Glückwunsch, FC Bayern!

Ich glaube schon einmal irgendwo erwähnt zu haben, dass ich zwar seit zwanzig Jahren Wahlberliner bin, aber aus München stamme. Viel verbindet mich mit meiner alten Heimatstadt nicht mehr, nicht einmal der Akzent verrät noch, wo ich herkomme; bei Bedarf berlinere ick wie’n altjedienter Weddinger.

 

Nur in einem Punkt bin ich Münchner geblieben: beim Fußball. Ich kann mich beim besten Willen nicht für die Hertha erwärmen; mein Verein ist und bleibt – na welcher wohl? Richtig!

 

1860.

 

Ich bin also nicht nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet, die Bayern zu hassen. Und mich damit in das große Heer der FC-Bayern-Hasser einzureihen, der Feinde des unbeliebtesten Vereins der Republik.

 

Nun gerate ich aber in einen Gewissenskonflikt: Gegen die Bayern zu sein gilt als politisch korrekt. Man ist für St. Pauli, Freiburg, Nürnberg, Kaiserslautern oder eben Sechzig – aber doch nicht für Bayern! Warum? Weil die Bayern ihre Erfolge mit Geld erkaufen, dadurch alle anderen Vereine in die zweite Reihe drängen, nicht in der Heimaterde verwurzelt sind, sondern Fans weltweit haben, weil sie arrogant sind und auf dem Feld nur das Nötigste tun. Außerdem haben sie Uli Hoeneß.

 

Nur kann man das alles auch ganz anders lesen: Es stimmt schon, dass der Erfolg im Fußball Geld bringt und das Geld den Erfolg begünstigt. Das wissen auch Alle, und Alle verhalten sich danach. Die Vereine, die die Chance hatten, zu den Bayern aufzuschließen, Dortmund zum Beispiel, Bremen, Leverkusen – die haben es alle nicht geschafft. Sie haben nicht die höhere Moral, sie haben nur weniger Erfolg. Wer weltweit Fans hat, muss wohl ziemlich guten Fußball spielen; und Uli Hoeneß mag schlecht erzogen sein – wenn auch schwerlich schlechter als Rudi Assauer – aber er versteht sein Handwerk, was man nicht von allen Bundesliga-Managern behaupten kann. (Und was die Verwurzelung in der Heimaterde angeht, so hat die durchaus ihre problematischen Seiten, wie sich 1933 zeigte, als – peinlich, peinlich – 1860 sich gar nicht genug SA-Leute in den Vorstand holen konnte, während die Bayern so lange wie irgend möglich an ihrem jüdischen Präsidenten festhielten.)

 

Was also wirft man den Bayern vor? Den Erfolg, und dass sie guten Fußball spielen. Der Deutsche Gutmensch zieht es nämlich vor, in zugigen alten Stadien eine schlechte Mannschaft null zu fünf untergehen zu sehen, und hält dies für den Beweis seiner überlegenen Sportmoral. Der Masochismus eines mittelalterlichen Flagellanten: Lieber einen schlechten Fußball als einen – Pfui! – kapitalistischen. Das ist nichts anderes als Political Correctness, kombiniert mit linker Sozialromantik.

 

Nachdem ich alles über Bord geworfen habe, was irgendwie links ist, täglich einen Gutmenschen frühstücke und gegen die PC wettere: Wäre es da nicht konsequent, auch als Fußballfan Nägel mit Köpfen zu machen und zu den Bayern zu konvertieren?

 

Ja, das wäre konsequent. Aber beim besten Willen: Das bringe ich nicht!

 

Es ist eine Sache zuzugeben, dass die Bayern sich ihre Erfolge redlich verdient haben. Auch ein Fußballfan darf gelegentlich sportlich fair sein. Eine ganz andere Sache wäre es, in einer Fankurve zu stehen und „Bayern, Bayern!“ zu rufen.

 

Ein Fußballfan wird schon als Kind auf seinen Verein geprägt wie ein Entenküken auf seine Mama. Dieses Herzklopfen und Bauchkribbeln, wenn die eigene Mannschaft aufläuft – das kann man nicht willkürlich manipulieren und auf eine andere übertragen. Fan sein heißt nicht, eine Religion zu haben (von der man abfallen kann), sondern ein Schicksal zu erleiden, mit dem man leben muss.

 

Nur ist das ja kein Grund, die zu hassen, deren Schicksal leichter ist.

 

In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch, FC Bayern, zu Pokal und Meisterschaft, und viel Erfolg in der kommenden Champions-League-Saison!

Tote Hosen

Campino, der Sänger der Toten Hosen, hat sich meine bleibende Antipathie dadurch gesichert, dass er sich während der Fußball-WM 2006 als England-Fan offenbart hat.

England! Nur Oranje wäre noch perverser gewesen.

Halten wir ihm zugute, dass er einer Gesellschaft entstammt, in der man sich eher mit bedrohten Fledermäusen als mit bedrohten Mitmenschen solidarisiert. In einer Gesellschaft, in der die Kleine Hufeisennase ein Bauprojekt zu Fall bringen kann, der dafür zuständige Bürgermeister aber nicht und die UNESCO schon gar nicht, ist die Solidarisierung mit der englischen Nationalmannschaft eine Verschrobenheit der harmloseren Art. Immerhin beweist Campino damit, dass er ein Herz für Verlierer hat, deren einziger Titel älter ist als ihre ältesten aktiven Nationalspieler und zudem durch die Blindheit respektive Deutschfeindlichkeit eines sowjetischen Linienrichters zustandegekommen ist.

Zumindest diese Eigenschaften haben die Toten Hosen mit besagtem Linienrichter gemein. Ihr neuester Hit hat den Refrain:

„Es gibt 1000 gute Gründe,
auf dieses Land stolz zu sein.
Warum fällt uns jetzt auf einmal
kein einziger mehr ein?“

Tja. Wenn ich es mir recht überlege, habe auch ich erhebliche Zweifel, ob man auf Deutschland wirklich stolz sein kann. Ob man wirklich stolz darauf sein sollte, einer Gesellschaft anzugehören, zu deren prominentesten Künstlern Leute wie die Hosen gehören, die gegen das eigene Land Stimmung machen, oder wie Herbert Grönemeyer, der uns vorschnulzt, es gebe keinen Feind (und schon gar keinen Sieg), und der sich „Kinder an die Macht“ wünscht. Oder wie die Prinzen, die im Gegensatz zu Grölemeyer zwar singen können, dieses Talent aber zu Liedern wie diesem missbrauchen:

…Wir sind besonders gut im auf die Fresse hauen/Auch im Feuer legen kann man uns vertrauen./Wir stehen auf Ordnung und Sauberkeit./Wir sind jederzeit für ’nen Krieg bereit./Schönen Gruß an die Welt — seht es endlich ein:/Wir können stolz auf Deutschland sein./Schwein, Schwein, Schwein …/Das alles ist Deutschland…

Merken diese Leute eigentlich noch, was für einen Stuss sie von sich geben? „Jederzeit für ’nen Krieg bereit“? Ach, wenn es doch nur so wäre! Die afghanischen Zivilisten, deren Zukunft davon abhängt, dass die Taliban geschlagen werden, würden es uns sicherlich danken, und auch um das eigene Land müsste man sich weniger Sorgen machen als jetzt, wo es sich in der eigenen Wehrlosigkeit suhlt.

