Asterix ist rechtsradikal!

Nachdem wir jüngst darüber aufgeklärt wurden, dass „Arielle die Meerjungfrau“ eigentlich auf den Index der jugendgefährdenden Schriften gehört, weil die Titelheldin nicht lesbisch ist, entlarvt Richard Herzinger unter Berufung auf einen französischen Kulturhistoriker in der „Welt“ Asterix und Obelix als Rechtsextremisten:

Wenn einem das Lachen vergeht: Schluss mit dem Kult um die Asterix-Comics!

…die Geschichten aus der kleinen, völkischen Dorfgemeinschaft nehmen in trivialisierter Form jenes Ideal von der reinen Rasse auf…

(…) Einiges spricht dafür, dass ihr Erfolg auch deshalb so nachhaltig ist, weil ihre Botschaft in spielerischer Form alte Sehnsüchte wachruft, die in tiefsten Schichten des europäischen kollektiven Bewusstseins vergraben zu sein schienen.

(…) Ganz in diesem Sinne leistet das kleine gallische Dorf um Asterix und Obelix den Okkupationsgelüsten des römischen Reiches Widerstand

(…)Starr hält die ethnisch homogene Dorfgemeinschaft an ihren archaischen Stammesstrukturen fest

Ein paar Südländer hätten das Dorf doch wohl bereichern können! Herzinger fordert die Migrantenquote für Comics. In der Tat: Da vergeht einem wirklich das Lachen.

Was ihn aber am meisten stört ist dies:

Klar, dass das Hohelied der antizivilisatorischen Trutzgemeinschaft auch eine aktuelle antiamerikanische Spitze hat. Das kleine gallische Dorf wirkt wie der diametrale Gegenentwurf zu der kosmopolitischen US-Metropole Entenhausen, wo frei laufende, individualisierte Enten mit Auto fahrenden Mäusen und dem Landleben entfremdeten Hühnern und Kühen in bunter ethnischer Vielfalt zusammenleben

(Offenbar ist ihm entgangen, dass die alle heterosexuell sind, sonst wäre er wohl strenger mit Disney ins Gericht gegangen.)

Heute wärmt der Gallier-Comic der Anti-Globalisierungsbewegung das Herz, die das Heil in der Abkoppelung autarker Volkswirtschaften vom bösen „Empire“ des Kapitalismus und der Hochtechnologie sehen. Wenn man daran denkt, kann einem das Lachen freilich schon vergehen.

Wer Asterix liebt, ist gegen Globalisierung und gegen Amerika: Also ist er Rassist. So einfach ist das!

Marxismus, Liberalismus und die Antideutschen

Es kommt manchmal vor, dass ich einen Kommentar schreibe, der so lang und ausführlich, aber auch so grundlegend ist, dass ich es vorziehe, einen neuen Artikel daraus zu machen. So auch hier. In meinem letzten Artikel „Die Krise in den Köpfen“ habe ich liberale und sozialistische Ideologien miteinander verglichen; der einzig wirklich wichtige Unterschied schien mir zu sein, dass Sozialismus im Gegensatz zu Liberalismus auf die  Verstaatlichung der Gesellschaft abzielt. Lebowski, auf dessen Einwand ich hiermit repliziere, wollte die Aussgae so nicht stehen lassen und kommentierte wie folgt:

Ich weiß nicht, ob Du hier Marxisten und Marx in eins setzt. Marx hat nämlich nie den absoluten Staat propagiert, sondern war Staatskritiker.

Siehe dazu:

http://jungle-world.com/artikel/2009/02/32428.html

Und da, wo man Sozialismus ohne Staat versucht, zB in jüdischen Kibbuzen, funktioniert er ja auch ganz leidlich und kommt ganz ohne Gulags aus.

