Dresden

Zum 65. Jahrestag der Zerstörung Dresdens zeigen die Medien, und weiß Gott nicht nur die, ihre wahre Visage. Wie jedes Jahr.

Da ich heute nicht viel Zeit habe, kann und will ich nicht jeden Aspekt dieser alljährlichen Schande beleuchten. So sei nur kurz angemerkt, dass es den Linken gelungen ist, die ordentlich angemeldete und völlig legale Demonstration rechter Gruppen zu verhindern; dass die Polizei diesen Sieg der politischen Selbstjustiz (angeblich? tatsächlich?) nicht verhindern „konnte“; und dass es eine offene Frage ist, wo das polizeiliche Unvermögen endet und die politisch gewollte klammheimliche Komplizenschaft des Staates mit linken Gewalttätern beginnt.

Ich kommentiere heute nur den Bericht, den ein gewisser Patrick Gensing in tagesschau.de veröffentlicht hat. Also bei einem Medium, das wir alle durch Zwangsabgaben finanzieren:

Neonazis marschieren in Dresden auf

Es versteht sich von selbst: Das sind das alles „Neonazis“, obwohl es bei diesen Trauermärschen genug Teilnehmer gibt, die definitiv keine sind, und obwohl man das auch leicht hätte herausfinden können; keinem Volontär würde man durchgehen lassen, wenn er pauschal alle Teilnehmer einer Demonstration, an der auch Kommunisten beteiligt sind, „Kommunisten“ nennen würde. Wenn es aber um sogenannte oder auch Neonazis (wieso eigentlich nicht „Postnazis“ – wo es doch auch „Postkommunisten“ gibt?) geht, scheint sich soviel Differenzierung zu erübrigen.

Und selbstverständlich „marschieren sie auf“. Hat schon einmal jemand von einem „Aufmarsch“ von Linksextremisten gehört? Das Wort „Aufmarsch“ suggeriert dem Normalbürger: Uniformen, Stiefel, Gleichschritt. Dass dies alles selbst bei Demonstrationen von wirklichen Rechtsextremisten eher die Ausnahme als die Regel ist, interessiert die GEZ-Dichter nicht.

Das Wort „Aufmarsch“ nämlich hat im Zusammenhang mit solchen Demonstrationen schon längst jede inhaltliche Bedeutung eingebüßt, ungefähr so, wie das Wort „Überfall“ zur Bezeichnung des Angriffs auf Polen 1939. Wir haben es hier mit stereotyper Floskelsprache zu tun, deren Gebrauch ideologische Konformität signalisiert. In solcher Sprache äußert sich die Bereitschaft, auf ein eigenes Urteil (das sich zwangsläufig in eigener Wortwahl niederschlagen müsste) zu verzichten und sich einer vorgegebenen Bewertung zu unterwerfen: Aus solchen Texten dampft der Angstschweiß ihrer Verfasser. Wer so schreibt, will einer drohenden Verdächtigung vorbeugen: Keine Differenzierung, man könnte ja der Sympathie mit „Rechts“ verdächtigt werden; kein Satz, der den Leser zum Nachdenken bringen könnte – er könnte ja etwas „Falsches“ denken; keine Objektivität, nicht einmal eine geheuchelte, weil selbst eine bloß vorgetäuschte Objektivität einen als Rechtsabweichler verdächtig machen könnte. Bis in die Formulierungen hinein muss eine Uniformität gewahrt werden, um die der nordkoreanische ZK-Sekretär für Propaganda unsere GEZ-Sender beneiden würde!

Öffentlichen Raum besetzen und braune Propaganda unters Volk bringen, das sind die Ziele rechtsextremer Demonstrationen.

Ei der Donner. Präsenz im öffentlichen Raum zu zeigen und die eigenen Parolen unters Volk zu bringen, gehört nicht etwa zum Wesen und zum Sinn und Zweck politischer Demonstrationen (und ist deshalb durch das Grundgesetz geschützt), sondern zu den besonders üblen Machenschaften von Neonazis, braucht also nicht etwas als Ausübung eines Bürgerrechts respektiert zu werden.

