Thierse, der Verfassungsfeind

Im Grunde kann ich nahtlos an das anknüpfen, was ich gestern über Politiker geschrieben habe, die versuchen,

das Grundgesetz zu umgehen, seine Freiheitsgarantien zu entwerten und sein Demokratiemodell auszuhöhlen.

Die Ereignisse rund um die Demo von Rechstextremisten am heutigen 1.Mai in Berlin lieferten wieder einmal Anschauungsmaterial:

Da meldet die NPD völlig legal eine Demonstration an und bekommt sie auch genehmigt (ob sie sich die Genehmigung, wie so oft, vor dem Verwaltungsgericht erstreiten musste, entzieht sich meiner Kenntnis). Gegendemonstrationen im Bereich der genehmigten Route werden ausdrücklich untersagt.

So weit so gut. Nun sammelt sich wieder eines dieser illustren „Bündnisse“:

Man beachte die Selbstverständlichkeit, mit der Organisationen des demokratischen Establishments mit solchen der extremen, totalitären Linken zusammenarbeiten. Auf rechte Verhältnisse übertragen ist es so, als würde die CDU gemeinsam mit der NPD dazu aufrufen, eine legale Demonstration von Linksautonomen zu verhindern. Was wäre dann wohl los in diesem Land?

Die Polizei sieht tatenlos zu, wie sich auf der Strecke, die freizuhalten ihre Pflicht ist, Blockierer versammeln (Live-Blog des Tagesspiegels, 13.00 Uhr), und zwar so lange, bis an eine Räumung nicht mehr zu denken ist. Während der NPD-Demo, die nur wenige hundert Meter vorankommt, weil die Strecke ab der Schönhauser Allee blockiert wird, werden von den Dächern der umliegenden Häuser Steine auf die Demonstranten geworfen (Live-Blog des Tagesspiegels, 15.00 Uhr und 15.15 Uhr).

Zwischenfrage: Wie ist das rechtlich zu bewerten, wenn jemand vom Dach eines mehrstöckigen Hauses Steine auf Passanten wirft? Ich würde sagen, dass ist ein Mordversuch, mindestens aber versuchte Körperverletzung. Normalerweise würde die Polizei alles tun, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Da die Opfer in diesem Fall aber Angehörige der extremen Rechten sind, wird es wohl als Kavaliersdelikt durchgehen.

Einer der höchsten Repräsentanten der BRD, Bundestags-Vizepräsident Thierse, der von der Polizei in die Nähe der Rechtsextremisten durchgelassen wurde, setzt sich mit anderen Politikern auf die Straße, um die Demo zu blockieren und muss von der Polizei weggetragen werden. Thierse hatte zuvor die linken Blockadeaktionen mit dem bemerkenswerten Argument verteidigt, die Bürger hätten das gute Recht, „ihre Straße gegen Missbrauch zu verteidigen“.

Ein denkwürdiger Satz: Die Straße ist öffentlicher Raum, sie gehört nicht den Anwohnern, sie ist nicht ihre Straße. Und dort zu demonstrieren ist alles andere als ein Missbrauch: Im öffentlichen Raum darf man demonstrieren, unter anderem dazu ist er gerade da! Natürlich nur im Rahmen der Gesetze, d.h. wenn es genehmigt ist. Das war bei der NPD-Demo der Fall, bei den Gegendemonstranten nicht.

Thierse ging sogar noch weiter: Die Blockade sei nicht nur ein Recht der Linken, sondern ihre „staatsbürgerliche Pflicht“.

Wie sehr muss ein Staat von innen verrottet sein, dessen maßgebliche Repräsentanten den massenhaften Rechtsbruch zur staatsbürgerlichen Pflicht erklären?

Die Demokratie bricht nicht zusammen, wenn ein paar hundert Neonazis demonstrieren. Sie bräche auch nicht zusammen, wenn eine solche Demonstration auf der Grundlage eines verfassungskonformen Gesetzes von Staats wegen verboten würde (allerdings gibt es kein solches Gesetz, eben weil es nicht verfassungskonform sein könnte).

Sie hat aber keine Chance, als demokratischer Rechtsstaat zu überleben, wenn die Entscheidung darüber, wer in welchem Umfang seine Bürgerrechte ausüben darf, gegebenenfalls nicht von dazu berufenen Gerichten auf der Basis von Gesetzen getroffen wird, sondern vom Mob, und wenn der Staat selbst, vertreten durch die Parteien und Repräsentanten seines Establishments, dies nicht nur duldet, sondern ausdrücklich zur politischen Selbstjustiz aufruft und einen Zustand herbeiführt, in dem politische Minderheiten die Grundrechte, die sie de jure ausüben dürfen, de facto nicht ausüben können. Freiheit von Gnaden des Mobs ist keine. Freiheit im Sinne eines durchsetzbaren Grundrechtes gibt es für Alle oder für Niemanden.

In einem Land, in dem einige Bürger zu politisch Aussätzigen erklärt werden können, deren Rechte man getrost mit Füßen treten darf, wenn es irgendwelchen „Bündnissen“ so gefällt, kann Jeder zum Aussätzigen erklärt werden, und wer sich nach dem Sankt-Florians-Prinzip tröstet „Gott sei Dank, es trifft nicht mich, es trifft nur die Neonazis!“, der wird sich noch wundern, wen es alles treffen kann. Und wird.

[Siehe zum selben Themenkreis auch: Der kalte Staatsstreich]