Interessant – und für den Zustand unserer Gesellschaft aufschlussreich – ist, dass solch mutwillig und gehässig gegen das eigene Land gerichtete Lieder anstandslos im Radio gespielt werden, ohne dass irgendeiner meckert (was allein schon die Texte ad absurdum führt), während vermutlich Zigtausende auf die Straße gingen, wenn es einem Radiosender einfiele, die Böhsen Onkelz oder sonst eine rechte Rockgruppe zu spielen.

Es geht mir nicht darum, ob man dies oder jenes zulassen oder verbieten sollte. Es geht mir um die Wertematrix, die hinter der Akzeptanz des einen bei gleichzeitiger Ablehnung des anderen steht, also um die kuriose Prioritätensetzung, die offenbar so tief verinnerlicht ist, dass kaum noch einer sie irgendwie merkwürdig findet.

Was gilt denn im politischen Bereich als moralisch gut? Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber folgende Dinge dürften dazugehören:

Entwicklungshilfe, Internationalismus, Gewaltlosigkeit, Respekt vor fremden Kulturen und Religionen, verbunden mit Kritik gegenüber der eigenen.

Und was gilt als böse?

Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Diskriminierung, Imperialismus, Nationalismus, kulturelle Arroganz.

Als „gut“ gilt, was Anderen nützt, als „böse“, was Anderen schadet. Die Verfolgung der Interessen des eigenen Gemeinwesens kommt in diesem Tugendkatalog gar nicht oder mit negativer Wertung vor.

Der ideologische Code unserer Gesellschaft basiert also auf einer ausschließlich altruistischen Wertematrix. Man erkennt darin unschwer die aufs Kollektiv projizierte christliche Individualethik, die vor der Selbstgerechtigkeit warnt („Richtet nicht, auf dass Ihr nicht gerichtet werdet“) und der Liebe zum Feind einen höheren ethischen Rang zuweist als der zum Freund („Und wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Dank habt ihr davon? Denn auch die Sünder lieben ihre Freunde“ (Lk 6,32))

Es scheint niemandem (mehr) aufzufallen, dass eine solche Bevorzugung der fremden Gruppe gegenüber der eigenen Allem ins Gesicht schlägt, was seit Anbeginn der Menschheit als ethisch wertvolles Verhalten gilt, und zwar auch in den christlichen Gesellschaften der ersten beiden Jahrtausende.

Noch vor einem halben Jahrhundert galten auch in westlichen Gesellschaften sowohl Familiensinn als auch Patriotismus ganz selbstverständlich als hohe Tugenden; allgemein gesprochen galt die Solidarität mit der je eigenen Gruppe – auch und gerade im Konflikt mit Fremdgruppen – von jeher als zentrale Sozialnorm. Zentral deshalb, weil eine Gesellschaft, in der sie nicht gegolten hätte, als nicht überlebensfähig eingeschätzt worden wäre.

Warum das so gesehen wurde? Nun, vielleicht bestanden die zehntausenden von Generationen, die uns vorangingen, aus xenophoben Chauvinisten respektive unaufgeklärten Dummbeuteln, und erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts fand die Menschheit, zumindest aber deren weißer, westlicher und christlicher Teil, zu einer wahrhaft humanen und aufgeklärten Ethik. Plausibel ist das nicht, aber als zumindest hypothetische Möglichkeit sei es in Betracht gezogen.

Welche ethischen Normen müssen eigentlich gelten, damit so etwas wie „Gesellschaft“ möglich wird?

Beginnen wir, de Einfachheit halber, mit der Grundnorm unseres eigenen Kulturkreises, der sogenannten Goldenen Regel:

„Wie Ihr wollt, dass die Leute Euch tun sollen, also tut Ihnen auch.“ (Lk 6,31)

Die säkulare Variante ist als Kategorischer Imperative bekannt und lautet:

„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“

Diese Normen beinhalten zunächst die Aufforderung, nicht einfach egoistisch seine persönlichen Interessen durchzusetzen, sondern sich an bestimmte Regeln zu halten, geschriebene wie ungeschriebene. Und da wir empirisch keine Gesellschaften beobachten können, die auf die Dauer auf der Basis des schieren Individualegoismus existieren, vielmehr feststellen müssen, dass in allen Gesellschaften (die nicht gerade in Auflösung begriffen sind) bestimmte Regeln gelten und vom Einzelnen verinnerlicht werden (sollen), können wir die oben genannten Prinzipien als universell gültig unterstellen.

Machen wir uns nun an ein paar einfachen Beispielen klar, dass Ethik für den Einzelnen eine Zumutung darstellt: Ein Wahlbürger verzichtet darauf, den Sonntagnachmittag auf dem Sofa zu verbringen und marschiert hunderte von Metern zum Wahllokal, womöglich bei strömendem Regen, obwohl er genau weiß, dass seine Stimme nicht die Wahl entscheidet. Ein U-Bahn-Fahrgast bezahlt sein Ticket, obwohl er weiß, dass die Gefahr, beim Schwarzfahren erwischt zu werden, denkbar gering ist, und dass die U-Bahn auch fährt, wenn er nicht bezahlt. Ein Soldat riskiert sein Leben für sein Land, wohl wissend, dass sich am Kriegsausgang nichts ändern würde, wenn er einfach nach Hause ginge und das Siegen Anderen überließe.

Ethisches Verhalten ist also geprägt durch ein deutliches, im Falle des Soldaten sogar extremes Missverhältnis zwischen den Kosten, die der Einzelne auf sich nimmt, und dem Gewinn, den er individuell überhaupt nicht und als Teil der Gesellschaft auch dann hätte, wenn er die Kosten nicht auf sich nähme. Ökonomisch gesehen bedeutet Ethik also Privatisierung der Kosten und Sozialisierung der Gewinne.

Es ist leicht zu zeigen, dass keine Gesellschaft ohne solche ethischen Normen existieren kann, und doch gibt es keinen Weg, den Einzelnen rational davon zu überzeugen, dass er sich ihnen unterwerfen sollte. Ethisches Verhalten muss, so gesehen, als außerordentlich unwahrscheinlich gelten, trotzdem ist es die Regel, nicht die Ausnahme. Wie ist dieses täglich stattfindende Wunder zu erklären?

Fragen wir kontrafaktisch: Würde der Fahrgast seine Karte auch dann bezahlen, wenn er wüsste, dass die Anderen es nicht tun? Würde der Soldat kämpfen, wenn er wüsste, dass seine Kameraden lieber davonlaufen? Die Fragen stellen heißt sie beantworten: Natürlich nicht! (Beim Wähler liegt der Fall etwas anders, denn dessen Stimme würde ja die Wahl entscheiden, wenn er als einziger zur Abstimmung ginge.)

Niemand will der Dumme sein, der als Einziger die Regeln befolgt. Werden sie befolgt, so ist dies offensichtlich auf die Erwartung des Einzelnen zurückzuführen, dass alle (oder doch die meisten) Anderen sich ebenfalls ethisch verhalten. Diese Gegenseitigkeit der Erwartung also bringt ethisches Verhalten hervor. Ethik – und damit die Existenz von Gesellschaft schlechthin – beruht auf Solidarität.