Tausende Neonazis wollen heute in Dresden einen „Trauermarsch“ [Allein für die Anführungszeichen gehört dieser Schreiberling von oben bis unten vollgekotzt!] begehen – und so Deutschlands historische Verbrechen relativieren.

Wieder so eine lächerliche Phrase, die nur den hohlen geistigen Konformismus ihres Urhebers entlarvt: „Deutschlands historische Verbrechen relativieren“, d.h. in Beziehung zur Zerstörung Dresdens setzen – das ist genau das, was die Teilnehmer des Trauermarsches nicht wollen! Nicht sie behaupten, Dresden sei schlimmer als Auschwitz; Auschwitz wird von ihnen gerade nicht thematisiert – wohl aber von der Journaille und der etablierten Politik, die an Dresden – wenn überhaupt – jedenfalls nicht denken kann, ohne ein „Ja. aber Auschwitz…“ anzuhängen.

Erstaunlich nur der Kontrast zwischen dieser Aneinanderreihung von menschenverachtenden Geschmacklosigkeiten und der Sensibilität und dem Verständnis, das dieselben Medien alljährlich im August den japanischen Gedenkfeiern in Hiroshima und Nagasaki entgegenbringen – selbstredend ohne auf das Nanking-Massaker oder ähnliche Verbrechen Japans zu verweisen.

Das ist nicht etwa Schizophrenie: Das ist die notwendige Folge jener geistigen Abhängigkeit vom Nationalsozialismus, in die man sich begibt, wenn man ihn zur Negativfolie für Alles und Jedes macht, weil man „aus der Geschichte gelernt hat“, dass das NS-Regime das absolut Böse war, und dass deshalb nur das genaue Gegenteil dessen, was die Nazis praktiziert haben, moralisch geboten sein kann. Das bedeutet, deutlich: „Aus der Geschichte gelernt“ hat, wer das eigene Volk für lebensunwert und die eigenen Landsleute für Untermenschen hält, deren massenhafte Tötung daher nicht betrauert werden darf, jedenfalls nicht ohne allgegenwärtige Relativierung. Die Antideutschen und ihr „Bomber-Harris, do it again!“ bringen nur auf den Punkt, was die deutschen Müll-Eliten tagein, tagaus über ihre Sender verkünden lassen.

Ausschreitungen werden erwartet.

Und natürlich braucht man nicht zu erwähnen, dass solche Ausschreitungen zwar regelmäßig vorkommen, aber in aller Regel von Linksextremisten ausgehen. So auch diesmal. Ich werde jetzt nicht jeden Satz dieses unsäglichen Geschreibsels auseinandernehmen; nur ein paar, tja, Höhepunkte:

(…)
Zudem wollen sie den Begriff Holocaust umdeuten: Fast genau vor fünf Jahren hatte der NPD-Abgeordnete Jürgen Gansel erstmals vom „Bomben-Holocaust“ gesprochen – im Landtag in Dresden.

Da hat einer schon vergessen, dass der Begriff „Holocaust“ schon in den achtziger Jahren banalisiert worden ist, und zwar von denselben Leuten, die heute vor Pietät kaum laufen können, damals aber keine drei Sätze sagen konnten, ohne vom drohenden „atomaren Holocaust“ zu reden.

Auf vielen Autobahnraststätten drohen Zusammenstöße zwischen Neonazis und Gegendemonstranten, denn auch diese reisen aus dem gesamten Bundesgebiet nach Dresden, um sich den Neonazis in den Weg zu stellen. Bereits im vergangenen Jahr gab es mehrere Angriffe, unter anderem auf einen Bus von Gewerkschaftern aus Hessen.