Das mit den Kibbuzim lasse ich gelten; im Heiligen Land gehören die Wunder Gottes zum Leben!   😀

Im übrigen ist der Hinweis auf die Marxsche Staatskritik hochinteressant, weil er, vor allem in Verbindung mit dem Jungle-World-Artikel, einen weiteren Beleg für den Zusammenhang von liberalem und sozialistischem Denken enthält:

Es trifft zu, dass Marx Staatskritiker war, der den Staat vor allem als Unterdrückungsapparatur betrachtete und sich vom Kommunismus auch das Ende des Staates erwarete; und ich habe den Namen „Marx“ auch nicht erwähnt, sondern nur von „Marxisten“ gesprochen, damit genau das Spiel nicht gespielt werden kann, das der Verfasser des Jungle-World-Artikels spielt, und das das Lieblingsspiel aller Apologeten des Sozialismus ist, nämlich den Buchstaben der Theorie gegen die geschichtliche Wirklichkeit auszuspielen: also zu sagen, dass Marx das alles ja ganz anders gemeint habe, als es dann unter Berufung auf ihn und seine Theorie verwirklicht wurde; und es dabei dann bewenden zu lassen statt eine Erklärung dafür vorzulegen, dass jeder –und zwar ausnahmlos jeder! – Versuch, auf der Basis marxistischer Theorie die Gesellschaft zu verändern, nicht etwa zur Abschaffung oder wenigstens Schwächung des Staates geführt hat, sondern ihn in eine Machtposition manövriert hat, die im 19. Jahrhundert noch völlig undenkbar gewesen wäre: Die gemäßigte Variante ist der sozialdemokratische Versorgungsstaat, die radikale die stalinistische Diktatur.

Wenn eine Gesellschaftstheorie bei dem Versuch ihrer Verwirklichung so hartnäckig Ergebnisse hervorbringt, die nicht nur anders sind als von der Theorie postuliert, sondern das Gegenteil des Vorhergesagten, dann deutet das zwingend auf einen Defekt in der Theorie hin. Betrachtet man die diversen Versuche, sozialistische Gesellschaften auf der Basis des Marxismus zu errichten, als Versuche, die Richtigkeit der Theorie zu überprüfen, so muss man die Geschichte des Sozialismus seit 1917 als eine einzige Kette von Falsifizierungen auffassen.

Natürlich kann man es machen wie die Antideutschen und die ideologischen Scheuklappen noch ein wenig fester zurren: Wenn man der wahren Lehre von Marx folgen würde, dann, ja DANN …

Eines muss man ihnen natürlich lassen: Sie haben – genau wie sie es für sich in Anspruch nehmen – die innere Logik des Marxismus klarer erfasst als irgendeine andere ultralinke Fraktion (was aus meinem Munde freilich ein ähnlich zweischneidiges Kompliment ist wie die ebenfalls zutreffende Feststellung, dass die Islamisten den Islam besser verstanden haben als sogenannte gemäßigte oder Reformmuslime).

Dass außerdem die innere Verwandtschaft von Liberalismus und Kommunismus gerade bei denjenigen Liberalen besonders auffällt, die ursprünglich aus dem antideutschen Spektrum stammen, ist kein Zufall. Der Chefideologe jener „Liberalen“, die eine globalistische Ideologie vertreten, ist jedenfalls nicht etwa Karl Popper – der ist höchstens das bürgerliche Feigenblatt -, sondern Karl Marx!

Marx war in der Tat ein früher Vertreter des Globalismus, wahrscheinlich sogar der früheste, und er konnte sich den Sozialismus/Kommunismus nur auf der Basis der Ergebnisse des vollentwickelten Kapitalismus vorstellen – was nebenbei gesagt bedeutet, dass ein Kibbuz-Kommunismus unmarxistisch ist. Das Kommunistische Manifest enthält geradezu eine Hymne auf die revolutionäre Rolle des Kapitalismus, weil dieser durch ständige und wiederholte Umwälzung der Grundlagen der Produktion die gesamte Menschheit aus ihren angestammten Lebensverhältnissen reißt, bestehende Strukturen vernichtet und die Gesellschaft verflüssigt – in der Sprache meiner eigenen Theorie: entstrukturiert.