(Ein denkbarer Einwand lautet, ethisches Verhalten sei vor allem durch die Angst vor Strafe motiviert. Dieser Einwand gilt, wenn wir bei unseren Beispielen bleiben, für den Wähler gar nicht; die Strafdrohung gegen den Schwarzfahrer ist wegen der geringen Sanktionswahrscheinlichkeit wenig zwingend; und den Soldaten kann man mit Drohungen allenfalls vom Desertieren abhalten, aber nicht zur Tapferkeit zwingen. Tatsächlich spielen Sanktionsdrohungen eine wichtige Rolle; sie wirken aber auf zweierlei Weise: einmal direkt durch Abschreckung, aber wir haben gesehen, dass sie in dieser Hinsicht häufig ein stumpfes Schwert sind. Die Hauptwirkung ist indirekter Natur: Das Wissen um die Existenz der Sanktionsdrohung bestärkt jeden Einzelnen in seiner Erwartung, die Anderen würden sich an die Regeln halten, und motiviert ihn damit, es selbst ebenfalls zu tun.)

Solidarität – so viel dürfte klar geworden sein – hat nichts mit Altruismus zu tun (mit dem sie oft verwechselt wird), also mit dem Handeln zugunsten Anderer. Sie ist als Geschäft auf Gegenseitigkeit vielmehr ein erweiterter und reflektierter Egoismus. Wie kommt Solidarität zustande? Durch altruistisches Handeln? Rein theoretisch könnte man sich das vorstellen: Ich verhalte mich altruistisch, rege dadurch einen Zweiten an, es mir gleichzutun, was wiederum einen Dritten und Vierten veranlasst, sich ebenfalls altruistisch zu verhalten und so fort, bis am Ende eine Solidargemeinschaft entstanden ist, in der man realistischerweise solidarisches Handeln Aller unterstellen kann. Ich spare mir an dieser Stelle die Mühe zu beweisen, etwa mithilfe spieltheoretischer Modelle, dass dies blankes Wunschdenken wäre; ich ziehe es vor, mich auf die Lebenserfahrung und den gesunden Menschenverstand zu berufen.

Dabei gehört kaum ein Mensch bloß einer Solidargemeinschaft, bloß einem System gegenseitiger Solidaritätserwartungen an. Diese Systeme bauen vielmehr aufeinander auf, erfüllen je spezifische Funktionen und entlasten einander, wobei die Intensität der Solidaritätserwartungen mit zunehmender Größe des Systems tendenziell abnimmt:

Meiner Familie bin ich stärker verpflichtet als meinem Land, meinem Land stärker als meinem Kulturkreis und diesem wiederum stärker als der Menschheit insgesamt. Salopp gesagt ist mir auf jeder Ebene das Hemd näher als der Rock.

Dabei können diese Systeme einander nicht substituieren: Die Familie kann nicht die Aufgaben der Nation übernehmen und die Nation nicht die der Familie; die Menschheit wiederum kennt zwar auch Solidarität – wir spenden für Flutopfer in Bangladesh – aber die ist nur schwach ausgeprägt – wir spenden vielleicht 20 Millionen, aber eben nicht 20 Milliarden -, weswegen die Menschheit nicht die Nation ersetzen kann.

Es ist wichtig zu sehen, dass die Solidarität innerhalb eines solchen Systems ihre notwendige Kehrseite im Ausschluss aller nicht dazu gehörenden Menschen von der Sorte Solidarität hat, die für das betreffende System konstitutiv ist: Wer seinem Nachbarn beim Tapezieren hilft, weil er davon ausgeht, dass dieser Nachbar sich irgendwann revanchieren wird, ist noch lange nicht bereit, Jedermann beim Tapezieren zu helfen. Oder, ins Politische gewendet: Die Westdeutschen, die – nicht ohne Murren, aber letztlich doch anstandslos – eine Billionensumme aufbrachten, um Ostdeutschland auf die Beine zu helfen, hätten es zu Recht als absurde Zumutung zurückgewiesen, dasselbe für Polen oder Russland zu tun.

Ein altruistisches Verhalten – also: Jedem beim Tapezieren zu helfen oder alle Völker zu subventionieren – wäre für den Einzelnen eine unmenschliche Überforderung und für ein Kollektiv das Ende: Es wäre nicht nur ruiniert, es würde buchstäblich aufhören, als Solidargemeinschaft zu existieren, weil der Einzelne ja wüsste, dass seine solidarisch erbrachte Leistung, in diesem Fall also seine Steuergelder, in keiner Form an ihn zurückfließen, auch nicht langfristig oder in der verwandelten Gestalt von Stabilität oder Sicherheit; sie würden einfach über die Welt verstreut – eine Welt, die eben keine Solidargemeinschaft ist.

Wir können nunmehr die oben gestellte Frage beantworten, ob unsere Vorfahren bis zurück zu Adam und Eva etwa Faschisten oder Hinterwäldler waren, weil sie den Dienst an und die Loyalität gegenüber der je eigenen Solidargemeinschaft unter Indifferenz, notfalls auch Feindseligkeit gegen alle fremden, als höchste Tugend angesehen haben: Nein, das waren sie keineswegs. Sie haben einfach instinktiv erkannt, dass menschliche Gesellschaft auf der Existenz einander ausschließender Solidargemeinschaften basiert und dass die genannten Tugenden daher zwingende Notwendigkeiten darstellen. Bezeichnend für den geistigen Zustand unserer Gesellschaft ist aber, dass ich hier und heute umständlich beweisen muss, was zu allen Zeiten zu Recht als Selbstverständlichkeit galt.

Als ob nicht Jedem, der die Geschichte kennt, klar sein müsste, dass schon unzählige Gesellschaften an ihrem Mangel an innerer Solidarität zerbrochen sind, aber noch keine einzige an so etwas wie „Fremdenfeindlichkeit“.

Gelesen: Karl-Heinrich Bette/Uwe Schimank, Die Dopingfalle

Wenn – wieder einmal – ein Dopingsünder entlarvt wird, teilt sich die sportinteressierte Öffentlichkeit regelmäßig in zwei Fraktionen, nennen wir sie die idealistische und die zynische. Die Idealisten empören sich über „dieses Schwein“, die Zyniker gehen davon aus, dass ohnehin jeder erfolgreiche Sportler gedopt sei und dass die  gedopten sich von den angeblich sauberen nur dadurch unterschieden, dass sie dumm genug gewesen seien, sich erwischen zu lassen.

Beide Fraktionen stellen fest, dass ein schwerer Verstoß gegen offiziell geltende Normen, nämlich gegen das Gebot der sportlichen Fairness, vorliegt; während die Idealisten glauben, dass solche Vertstöße auf charakterliche Defekte zurückzuführen seien, halten die Zyniker die Normen des sauberen Sports bereits als solche für raffiniert inszenierte Heuchelei, die allenfalls der Sozialromantik des Publikums entgegenkommen will.

In jüngster Zeit haben die Zyniker deutlich Oberwasser bekommen, seit sich der gesamte Profiradsport als just der Augiasstall entpuppt hat, für den nicht nur Zyniker, sondern überhaupt alle kritischen Zuschauer ihn immer gehalten haben.

Bette/Schimank haben mit „Die Dopingfalle. Soziologische Betrachtungen“ (Bielefeld 2006) eine soziologische Analyse vorgelegt, die auf den ersten Blick den Zynikern Recht zugeben scheint. Sie stellen nüchtern fest, dass Doping zu weit verbreitet ist, um noch mit bloßen Charakterschwächen Einzelner erklärt werden zu können. Die von Sportfunktionären gern bemühte Metapher von den „schwarzen Schafen“ ist bestenfalls naiv.

