Die libysche Tragödie

Sah es zu Beginn des libyschen Aufstands noch so aus, als würde Gaddafis Regime wie ein Kartenhaus zusammenbrechen, so zeichnet sich nun ab, dass er die Revolte überstehen wird. Angesichts der Erfahrungen mit nahöstlichen Potentaten seines Schlages (Assad, Saddam) sollte sich niemand Illusionen darüber machen, dass Gaddafi nach einem Sieg grausam Rache nehmen und zehntausende von Menschen umbringen wird.

Dies ist kein Plädoyer für eine militärische Intervention. Dass die westlichen Staaten bislang nicht interveniert haben, ist per se nicht zu beanstanden:

Einmal gibt es keinen legitimen Interventionsgrund: Sie sind weder angegriffen worden – was die klassische Rechtfertigung für die Anwendung militärischer Gewalt ist -, noch können sie auf eine Bedrohung vitaler Interessen verweisen, aus der sich womöglich mit einiger juristischer Phantasie so etwas wie eine Notwehrsituation konstruieren ließe.

Ein Recht zur Intervention gibt es also nicht und gäbe es übrigens auch dann nicht, wenn ein Mandat des Weltsicherheitsrates vorläge. Der Sicherheitsrat überschreitet nämlich seine Kompetenzen, wenn er willkürlich eine Intervention absegnet, für die es an den rechtlichen Voraussetzungen fehlt. Dass er dergleichen bisweilen tut, zeigt nur, dass die UNO in solchen Fragen eine Diktatur der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs ist, die bei Bedarf als „Recht“ statuieren, was in ihrem Interesse liegt. Mit „Recht“ in einem einigermaßen strengen Sinne hat dies aber nichts zu tun.

Übrigens gibt es keine Rechtsnorm, die es einer Regierung verböte, einen gegen sie gerichteten Aufstand gewaltsam niederzuschlagen, und zwar unabhängig davon, wie gewalttätig der Aufstand selbst ist. Eine solche Norm wäre geradezu widersinnig, und man kann diesen Sachverhalt auch nicht dadurch umgehen, dass man die Niederschlagung des Aufstandes hysterisch zum „Krieg Gaddafis gegen das eigene Volk“ aufpumpt – ganz abgesehen davon, dass praktisch sämtliche westlichen Regierungen ihrerseits einen solchen Krieg führen, nur mit vornehmeren Mitteln.

Auch der von Hobbyvölkerrechtlern konstruierte „Völkermord“, der eine Intervention auf der Basis der Anti-Völkermord-Konvention rechtfertigen könnte, ist  bisher nicht erkennbar: Selbst wenn sich Gaddafi, wie befürchtet, mit einem Massenmord revanchieren würde, würde dieser erst dann zum Völkermord, wenn durch ihn ein ganzes Volk oder zumindest eine ethnische Gruppe in ihrer Existenz als Volk bzw. Gruppe bedroht wäre. Auch davon kann kaum die Rede sein.

Schließlich befindet sich der Westen noch in der speziellen Verlegenheit, dass jegliche westliche Intervention in der islamischen Welt gemäß der Scharia die Pflicht zum Dschihad gegen den Eindringling auslöst. Selbst wenn die meisten Muslime darauf pfeifen – ein paar Terroristen, die diese Pflicht blutig ernst nehmen, finden sich immer. Freilich: Wenn der Westen nicht interveniert, wird ihm das dort genauso angekreidet wie wenn er es tut. Dann wird es nämlich heißen, der Westen habe die Libyer im Stich gelassen – so als ob er für das Wohlergehen arabischer Völker verantwortlich wäre. Wer immer den Konflikt unter dem Gesichtspunkt betrachtet, es gehe darum, „die Köpfe und Herzen der Araber zu gewinnen“, muss sich darüber im Klaren sein, dass dies objektiv unmöglich ist.

Hätten Europa und Amerika sich einfach auf den Standpunkt gestellt, dass sie zum militärischen Eingreifen nicht berechtigt und schon gar nicht verpflichtet sind, so wäre dies unangreifbar gewesen und hätte den Aufständischen womöglich manche Illusion erspart, die sie am Ende mit ihrem Blut bezahlen müssen. Inzwischen haben sie wohl gemerkt, dass man sie mit einer Politik des möglichst geräuschvollen Nichstuns verschaukelt hat, aber jetzt können sie nicht mehr zurück.

