Von Phänomenen und Strukturen

Erik Lehnert hat in der aktuellen Sezession Nr. 52 die seit Monaten sich dahinscharmützelnde „Islamdebatte“ zwischen einigen Autoren der Sezession zum Anlass genommen, einige grundsätzliche Überlegungen zur Struktur solcher Debatten anzustellen. Lehnert zufolge hängt ihr Wert für den Leser davon ab,

daß man entschlüsseln kann, aus welcher Perspektive ein Debattenbeitrag verfaßt ist. Das setzt wiederum voraus, daß man weiß, daß es … keine unabhängig von uns existierende Wahrheit gibt, sondern daß diese Wahrheit im wesentlichen von der Perspektive desjenigen abhängt, der sich über einen Gegenstand verbreitet.

Wenn Lehnert damit nur sagen wollte, daß man denselben Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten kann, und daß der relative Wert einer bestimmten Perspektive davon abhängt, ob und wie weit sie zur Erhellung einer bestimmten Fragestellung beiträgt, so würde kein vernünftiger Mensch ihm widersprechen wollen. Allerdings wäre eine solche Binsenwahrheit es kaum wert,

auf eng begrenztem Raum und mit eng begrenzten Ressourcen

breitgetreten zu werden, und in der Tat will Lehnert auch auf etwas ganz anderes hinaus:

Der Historiker wird sich eher den Phänomenen zuwenden und letztendlich die Auffassung vertreten, daß sich die Wirklichkeit nicht in Formeln fassen läßt. (…)

Der Soziologe hat die Ebene der Phänomene und Individuen verlassen, um sich den Strukturen zuzuwenden. Das Hauptaugenmerk seiner Analyse liegt dann auf diesen Strukturen, von denen Abweichungen nur in anderen Strukturen möglich sind: Diese Nivellierung ist sicher sinnvoll, um bestimmte Entwicklungen zu erhellen. Die Wirklichkeit erfassen kann sie nicht.

Lehnert behauptet also, der Unterschied zwischen Geschichtswissenschaft und Soziologie bestehe darin, daß die eine sich mit Phänomenen, die andere mit Strukturen befasse. Da aber – dies ist jedenfalls die Quintessenz – „Phänomene“ in der Wirklichkeit existierten, „Strukturen“ jedoch nur in den Köpfen der Soziologen, könne die eine Disziplin „Wirklichkeit erfassen“ – und die andere eben nicht. Es fällt schwer, in solchen Thesen etwas anderes zu sehen als die anspruchsvoll formulierte Version des populären Vorurteils, Soziologen würden nur herumlabern.

Wenn es stimmen würde, daß man nur durch die Beschäftigung mit „Phänomenen“, nicht aber durch die mit Strukturen „Wirklichkeit erfassen“ könne, dann hieße das, daß man „Wirklichkeit erfaßt“, wenn man sich mit Bäumen, nicht aber, wenn man sich mit dem Wald beschäftigt; daß also Bäume real sind, der Wald aber nicht. Ich weise darauf hin, daß dieser Fehlschluß von der Existenz von Bäumen auf die Nichtexistenz des Waldes im Deutschen als metaphorische Umschreibung für Borniertheit gilt.

Dabei stimmt schon die Prämisse nicht: Es ist schlechterdings objektiv – und daher auch für Historiker – unmöglich, eine Aussage über Phänomene zu treffen, die nicht zugleich eine Aussage über ihre Struktur ist, allein schon, weil jeder Begriff eine Strukturaussage impliziert. Daß manche Historiker die in ihren Thesen enthaltenen Strukturaussagen nicht hinreichend reflektieren, steht auf einem anderen Blatt, ist aber keine wissenschaftliche Tugend, auch keine geschichtswissenschaftliche; schon gar nicht ist es ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Geschichtswissenschaft und Soziologie.

Darüberhinaus gehört es selbstverständlich zu den Aufgaben der Geschichtswissenschaft, Strukturen zu erforschen, und dies gegebenenfalls auch auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau, sozusagen aus der Vogelperspektive, aus der die einzelnen Phänomene vergleichsweise winzig sind und als Teile eines übergreifenden Musters, eines Mosaiks erscheinen, das weitaus mehr ist als bloß die Summe der Steinchen, aus denen es besteht. Es wäre doch absurd – um nur dieses Beispiel zu nennen – zu bestreiten, daß Ernst Noltes Thesen zum Europäischen Bürgerkrieg unter anderem eine empirisch wohluntermauerte Theorie über die Struktur der europäischen Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts darstellen.