Behaupten die beteiligten Linken. Als ich selbst einmal einem ähnlichen Fall nachging und beim zuständigen Staatsschutz anfragte, antwortete mir ein leitender Beamter:

Ihre Recherchen hinsichtlich des Wahrheitsgehaltes von Aussagen und der tatsächlichen Begebenheiten sind interessant, vor allen Dingen unter den Voraussetzungen, dass endlich … jemand erkennt, dass die „Linken“ auch Unwahrheiten verbreiten. (…) Das Schlimme daran ist nur, dass Leute, die mit diesen Begebenheiten nichts zu tun haben, auf diesen Zug aufspringen und dann teilweise, wie zu DDR-Zeiten eine Stellungnahme(!!) von der Polizei erwarten, wie schlimm sich die „Nazis“ verhalten haben..“

Ob die Redaktion von tagesschau.de wohl auch eine solche Stellungnahme eingeholt hat, bevor sie die Behauptungen von „Kämpfern gegen Rechts“ als „Wahrheiten“ wiederkäute?

(…) Zudem stößt es besonders auf Kritik, dass sich die Neonazis an einem Bahnhof sammeln sollen, von dem die Nationalsozialisten Dresdner Juden in die Vernichtungslager abtransportiert hatten. Politiker von SPD, Grünen und Linkspartei zeigten sich empört. Das Auschwitz-Komitee kritisierte, Dresden sei zu einem Symbol fehlgeschlagener „Gedenk-Kultur“ geworden.

(Bei „Bomber-Harris, do it again!“ hat die Sorge um die „Gedenk-Kultur“ wohl nicht so gebrannt.) Das Argument, wonach Neonazis sich nicht am Bahnhof von Dresden sammeln dürften, läuft seiner Logik nach auf die Forderung hinaus, sie von der Benutzung der Eisenbahn überhaupt auszuschließen.

Ja, so etwas gab schon einmal. Aber wir haben ja gottlob „aus der Geschichte gelernt“.

Gerd Schultze-Rhonhof: „1939 – Der Krieg, der viele Väter hatte“ (Rezension)

51QgP4B9ovL._SL210_Man tut dem Bundeswehr-Generalmajor a.D. Gerd Schultze-Rhonhof, der in seinem Werk die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs untersucht, sicherlich nicht Unrecht, wenn man ihn einen Revisionisten nennt. Wer das Wort „Revisionist“ freilich als Vorwurf gebraucht, sollte sich darüber im Klaren sein, in welche geistige Tradition er sich damit stellt: „Revisionisten“ nannte man in der Bebel-SPD und später auch in allen anderen marxistischen Organisationen diejenigen Theoretiker, die die Lehre von Marx und Engels re-vidieren (von lat. re-videre: neu betrachten) und korrigieren wollten. In Ländern, in denen Kommunisten zur Macht gelangten, galt es den Ruch des „Revisionismus“ schon deshalb zu meiden, weil zu gewissen Zeiten bereits der Verdacht den Kopf kosten konnte.

Der wissenschaftliche Fortschritt freilich lebt von der ständigen Revision, von der Neu-Betrachtung, von der Infragestellung vertrauter Sichtweisen und etablierter Konzepte. Das Wort „Revisionist“, verwendet als Vorwurf, disqualifiziert nur den, der es in den Mund nimmt. Für den, dem es gilt, kann es durchaus ein Ehrentitel sein.

Freilich ist nicht jede Revision, egal in welcher Wissenschaftsdisziplin, schon deshalb brauchbar, weil sie eine solche ist. Sie muss mit dem vorhandenen Daten- bzw. Quellenmaterial vereinbar sein und dem etablierten theoretischen Paradigma an Erklärungskraft mindestens gleichkommen. Indem Schultze-Rhonhof die These vertritt, der Zweite Weltkrieg habe „viele Väter“ gehabt, tritt er gegen ein Geschichtsbild an, das die Fachhistoriker zwar wissenschaftsintern weitaus differenzierter darstellen, als es etwa in Schulbüchern oder Nachrichtenmagazinen ankommt, dessen Grundzüge man aber dennoch im Großen und Ganzen so zusammenfassen kann:

Bereits das deutsche Kaiserreich habe nach der deutschen Herrschaft mindestens über Europa, möglichst aber über die ganze Welt gestrebt. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg sei dieses Streben, untermauert durch eine sozialdarwinistische Ideologie, in verschiedenen – gemäßigteren und radikaleren Varianten – das Programm der deutschen Rechten gewesen, am radikalsten verkörpert in Hitler und seiner NSDAP. Hitler habe von Anfang an danach gestrebt, durch sukzessive Ausschaltung von Nachbarstaaten erst die Machtbasis des Deutschen Reiches so weit auszubauen, dass der Krieg auch gegen Großmächte mit Erfolg geführt werden konnte, dann Frankreich und notfalls auch England auszuschalten, und schließlich die Sowjetunion zu vernichten, um dort Lebensraum für Deutsche zu gewinnen, vielleicht auch die Grundlage für einen Krieg gegen Amerika zu legen und damit endgültig zur Weltherrschaft vorzustoßen.

Das Bestechende an diesem Geschichtsbild ist – noch bevor es um Quellen und Fakten geht – seine narrative Struktur: Es gibt eine klare Verteilung von Gut und Böse, es gibt einen Spannungsbogen: Das Böse baut sich auf, bis es fast, aber eben nur fast, übermächtig wird, von einem einen kleinen gallischen Dorf – Großbritannien – in die Schranken gewiesen und schließlich von einem unerschrockenen weißen Ritter – Amerika – vernichtet wird. Und es gibt eine Moral von der Geschicht.

Diese Struktur ist doppelt vertraut: Sie entspricht zum einen der eines Märchens, zum anderen – mit dem Motiv des Endkampfs zwischen Gut und Böse – der der Apokalypse. Das heißt selbstverständlich nicht, dass es nicht stimmen kann. Man muss sich nur bewusst sein, in welchem Maße dieses etablierte Geschichtsbild den Erwartungen an schöne Literatur entspricht, und in welchem Maße es religiöse Bedürfnisse bedient.

Vor vielen Jahren wurden in „Versteckte Kamera“ die Versuchspersonen aufs Glatteis gelockt, indem ein Passant, scheinbar mit einem Stadtplan in der Hand, sie nach dem Weg zum Bahnhof fragte und sich diesen Weg auf dem „Stadtplan“ erklären ließ, der in Wirklichkeit ein Schnittmuster aus „Burda Moden“ war. Da entspannen sich dann Dialoge wie:

„Also, sie müssen jetzt hier geradeaus“
„Bei ‚Fadenlauf‘?“
„Ja genau, und dann hier rechts…“
„Richtung ‚Tasche‘?“
„Ja, ja. Und dann links“
„An ‚Knopfloch‘ vorbei?“
„Ganz recht.“

Die Bereitschaft, eine angebotene Situationsdefinition (hier also das Schnittmuster als „Stadtplan“) als „wahr“ zu übernehmen, kann so stark sein, dass auch offenkundige Widersprüche in oder zu dieser Definition nicht wahrgenommen werden. Und man glaube nicht, dass diese Bereitschaft sich auf die überraschten Versuchspersonen bei „Versteckte Kamera“ beschränkt.

Ich zum Beispiel war jahrelang der Überzeugung gewesen, das Hossbach-Protokoll vom 5. November 1937 enthalte Hitlers Ankündigung, einen Weltkrieg führen zu wollen, mithin den Beweis für die Richtigkeit des oben zitierten Geschichtsbildes. Dabei hatte ich das Protokoll schon mehrfach gelesen: Es enthält Hitlers Ankündigung, die Tschechoslowakei und Österreich anzugreifen, dazu Überlegungen, unter welchen Voraussetzungen ein solcher Schlag geführt werden könne, und wie sich die anderen Mächte dann verhalten würden. Schwerwiegend genug und für die Anklage im Nürnberger Prozess, in dem es ja um den Anklagepunkt „Angriffskrieg“ ging, zweifellos ein wichtiges Beweisstück, aber eben nicht ein Beweis für einen Masterplan zur Weltherrschaft. Obwohl ich es also besser hätte wissen müssen, bin ich erst durch Schultze-Rhonhofs Analyse darauf gestoßen worden, dass ich genauer hätte lesen müssen. Dies nur als Beispiel dafür, wie stark der Einfluss einer scheinbar selbstverständlichen Deutung und wie hilfreich es bisweilen sein kann, Dinge „neu zu betrachten“.