Stattdessen erleben wir seit Wochen eine Orgie der Heuchelei: Es ist ja an sich nicht verkehrt, die Beteiligung der Arabischen Liga zur Voraussetzung für eine Intervention zu machen, allein schon, um ihr den Schwarzen Peter zuzuspielen und das Odium der „Aggression gegen den Islam“ zu vermeiden. Nur wissen alle Verantwortlichen, dass die arabischen Potentaten selber die Erde unter ihren Thron- und Präsidentensesseln beben fühlen und – aller Rhetorik zum Trotz – nicht das geringste Interesse daran haben, dass nach Mubarak und Ben Ali noch ein Dritter aus ihrem Club einer Revolution zum Opfer fällt. Die Politik der nahöstlichen Politiker muss darin bestehen, sich weit genug von Gaddafi abzusetzen, um gegenüber den eigenen Völkern ein Alibi zu haben, aber nichts zu tun, was tatsächlich zu seinem Sturz führen könnte.

Genau auf dieser Linie bewegt sich der Beschluss der Arabischen Liga, den Westen zur Einrichtung einer Flugverbotszone aufzufordern, zugleich aber jede Verletzung der libyschen Souveränität abzulehnen. Verglichen damit ist die Quadratur des Kreises ein Kinderspiel, und das wissen die Herren ganz genau. Es geht ihnen einfach darum, den Schwarzen Peter wieder dem Westen zurückzugeben, der ihn seinerseits an den Sicherheitsrat, sprich Russland und China weiterreicht.

Bei dieser Gelegenheit zeigt sich dann auch, was von den „revolutionären“ Regimen Ägyptens und Tunesiens zu halten ist: nämlich dass sie alles andere als revolutionär sind. An sich sind es ja gerade diese beiden Länder, die noch am ehesten ein Interventionsrecht geltend machen könnten, und zwar unter Hinweis auf den notwendigen Schutz ihrer Staatsbürger in Libyen und auf die sie überfordernde Flüchtlingswelle aus dem Nachbarland.

Nun stellt sich aber heraus, dass in Wahrheit in beiden Ländern die alten Regime trotz Abdankung der jeweiligen Galionsfigur die Macht immer noch in Händen halten. Was für uns wie eine Revolution aussieht, ist der Versuch der alten Macht, mit den diversen oppositionellen Gruppen zu einem neuen Arrangement zu gelangen. Ein Interesse an einem Sturz Gaddafis haben sie offenbar nicht.

Ein solches Interesse scheinen aber auch ihre Völker nicht zu haben, deren revolutionärer Elan sich auf das je eigene Land beschränkt. Mir ist jedenfalls nicht bekannt, dass sich Massen von freiwilligen Kämpfern nach Libyen aufmachen würden, so wie sie in den achtziger Jahren nach Afghanistan gegangen sind. Mir ist auch nicht bekannt, dass von Ägypten aus Waffenlieferungen über die Grenze zu den libyschen Revolutionären gelangen würden – was umso erstaunlicher ist, als eben solche Waffenlieferungen über die deutlich schärfer bewachte Grenze zum Gazastreifen offenbar kein Problem darstellen.

(Nebenbei gesagt ist diese Zurückhaltung ein starkes Indiz dafür, dass Islamisten beim libyschen Aufstand keine prominente Rolle spielen; in dieselbe Richtung deutet die Tatsache, dass die islamistisch regierte Türkei in Gestalt ihres Ministerpräsidenten, des weltweit verehrten Trägers des Gaddafi-Preises für Menschenrechte, eine Intervention der NATO zugunsten der Aufständischen strikt ablehnt.)