Soziologische Theoriebildung wiederum zielt darauf ab, empirische Phänomene zu erklären (worauf denn sonst?) und gerade nicht, sie zu ignorieren. Indem die Soziologie soziale Phänomene als Ergebnis sozialer Strukturen und ihrer immanenten Dynamik beschreibt, erschließt sie sich einen Zugang zu gleichartigen Phänomenen, die unter Umständen räumlich und zeitlich weit voneinander entfernt auftreten und deshalb von einem phänomenologischen Ansatz her nicht miteinander in Beziehung zu bringen sind und nichts miteinander zu tun zu haben scheinen: zum Beispiel, daß muslimische Organisationen an Christen im Westen im Wesentlichen dieselben Erwartungen richten, die sie deren Glaubensbrüdern im Nahen Osten schon vor Jahrhunderten erfolgreich aufgezwungen haben; oder daß bei linker Politik, egal, ob sie in Frankreich 1789, in Russland 1917 oder in Deutschland 2013 verfolgt wird, grundsätzlich das Gegenteil dessen herauskommt, was (angeblich) herauskommen soll; oder daß dieselben Mechanismen, mit denen Ortsvereine von alten Sozialdemokraten sich gegen neue Themen und Perspektiven abschotten – und ich weiß, wovon ich rede -, auch in scheinbar ganz andersgearteten politisch-ideologischen Zusammenhängen auftauchen.

Dabei ist die Besonderheit der Soziologie nicht, daß sie die einzelnen Phänomene von der Struktur her deutet, innerhalb deren sie auftreten; das kann ein Historiker gegebenenfalls genauso machen.

Spezifisch soziologisch ist vielmehr die Antwort auf die Frage, was „soziale Strukturen“ eigentlich sind: nämlich Strukturen wechselseitiger Erwartungen. Damit wird es möglich zu erklären, warum Strukturen gegebenenfalls über lange Zeiträume stabil bleiben: Da solche Strukturen sich in tatsächlichem menschlichem Verhalten oder Unterlassen manifestieren, kann von Stabilität nur die Rede sein, solange diese Verhaltensmuster aufrechterhalten bleiben, d.h. diese Strukturen sind nichts Substanzielles, wie etwa ein Haus, das, einmal errichtet, einfach stehenbleibt, sondern bedürfen der fortlaufenden Reproduktion.

Dies ist aber ein Gesichtspunkt, der in den Fragestellungen von Historikern typischerweise nicht auftaucht (und auch nicht aufzutauchen braucht) – so, wie ein Physiker normalerweise auch nicht danach fragt, warum ein fester Körper fest ist, während der Chemiker danach sehr wohl fragt. Zugespitzt gesagt, ist für den Historiker erst die Veränderung einer Struktur erklärungsbedürftig, für den Soziologen bereits die Nicht-Veränderung.

(Zwischenbemerkung: Für Konservative sollte gerade diese soziologische Perspektive von besonderem Interesse sein. Ihre argumentative Schwäche gegenüber der systematischen Destabilisierungspolitik der Linken liegt nicht zuletzt darin, dass sie auf deren ständiges unbekümmertes „Warum denn nicht?“ keine hinreichend präzise begründete Antwort geben können, weil ihnen ihr eigenes Wissen um die Existenzbedingungen einer zivilisierten Gesellschaft vor allem in Form von mehr oder minder religiös begründeten Glaubenssätzen präsent ist, die an sich zwar zutreffend sind, aber gegenüber „Ungläubigen“ nicht die argumentative Kraft soziologischer Analyse entfalten können. Konfrontiert mit einer Politik, die eben diese Existenzbedingungen untergräbt, handelt man unklug, wenn man ausgerechnet diejenige empirische Disziplin verteufelt, die analytische Antworten auf die Frage geben kann, was die Gesellschaft zusammenhält. Eine politische Rechte freilich, die nach fünfzig Jahren unaufhörlicher Niederlagen immer noch nicht der Meinung ist, sie habe möglicherweise etwas dazuzulernen, verdient auch nichts Anderes als die Niederlage.)