Schultze-Rhonhof geht offenbar von der Annahme aus, dass es keinen Masterplan gegeben habe, sondern dass Hitlers Außenpolitik vor allem den jeweils taktischen Erwägungen des Augenblicks entsprang, und zeichnet Stationen dieser Außenpolitik nach. Für diese Annahme spricht zweifellos der sprunghafte Charakter Hitlers und seiner Politik, die oft extremen Schwankungen und Kehrtwendungen, sein Hang zur Improvisation und generell der chaotische Charakter der Entscheidungsfindung im NS-Staat.

Die entgegengesetze Annahme der vorherrschenden Geschichtsdeutung, Hitler habe strengsten Dogmatismus der Theorie, Strategie und Planung mit maximalem Opportunismus der Praxis, Taktik und Durchführung verbunden, enthält einen latenten Widerspruch; die beiden Teile dieser Auffassung passen jedenfalls nicht bruchlos zusammen. Sie muss nicht falsch sein, aber ich kann nicht erkennen, was dagegen sprechen sollte, die Alternative zu erwägen, dass Hitler womöglich auf der Basis vor allem taktischer Überlegungen gehandelt hat. Vielleicht ging es ihm eher um seinen eigenen Platz in den Geschichtsbüchern als um die Verwirklichung der Ideen, die er 1924 in „Mein Kampf“ niedergelegt hatte, und vielleicht sind die dort niedergelegten Gedanken mehr ein Ideendepot gewesen, aus dem er sich bei Bedarf bediente, über das er sich aber ebenso hinwegsetzten konnte.

Bemerkenswerterweise hält sich auf einem angrenzenden Forschungsgebiet, nämlich der Holocaustforschung, hartnäckiger Widerstand gegen die von der breiten Öffentlichkeit verinnerlichte „intentionalistische“ These, und zwar im Zentrum der Geschichtswissenschaft, nicht an der Peripherie; besonders bekannt ist Hans Mommsens Deutung des Entscheidungsprozesses, der schließlich in den Holocaust mündete, als eines Prozesses „kumulativer Radikalisierung“. Das Regime, so lautet grob die These, habe sich selbst in Zwänge verstrickt, die wie von alleine zu immer radikaleren „Lösungen“ drängten, am Ende eben zur „Endlösung“. Ich halte es durchaus für diskutabel, für die Außenpolitik des Regimes eine ähnlich schrittweise Radikalisierung wenigstens als Hypothese anzunehmen, und Hitlers sozialdarwinistischem Weltbild in diesem Kontext dieselbe Rolle zuzuschreiben wie dem Antisemitismus in der strukturalistischen Deutung des Holocausts, also die Rolle eines allgemeinen ideologischen Rahmens, ohne den die späteren Entwicklungen zwar undenkbar wären, der aber für sich genommen kein hinreichendes Explanans darstellt.

Schultze-Rhonhof freilich trifft solche Annahmen mehr implizit als explizit. Er hat nicht den Ergeiz, der etablierten Geschichtserzählung einen ebenso umfassenden Gegenentwurf entgegenzustellen; überhaupt sind theoretische Überlegungen weniger seine Sache. Er versucht, die Situation aus der Sicht der jeweiligen Akteure (Hitler, die europäischen Mächte, die deutsche Generalität, das deutsche Volk) zu schildern, und deren Handlungen zu verstehen, um zu einem Gesamtbild zu gelangen. Dies ist die Schwäche und zugleich die Stärke seines Ansatzes.

Die Schwäche liegt offenkundig darin, dass eine jeweils situationsbezogene Analyse nicht die Kohärenz des etablierten Geschichtsbildes erreicht. Im Grunde überlässt es der Autor seinem Leser zu entscheiden, in welchen theoretischen Rahmen er das einordnen möchte, was er erfährt.