Erst auf dieser vom Kapitalismus geschaffenen Tabula Rasa kann nach Marx der Kommunismus entstehen. Ein Antideutscher von einem gewissen Theorieniveau aufwärts würde jetzt wahrscheinlich folgendermaßen argumentieren:

Da die bisherigen Versuche, den Kommunismus zu verwirklichen, „zu früh“ kamen, nämlich bevor der kapitalistische Weltmarkt die gesamte Menschheit erfassen und alle vormaligen Lebensverhältnisse zerstören konnte, mussten kommunistische Revolutionäre die Zerstörung dieser Verhältnisse selbst bewerkstelligen, und das Ergebnis konnte nichts anderes sein als eine totalitäre Diktatur. Man muss daher, um zum Kommunismus zu gelangen, die Durchsetzung der kapitalistischen Eigenlogik mit allen Mitteln forcieren. Die Zerstörung hergebrachter Strukturen, Lebensverhältnisse und Wertvorstellungen bewerkstelligt man nicht mit der GPU, sondern überlässt sie der Eigendynamik des Kapitalismus. Militär und Geheimpolizei, überhaupt staatliche Gewalt (und hier speziell die militärische Gewalt der USA), wird nur noch benötigt, um die Feinde dieser Entwicklung auszuschalten.

Bereits dieses Zugeständnis an die „progressive Rolle“ staatlicher Gewalt sollte allerdings ausreichen, die Illusion ad absurdum zu führen, der antideutsche Weg zum Kommunismus werde nicht, wie seine Vorgänger, eine leichenstrotzende Sackgasse sein.

Marx hatte noch gesehen, dass „Fortschritt“ im Sinne der Entstrukturierung der Gesellschaft, ihrer Verflüssigung im Dienste der kapitalistischen Globalisierung, einem heidnischen Götzen gleicht, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken will. Seine Prognose war demgemäß ein „Enweder-Oder“: Entweder Kommunismus oder Barbarei, wobei er die Barbarei zutreffenderweise als das unausweichliche Ergebnis von Entstrukturierung gesehen hat.

Marx allerdings konnte sich noch der Illusion hingeben, die solcherart vernichtete Gesellschaft werde sich, wenn erst der Kapitalismus überwunden ist, auf der Basis bewussten Zusammenwirkens mehr oder minder spontan (gegebenenfalls unter ein wenig Nachhilfe von Seiten der Partei) re-strukturieren.

Für eine solche Hoffnung spricht empirisch überhaupt nichts. Dass eine Gesellschaft, deren Leistungsfähigkeit auf Differenzierung und Komplexität beruht, sich als Einheit, also in einem ent-differenzierten Zustand die Kontrolle über die (ebenfalls entdifferenziert gedachte) Gesamtheit ihrer Lebensgrundlagen verschaffen können, ist schon theoretisch nicht zu begründen und empirisch nirgendwo beobachtet worden.

Ja, es gibt die spontane Selbstorganisation von Gesellschaften, aber sie basiert (wo sie vorkommt bzw. aufgrund eines Zvilisationszusammenbruches erforderlich geworden ist) nicht auf spontan erwachsender Solidarität und vernunftgesteuerter gesellschaftsweiter Kooperation. Sie basiert auf der strukturierenden Kraft der Gewalt. Marx und Engels haben in der „Gewalt in der Geschichte“ stets nur das Mittel zum ökonomischen Zweck erkennen können; demgemäß war auch ihre Staatstheorie eine Agententheorie (der Staat als Agent der herrschenden Klasse).

Tatsächlich hat Gewalt eine Eigendynamik, weil der, der sie glaubwürdig androht, alle Anderen zwingt, sich zu dieser Drohung zu verhalten. Damit gewinnt sie einen Januskopf: Sie kann bestehende Ordnungen zerschlagen, sie kann aber auch Chaos in Ordnung transformieren. Der Staat kann dabei durchaus aus dem Spiel bleiben; er (und sein Gewaltmonopol) ist lediglich die Form, durch die die Gesellschaft die Gewalt aus ihrem Alltag verbannt hat; es steht aber nirgendwo geschrieben, dass die Verbannung der Gewalt aus dem gesellschaftlichen Alltag notwendig für die Aufrechterhaltung von Gesellschaft schlechthin wäre. Die Gewaltfreiheit als Regelfall ist „nur“ notwendig für eine in unserem Sinne humane und zivilisierte Gesellschaft.