Mit dieser Definition sozialer Strukturen als Strukturen wechselseitiger Verhaltenserwartungen geraten auch Stabilitätsbedingungen in den Blick, die von einem rein „phänomenologischen“ Ansatz her latent und selbstverständlich (und daher kein „Phänomen“) sind: Phänomenologisch betrachtet, ist etwa der Staat eine mehr oder minder fixe und leicht abgrenzbare Größe – hier der Staat, dort die Bürger. Soziologisch betrachtet existiert der Staat aber nur, solange er bestimmte Erwartungen der Bürger erfüllt, etwa die Erwartung, daß Rechtsbrecher bestraft werden. Erfüllt der Staat diese Erwartung nicht, verschwindet zuerst die Erwartung und dann zügig auch der Staat.

Ist dieses Beispiel auch noch banal und so offenkundig, daß es sich kaum lohnen würde, seinetwegen eine eigene Theorie zu entwickeln, so wird die Tragweite des Ansatzes, der das Publikum und seine Erwartungen als integralen Teil der Struktur behandelt, deutlicher, wenn man etwa das Verhältnis von Muslimen und Islamisten beleuchtet. Selbstverständlich sind die meisten Muslime keine Islamisten, aber die muslimische Gemeinschaft als Ganze erzeugt das Phänomen „Islamismus“ nicht zufällig und sporadisch, sondern regelmäßig und systematisch, wenn auch nur unter bestimmten Voraussetzungen. Für Islamisten ist die muslimische Gemeinschaft als Ganze nicht nur Rekrutierungsfeld und Resonanzboden, sondern auch eine Gemeinschaft, die nach bestimmten und bekannten Regeln funktioniert, der gegenüber man daher bestimmte Verhaltenserwartungen hegen und die man deshalb vor den Karren des Dschihad spannen kann. Das gilt auch für solche Muslime, die von einem theoretischen islamischen Ideal abweichen, unter Umständen sogar sehr weit abweichen.

Dieses Beispiel illustriert auch, wie falsch Lehnert liegt, wenn er behauptet, der soziologische Ansatz impliziere, daß „Abweichungen [von den analysierten Strukturen] nur in anderen Strukturen möglich sind: Ohne entsprechende soziale Voraussetzungen könne es kein abweichendes Verhalten geben.“ Ich würde wirklich gerne wissen, aus welchem sozialwissenschaftlichen Werk er ein solches Prinzip herausgelesen haben will; es kann sich nicht um einen mir bekannten Autor handeln.

Das Gegenteil ist richtig: Aus soziologischer Perspektive wäre ein System, das über keine adäquaten Strategien zum Umgang mit abweichendem Verhalten verfügt, zum schnellen Untergang verurteilt. Umgekehrt ist es umso stabiler, je mehr es sich sogar das abweichende Verhalten zunutze machen kann. (Wie sehr auch die Devianz noch Teil eines Systems sein kann, erkennt man am Beispiel totalitärer Systeme (und solcher, die es werden wollen), die regelmäßig Feinde – also die extremstmögliche Form von Abweichlern – erfinden, wo es sie nicht gibt, oder sich solche machen, wo vorher keine waren, um diese fiktive bzw. selbsterzeugte Feindschaft zur eigenen Stabilisierung zu benutzen.)

Wirklich lustig wird es allerdings, wenn Lehnert fortfährt:

Der Vorteil dieser [von ihm kritisierten soziologischen] Perspektive – weshalb sie sich auch großer Beliebtheit erfreut – liegt in der Tendenz, die Entwicklungen in ein Muster zu fassen, in dem die einzelnen Phänomene ihren Platz haben.