Doping, dies die These von Bette/Schimank, wird von den sozialen Strukturen, in denen moderner Spitzensport stattfindet, nicht nur begünstigt, sondern geradezu herausgefordert:

Da ist zunächst der Athlet selbst: Will er zur Weltspitze gehören, so muss er sein gesamtes Leben den Anforderungen des Sports unterordnen, sich mit Haut und Haaren der Athletenrolle verschreiben und auf außersportliche Berufsoptionen ebenso verzichten wie auf ein normales Privatleben. Auch wenn es ein wenig überspitzt ist: Im Prinzip ist das tatsächlich so.

Der Athlet geht damit ein enormes biographisches Risiko ein: Scheitert er nämlich als Sportler – und gescheitert ist bereits, wer es nicht unter die weltweit besten Zwanzig oder Dreißig seiner Sportart schafft -, dann steht er als Dreißigjähriger vor dem Nichts.

Alle Athleten stehen daher unter dem Zwang, das Scheitern zu vermeiden (wobei es in der Natur der Sache liegt, dass Viele scheitern müssen), und alle Athleten wissen das auch voneinander. Was sie nicht wissen, ist, ob der jeweils Andere sich auf die legalen und erwünschten Mittel zur Leistungssteigerung verlässt, oder ob er dopt. Je größer die Zweifel an der Ehrlichkeit der Konkurrenz, desto größer der Anreiz, dem unterstellten Doping Anderer durch eigenes Doping, also defensiv, zu begegnen. Da dies wiederum Alle voneinander wissen („Er glaubt, ich dope, also dopt er, also muss ich ebenfalls dopen“) kann Doping buchstäblich aus dem Nichts entstehen und selbst von solchen Sportlern praktiziert werden, die solche Praktiken an sich ablehnen.

(Eine solche Analyse ist typisch für die Denkweise von Soziologen, und wer möchte, kann die Studie durchaus als Einführung in das soziologische Denken lesen. Der Stil ist übrigens weit entfernt von dem berüchtigten „Soziologenlatein“; natürlich sollte man eine gewisse Erfahrung im Umgang mit abstrakt analytischen Texten haben und nicht schon vor Worten wie „System“, „Akteur“ oder „Komplexität“ kapitulieren, wenn man das Buch mit Gewinn lesen will, aber für den gebildeten Laien ist es gut verständlich.

Die Soziologie betrachtet soziale Strukturen als Strukturen gegenseitiger Erwartungen. Sie sind also nicht einfach die Summe individueller Absichten und Handlungen, sondern diese Absichten und Handlungen sind bereits vor-entschieden durch die Erwartungen darüber, was Andere tun bzw. erwarten, während sie selbst zugleich auf ebendiese Erwartungen einwirken. Typischerweise stabilisieren sich solche Erwartungen wechselseitig – wie eben im Fall des defensiven Dopings. Ein anderes Beispiel ist die Stabilität politischer Macht: An sich ist es doch erstaunlich, dass sogar höchst unpopuläre Diktaturen sich oft über Jahrzehnte an der Macht halten und nicht einfach einem Volksaufstand zum Opfer fallen. Natürlich ist die Diktatur bewaffnet und das Volk nicht, aber es sind wenige Bewaffnete, die vielen potenziellen Aufständischen gegenüberstehen. Nur glaubt von denen jeder Einzelne, die Anderen würden sich nicht erheben, daher tut er es selbst ebenfalls nicht und bestätigt damit unfreiwillig die Erwartung jedes Anderen, der glaubt, die aus seiner Sicht Anderen würden sich nicht erheben. Das Ergebnis dieser wechselseitigen Erwartungen ist, dass das Volk ruhig und die Diktatur stabil bleibt.)

Dabei ist der Sportler nur das letzte Glied einer Kette von Akteuren, die alle dazu beitragen, den strukturellen Zwang zum Doping zu verfestigen, die aber den Sportler („das schwarze Schaf“) als Sündenbock benutzen, wenn er erwischt wird:

Da ist zunächst das unmittelbare Umfeld – Trainer, Vereine, Mediziner usw., die vom Erfolg des Athleten selbst abhängig sind und entsprechenden Erfolgsdruck aufbauen. Da ist der Verband, der nur die erfolgreichen Sportler fördert. Dieser Verband steht seinerseits unter Druck: Spitzensport funktioniert nur, solange Sponsoren zahlen, Politiker knappe Haushaltsmittel lockermachen, das Fernsehen überträgt und die Zuschauer jubeln. Dies alles geschieht nicht, wenn die Erfolge ausbleiben. Der Sportler, der glaubt, dopen zu müssen (weil die anderen auch…), der Verband, der das dulden zu müssen glaubt (weil die konkurrierenden Verbände auch…), kann die Aufforderung (der Wirtschaft, der Politik, der Medien, des Publikums) gleichzeitig erfolgreich und sauber zu sein, nur als stillschweigende Aufforderung verstehen: „Betrügt uns!“ – ist doch der Misserfolg in jedem Fall mit massiven Sanktionen bedroht, Doping dagegen nur, sofern es auffliegt (und auch dann nur für den Athleten selbst). Die sich aufdrängende Strategie ist in einer solchen Situation die Heuchelei. Der Verband versichert, alles gegen Doping zu unternehmen, lässt es aber bei Scheinaktivitäten bewenden – also bei bloßen Appellen oder bei Verschärfungen der Kontrollen, die gerade ausreichen, damit die Dümmsten – aber eben nur die! – den Kontrolleuren ins Netz gehen, was dann wiederum der „Beweis“ ist, „dass die Kontrollen greifen“, während die raffinierteren Betrüger weiterdopen.

Wer durchaus will, kann „Die Dopingfalle“ als Bestätigung der Zynikerthese lesen, einen sauberen Spitzensport gebe es nicht. Nur wird diese These von den Autoren explizit zurückgewiesen: Sie weisen darauf hin, dass in den ZGS-Sportarten (Zentimeter-Gramm-Sekunde, also alles, wo man Rekorde aufstellen kann) das Leistungsniveau nach Verschärfung der Dopingkontrollen in den neunziger Jahren deutlich zurückgegangen ist; und sie führen eine Reihe von Faktoren an, die dem Doping entgegenwirken:

Es gibt nach wie vor Athleten von so herausragendem Talent, dass sie Doping einfach nicht nötig haben; es gibt die Abschreckungswirkung von Dopingkontrollen (die ja nicht nur Heuchelei sind); es gibt die Angst vor Gesundheitsschäden; es gibt Sportler, die nicht um jeden Preis gewinnen müssen, weil ihnen alternative Karriereoptionen offenstehen. Und es gibt Sportmilieus, in denen Doping geächtet ist und Verbände, die den Kampf dagegen ernstnehmen, in denen gedopte Athleten jedenfalls nicht auf stillschweigende Duldung spekulieren sollten.

Dieser letzte Punkt ist sehr wichtig: Bette/Schimank analysieren Doping als Effekt einer sozialen Konstellation; sie weisen zugleich darauf hin, dass es soziale Konstellationen gibt, die Doping unwahrscheinlich machen. Diesen Punkt führen sie aber nicht weiter aus, weil er jenseits ihres Erkenntnisinteresses liegt; sie wollen ja die Existenz von Doping erklären, nicht die von Dopingabstinenz. Verständlich, aber ein wenig schade.