Wir lernen daraus erstens, dass die innermuslimische Solidarität nur dann und nur so weit mobilisierbar ist, wie sie sich gegen die „Ungläubigen“ richtet; in jedem anderen Zusammenhang ist der eigene Stamm das Maß aller Dinge, und werden schon die Angelegenheiten des Nachbarlandes mit Indifferenz behandelt; zweitens, dass es so etwas wie eine „arabische Demokratiebewegung“ nicht gibt, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass Demokratie als abstrakter Wert aufgefasst würde. Was es gibt, sind Volksbewegungen, bestehend aus Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen den jeweils eigenen Diktator loswerden wollen, ohne deshalb zu westlichen Liberalen zu mutieren. Das ist kein Vorwurf gegen diese Völker, wohl aber einer gegen eine globalistische Propaganda, die sie für sich vereinnahmen will.

Die Einzigen, die in den letzten Tagen und Wochen eine respektable Figur gemacht haben, sind die Aufständischen selbst, die deswegen  jetzt auf verlorenem Posten stehen. Niemand wird ihnen helfen, weil niemand ein Interesse daran hat.

 

12 Gedanken zu „Die libysche Tragödie“

  1. Sarkozy hat die (Quasi-)Regierung von Bengazi als einzige legitime Regierung von Libyen anerkannt und Frankreich so die Möglichkeit verschafft, diese zu bewaffnen und zu unterstützen.
    Ich könnte mir vorstellen, dass ein paar moderne Flug- und Panzer-Abwehrraketen die Lage ändern könnten.
    Wenn Frankreich die dennoch nicht liefert, hat das wohl nicht hauptsächlich völkerrechtliche Gründe.

  2. Naja, dann müsste Frankreich auch direkt Personal schicken, das die Aufständischen im Gebrauch dieser Waffen unterrichtet. Wir reden hier ja nicht über Waffensysteme von der Einfachheit einer Panzerfaust von 1945. Hier mal die Daten für das System, das am ehesten in Frage käme (wenn Frankreich der Lieferant ist):

    Die bekannteste Verwendung für die Mistral ist das Mistral MANPADS (kurz für Mistral Man Portable Air Defense System), das die tragbare Infanterie-Version darstellt. Es besteht in erster Linie aus der Rakete mit dem Startrohr (Container), einem 3-Bein-Stativ mit Sitz und Griffen, einer Elektronikbox, Batterien/Kühlmittel und diversen Objektiven für Tag- und Nachteinsatz.

    Die komplette Ausrüstung kann zwar von einem Mann bedient werden, benötigt zum Transport bedingt durch die Größe und das Gewicht jedoch zwei bis drei Mann:

    * Container, 24 kg
    * Stativ, 22 kg
    * Zubehör, 16 kg

    Das Ziel kann auf zwei Arten aufgefasst werden:

    * mündlich, durch die Angaben eines außenstehenden Kommandanten
    * per Tonsignal im Helm, erzeugt durch ein Zielzuweisungsradar (ZZR bzw AZR)

    Die Rakete benötigt ein Kühlmittel, um den Infrarotsuchkopf der Rakete abzukühlen; mit einem Kühlmittelbehälter kann das System so bis zu 45 Sekunden betriebsbereit gehalten werden.

    Um Lenkwaffen einzusetzen bedarf es schon eines gewissen Ausbildungs- und Organisationsgrades, und da bin ich mir bei einer Stammesmiliz ehrlich gesagt nicht so ganz sicher…

  3. Es wäre für den Westen übrigens ein Leichtes, mal eben bei Gaddhafi anzurufen und ihm mitzuteilen, man werde es ihm gestatten, seinen Aufstand niederzuschlagen, wenn er kooperiere, andernfalls man ihn wie Saddam entfernen werde.
    Schon wird aus dem grausamen Diktator ein EU-Kandidat. Ist allemal besser, als mit einer unsicheren neuen Regierung zusammenzuarbeiten.

  4. Danke für diesen Beitrag, Manfred. Ähnliches ging auch mir durch den Kopf.
    Es tut gut, mich in Ihren Gedanken wiederzufinden.
    Ich hoffe nur, daß sich der Westen aus diesem innerlybischen Konflikt militärisch heraushält. Die islamische Welt verfügt über ausreichend Möglichkeiten, um den Aufständischen in Lybien über Tunesien und/oder Ägypten tatkräftig zu Hilfe zu kommen, wenn sie denn wollen.

  5. Es wäre zu schön, wenn auch unsere „Eliten“ so klar denken könnten, wie Manfred.

    Warum auch immer, es ist nicht so.