Es scheint ihm nicht in den Sinn zu kommen, daß eine Theorie, die dies nicht leistet, ganz einfach eine schlechte Theorie wäre, und Herr Doktor Lehnert dürfte der weltweit einzige Akademiker sein, der es fertigbringt, einer Theorie ihre Widerspruchsfreiheit und Erklärungskraft zum Vorwurf zu machen:

Die Pauschalisierung täuscht eine einprägsame Plausibilität vor …

Erstens ist eine generalisierende Aussage noch keine Pauschalisierung, zweitens ist der Vorwurf der systematischen Pauschalisierung schon deshalb Fehl am Platze, weil die Soziologie, wie gesehen, das abweichende Verhalten einbezieht und es eben nicht ausblendet, drittens kann man Plausibilität nicht „vortäuschen“, weil die Plausibilität im Kopf des Lesers entsteht, der eine Theorie plausibel findet; richtig muss sie deswegen freilich noch nicht sein. Aber wenn Lehnert fortfährt

…die sich auf der Ebene der einzelnen Phänomene als unzureichend erweist.

so ist dies nun in der Tat eine Pauschalisierung, und zwar eine diffamierende, gerichtet gegen einen ganzen Wissenschaftszweig, und ohne auch nur den Versuch einer empirischen Untermauerung wenigstens anhand eines konkreten Beispiels: ein merkwürdiges Vorgehen für einen Historiker, der sich den „Phänomenen“ verpflichtet weiß, weil er grundsätzlich nicht glaubt, mit abstrakten Strukturaussagen (wie er sie soeben vorgebracht hat) „Wirklichkeit erfassen“ zu können, weil das nur zu „Pauschalisierungen“ führen könne. Nun, was seine eigene Argumentation angeht, stimmt es ja auch.

Vor siebzig Jahren: Unternehmen „Barbarossa“

Rezension zu: Stefan Scheil, „Präventivkrieg Barbarossa. Fragen, Fakten, Antworten „, Edition Antaios

Die gängige Sicht auf den Zweiten Weltkrieg wirft einige Fragen auf, die von der etablierten Geschichtswissenschaft bisher nicht wirklich überzeugend beantwortet werden. Insbesondere der Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, also vor ziemlich genau siebzig Jahren, der üblicherweise als mutwilliger und unprovozierter Überfall interpretiert wird, wird — ganz unabhängig von der moralischen Bewertung — nahezu einhellig als einer der schwersten strategischen Fehler Hitlers angesehen, der die Niederlage Deutschlands unausweichlich gemacht habe.

Damit stellt sich die Frage, warum Hitler, der bis dahin in taktischen und strategischen Fragen ja nicht durch Dummheit aufgefallen war, einen solch kapitalen Bock geschossen haben soll. Die Standarderklärung lautet, dass er nie die Einschätzung korrigiert habe, die er 1924 in „Mein Kampf“ niedergelegt habe, nämlich dass „das Riesenreich im Osten reif für den Zusammenbruch“ sei, und dass er insbesondere mit dogmatischem Starrsinn an der fixen Idee festgehalten habe, das deutsche Volk müsse sich gerade dort „Lebensraum“ verschaffen, um dadurch die Ausgangsbasis für den Kampf um die Weltherrschaft zu erlangen. Dieses Dogma, also seine ideologische Verblendung, habe ihn dazu verleitet, ohne Rücksicht auf den fortdauernden Kriegszustand mit Großbritannien den Krieg mutwillig zum Zweifrontenkrieg auszuweiten.

Merkwürdig an einer solchen Interpretation ist, dass gerade die Angst vor dem Zweifrontenkrieg die Urangst aller deutschen Strategen war, und dass Hitler es bis dahin sorgfältig vermieden hatte, in eine Situation zu geraten, die der des Jahres 1914 entsprochen hätte.

Die von der etablierten Geschichtswissenschaft angebotene Deutung, die letztlich darauf hinausläuft, Hitler sei ein von fixen Ideen besessener Irrer und daher durchaus in der Lage gewesen, Entscheidungen gegen seine eigenen Interessen und die Deutschlands zu treffen, passt wenig zum Hitler der dreißiger Jahre, dem man die Fähigkeit zum politischen Kalkül wahrlich nicht absprechen kann. Im Grunde ist diese Deutung eine Passepartout-Erklärung: Wo man Hitlers Handlungen als Ergebnis politisch-militärischen Kalküls erklären kann, liefert dieses Kalkül die Erklärung. Und wo man das nicht kann, war er eben verrückt. Auf diese Weise schließt man die Erklärungslücken des gängigen Geschichtsbildes. Man schließt sie mithilfe eines Zirkelschlusses: Man setzt Hitlers Verrücktheit (bzw. ideologische Verblendung, Mordlust etc.) voraus, um seine Fehler (wenn es denn welche waren) zu erklären, und „beweist“ mithilfe dieser Fehler, dass er verrückt war. So richtig wissenschaftlich erscheint ein solches Vorgehen nicht.