Was der Autor aber erreicht, ist dass er dem Leser den Erfahrungs- und Erwartungshorizont der damaligen Akteure vor Augen führt: Wer in der Nachkriegszeit aufgewachsen ist, wird sich kaum bewusst sein, welche existenzielle Bedeutung damals zum Beispiel die Probleme nationaler Minderheiten hatten: Man konnte in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in einer ganzen Reihe von Ländern entlassen, ausgewiesen, enteignet oder totgeschlagen werden, nur weil man einer ethnischen Minderheit angehörte; und da das Selbstbestimmungsrecht von Deutschen von den Siegermächten besonders gering geachtet wurde und große Gebiete mit deutscher Bevölkerung an Fremdstaaten vergeben wurden, waren Deutsche besonders häufig von solchen Praktiken betroffen. Auch dass die Vorstellung vom fehlenden „Lebensraum“ damals nicht spezifisch nationalsozialistisch oder spezifisch deutsch war, wird nicht jeder wissen.

(Tatsächlich gehörten solche Vorstellungen zu den Grundlagen von Kolonialpolitik; die großen Kolonialmächte selbst beklagten sich natürlich nicht über fehlenden Lebensraum, denn sie hatten das „Problem“ für sich ja gelöst – oder glaubten, es gelöst zu haben. Dass in Ländern wie Deutschland, aber auch Polen die Ansicht verbreitet war, hier harre ein dringendes Problem der Lösung, war Folge dieser in ganz Europa vorherrschenden Denkrichtung.)

In Deutschland mussten Lebensraum-Ideologien auf besonders fruchtbaren Boden fallen, weil die britische Hungerblockade, die während des Ersten Weltkrieges rund eine Million deutsche Zivilisten umgebracht hatte, der These vom „Volk ohne Raum“ (speziell ohne ausreichende Rohstoffe und landwirtschaftliche Nutzfläche) ein Maß an Plausibilität verlieh, das sonst ganz unverständlich wäre – auch daran erinnert Schultze-Rhonhofs Buch. Seine Darstellung des von den Alliierten in Versailles und danach begangenen Unrechts hat nicht etwa die Funktion einer billigen Aufrechnung, sondern dient dazu, den Nachgeborenen den Hintergrund zu vergegenwärtigen, vor dem damals Politik gemacht wurde.

Des Autors Freude am Detail mehr als an den großen Linien führt zu mancher Erkenntnis, die nachdenklich stimmt. So kennt zum Beispiel jeder, der sich mit dem Weg in den Zweiten Weltkrieg beschäftigt, den Hitler zugeschriebenen Satz: “Ich habe nur Angst, dass mir im letzten Moment irgendein Schweinehund einen Vermittlungsvorschlag vorlegt.“ aus seiner Rede vor der Generalität vom 22.August 1939. Eine solch pointierte Aussage ist zur Popularisierung wie geschaffen und rundet das Bild des unablässig auf Krieg drängenden Diktators ab.

Ich hatte mich schon immer gewundert, dass Hitler gegenüber der hochkonservativen deutschen Generalität eine solch vulgäre Sprache gebraucht haben soll, ohne Befremden auszulösen, und hatte es darauf zurückgeführt, dass unter dem Einfluss des NS-Regimes die Verlotterung der Wehrmacht bis hinein in die Umgangsformen früh um sich gegriffen haben müsse. Schultze-Rhonhof dagegen macht plausibel, dass dieser Satz weder so noch sinngemäß gefallen ist, sondern dass es sich bei der fraglichen Version des Redeprotokolls um eine Fälschung handelt, die der Anklage im Nürnberger Prozess zugespielt wurde, um die deutschen Generale kollektiv für die Entfesselung des Krieges mitverantwortlich zu machen.

