noch einmal Rot-Grün wählte, dann sicher nicht nur, aber auch nicht zuletzt deswegen, damit meine alten Feinde nichts zu grinsen haben. Obwohl mich rein politisch nicht mehr so sehr viel von ihnen trennte.

Warum erzähle ich das alles? Weil ich in diesen Tagen Nick Cohen’s „What’s Left?“ gelesen habe. Cohen fragt sich, wie es geschehen konnte, dass Teile der Linken die Intervention westlicher Länder gegen den Irak 1991 und 2003, in Bosnien 1995, im Kosovo 1999, in Afghanistan 2001 und im Libanon 2006 reflexartig mit pazifistischen und „anti-imperialistischen“ Sprüchen verurteilten, nicht aber die ihnen zeitlich und kausal vorausgehenden Angriffskriege, Völkermorde und Terroranschläge durch rechtsradikale Regime und Bewegungen. Eine seiner Erklärungen lautet, dass politisch engagierte Menschen dazu neigen, sich wie Sportfans zu verhalten, für die der Gegner der eigenen Mannschaft das fleischgewordene Böse ist, und die hell empört sind, wenn dieser Gegner foult, dopt oder den Schiedsrichter schmiert, aber ziemlich nachsichtig, wenn die eigene Seite das tut.

Ins Politische gewendet: Wer sich einmal, z.B. während des Vietnamkriegs, entschieden hat, in Amerika (oder auch dem Imperialismus) die Wurzel allen Übels zu sehen, womöglich Jahre seines Lebens in den „Kampf gegen den Imperialismus“ investiert hat, der wird sich schwertun zuzugeben, dass Amerika irgendetwas richtig machen oder dass jemand, der gegen Amerika kämpft, im Unrecht sein könnte. Feindschaften können eben langlebig sein. Ich kenne das. Siehe oben.

Es ist aber ein erheblicher Unterschied, ob man solche Feindschaften, wie ich, als eine Art Hobby pflegt, das man sich leistet, solange es politisch, moralisch, intellektuell vertretbar ist, oder ob man alle emanzipatorischen Grundsätze, alle geistige Redlichkeit bis hin zur Formallogik über Bord wirft, wenn sie einen daran hindern, den „Feind“ zu verteufeln. Wenn solche Feindschaft zum Selbstzweck wird, wird Links-Sein zum Nihilismus, und genau das ist der Vorwurf, den Cohen gegen die Linke erhebt und eindrucksvoll untermauert.

Mit der Linken meint Cohen ausdrücklich nicht die alte, sozialdemokratisch-gewerkschaftliche, sondern die neue Linke der akademischen Mittelschichten. Vielleicht ist diese Unterscheidung für den englischen Sprachraum, auf den Cohen sich vor allem bezieht, relevanter als für Kontinentaleuropa. In Deutschland etwa gab es diese Spaltung durchaus auch, politisch repräsentiert durch die Rivalität von SPD und Grünen; aber spätestens seit Letztere sich ihres Fundi-Flügels Ende der achtziger Jahre entledigt haben, war der Gegensatz mehr einer des Habitus als der politischen Inhalte.

Für Cohen ist beispielsweise die EU-Freundlichkeit der britischen Linken ein Zeichen für ihre elitäre Mentalität, die sie in Gegensatz zu einer nationalbewussten Arbeiterklasse gebracht habe, und die sie verleitet habe, die europäische Integration als Projekt von Eliten über die Köpfe der einfachen Menschen hinweg zu forcieren – eine Politik, die man bereits wegen ihres antidemokratischen Ansatzes kaum als links bezeichnen könne.

Nun lässt es sich gewiss kaum bestreiten, dass die EU ein Elitenprojekt ist. Das gilt aber für jede Zusammenlegung politischer Einheiten, von der Eingemeindung über die Länderfusion bis eben zur europäischen Integration. Das Volk ist konservativ und hängt am Vertrauten selbst dann, wenn es ihm Nachteile bringt. Dass der Fortbestand nationalstaatlicher Fragmentierung der Politik bei gleichzeitiger Globalisierung der Ökonomie Gift ist für die Fähigkeit demokratisch legitimierter Politik, den gesellschaftlichen Wandel sozialverträglich, also „links“, zu gestalten; dass es deswegen der Stärkung übernationaler Politik bedarf, wenn man sinnvoll „linke“ Politik machen will, sollte offensichtlich sein, und nicht zufällig ist es gerade die rechte Murdoch-Presse, die am entschiedensten gegen die EU Sturm läuft. Für die Linke ist es daher, anders als Cohen meint, durchaus konsequent, europafreundlich zu sein.

Aber diese Gleichsetzung der Linken mit proeuropäischer und der Konservativen mit nationalorientierter Politik, die für England zutreffen mag, gilt für das kontinentale Europa eben nicht. Hier gibt es linke Nationalisten (Lafontaine, Fabius) genauso wie konservative Europafreunde (Kohl, Merkel), rechte Nationalisten (Berlusconi, Kaczynski) ebenso wie linke Berufseuropäer (Fischer, Zapatero). Es geht also querbeet, und die Haltung zur europäischen Integration lässt sich einem Links-rechts-Schema nicht sinnvoll zuordnen.