Der zweite irritierende Faktor ist, dass es innerhalb der deutschen Generalität kaum Widerstand gegen „Barbarossa“ gab; was üblicherweise damit begründet wird, das Offizierskorps habe sich das nationalsozialistische Gedankengut, insbesondere eine Vernichtungs- und Lebensraum-Ideologie bereits zu Eigen gemacht, habe die militärischen Fähigkeiten Russlands sträflich unterschätzt und sei zudem nach den politischen und militärischen Erfolgen Hitlers kleinlaut geworden; da diese Erfolge allesamt auf Unternehmungen beruht hatten, von denen die Generäle abgeraten hatten.

Auch diese Erklärung ist merkwürdig: Abgesehen vielleicht von der Luftwaffe war das Offizierskorps nie so stramm nationalsozialistisch, wie Hitler es gerne gehabt hätte; aber selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, kann doch niemand ernsthaft glauben, dass deutsche Generäle bereit gewesen wären, aus ideologischem Fanatismus ihren militärischen Sachverstand auszuschalten. Eine solche Hypothese widerspricht allem, was Freund und Feind je über die Wehrmacht geschrieben haben. Dass ideologische Vorurteile des Kalibers „Das Riesenreich ist reif für den Zusammenbruch“ sie zur Unterschätzung der feindlichen Möglichkeiten verleitet haben sollen — nein wirklich, das passt doch beim besten Willen nicht zu dem, was wir sonst über sie wissen. Und schließlich passt auch die Erklärung, Hitlers Erfolge hätten der Generalität das Maul gestopft, denkbar schlecht zu der Tatsache, dass diese Generalität vorher und nachher und bis 1945 Hitlers militärische Entscheidungen stets sehr freimütig zu kritisieren pflegte, wenn sie vom militärfachlichen Standpunkt Anlass dazu sah. Bei Barbarossa hat sie nicht widersprochen. Warum?

Sahen die deutschen Militärs (und Hitler) womöglich keine Alternative? Und weiter: Sahen sie diese Alternative womöglich deshalb nicht, weil es sie nicht gab?

Aus der Perspektive des etablierten Geschichtsbildes freilich ist eine solche Frage nicht nur Ketzerei, sie ist auch ganz einfach gegenstandslos. Aus dieser Sicht kann das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Alternativen schon deshalb keinen Erklärungswert besitzen, weil Hitler ja ohnehin den Lebensraum- und Vernichtungskrieg gegen Russland geplant habe und dafür allenfalls noch rationalisierende Argumente brauchte. Hitlers vorgefasster Entschluss, für Deutschland auf Kosten Russlands die Weltherrschaft zu erringen, verbunden mit seiner ideologisch motivierten Unterschätzung des Feindes, sei Erklärung genug für seine Handlungen und liefere das Interpretationsschema, in das die bekannten Fakten einzuordnen seien.

Dass ein solches Interpretationsschema, wenn es einmal als Vorgabe akzeptiert ist, zu hochgradig irreführenden Schlussfolgerungen verleiten kann, habe ich schon einmal in meiner Rezension von Schultze-Rhonhof gezeigt, und zwar im Hinblick auf das Hoßbach-Protokoll:

Das Bestechende an diesem [etablierten] Geschichtsbild ist – noch bevor es um Quellen und Fakten geht – seine narrative Struktur: Es gibt eine klare Verteilung von Gut und Böse, es gibt einen Spannungsbogen: Das Böse baut sich auf, bis es fast, aber eben nur fast, übermächtig wird, von einem einen kleinen gallischen Dorf – Großbritannien – in die Schranken gewiesen und schließlich von einem unerschrockenen weißen Ritter – Amerika – vernichtet wird. Und es gibt eine Moral von der Geschicht.

