Thorsten Hinz: “Der Weizsäcker-Komplex”

Für die meisten Deutschen verkörpert Richard von Weizsäcker zweifellos das Ideal eines Bundespräsidenten, und in der Tat hat keiner seiner Vorgänger oder Nachfolger die Bundesrepublik auch nur annähernd mit dem Stilgefühl und der royalen Aura repräsentiert, die für Weizsäckers’ Habitus charakteristisch waren und sind. Weizsäcker hat die heimliche Sehnsucht nach einem Monarchen befriedigt, zu dem man aufschauen kann – und zwar so sehr, dass Kritik an ihm vielen Menschen buchstäblich als Majestätsbeleidigung erscheinen muss. Thorsten Hinz hat mit “Der Weizsäcker-Komplex. Eine politische Archäologie” (Edition JF, Berlin 2012, 353 S., € 24,80) eine der ersten kritischen Würdigungen des ehemaligen Bundespräsidenten vorgelegt und ihn dabei ein wenig entzaubert. […]

Weiterlesen bei PI: Thorsten Hinz: “Der Weizsäcker-Komplex” – Politically Incorrect.

Nicht in unserem Namen!

Der Bundespräsident hat zum 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, eine Rede in Auschwitz gehalten, und wie üblich bei solchen Gelegenheiten, quoll die Rede von Masochistenpathos über:

Auschwitz liegt auf polnischem Boden. Eine ganz große Zahl von Opfern waren polnische Staatsangehörige. Polen und seine Bewohner haben unendlich unter der deutschen Besatzung und dem nationalsozialistischen Rassenwahn gelitten.

Der Name Auschwitz steht wie kein anderer für die Verbrechen Deutscher an Millionen von Menschen. Sie erfüllen uns Deutsche mit Abscheu und Scham.

Es ist keine billige Aufrechnung zu fragen, warum nach einem Jahrhundert der Massenschlächtereien, von denen der Holocaust nur eine war, ausschließlich deutsche Staatsoberhäupter solche Reden halten.

Wir tragen hieraus eine historische Verantwortung, die unabhängig ist von individueller Schuld.

Wer die Kollektivschuld-These vertreten will, möge das tun. Er möge dann aber auch dazu stehen und sich nicht hinter wolkigen Phrasen wie „Verantwortung“ verstecken.

Wir dürfen nie wieder zulassen, dass solche Verbrechen geschehen. Und wir müssen die Erinnerung wach halten. Denn das Wissen um das geschehene Grauen, die Erkenntnis dessen, was Menschen fähig waren, anderen Menschen anzutun …

… um Erinnerung geht es, nicht um historische Aufklärung, in der man versuchen würde, den Nationalsozialismus zu erklären, wie man auch andere historische Epochen erklärt. Eine solche Aufklärung, also eine Historisierung des Nationalsozialismus, würde, wie bei anderen historischen Themen auch, dazu führen, dass immer neu gefragt wird und die Antworten immer wieder am neuesten Stand der Erkenntnis gemessen werden. Das geschieht gerade nicht. Die „Erinnerung“ bleibt gleichsam eingefroren  im Aggregatzustand immergleicher stereotyper Phrasen. Wer debattieren wollte, müsste denken und würde dann zwangsläufig von der vorgestanzten Phraseologie abweichen. Der letzte deutsche Politiker, der das versucht hat, war Philipp Jenninger, der diesen Versuch mit dem Verlust seines Amtes bezahlte.

… sind Mahnung und Verpflichtung für die gegenwärtigen und kommenden Generationen, die Würde des Menschen unter allen Umständen zu wahren und niemals mehr andere zu verfolgen, zu erniedrigen oder gar zu töten, weil sie anders sind in Glaube, Volkszugehörigkeit, politischer Überzeugung oder sexueller Orientierung.