Denn gerade die Frage, wo Doping wahrscheinlich nicht vorkommt, ist für Sportfans von besonderem Interesse. Wozu ist man denn Fan, wenn nicht dazu, ab und zu Kind sein und sich ganz naiv für etwas begeistern zu dürfen? Da man aber kein Kind ist und deshalb weiß, dass im Spitzensport viel betrogen wird, steht man vor der Wahl, davor entweder die Augen zu schließen – was einem Erwachsenen schwerfallen dürfte – oder sich ganz nüchtern und kritisch zu fragen: Wem kann man trauen? An dieser Stelle verlasse ich die Rezension des Buches und frage selber weiter.

Wer Doping freilich für die unschlagbare Wunderwaffe hält, gegen die kein Kraut gewachsen sei, wird die Frage müßig finden; allerdings müsste er diese seine These erst einmal hieb- und stichfest begründen. Ich kann jedenfalls nicht erkennen, warum die legalen und erwünschten Mittel der Leistungssteigerung den illegalen und unerwünschten von vornherein unterlegen sein sollten. Das wären sie allenfalls, wenn alle Athleten dasselbe Talent hätten, wenn sie gleiche Trainingsmethoden anwendeten, wenn alle Trainer gleichermaßen kompetent wären, wenn Alle die gleiche psychologische Vorbereitung erführen und gleichermaßen perfektionistisch arbeiteten, wenn alle Verbände das gleiche Nachwuchspotenzial, die gleiche Sportförderung, den gleichen trainingswissenschaftlichen Erkenntnisstand und die gleichen Trainingsmöglichkeiten hätten – kurz und gut: Doping bietet den alles entscheidenden Vorteil nur unter Ceteris-paribus-Bedingungen, die in der Realität niemals gegeben sind. Gedreht werden kann an vielen Schrauben; die illegalen sind nicht notwendig die entscheidenden, und der gedopte Athlet muss erst einmal den psychologischen Nachteil kompensieren, dass sein innerer Schweinehund ihm zuflüstert: „Was strengst Du Dich so an, Du hast doch Deinen Zaubertrank…“

Die Frage „Wem kann man trauen?“ ist also weder müßig noch naiv. Natürlich ist niemand Hellseher, aber es gibt schon ein paar Faustregeln, an denen man sich orientieren kann. Es ist sogar bemerkenswert einfach zu entscheiden, zu wem man Vertrauen haben kann und zu wem nicht.

Während ich „Die Dopingfalle“ las, wurde diese Frage plötzlich hochaktuell, als in der vergangenen Woche eine auf einer anonymen Strafanzeige basierende Liste mit den Namen deutscher Biathleten erschien, die angeblich bei einer Wiener Blutbank Blutdoping betrieben haben sollen. Meines Erachtens ist an dieser Beschuldigung kein wahres Wort.

Ich habe bereits in einem der vorherigen Beiträge erwähnt, dass ich Biathlonfan bin. Ich habe also Vertrauen zu den Athleten. Aber nicht deshalb, weil ich Fan bin, sondern umgekehrt: Ich bin Fan, weil ich Vertrauen habe. 

Im Folgenden werde ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Zum einen werde ich das tun, was ich sowieso vorhatte, also die erwähnten Faustregeln entwickeln und begründen; zugleich aber werde ich die Gelegenheit nutzen, die deutschen Biathleten gegen eine offensichtlich aus der Luft gegriffene Verleumdung in Schutz zu nehmen.

(Zu der genannten Anzeige nur ganz kurz, denn sich mit solchem Dreck auseinanderzusetzen ist eigentlich unter meiner Würde: Erstens ist sie anonym; so etwas kann von Jedem nach Belieben in die Welt gesetzt werden. Zweitens enthält sie kein einziges belastbares Indiz. Drittens führt sie als Kronzeugen den österreichischen Skirennläufer Stefan Eberharter an, der das umgehend als völligen Blödsinn dementiert hat – und woher hätte er auch die Namen von dreißig Sportlern wissen sollen, die Kunden bei dieser Blutbank sind? Viertens stehen außer den deutschen Biathleten nur noch solche Sportler auf der Liste, bei denen ohnehin Jeder davon ausgeht, dass sie gedopt sind, nämlich Radrennfahrer und österreichische Biathleten – man denke an Turin 2006. Komisch, nicht wahr? Wie müsste denn eine Liste aussehen, die darauf angelegt wäre, einer Verleumdung den Schein von „Glaubwürdigkeit“ zu verleihen? Genau so!)

Faustregel Nummer eins lautet, dass der Vorteil von gedopten Athleten umso größer und Doping daher umso wahrscheinlicher ist, je stärker eine Sportart die Grenzen menschlichen Leistungsvermögens schlechthin ausreizt: Über einen gedopten Gewichtheber wird man sich weniger wundern als über einen gedopten Fechter.

Die zweite Faustregel besagt, dass Doping umso weniger wahrscheinlich ist, je komplexer die Sportart ist. Da kein Athlet alle Komponenten einer komplexen Sportart gleichermaßen gut beherrscht, steht ihm als Alternative zum Doping stets die Option zur Verfügung, seine Leistung bei denjenigen Komponenten zu verbessern, bei denen er die Möglichkeiten der legalen Leistungssteigerung noch nicht ausgeschöpft hat; natürlich kann er trotzdem gedopt sein, aber der strukturelle Zwang ist geringer. Beispiel: Ein Langläufer, der merkt, dass er auch unter Ausschöpfung aller legalen Mittel keine Chance hat, an die Weltspitze zu kommen, steht vor der Alternative, sich damit entweder abzufinden oder eben zu dopen. Ein Biathlet dagegen hat die Option, seine Schießleistungen zu optimieren; und es gibt etliche Athleten – Martina Glagow zum Beispiel -, die gar keine herausragenden Läufer, aber dafür so phantastische Schützen sind, dass sie allein dadurch regelmäßig Erfolge einheimsen.

(Fasst man diese beiden Faustregeln zusammen, so muss man dem Biathlon als Sportart eine mittlere Dopinganfälligkeit bescheinigen: Es ist nicht so, dass Doping überhaupt nichts bringen würde, und es hat auch schon spektakuläre Dopingfälle gegeben – Pylewa, Rottmann, Perner, Varis -, aber der strukturelle Zwang ist deutlich geringer als bei Marathonläufern, Langläufern oder Schwimmern.)

Die Theorie, wonach bereits die bloße Gelegenheit zum Doping – bei kalkulierbarem Risiko – zwangsläufig dazu führen müsse, dass Jeder dopt, krankt bereits daran, dass sie der Alltagserfahrung widerspricht. Es gibt im Leben jedes Menschen Gelegenheiten, sich durch Verletzung von Sozialnormen Vorteile zu verschaffen: durch Zechprellerei, Schwarzfahren oder Steuerhinterziehung zum Beispiel. Da aber weder die Gastronomie noch die öffentlichen Verkehrsbetriebe noch der Staat pleite sind, drängt sich der Schluss auf, dass die meisten Menschen von diesen Gelegenheiten keinen Gebrauch machen.