Diese Struktur ist doppelt vertraut: Sie entspricht zum einen der eines Märchens, zum anderen – mit dem Motiv des Endkampfs zwischen Gut und Böse – der der Apokalypse. Das heißt selbstverständlich nicht, dass es nicht stimmen kann. Man muss sich nur bewusst sein, in welchem Maße dieses etablierte Geschichtsbild den Erwartungen an schöne Literatur entspricht, und in welchem Maße es religiöse Bedürfnisse bedient.

Vor vielen Jahren wurden in „Versteckte Kamera“ die Versuchspersonen aufs Glatteis gelockt, indem ein Passant, scheinbar mit einem Stadtplan in der Hand, sie nach dem Weg zum Bahnhof fragte und sich diesen Weg auf dem „Stadtplan“ erklären ließ, der in Wirklichkeit ein Schnittmuster aus „Burda Moden“ war. Da entspannen sich dann Dialoge wie:

„Also, sie müssen jetzt hier geradeaus“
„Bei ‚Fadenlauf‘?“
„Ja genau, und dann hier rechts…“
„Richtung ‚Tasche‘?“
„Ja, ja. Und dann links“
„An ‚Knopfloch‘ vorbei?“
„Ganz recht.“

Die Bereitschaft, eine angebotene Situationsdefinition (hier also das Schnittmuster als „Stadtplan“) als „wahr“ zu übernehmen, kann so stark sein, dass auch offenkundige Widersprüche in oder zu dieser Definition nicht wahrgenommen werden. Und man glaube nicht, dass diese Bereitschaft sich auf die überraschten Versuchspersonen bei „Versteckte Kamera“ beschränkt.

Ich zum Beispiel war jahrelang der Überzeugung gewesen, das Hoßbach-Protokoll vom 5. November 1937 enthalte Hitlers Ankündigung, einen Weltkrieg führen zu wollen, mithin den Beweis für die Richtigkeit des oben zitierten Geschichtsbildes. Dabei hatte ich das Protokoll schon mehrfach gelesen: Es enthält Hitlers Ankündigung, die Tschechoslowakei und Österreich anzugreifen, dazu Überlegungen, unter welchen Voraussetzungen ein solcher Schlag geführt werden könne, und wie sich die anderen Mächte dann verhalten würden. Schwerwiegend genug und für die Anklage im Nürnberger Prozess, in dem es ja um den Anklagepunkt „Angriffskrieg“ ging, zweifellos ein wichtiges Beweisstück, aber eben nicht ein Beweis für einen Masterplan zur Weltherrschaft. Obwohl ich es also besser hätte wissen müssen, bin ich erst durch Schultze-Rhonhofs Analyse darauf gestoßen worden, dass ich genauer hätte lesen müssen. Dies nur als Beispiel dafür, wie stark der Einfluss einer scheinbar selbstverständlichen Deutung und wie hilfreich es bisweilen sein kann, Dinge „neu zu betrachten“.

Es gibt eine weitere Quelle, die kaum weniger häufig als das Hoßbach-Protokoll zitiert wird, um Hitlers wahnwitzige Weltherrschaftspläne zu „beweisen“, nämlich seine Denkschrift zum Vierjahresplan von 1936. Diese Denkschrift ist besonders bedeutsam, weil sie streng geheim und nur für den engsten Führungszirkel vorgesehen war.

Hitler selbst hielt sie für so fundamental, dass er noch 1944 (!) Albert Speer eine Abschrift davon übergab, wie Stefan Scheil in „Präventivkrieg Barbarossa. Fragen, Fakten, Antworten“ darlegt, dem Buch, um das es im Folgenden gehen soll. (Man verzeihe mir den langen Anlauf, aber bei einem derart tabubewehrten Thema kann man seine Zweifel am etablierten Geschichtsbild gar nicht ausführlich genug begründen).

Üblicherweise, d.h. in allen mir bekannten Werken, die für ein breites Publikum bestimmt sind, werden aus dieser Denkschrift genau zwei Sätze zitiert, und zwar immer dieselben:

Die deutsche Armee muss in vier Jahren einsatzfähig sein.