Im Hinblick auf die Rezeption des Buches ist erstaunlich, mit welcher Verbissenheit gerade die Kernthese angefochten wird, dass der Zweite Weltkrieg „viele Väter“ gehabt habe: weniger von der Fachwelt, die erwartungsgemäß das Werk des Außenseiters – Schultze-Rhonhof ist kein Historiker – ignoriert, sondern von den Rezensenten speziell der FAZ und der „Welt“, die bei dieser Gelegenheit wieder einmal dem Verdacht Nahrung geben, im Mediensystem etwa das zu sein, was die Unionsparteien im politischen System sind, nämlich bloße Konservatismus-Surrogate; in beiden Rezensionen spielt jedenfalls die Frage eine untergeordnete Rolle, ob das, was Schultze-Rhonhof schreibt, wahr ist. Es scheint eher darum zu gehen, aus volkspädagogischen Gründe eine bestimmte Version von Geschichte aufrechtzuerhalten – und sei es dadurch, dass man den Autor als Person diffamiert und ihn – was sonst? – in die rechte Ecke schiebt.

Dabei ist gerade die These, dass der Zweite Weltkrieg viele Väter hatte, alles andere als eine „Legende“, wie der FAZ-Schreiber meint: Im Ernst streitet doch kein Historiker ab, dass der Versailler Vertrag eine Fehlkonstruktion war, der einen Revancheversuch Deutschlands wahrscheinlicher machte; dass Polen eine aggressive Macht war, die unglaublich brutal mit ihren vielen ethnischen Minderheiten umsprang; dass die Tschechoslowakei ihre Minderheitenprobleme bis in die deißiger Jahre verschleppt und sich so selbst zu einem Krisenherd erster Güte gemacht hatte; dass Polen eher bereit war, einen Krieg mit Deutschland zu riskieren, als irgendwelche Zugeständnisse in der Danziger und Korridorfrage zu machen, und dies, obwohl die durchaus maßvollen deutschen Wünsche Ende 1938 und Anfang 1939 keine Gebietsforderungen gegen Polen enthielten und nach Jahren der deutsch-polnischen Zusammenarbeit keineswegs mit ultimativen Drohungen vorgebracht wurden, sondern in einem Stil, wie er zwischen befreundeten Ländern üblich ist. Und zumindest diskutabel ist die These, dass England mit seiner Garantie für Polen und Frankreich mit seinen leeren Versprechungen militärischer Unterstützung Polens Halsstarrigkeit verstärkt hat, vielleicht auch absichtlich. Viele Väter, in der Tat.

Aaaaaber, lautet jetzt der typische Einwand, über den ich mich schon deshalb nicht lustig machen werde, weil ich ihn noch vor kurzem selbst vertreten habe: Sind nicht die Handlungen der anderen europäischen Mächte vom Amtsantritt Hitlers an tatsächlich sozusagen bedeutungslos (wie das vorherrschende intentionalistische Paradigma suggeriert) bzw. nur als Fehler von Bedeutung, wie etwa die Appeasementpolitik, also als Fahrlässigkeit statt Vorsatz, weil Deutschland in jedem Falle einen Krieg entfesselt hätte, und zwar den in „Mein Kampf“ angekündigten großen Lebensraumkrieg gegen Russland?

Zumindest was Polen angeht, stimmt es nicht. Polen hätte sich mit Deutschland verständigen können, auch ohne den Beitritt zum Antikominternpakt; auch das stellt Schultze-Rhonhof klar, und ich kenne keinen Historiker, der es bestreiten würde.

Die Frage, ob die Folge einer solchen Verständigung ein großer Krieg (gegen Frankreich, Russland oder wen auch immer) gewesen wäre, kann man, wenn man ehrlich ist, nicht beantworten. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie von der etablierten Forschung bejaht wird, dürfte jedenfalls weniger auf unabweisbarem Quellenzeugnis beruhen als vielmehr auf dem Deutungsangebot der großen Erzählung von Aufstieg und Fall des raffinierten Teufels Hitler, der 1923 schon wusste, was er 1943 tun würde. Die bloße Existenz einer solch „runden“ Erzählung wirkt wie ein gemachtes Bett, in das man sich nur hineinlegen muss.