Warum? Ich vermute, dass die meisten Menschen ein Bedürfnis danach haben, mit geltenden Sozialnormen nicht in Konflikt zu geraten (und dies gilt erst recht für Sportler, die aus einem konservativen ländlichen Milieu stammen). Natürlich gibt es den gewissenlosen Kriminellen, der auf jede Norm pfeift, aber dieser Typus dürfte selbst unter Gefängnisinsassen nicht die Regel sein. Genauso selten freilich ist der makellose Heilige, der eher verhungert, als ein Stück Brot zu stehlen. Die meisten Menschen (achtzig Prozent? neunzig Prozent? Ich weiß es nicht.) sind weder das eine noch das andere; sie sind schon fähig, Normen zu übertreten, aber sie fühlen sich nicht wohl dabei, versuchen es zu vermeiden und legen sich, wenn sie es doch tun, Rechtfertigungen zurecht – dieser Punkt wird weiter unten noch eine Rolle spielen.

Am leichtesten fällt daher die Normübertretung innerhalb von Gruppen, die die gesellschaftlich gültigen durch gruppenspezifische Normen ersetzt haben. Ein Extrembeispiel hat Harald Welzer am Beispiel deutscher Polizeieinheiten analysiert, die Massaker an Juden begingen. Diese Männer orientierten sich durchaus an sozialen Normen – nur eben nicht an denen der Gesellschaft, sondern an vor Ort entwickelten (durch das NS-System freilich abgesegneten) Gruppennormen, zu denen das Tötungsverbot nicht mehr gehörte.

Selbstverständlich will ich Doping nicht mit Massenmord moralisch gleichsetzen. Es geht mir darum zu zeigen, wie groß der Einfluss des Umfeldes ist. In einem Milieu, in dem Doping stillschweigend oder offen als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird, fällt dem Athleten die Normübertretung leicht – ist sie doch eine bloß scheinbare Übertretung, denn die für ihn geltenden Normen, die seines Umfeldes, übertritt er ja nicht.

Die Bedeutung des Umfeldes dürfte sich in den vergangenen Jahren sogar noch erhöht haben, weil der Kontrolldruck seit Mitte der neunziger Jahre sukzessive verstärkt wurde: Konnte ein Athlet noch in den achtziger Jahren mit geringem Risiko praktisch einwerfen was er wollte, so braucht er heute zunehmend medizinische Expertise, teure Präparate und organisatorischen Aufwand – kurzum: Wer ohne Unterstützungsnetz dopt, fliegt wahrscheinlich auf. Individuelles Doping wird zunehmend unwahrscheinlich. Wenn gedopt wird, dann im Rahmen von Mannschaften, Verbänden, ganzen Sportarten.

Aus diesen Sachverhalten ergeben sich für Doper eine ganze Reihe von typischen Problemen, denen er mit ebenso typischen Lösungsstrategien begegnet; an diesen Lösungsstrategien kann man sie mit hoher Trefferwahrscheinlichkeit erkennen.

Ist denn überhaupt schon einmal jemand des Dopings überführt worden, von dem ein halbwegs kritischer Zuschauer gesagt hätte: „Na, von dem hätte ich mir das aber überhaupt nicht vorstellen können“? Soweit ich mich erinnern kann, sind bisher nur solche Sportler als Doper enttarnt worden, von denen man entweder wenig wusste, oder denen man, wenn man etwas über sie wusste, ohnehin misstraut hatte.

(Die einzige Ausnahme war der Fall Dieter Baumann, und hier machen die besonderen Umstände es wahrscheinlich, dass er tatsächlich, wie von ihm behauptet, einer Intrige zum Opfer gefallen war: Ihm war die Einnahme von Nandrolon nachgewiesen worden, und dieses Mittel fand sich schließlich in seiner Zahnpasta. Der naheliegende Verdacht, er habe das Nandrolon selbst in die Zahnpasta gespritzt, um Sabotage vorzutäuschen, scheitert daran, dass er nicht wissen konnte, dass es überhaupt möglich ist, einem Menschen Nandrolon auf diese Weise zuzuführen. Wissen konnte das nur, wer Zugang zu einer geheimen DDR-Studie hatte, in der genau das bewiesen worden war. Bedenkt man des weiteren, dass Baumann ein früher profilierter Verfechter eines strikten Anti-Doping-Kurses war, so liegt das Motiv für diese Intrige ebenso auf der Hand wie die Parallele zu der aktuellen Affäre im Biathlon.)

Wir haben es beim Doping mit einem Vergehen zu tun, das normalerweise eine Mehrzahl von Beteiligten, zumindest aber Mitwissern voraussetzt. Damit stellt sich schon einmal das Problem, dass Alle dichthalten müssen, auch und gerade gegenüber Journalisten. (Damit sind jetzt nicht solche Journalisten gemeint, deren Arbeitgeber eigene Interessen an sportlichen Erfolgen haben; in Deutschland sind dies insbesondere die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, denen man bescheinigen muss, beim Radsport die Öffentlichkeit jahrelang getäuscht und betrogen zu haben, um sich ihre Einschaltquoten nicht zu versauen. Wenn ich sage, dass ich zu den deutschen Biathleten Vertrauen habe, dann jedenfalls nicht deshalb, weil ich so einfältig wäre, an die journalistische Unabhängigkeit der ihre Rennen übertragenden Sender ARD und ZDF zu glauben.)

Es bleibt nicht aus, dass Journalisten, die nahe am Geschehen sind, Wind davon bekommen, wenn in einer Sportart etwas nicht stimmt: Ein vielsagendes Schweigen hier, ein Augenzwinkern dort, und man weiß Bescheid, auch wenn man keine belastbaren Belege hat. Ein aufmerksamer Leser findet entsprechende Hinweise zwischen den Zeilen und weiß sie zu deuten. Eine Zeitschrift wie der „Spiegel“, der als investigatives Organ einen Ruf zu verlieren hat, der Doping oft thematisiert, und der die unschönen Seiten auch des deutschen Biathlons unter die Lupe nimmt – Stasi-Verstrickungen von Funktionären zum Beispiel – würde, wenn er solche Hinweise hätte, sie in Gestalt von Andeutungen zwischen die Zeilen streuen. Er tut es nicht, also hat er sie nicht.

Ferner können wir am Beispiel des Radsports lernen, dass eine Krähe der anderen kein Auge aushackt, überhaupt, dass gedopte Sportler dem ganzen Thema auch dann ausweichen, wenn Verdächtigungen sich gar nicht gegen sie persönlich richten; typisch ist das unwirsche aggressive Abbürsten des Themas. Das hat auch seine Logik, denn wie gesagt: Doper verstehen die Signale der Öffentlichkeit als Aufforderung: „Betrügt uns!“ und halten kritische Nachfragen deshalb unwillkürlich für einen Ausdruck von Heuchelei.

Folgerichtig hat es auch noch nie einen überführten Doper gegeben, der vor seiner Entlarvung Andere des Dopings bezichtigt hätte. Nicht nur, um der anderen Krähe kein Auge auszuhacken, sondern auch, um keine schlafenden Hunde zu wecken (Meine Güte, heute habe ich’s aber mit den abgedroschenen Redensarten!). Ich sage nicht, dass das nicht geschehen kann – Motto: „Haltet den Dieb!“ – nur ist es eben bis jetzt nie geschehen.

Es kommt allerdings überhaupt selten vor, dass Sportler ihre Konkurrenten öffentlich des Dopings verdächtigen; in der Regel tun sie das allenfalls bei überwältigend starken Verdachtsmomenten, man will ja niemanden zu Unrecht beschuldigen. Wenn es aber doch geschieht, wenn also etwa Kati Wilhelm durch die Blume die inzwischen tatsächlich überführte Finnin Kaisa Varis verdächtigt, dann spricht die empirische Erfahrung dafür, dass der, der den Verdacht ausspricht, selber sauber ist.