Die deutsche Wirtschaft muss in vier Jahren kriegsfähig sein.

Na bitte, da haben wir ihn doch, den unwiderlegbaren Beweis, dass Hitler um jeden Preis den Krieg wollte! Oder?

Dies ist in der Tat die Interpretation, die die offizielle Geschichtsschreibung uns anbietet. Dabei fällt freilich der Zusammenhang unter den Tisch:

Der Marxismus (hat) durch seinen Sieg … eines der größten Reiche der Welt als Ausgangsbasis für seine weiteren Operationen geschaffen … Einer in sich selbst weltanschaulich zerrissenen demokratischen Welt tritt ein geschlossener autoritärer weltanschaulich fundierter Angriffswille gegenüber.

Die militärischen Machtmittel dieses Angriffswillens steigern sich dabei in rapider Schnelligkeit von Jahr zu Jahr. Man vergleiche mit der heute tatsächlich geschaffenen Roten Armee die Annahmen des Militärs vor 10 oder 15 Jahren, um die gefährlichen Ausmaße dieser Entwicklung ermessen zu können. Man überlege sich aber die Ergebnisse einer weiteren Entwicklung in 10, 15 oder 20 Jahren, um sich ein Bild der dann eintretenden Verhältnisse zu machen …

Gegenüber der Notwendigkeit der Abwehr dieser Gefahr haben alle anderen Erwägungen als gänzlich belanglos in den Hintergrund zu treten!

[Quelle: Hitlers Denkschrift zum Vierjahresplan 1936, zitiert nach Scheil, S. 46]

Nichts da von „reif zum Zusammenbruch“. Die Überlegungen, die er 1924 in „Mein Kampf“ dargelegt hatte, als Russland vom Bürgerkrieg völlig zerrüttet war, gelten 1936 offensichtlich nicht mehr. Im Grunde schätzt Hitler die Sowjetunion nicht anders ein, als es nach dem Krieg die Strategen der NATO taten: als eine hochgerüstete Macht von ideologisch motiviertem Expansionsdrang. Und er hatte Grund zu dieser Einschätzung: Russland hatte mit dem ersten Fünfjahresplan 1928 zugleich ein massives Aufrüstungsprogramm in die Wege geleitet, war 1936 quantitativ und qualitativ die stärkste Militärmacht der Welt und baute die Rote Armee fortlaufend aus. Dabei ließ sie keinen Zweifel daran, dass der von Stalin propagierte „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ nur eine Atempause darstellen sollte, in der Sowjetunion Kräfte für den finalen Schlag gegen den Kapitalismus sammeln würde.

Allerdings neigt die Geschichtsschreibung dazu, für die Zwischenkriegszeit nicht nur die objektive Bedrohung herunterzuspielen, die von Russland ausging, sondern auch das Bedrohungsgefühl zu unterschätzen, das viele Europäer, und ganz besonders die politische Rechte, gegenüber dem Bolschewismus hegte. Man musste schon ein wirklicher Ignorant oder Idiot sein, um in den zwanziger und dreißiger Jahren angesichts der Greuel der Bolschewisten, der langfristig überwältigenden Stärke ihres Staates und der Existenz starker kommunistischer Parteien (die von eben diesem Staat gesteuert wurden) die Gefahr der Bolschewisierung Europas abzustreiten. Ohne diese Bedrohung hätte es so etwas wie die NSDAP vermutlich nie gegeben, und wenn, wäre sie kaum zur Macht gelangt und wäre insbesondere ihre Methode des Bürgerkrieges von oben schwerlich von so vielen Menschen akzeptiert worden.

Hitlers Denkschrift lässt seine Außenpolitik der dreißiger Jahre in einem anderen als dem üblichen Licht erscheinen, und auch seine Äußerung von 1939, alles, was er tue sei gegen Russland gerichtet, klingt in einem solchen Kontext weniger nach maßlosem Eroberungswillen, eher nach dem Bewusstsein, dass der Kampf gegen diesen Feind nicht zu vermeiden sein werde, weil der Feind dies nicht zulasse.

