„Radikalisierung“

Wer sich schon einmal mit der Relativitätstheorie befasst hat, kennt Einsteins Gleichnis vom Zugreisenden, aus dessen Perspektive nicht etwa er selbst, sondern der am Bahnsteig zurückbleibende Begleiter derjenige ist, der sich bewegt.

Alles, so scheint es, ist relativ, theoretisch zumindest. Für praktische Zwecke freilich ist das Gleichnis kaum zu gebrauchen. Jeder wirkliche Zugreisende weiß, dass er selbst sich mit dem Zug bewegt – er wäre ja sonst gar nicht erst eingestiegen.

Zugreisende, die sich darüber nicht im Klaren wären, würden die Welt etwa so sehen wie mittelalterlichen Menschen, die glaubten, die Erde stehe still und die Sonne drehe sich um sie. In der Tat: Wenn man alles als relativ auffasst, kann man dies so sehen. Vernünftig handeln aber kann man auf der Basis einer solchen Theorie nicht.

Stellen wir uns nun eine Gruppe naiver Zugreisender vor, die einer solchen Weltsicht anhängen und sich folglich darüber wundern, dass all die Menschen auf dem Bahnsteig sich von ihnen wegbewegen, noch dazu in zunehmendem Tempo.

Unsere Zugreisenden grübeln nun über die Gründe dieser unverständlichen Fluchtbewegung nach. Das Ergebnis ihrer Überlegungen lautet ungefähr wie folgt:

Die sich Entfernenden seien wohl in „Verschwörungsmythen“ befangen. Sie glaubten gar – ha, ha, ha! – es gebe so etwas wie einen Lokomotivführer! Ferner glaubten sie, der Zug bewege sich, während doch „die Wissenschaft“ – deren handverlesene Vertreter praktischerweise gleich mit im Zug sitzen – „beweise“, dass sich in Wahrheit der Bahnsteig bewegt. Dass die Menschen auf dem Bahnsteig an „Geschwurbel“ glaubten, wonach der Zug sich bewege, sei auf das Wirken rechter Hetzer und russischer Geheimdienste zurückzuführen. Diese üblen Verschwörer hätten durch ihre Verschwörungstheorien einen Prozess der „Radikalisierung“ in Gang gesetzt, aufgrund dessen die Menschen sich mitsamt dem Bahnsteig vom Zug entfernten.

Aus der Sicht und in der Sprache des herrschenden Machtkartells entsprechen dessen Kritiker genau diesen Menschen. Dies gilt etwa für Islamkritiker („Islamhasser“), Kritiker des etablierten Klimakatechismus („Klimaleugner“) und der Coronamaßnahmen („Coronaleugner“), die sich – offenbar aufgrund böser Einflüsterungen, deren Urheber daher aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen seien – unablässig „radikalisieren“.

Wohlgemerkt: Dies ist die Sprache desselben Machtkartells, das die Axt an den Nationalstaat, den Rechtsstaat, die bürgerlichen Grundrechte, die Existenz des deutschen Volkes und der traditionellen Familie legt, ein pluralistisches System in ein Blockparteiensystem verwandelt, wichtige Teile der Medien und der Justiz gleichschaltet und ein staatliches Wahrheitsmonopol beansprucht – kurz: eines Establishments, das in einem schleichenden kalten Staatsstreich begriffen ist.

Diese Machthaber also finden, nicht etwa sie selbst hätten sich radikalisiert, sondern ihre Kritiker!

Dabei ist das, was ihnen als „Radikalisierung“ erscheint, die unausweichliche Folge ihrer eigenen immer radikaleren Übergriffe. Da sie dies aber nicht wahrnehmen können, versuchen sie dieser Folgen durch immer noch radikalere Übergriffe Herr zu werden, wundern sich, dass diese nicht fruchten, und brauchen immer neue Sündenböcke dafür, dass die „Radikalisierung“ ihrer Kritiker sich aller Repression zum Trotz nicht etwa verlangsamt, sondern beschleunigt.

[Dieser Beitrag erschien zunächst in der Compact 2/2022. Bildquelle: www.piqs.de]