Wie schon gesagt, Doper sind meist keine amoralischen Zyniker, sondern legen sich für sich selbst Rechtfertigungen für ihr Handeln zurecht, und die spiegeln sich in ihren Statements.

„Ich habe nie jemanden betrogen“ (Jan Ullrich) sagt der, der davon ausgeht, dass auch alle Konkurrenten gedopt sind.

„Es hat nie eine positive Dopingprobe gegeben“ sagt der, der sein Gewissen damit beruhigt, Doping sei nur, was auch nachweisbar sei.

„Ich wäre ja schön dumm, wenn ich dopen würde“ (Kaisa Varis kurz vor ihrer Überführung) sagt, wer Doping nicht für verwerflich, sondern höchstens für riskant hält.

Und aufschlussreich ist auch die Reaktion auf die Überführung anderer Athleten. Dass Jan Ullrich gedopt war, wusste man spätestens in dem Moment, als Lance Armstrong aufflog, der ihm mehrfach den Sieg bei der Tour de France weggeschnappt hatte. Ein sauberer Jan Ullrich hätte sich empört, statt es, wie Ullrich es tatsächlich tat, ziemlich gleichmütig wegzustecken (und bezeichnend ist wiederum der Kontrast zu der Reaktion etwa von Ricco Groß auf den Rottmann-Perner-Skandal).

Schließlich gilt für Funktionäre dasselbe wie für Sportler: Ein Verband, der auf nachgewiesenes Doping beleidigt, verstockt, als verfolgte Unschuld oder mit Winkeladvokatensophistik reagiert, der also Problembewusstsein nicht erkennen lässt, hat auch keines. Solche Verbände bemühen sich auch nicht, Transparenz herzustellen, und unternehmen gegen Doping nur genau das, wozu sie gezwungen werden. (Paradebeispiel ist der Österreichische Skiverband; und wieder fällt der Unterschied zum Deutschen Skiverband auf, der schon seit Jahren Blutprofile seiner Athleten hinterlegt, ohne dass ihn irgendjemand dazu aufgefordert oder gar gezwungen hätte.) Wenn man bedenkt, was ich oben über die Bedeutung des Umfeldes geschrieben habe, so ergibt sich von selbst, dass Sportler, die einem unsauber arbeitenden Verband angehören, hochgradig verdächtig sind.

Und so lauten die Faustregeln Nummer 3, 4, 5, 6 und 7:

Wo gedopt wird, steht in der Zeitung (wenn man sie aufmerksam liest).

Doper reden niemals freiwillig über Doping.

Doper verraten sich durch Bezugnahme auf Rechtfertigungsstrategien.

Doper empören sich nicht über das Doping Anderer.

Verbände ohne Problembewusstsein haben mit hoher Wahrscheinlichkeit gedopte Athleten.

Klar kann man einwenden, dass von den sieben Faustregeln fünf sich auf das Verhalten von Sportlern bzw. Trainern und Funktionären beziehen. Selbstverständlich kann man sich ausmalen, dass ein Doper durchtrieben genug sein könnte, sich vorzustellen, wie ein sauberer Athlet sich verhalten würde, und sich dann exakt so zu verhalten.

Dagegen, dass dies im Einzelfall so sein könnte, spricht zunächst der empirische Befund: In den letzten zehn Jahren sind derart viele Doper überführt worden, dass es gerechtfertigt ist, die dabei gemachten Erfahrungen zu verallgemeinern; kein Einziger der ertappten Sportler hat es verstanden, so raffiniert zu heucheln, wie das Gegenargument unterstellt.

Eine solche glaubwürdige Heuchelei ist auch theoretisch allenfalls als krasse Ausnahme zu erwarten, weil sie, zumal wenn sie über Jahre hinweg durchgehalten wird, eine oscarverdächtige schauspielerische Leistung darstellt; und wir haben es hier mit Sportlern und Funktionären zu tun, nicht mit geschulten Charakterdarstellern. Ganz und gar phantastisch aber ist die Vorstellung, dass ganze Mannschaften mitsamt zugehörigem Betreuerstab und vorgesetzten Funktionären kollektiv zu einer solchen Leistung imstande sein sollten.

Wer durchaus glauben möchte, die deutschen Biathleten und ihr gesamtes Umfeld hätten eine solche Leistung vollbracht – und dabei sogar den „Spiegel“ hinters Licht geführt – nun, der möge es glauben.

Er kann dann allerdings ebensogut glauben, der Papst sei evangelisch.

 

[Zum Thema „Doping“ siehe hier auch ein hochinteressantes Interview mit dem Dopingdealer Angel Heredia im „Spiegel“]

Was der Fall Dejagah uns lehrt

Ein, sagen wir, Chinese wird in Amerika eingebürgert und nimmt seinen neuen Pass entgegen. Nach allem, was wir über US-Einwanderer wissen, fühlen sie sich vom ersten Moment an als Amerikaner, sind stolz darauf und empfinden sich als quasi nachträgliche Mitkämpfer von George Washington und Abraham Lincoln. Mit anderen Worten: Sie identifizieren sich mit ihrem Land und empfinden dessen Geschichte als ihre eigene.

Für einen frischgebackenen Deutschen ist diese Art Identifikation sicher nicht unproblematisch – so wenig wie für die gebürtigen Deutschen. Identifikation – das heißt für einen Deutschen ja nicht nur: Wir haben Goethe und Thomas Mann hervorgebracht, wir sind das Volk von Leibniz und Schopenhauer, wir haben das Wirtschaftswunder geschafft und sind dreimal Fußballweltmeister geworden. Es heißt eben leider auch: Wir haben sechs Millionen Juden gekillt.

Ich verstehe Jeden, der damit nichts zu tun haben möchte. Wenn sich aber jemand „Deutscher“ nennt und daraus Ansprüche ableitet, dann kann ich ihm nicht das Recht zugestehen, so zu tun, als ginge ihn die deutsche Geschichte nichts an. Auch nicht, wenn er aus Teheran stammt.

Der deutsche U-21-Fußballnationalspieler Ashkan Dejagah, der neben seinem deutschen auch einen iranischen Pass hat, hat es bekanntlich abgelehnt, zu einem Länderspiel in Tel Aviv anzutreten, und er hat durchblicken lassen, dass für diese Entscheidung politische Gründe maßgeblich waren.

Mir geht es nicht darum, diesen jungen Kerl an den Pranger zu stellen, mit geht es um das Exemplarische dieses Falls – es gibt viele Dejagahs, denen man einen deutschen Pass in die Tasche gesteckt hat, ohne zu fragen, ob sie das Selbstverständnis der Nation teilen oder auch nur begriffen haben, ob sie Deutschland wirklich als ihr Land empfinden, und ob sie bereit sind, für die Werte einzutreten, für die Deutschland steht.

Man hat ganz juristisch-technokratisch die Einbürgerung zu einem Anspruch jedes Menschen gemacht, der bestimmte objektive Voraussetzungen erfüllt, ja man wirbt sogar für die Einbürgerung. Müssen wir uns da wundern, dass viele der so Eingebürgerten sich auf den Standpunkt stellen, nicht sie schuldeten unserem Land und seinen Werten Loyalität, sondern wir, die Mehrheitsgesellschaft, schuldeten ihnen Toleranz, und sei es für ihren Antisemitismus und sonstige Fanatismen? Müssen wir uns wundern, dass die einen sich zu Terroristen ausbilden lassen und die anderen ihren privaten Judenboykott ausrufen? Dass ihre Loyalität nicht Deutschland gilt, sondern ihrem Heimatland, ihre Solidarität nicht der bedrängten israelischen Demokratie, sondern der iranischen Theokratie, und dass sie nichts dabei finden, noch einmal sechs Millionen Juden in Rauch aufgehen zu lassen?