Cohens Hauptthema ist aber etwas anderes, nämlich der schon erwähnte Nihilismus: Man hat es ja schon fast vergessen, dass es einmal eine Zeit gab, da alle Linken sich einig waren, dass Saddam Hussein ein faschistisches Monster sei, und da die Unterstützung des Westens für den Irak in den achtziger Jahren als Beweis bestenfalls für die Heuchelei, schlimmstenfalls für den „faschistischen“ Charakter der amerikanischen Außenpolitik galt. Diese Zeit endete am 2.August 1990 mit Saddams Einmarsch in Kuweit. Damit schwenkte die amerikanische Irakpolitik um 180 Grad. Und die Linke? Freute sie sich, dass es dem Tyrannen endlich an den Kragen ging? Nein, sie schwenkte ebenfalls um 180 Grad. Es ist eindrucksvoll, wie Cohen die unappetitlichen Einzelheiten dieser Rochade in Erinnerung ruft, und deprimierend, sich zu erinnern, wie einige Zeit später die extreme Linke daranging, angesichts der Balkankriege Milosevic weißzuwaschen – mit Methoden, die sie sich von Holocaustleugnern abgeguckt hat.

Cohens Diagnose lautet, die Linke habe spätestens seit dem Ende der Sowjetunion ihren inneren Kompass verloren. Selbst wenn nur dogmatische Kommunisten das Sowjetsystem wirklich unterstützten, so sorgte doch seine schiere Existenz dafür, dass der Sozialismus eine ernstzunehmende politische, der Marxismus eine ernstzunehmende intellektuelle Alternative zum liberalen Kapitalismus anbot.

Der Zusammenbruch des realen Sozialismus stellte die Linke vor die Wahl, entweder das bestehende System im Großen und Ganzen zu akzeptieren und nur noch graduelle Verbesserungen anzustreben – oder mit jedem ins Bett zu gehen, der den Westen zu bekämpfen versprach: auch mit Saddam, Milosevic und Bin Laden. Er zitiert Antonio Negris und Michael Hardts Anti-Globalisierungsbibel „Empire“, wo über den Fundamentalismus steht:

„It is more accurate and more useful … to understand the various fundamentalism [sic] not as the re-creation of a pre-modern world, but rather as a powerful refusal of the contemporary historical passage in course.“

Tja, das mag wohl stimmen. Den Autoren scheint nur nicht aufzufallen, dass sie dasselbe über die NSDAP hätten schreiben können.

Zu einem bestimmten „linken“ Persönlichkeitstypus, auch darauf weist Cohen hin, hat dieser „revolutionäre“ Nihilismus freilich schon immer gepasst: Zu denen, die sich von der Revolution gerade deswegen angezogen fühlten, weil sie ein chaotischer, blutiger, apokalyptischer Vorgang war oder zu werden versprach. Zu denen also, denen Demokratie und Reform schlicht zu langweilig sind.

Denen, die sich als Revolutionäre verstanden, war das revolutionäre Subjekt, die Arbeiterklasse, allerdings schon lange vor dem Kollaps des Sozialismus abhanden gekommen. Je konservativer die Arbeiter wurden, desto mehr suchte sich die akademische Linke „Ersatzproletariate“ und fand sie in Frauen, Schwulen, ethnischen und religiösen Minderheiten; der Diskurs, der sich bis dahin um Gleichheit gedreht hatte, wandte sich nun Fragen der „Identität“ zu. Es begann die Karriere der „political correctness“, eines Codes, innerhalb dessen selbst Wahrheiten nicht mehr ausgesprochen werden können, wenn sie dem Selbstbild einer der geschützten Minderheiten widersprechen. Wer dabei aber zu den „falschen“ Minderheiten gehörte, hatte es schwer. Juden zum Beispiel gehören zumindest im englischen Sprachraum nicht dazu, und man liest einigermaßen fassungslos, wie die skrupulöse Beachtung der „political correctness“ mit krassem Antisemitismus einhergehen kann:

„The moment when my bewilderment settled into a steady scorn came when the Guardian’s online talkboards carried a discussion about me and another supporter of the war [im Irak] from the Left with a Jewish name, which was entitled: ‚David Aaronovitch and Nick Cohen Are Enough to Make a Good Man Anti-Semitic.‘ The political incorrectness was too much for one contributor. Rightly, she protested that naked bigotry infused the debate. The Guardian reader should have headlined it ‚David Aaronovitch and Nick Cohen Are Enough to Make a Good, Man, or Woman, Anti-Semitic.'“

Juden sind offenbar die einzige Minderheit, auf der man als Linker ungestraft, d.h. ohne von der Linken exkommuniziert zu werden, herumtrampeln darf. Natürlich rein verbal. Vorerst.

Cohens Buch ist äußerst informativ und detailreich – für meinen Geschmack zu detailreich, wenn etwa die Balkanpolitik der konservativen Major-Regierung ausführlich dargestellt wird, oder die Wirrungen der WRP, einer britischen K-Gruppe der siebziger Jahre mit ihrer Irak-Connection, in einem ganzen Kapitel abgehandelt wird. Was mir fehlt, ist die Moral von der Geschicht‘: die Antwort auf die Frage, warum die Linke auf solchen Abwegen wandelt. Cohen begnügt sich mit den oben genannten pragmatischen Antworten. Am Ende drückt er seine Hoffnung aus, dass die Linke irgendwann ihre demokratischen und emanzipatorischen Werte wiederentdecken wird. Ich fürchte, das wird ein frommer Wunsch bleiben. Ich glaube nicht, dass „Liberals lost their way“, wie der Untertitel des Buches lautet. Ich glaube, der scheinbare Irrweg der letzten Jahrzehnte ist genau und sehr folgerichtig „their way“. Die Begründung liefere ich aber erst beim nächsten Mal; für heute ist meine Zeit um.