Die Zerschlagung der Struktur „Staat“ würde also nicht nur seinen Herrschaftscharakter zerstören, sondern auch seinen Ordnungscharakter. Die Zerstörung des Gewaltmonopols führt zunächst zur Atomisierung der Gewalt in vagabundierende Kleinsteinheiten; von diesem Punkt her entwickelt sie dann ihr strukturierendes Potenzial. Weil das so ist, wird die Herrschaft über eine verflüssigte, entstaatlichte und entstrukturierte Gesellschaft nicht etwa im Kommunismus aufgehoben, sondern fällt an diejenige politische Einheit, die den strukturierenden Charakter der Gewalt am Effektivsten für sich nutzt. Der einzige Kandidat, den ich sehe, ist der Islam.

Der Islam ist bekanntlich Religion, Gesellschaftsordnung und Rechtssystem zugleich, und sein Recht läuft darauf hinaus, ohne Rückgriff auf einen verselbständigten Staat einen gesellschaftlichen Konsens darüber zu stiften, wer unter welchen Voraussetzungen gegen wen Gewalt anwenden darf. Da die islamische Ethik eine solche der exklusiven Gruppensolidarität ist, haben „Ungläubige“ keine Chance, sich den Forderungen des islamischen Djihadsystems zu entziehen. Der Djihad endet erst mit der Errichtung einer islamischen Ordnung. Ich habe neulich den islamischen Sklavismus als ein System beschrieben, das Menschen aufsaugt, zerbricht, umformt und als Moslems wieder ausspuckt. Dasselbe gilt auch auf der kollektiven Ebene: Die nichtmuslimische Gesellschaft wird erobert, zerschlagen, re-strukturiert und als islamische befriedet. Der Islam hat in seiner gesamten Geschichte (und auch in jüngster Zeit in etlichen Failed States – Somalia, Afghanistan) sein strukturierendes Potenzial bereits bewiesen, der Kommunismus noch nie – jedenfalls nicht der, den Marx sich erträumte!

Dass Marx die Illusion hegen konne, die Herrschaft von Menschen über Menschen, und damit auch den Staat, im Wege der politischen Revolution zu beseitigen, liegt daran, dass er bestehende Strukturen ausschließlich im Hinblick auf ihren Herrschaftscharakter betrachtete, d.h. an seiner spezifisch linken Optik. Soziale Strukturen unter anderen als herrschaftskritischen Gesichtspunkten zu beurteilen, kam ihm so wenig in den Sinn wie irgend einem Linken sonst. Als Linker verinnerlicht man diese Prämisse derart früh, dass auch ich über zwanzig Jahre gebraucht habe, um sie als nicht begründete und obendrein falsche Prämisse meines eigenen Denkens zu erkennen (was in etwa der Feststellung entspricht, dass ein fertig gebautes Haus einen irreparablen Riss im Fundament aufweist).

(Vermutlich ist darin auch der Grund dafür zu suchen, dass ich hier immer mal wieder mit Kommentatoren zu tun habe, die überhaupt nicht imstande sind, diese Denkprämisse als solche zu erkennen, nicht einmal, wenn man sie ihnen dreimal um die Ohren haut, und die mich deshalb so lange mit den daraus resultierenden Dogmen nerven, bis ich sie vor die Tür setze.)

Der zweite grundlegende Defekt von Marx‘ Theorie ist subtiler, aber nicht weniger wichtig: Es handelt sich dabei um seine höchst einseitige Anwendung der dialektischen Methode. Marx ging von der Prämisse aus, dass die Gesellschaft sich in ihren Widersprüchen bewegt, und das heißt vor allem: BEWEGT.

Das ist natürlich nicht falsch. Nur fällt dabei unter den Tisch, dass dialektische Widersprüche eine Struktur auch stabilisieren können. Die Bewegung der Gesellschaft ist nicht notwendig eine Bewegung von einer Struktur zur anderen (also etwa vom Kapitalismus zum Sozialismus), sondern kann Bewegung innerhalb eines Widerspruches sein, ohne dass die Theorie dadurch in sich widersprüchlich würde. Engels hat die Dialektik zwar einmal am Beispiel der Planetenbewegung (als Widerspruch zwischen zentripetaler und zentrifugaler Kraft) erklärt – wodurch an sich genau dieser Gedanke einer strukturstabilisierenden Wirkung von dialektischen Widersprüchen nahegelegt wird (die Struktur wäre in diesem Fall das Planetensystem, das sich seit Millionen Jahren gleichbleibt, wenn auch nicht für alle Ewigkeit), aber theoretisch verarbeitet und auf die Gesellschaft bezogen wurde diese Idee weder von Marx noch von Engels: Ihre Theorie hätte dann auch aufhören müssen, Revolutionstheorie zu sein.