Ob diese Erzählung allerdings wirklich einem guten Stadtplan entspricht oder einem Wegweiser nach „Fadenlauf“, lasse ich dahingestellt. Auch Schultze-Rhonhof beantwortet diese Frage letztlich nicht. Er erschüttert die Plausibilität der vorherrschenden Geschichtsdeutung in einigen Details, indem er die situativen und taktischen Momente der deutschen Außenpolitik in den Blickpunkt rückt, bietet aber letztlich keine eigene überzeugende Deutung an. Die Stärke des Buches, dem Leser die seltsame Welt der Zwischenkriegszeit plastisch vor Augen zu führen, wird erkauft mit einer gewissen Kurzsichtigkeit der Deutung. Das Bedürfnis des Autors, ein wahrscheinlich allzu einseitiges Geschichtsbild zu korrigieren, bringt ein Geschichtsbild hervor, das seinerseits blinde Flecken aufweist.

Nichtsdestotrotz: Das Werk bietet eine Fülle an wichtigen Details, die der Fachwelt bekannt sind, dem breiten Publikum aber nicht, und die es anderswo in dieser Dichte und Übersichtlichkeit nicht zu lesen gibt. Deshalb ist es lesenswert und regt zum Nachdenken und Weiterfragen an. Nicht mehr, nicht weniger.

„Überfall auf Polen“

Heute ist der siebzigste Jahrestag des Angriffs auf Polen, mit dem der Zweite Weltkrieg begann. Seit heute früh kommt keine Nachrichtensendung mehr ohne die Worthülse „Überfall auf Polen“ aus, und ich habe es mit erspart nachzugugeln, ob die Zeitungen sie ebenfalls benutzen; ich wette: ja.

Eine Worthülse ist das deshalb, weil man unter einem Überfall einen überraschenden Angriff aus heiterem Himmel versteht, mit dem nicht gerechnet werden kann. Das Wort „Überfall“ passt gut auf den Angriff von 1941 auf die Sowjetunion; dem Angriff auf Polen vor genau siebzig Jahren aber gingen eine monatelange diplomatische Krise, Propagandaoffensiven beider Seiten, Dutzende von Grenzzwischenfällen und ethnischen Scharmützeln, nicht zuletzt der deutsch-sowjetische Nichtangriffs-(und Teilungs-)pakt voraus. Was am 1. September 1939 begann, war wohl ein Angriff, aber eben kein Überfall.

Es geht hier nicht um kleinkarierte Wortkauberei, wie jetzt vielleicht mach einer denkt:

Wenn ein so auffallend unpassendes Wort wie das vom „Überfall auf Polen“ nicht nur irgendwann und von irgendwem versehentlich eingeflochten wird, sondern offenkundig Teil einer Sprachregelung ist, die ungeachtet ihrer Dummheit von niemandem in Frage gestellt wird, dann ist dies bezeichnend für den Geisteszustand, in dem die meinungsbildenden Eliten ihre für uns Alle bestimmten Texte verfassen: Die Angst vor der abweichenden Meinung, ja die Angst sogar vor einer – womöglich bloß versehentlich – abweichenden Formulierung, verdrängt jede andere journalistische Erwägung, sogar die Angst vor dem Verdacht der Inkompetenz und der daraus resultierenden Blamage.

In einer solch gestanzten Floskelsprache teilt man nicht die Ergebnisse von Überlegungen, sondern eingepaukte Glaubensartikel mit. An ihr ist abzulesen, dass der Diskurs der deutschen Öffentlichkeit über alles, was mit Hitler zusammenhängt, überhaupt nichts mit dem Selbstbild der Nation zu tun hat, die von sich so gerne behauptet, „aus der Geschichte gelernt“ zu haben. Ein Volk, das in stalinistischer Manier Fragen von Wahr und Unwahr mit denen von Gut und Böse vermengt und sich an ein bis in die Formulierungen hinein vorgegebes Geschichtsbild klammert, zeigt, dass es selbst nach zwei totalitären Diktaturen mit dem Begriff des Totalitären noch nichts anzufangen weiß.

Es muss als wahrscheinlich gelten, dass ein solches Volk auch noch einem dritten Totalitarismus anheimfällt.