Dies alles macht den Angriff vom Juni 1941 freilich per se noch nicht zu einem Präventivkrieg, jedenfalls nicht im Sinne des auch damals geltenden Völkerrechts. Stefan Scheil weist allerdings nicht ohne Süffisanz darauf hin, dass es eine Definition von „Präventivkrieg“ gab, unter die jeder Krieg Deutschlands gegen Russland damals gefallen wäre, nämlich — die angelsächsische.

Großbritannien hatte mit seiner Politik der „Balance of Power“ stets die Doktrin verbunden, dass Machtverschiebungen zugunsten einer Macht auch dann mit Gewalt zu bekämpfen seien, wenn sie auf friedlichem Wege, etwa durch wirtschaftliche und demographische Expansion zustandegekommen seien. Auf eine eventuelle Angriffsabsicht der betreffenden Macht kommt es nach dieser Doktrin nicht an, sondern lediglich auf die potenzielle Fähigkeit zum Angriff. Nach britischer Doktrin reicht dies für einen „Präventivkrieg“ vollkommen aus, und eben diese Doktrin stand hinter der britischen Wendung gegen Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Die USA wiederum, als Erben der britischen Weltmacht, hielten und halten es für ausgemachte Sache, das die Bewahrung ihrer eigenen Unangreifbarkeit (und das heißt der Angreifbarkeit aller anderen Staaten durch die USA) jederzeit einen „Präventivkrieg“ rechtfertigt. Scheil stellt zutreffend fest:

Die Frage, ob das Unternehmen Barbarossa nach diesem Präventivkriegsbegriff … ein Präventivkrieg war, ist angesichts der eben skizzierten beliebigen Dehnungsfähigkeit dieses Begriffs so offensichtlich zu bejahen, daß es beinahe nicht interessant ist. [S.21]

Scheil selbst freilich hält sich an den strengen Präventivkriegsbegriff, also an den, der sich auf das geltende Völkerrecht stützt, nicht auf die Schlachtflotten und Marschflugkörper angelsächsischer Weltmächte. Damit man einen Angriff als einen präventiven bezeichnen kann, sind demnach vier Voraussetzungen erforderlich:

1. Langfristige Angriffsdrohungen durch den später Angegriffenen

2. Kenntnis solcher langfristigen Angriffsdrohungen durch den späteren Angreifer

3. Militärisch-politische Vorbereitungen des Angegriffenen

4. Kenntnis dieser Vorbereitungen durch den Angreifer, in diesem Fall das Deutsche Reich

Scheil führt überzeugend den Nachweis, dass alle vier Voraussetzungen tatsächlich gegeben waren, ohne dass ich hier in die Einzelheiten gehen möchte. Ganz nebenbei beantwortet er damit die von mir (nicht von ihm) oben aufgeworfenen Fragen. Das Bestechende an seiner Analyse ist, dass man weder an die Verrücktheit Hitlers noch an die Verblendung oder Zivilfeigheit deutscher Generäle glauben muss, um zu sehen, warum das Unternehmen Barbarossa gestartet wurde, und dass dem Entschluss hierzu sehr wohl ein rationales, ja zwingendes und sogar legitimes Kalkül zugrunde lag.

Dabei stellt Scheil klar, dass die unbestreitbaren Planungen zur Ausschaltung Russlands als Machtfaktor keineswegs die These vom Präventivkrieg in Frage stellen. Im Gegenteil wäre ein Präventivkrieg ganz sinnlos, wenn danach der Status quo ante wiederhergestellt würde. Und er macht deutlich, dass die Frage nach dem präventiven Charakter eines Krieges nicht das geringste mit der  rechtlichen und moralischen Beurteilung von Kriegsverbrechen zu tun hat. Das jus ad bello, also das Recht zum Kriege, hat nichts mit dem jus in bello, dem Recht im Kriege zu tun. An letzteres sind beide Kriegsparteien gebunden, unabhängig davon, wie gerecht oder ungerecht ihre Sache ist, unabhängig, davon, wer Angreifer und wer Verteidiger ist, und unabhängig davon, ob ein Angriff präventiv stattfand oder nicht.

Scheil argumentiert klar, logisch, präzise und faktengesättigt. Wer immer über den Zweiten Weltkrieg spricht (und vor allem schreibt), sollte sich mit seinen Argumenten auseinandersetzen.