Gelesen: Naomi Klein, Die Schock-Strategie

 

„Eine Offenbarung! Naomi Klein hat das wichtigste Buch ihrer Generation geschrieben!“ 

So zumindest lautet eine der Werbebotschaften auf der Umschlagrückseite, und der solchermaßen eingestimmte Leser schlägt das Buch „Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus“ (Frankfurt/M. 2007) in der Erwartung auf, in Naomi Klein wenn schon nicht dem Karl Marx, so doch wenigstens der Rosa Luxemburg der globalisierungskritischen Linken zu begegnen.

Schock-Strategie!!! Katastrophen-Kapitalismus!!! Wer solche Keulen schwingt, geht aufs Ganze: Entweder prägt er Begriffe, die dem Denken einer ganzen Generation die Richtung weisen – so wie „Kalter Krieg“ oder „Clash of Civilizations“ – oder er reiht sich ein in das Heer zweitklassiger Autoren, die mit knalligen Schlagwörtern die Auflage von Büchern hochtreiben, die kurzfristig die Bestsellerlisten verunzieren, um dann dem verdienten Vergessen anheimzufallen.

Um es vorweg zu sagen: Naomi Klein, seit ihrem Buch „No Logo“ einer der Stars der globalisierungskritischen Linken, gehört zur letzteren Kategorie. Man soll eben nichts auf Umschlagtexte geben.

Klein sieht in der „Schock-Strategie“ ein grundlegendes strategisches Muster, dessen Wirkungsweise sie im ersten Kapitel anhand von Foltermethoden der CIA veranschaulicht:

Dabei geht es darum, die Persönlichkeit eines Gefangenen dadurch zu brechen, dass man künstlich einen Zustand der Verwirrung und Desorientierung herbeiführt; die so zerbrochene Persönlichkeit wird dann zur formbaren Masse in der Hand des Folterers.

Nach demselben Muster, so die Autorin, verfahren neoliberale Ökonomen bei der Verwirklichung ihrer Utopie einer freien, d.h. von staatlichen Eingriffen, letztlich vom Staat überhaupt, befreiten Marktwirtschaft.

Ausgehend von Milton Friedmans wirtschaftswissenschaftlicher Fakultät an der Universität Chicago mauserte sich diese Theorie in den sechziger bis achtziger Jahren zur unangefochtenen Hauptströmung der Wirtschaftswissenschaften – unter tatkräftiger Mithilfe rechtslastiger amerikanischer Denkfabriken. Die Weltbank, der Internationale Währungsfonds (IWF) und eine Reihe aufeinanderfolgender amerikanischer Regierungen zwangen jahrzehntelang praktisch jedem krisengeschüttelten Drittweltland, ab 1989 auch Osteuropa, eine entsprechende neoliberale Politik – Deregulierung, Marktöffnung, Privatisierung, Abbau von Sozialleistungen – auf, die USA und Großbritannien praktizierten sie darüberhinaus auch im eigenen Land.

Da eine solche Politik ausschließlich im Interesse der reichsten Gesellschaftsschichten und multinationaler Konzerne liegt, den Interessen der breiten Massen aber zuwiderläuft, lässt sie sich mit den Mitteln normaler demokratischer Politik und als Ergebnis eines gründlichen gesellschaftlichen Diskussionsprozesses nicht durchsetzen.

Vielmehr schafft erst die Schocksituation – vergleichbar der eines gefolterten Gefangenen – einer existenziellen Krise die Voraussetzungen, unter denen eine vorübergehend desorientierte Gesellschaft eine schlagartig vollzogene neoliberale Rosskur über sich ergehen lässt, und selbst dann ist dieses Konzept oft nur mit autoritären, meist diktatorischen Mitteln durchsetzbar. Klein führt hierfür eine Vielzahl von Beispielen an, von Chile mit seinem Militärputsch 1973 bis hin zu Sri Lanka nach dem Tsunami 2004. In allen aufgeführten Fällen ging der autoritär durchgesetzte plötzliche Rückzug des Staates aus der Wirtschaft mit der Verarmung breiter Bevölkerungsschichten einher und vergrößerte sich drastisch die Kluft zwischen Arm und Reich.