Indem man nicht nach Ursachen fragt, indem man nicht davon spricht, in welches Bedingungsgeflecht die Deutschen der dreißiger und vierziger Jahre verstrickt waren, indem man zugleich alle geschehenen Verbrechen pauschal „den Deutschen“ anlastet – als habe es nicht identifizierbare Entscheidungsträger gegeben – benennt man selbstredend trotzdem „Ursachen“:

Ursache war demnach der böse Wille „der Deutschen“, die kollektiv und aus purem Hass auf Menschen, die „anders sind in Glaube, Volkszugehörigkeit, politischer Überzeugung oder sexueller Orientierung“ diese verfolgt, erniedrigt und ermordet hätten. Dass die Deutschen ganz andere Gründe gehabt haben könnten, Hitler zu unterstützen, kommt gar nicht erst in den Blick. Und es soll offenbar auch nicht in den Blick kommen: Nicht im Manuskript, wohl aber in der gesprochenen Rede mahnt Wulff die Deutschen sogar, für die Verbrechen der Nationalsozialisten „ewig einzustehen“.

Zuerst immunisiert sich die Rede gegen Kritik durch ein moralisches Pathos, dessen erkennbare Funktion die ist, Kritik von vornherein mit dem Makel des „Unmoralischen“ zu belasten – in diesem Zusammenhang fällt dann auch noch das Wort „ewig“ , mit dem sich der Bundespräsident endgültig als Hohepriester einer Religion zu erkennen gibt, deren wesentlicher Inhalt die kollektive Selbstverfluchung ist. Die Worte, mit denen das Matthäusevangelium die Jerusalemer Juden zitiert – „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ – werden von Wulff (wie von unzähligen anderen deutschen Nachkriegspolitikern) sinngemäß auf das eigene Volk angewandt.

Ein Bundespräsident repräsentiert aber nicht das deutsche Volk, weil er von diesem nicht gewählt worden ist (und gerade dieser Präsident wäre auch nicht gewählt worden, wenn man das Volk gefragt hätte). Deshalb ist er nicht einmal befugt, für das jetzige deutsche Volk irgendwelche Verantwortung zu bekunden, geschweige denn dessen Nachkommen eine „ewige Verantwortung“ aufzubürden. Er repräsentiert einen Staat, und zwar einen, der nicht durch einen souveränen verfassunggebenden Akt des deutschen Volkes gegründet worden ist, sondern durch den Willen der Besatzungsmächte – weswegen seine Verfassung bis heute „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“ heißt, und nicht etwa „Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“, und weswegen er in Artikel 146 GG diesen Mangel auch offen zugibt. Ein Bundespräsident repräsentiert die politische Klasse – und niemanden sonst – einer Republik, die, gemessen an ihrem eigenen Maßstab, der Volkssouveränität, ein illegitimes Staatswesen ist.

Die freilich repräsentiert er so vollkommen wie nur irgend möglich. Die Verfluchung des deutschen Volkes, die hier in den Rang einer Religion erhoben wird, soll von den Deutschen verinnerlicht werden – dies geht aus Reden dieser Art deutlich genug hervor und ist Konsens der politischen Klasse. Sie sollen ihr eigenes Volk nicht für erhaltenswert halten, sie sollen sich nicht dazu bekennen, sie sollen sich nicht an ihren eigenen nationalen Interessen orientieren. Sondern an den Interessen „Europas“, d.h. seiner herrschenden Eliten, an den Interessen „der Menschheit“ – womit es wieder herrschenden Eliten überlassen bleibt zu definieren, was dieses Interesse gerade erheischt -, und nicht zuletzt an den Interessen derer, die „anders sind in Glaube, Volkszugehörigkeit … oder sexueller Orientierung“, und zu deren Interessen jedenfalls nicht gehört, dass das deutsche Volk das 22. Jahrhundert erreicht.

Die gestanzten Phrasen sind also nicht etwa Produkt geistiger Impotenz, sondern eines politischen Programms. Insofern erübrigt sich auch die ansonsten naheliegende Frage, ob Christian Wulff eigentlich über die geistigen Voraussetzungen verfügt, um Zitierenswertes über die deutsche Geschichte zu sagen. Er kann seine Funktion viel leichter erfüllen, wenn er über diese Voraussetzungen gerade nicht verfügt.

Das Gift, dass uns seit Jahrzehnten in Gestalt von Worten wie „Scham“, „Schuld“, „Verantwortung“, „Erinnerung“, „Nie wieder!“ eingeträufelt wird, zielt darauf ab, aus dem Volk eine bloße „Bevölkerung“ zu machen, eine Masse von Einzelnen, die sich nicht mehr wehrt, wenn selbsternannte Eliten über ihr Schicksal entscheiden.