 

 

Aktuelle Literatur zum Stichwort „Iran“

 

Wir sind Weltmeister!

Zur Abwechslung etwas Unpolitisches: 

Die deutschen Frauen sind wieder Fußballweltmeister, und wenn man ihren Erfolg gerecht würdigen will, muss man sich vergegenwärtigen, dass es das erste Mal seit 1962 (und erst das zweite Mal in der Fußballgeschichte überhaupt) ist, dass eine Nationalmannschaft ihren Weltmeistertitel verteidigen konnte (1962 gelang das den Brasilianern um Pelé), und dass sie der erste Weltmeister sind, der ein ganzes Turnier ohne Gegentreffer gespielt hat. Na gut, im Finale kam die Null ziemlich ins Taumeln, aber sie fiel nicht!

Trotzdem keine Fanmeile, kein Autokorso, kein Fahnenmeer in Schwarz-Rot-Gold, und die Deutsche Fußball-Liga fand auch nichts dabei, zeitgleich zum WM-Finale Zweitligaspiele anzusetzen, in der (seufz!) wahrscheinlich richtigen Annahme, dass die Fans lieber ein Zweitligaspiel Hoffenheim-Mainz sehen, als ein WM-Endspiel Deutschland-Brasilien, sofern das eine von Männern und das andere von Frauen ausgetragen wird.

Wieso eigentlich? Und warum werden Frauen-Bundesligaspiele auch weiterhin vor der überschaubaren Kulisse von einigen hundert Zuschauern stattfinden?

Manche sagen, weil Frauenfußball unweiblich sei, und die intellektuell beschlageneren formulieren es so: Frauenfußball entspreche nicht dem gesellschaftlich etablierten geschlechtsspezifischen ästhetischen Ideal. Hm. Merkwürdigerweise jubeln sie aber den Walküren zu, die im Kugelstoßen, im Diskus-, Speer- und Hammerwerfen Medaillen für Deutschland holen. Die werden ernstgenommen, Fußballerinnen nicht. Der Subtext lautet: Wenn sie schon nicht anständig spielen, sollen sie wenigstens hübsch aussehen!

Spielen sie nicht anständig? Noch vor wenigen Jahren hätten die einen von „Zeitlupenfußball“ gesprochen und die anderen politisch korrekt geantwortet,  ein Vergleich von Frauen- und Männerfußball sei ein unfairer Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen, weil Frauenfußball naturgemäß langsamer und weniger aggressiv, dafür aber spielerischer, harmonischer und insofern ästhetischer sei. Eigentlich seien es zwei Sportarten.

Diese Ansicht können wir nach dieser WM getrost zu den Akten legen. Was sich innerhalb weniger Jahre abgespielt hat, ist nicht weniger als ein Quantensprung: Der Frauenfußball ist enorm schnell und athletisch geworden. Dass Frauen nicht den Antritt und die Schusskraft von Männern haben, würde heute nur noch dann auffallen, wenn sie direkt gegeneinander spielen würden – am Bildschirm oder im Stadion merkt man es bei einer Frauenpartie nicht. Männer- und Frauenfußball sind vergleichbar geworden.

Und genau deswegen fällt jetzt auf, dass zumindest in der Spitze Männer immer noch (noch!) den besseren Fußball spielen. Ich glaube nicht, dass ich die Leistung der deutschen Mannschaft schmälere, wenn ich sage, dass sie sich während des Turniers eine Anzahl an Fehlpässen und Stockfehlern geleistet hat, mit der eine Männermannschaft kaum die Vorrunde überstanden hätte. Trotzdem beendete sie das Turnier mit einundzwanzig zu null Toren, und trotzdem musste man bis zum Finale warten, um mit Brasilien einen ihr ebenbürtigen Gegner zu sehen. Dieses Finale war denn auch die einzige Partie, in der wirklicher Spitzenfußball geboten wurde. Es gibt weltweit nur zwei Nationalmannschaften, die nach einem einigermaßen strengen Maßstab erstklassig sind, und ein paar weitere (man braucht nicht die Finger einer Hand, sie aufzuzählen), die wenigstens halbwegs mithalten können.

Das Problem des Frauenfußballs ist nicht, dass Frauen nicht spielen könnten (überhaupt eine lächerliche These, auf die in anderen Sportarten niemand käme), sondern dass die Spitze (noch!) so verzweifelt dünn besetzt ist. Man sieht das nicht nur bei Weltmeisterschaften, sondern auch im Vereinsfußball. Man sehe sich die Schlusstabelle der Saison 2005/2006 an: Turbine Potsdam beendete die Saison mit einem Torverhältnis von 115 zu 13 (!), beim Letztplazierten FSV Frankfurt ist das Verhältnis (im Negativen) noch gespenstischer: 5 zu 142! Das entspricht einer Leistungsdifferenz von sechs oder sieben Spielklassen in einer einzigen Liga, die obendrein nur zwölf Vereine umfasst.

Die Frauen, deren Fußball erst seit Mitte der siebziger Jahre vom DFB zugelassen wird, haben, je nach Rechnung, rund achtzig bis hundert Jahre Rückstand aufzuholen. Das betrifft die Anzahl der Spieler, die Infrastruktur, die Finanzierung und die Akzeptanz durch die Fans. Vereine wie Schwarz-Weiß Essen, Holstein Kiel oder Borussia Neunkirchen können in der Oberliga – viertklassig – spielen, aber sie haben einen Namen und deshalb einen Anhängerstamm, von dem selbst die Turbinen oder der FFC nur träumen können. (Für Fußballdeutschland zählt eben der Schweinsblasen-Faktor: Ein Verein wird im Zweifel nicht ernstgenommen, wenn seine Tradition nicht in die Zeit zurückreicht, wo man den Ball nur mit viel Wohlwollen „rund“ nennen konnte, weil er aus höchst eigenwilligen Naturmaterialien bestand.)

Aber das wird sich ändern (wenn auch nicht so rapide wie etwa im Biathlon, wo noch vor knapp zwanzig Jahren die Fans nach Hause gingen, wenn das Männerrennen beendet war und die Frauen starteten; zehn Jahre später war ein Biathlon-Tag ohne Uschi Disl ein verlorener Tag). Es spricht Bände, dass einige der besten Spielerinnen des Turniers (Marta, Laudehr, Bajramaj) gerade erst um die zwanzig sind: Da wächst viel nach, und die Qualität steigt dramatisch. Ich freue mich jetzt schon auf die nächsten Turniere, und in fünfzehn oder zwanzig Jahren, da gehe ich jede Wette ein, wird Frauenfußball unter den Fans dieselbe Akzeptanz haben wie der von Männern.

Übrigens: Falls Feministinnen mitlesen, die der Meinung sind, ich hätte statt von Spielern und Weltmeistern von Spielerinnen und Weltmeisterinnen sprechen sollen, hört Birgit Prinz zu: „Bei uns kämpft Jeder für Jeden.“ Nicht Jede für Jede. Frauen, die wirklich emanzipiert sind, haben political correctness nicht nötig.