Der neueste Trend ist laut Klein die Verselbständigung des „Katastrophen-Kapitalismus“: Die Katastrophen sind nicht mehr nur Gelegenheit bzw. Mittel zum Zwecke der Durchsetzung einer radikalen Marktwirtschaft, sondern haben einen eigenen mächtigen Wirtschaftszweig hervorgebracht, der Sicherheitsdienstleistungen anbietet, mithin an Katastrophen interessiert ist und obendrein die Kernfunktionen des Staates nach und nach an sich reißt. Sollte dieses Modell sich durchsetzen, so Klein, wird die Gesellschaft der Zukunft zerfallen in „Grüne Zonen“ der Sicherheit für die, die sich das leisten können, und „Rote Zonen“ von Anarchie und Chaos für alle Anderen.

Naomi Klein hat zweifellos fleißig recherchiert und Material in beeindruckender Fülle zusammengetragen; darin liegt eine Stärke ihres Buches, und zwar die einzige. Im Übrigen handelt es sich um nicht mehr als eine flott formulierte Streitschrift für Gleichgesinnte, also für Menschen, die in denselben linken Schablonen denken wie die Autorin selbst. Zu einem wirklich herausragenden Werk – und als solches wird es angepriesen – fehlt es ihm an analytischer Tiefe, begrifflicher Präzision, theoretischer Durchdringung, auch an Fairness und Gelassenheit des Urteils, kurz und gut: am geistigen Format.

In einem Siebenhundert-Seiten-Werk über Wirtschaftspolitik kein einziges wirtschaftswissenschaftlich fundiertes Argument, keine einzige ökonomische Analyse unterzubringen ist mehr als nur eine kleine Unterlassungssünde. Eine ideologiekritische Auseinandersetzung mit der neoliberalen Ökonomie findet nicht statt, eine Analyse des Verhältnisses von Markt und Staat erst recht nicht. Kleins eigener wirtschaftspolitischer Standort lässt sich nur aus Randbemerkungen erschließen, und die werfen kein gutes Licht auf ihre Kompetenz. Wenn sie etwa den ANC dafür kritisiert, dass er nicht die Politik verfolgt, Löhne zu oktroyieren, Preise einzufrieren und Geld zu drucken, so muss man sich fragen, ob Klein wirklich nur mit dem Neoliberalismus in Fehde liegt oder mit der ökonomischen Rationalität schlechthin. Wenn sie die Fortdauer des Nahostkonflikts auf die Interessen der israelischen Sicherheitsindustrie zurückführt, dann wird eine solche vulgärmarxistische Position der Komplexität des Themas wohl kaum gerecht.

Naomi Klein verfolgt in ihrer Argumentation exakt jene „Schock-Strategie“, die sie dem Neoliberalismus zum Vorwurf macht: Zuerst bringt sie den Leser mit morbider Lust am grausamen Detail durch Folterbeschreibungen in antiamerikanische Stimmung, dann bombardiert sie ihn über hunderte von Seiten mit Details, liefert deren Interpretation gleich mit und lässt zumindest dem nicht vorgebildeten Leser keine Chance, sie kritisch zu hinterfragen. Wer so schreibt, will nicht überzeugen, sondern indoktrinieren.

Das ist bedauerlich, weil eine fundierte Auseinandersetzung mit der neoliberalen Ökonomie, also mit der Doktrin der vollständig freien Marktwirtschaft und ihren Gefahren allemal wichtig und lohnend wäre. Der Satz, dass Konkurrenz das Geschäft belebt, gilt auch und gerade auf dem Markt der Ideen, und ein linkes Konzept muss nicht schon deshalb schlecht sein, weil es links ist. Nur muss es eben überhaupt ein Konzept, also fundiert und in sich schlüssig sein. Das ist bei Klein nicht erkennbar. Nicht die Fragen, die sie stellt, sondern die doktrinären Antworten, die sie gibt, machen die „Schock-Strategie“ zu einem ärgerlichen, einem schlechten Buch.