  6. Einige Mitglieder dieser „Eliten“ – nicht alle – denken vermutlich noch viel klarer als ich; sie stehen nur auf der anderen Seite.

  7. Manfred, Sie haben es ja in Ihrer Rezension von „Hirten und Wölfe“ präzise herausgearbeitet. Es ist zwar ein wenig beängstigend, aber Realität, diese sehr klugen Köpfe auf der Gegenseite, ausgestattet mit offenbar unendlichen Ressourcen.

  8. Nun ist es soweit:
    „…
    Jetzt ist das Militär am Zug: Die Vereinten Nationen haben den Weg frei gemacht für ein militärisches Vorgehen gegen Libyen. Nach einer in New York vom Sicherheitsrat verabschiedeten Resolution gibt es nicht nur ein Flugverbot über dem nordafrikanischen Land, um die Zivilisten vor der Luftwaffe von Muammar al-Gaddafi zu schützen. Erlaubt ist militärisch fast alles – bis auf Bodentruppen.

    Vor allem Frankreich hatte sich für ein hartes Durchgreifen gegen Gaddafi stark gemacht, aber auch andere Länder wollen sich mit ihrer Luftwaffe beteiligen. Nach Informationen aus diplomatischen Kreisen sollen auch Kampfflugzeuge aus den USA, Großbritannien „und anderen europäischen und arabischen Ländern“ bereitstehen. …“
    Quelle: http://www.welt.de/politik/ausland/article12870326/UN-Staaten-duerfen-Luftangriffe-gegen-Gaddafi-fliegen.html#disqus_thread

  9. Sehr geehrter Manfred,
    Besser, als Sie es geschildert haben, kann man sowohl die völkerrechtliche Problematik, als auch die „innenpolitische“ Situation in einem islamisch geprägten Bereich nicht darstellen.
    Man kann eigentlich nur zu speziellen Aspekten seine Meinung bekunden.
    Hier im Falle Libyen wird sofort von „Völkermord“ geschrieen, wenn ein Diktator versucht, eine andere politische Gruppe, die möglicherweise eine noch restriktivere Diktatur errichten würde, abzuwehren.
    Die konkreten Vorstellungen dieser Gruppe habe ich vergeblich versucht, zu erfahren.
    Wenn hier um eine Auseinandersetzung zwischen den beiden islamischen Glaubensrichtungen stattfindet, ist Zurückhaltung erst recht geboten.
    Der Westen wird immer den „Schwarzen Peter“ ziehen.
    An dieser Stelle möchte ich an den aus Frankreich in den Iran zurück kehrenden Ayatollah Ali Khamenei erinnern. Auch hier hat der Westen und auch das persische Volk in naiver Weise geglaubt, es könne etwas „Besseres“ entstehen, als die Schah-Regierung.
    Heute denkt man in westlichen Regionen darüber nach, wie ein Raketenschild uns vor der zu erwartenden atomaren Bedrohung von dort schützen könnte (s.a. „Das Dschihadsystem“ Pkt 3.2.1 ff.).
    Außerdem erinnere ich in diesem Zusammenhang an Herrn Mohamed ElBaradei, der viele Jahre lang im internationalen Auftrag dem Iran friedliche Nutzung der Kernenergie bescheinigte (Taqiya) und nun plötzlich in Ägypten ganz oben einsteigen möchte.
    Nun mischt sich der „Westen“ in die inneren Angelegenheiten eines islamischen Staates ein, ohne vorher zu wissen, was dann kommt. Würde dort ein dem Iran ähnliches Regime entstehen, dann sollte man auch über ein sehr viel schneller reagierendes Abwehrsystem für Raketen aus Richtung Mittelmeer nachdenken.
    Soviel zur Intelligenz der westlichen Politikereliten.
    Ein weiterer, sehr brisanter Aspekt ist die sichere Energieversorgung Europas. Hatten doch einige Energieexperten gemeint, man könne die dort reichlich vorhandene Sonnenenergie nutzen, um im Laufe der Zeit auf eine mit weniger Risiko behaftete Energiebereitstellung als die atomare, umzusteigen, dann zeigt sich außer technisch-ökologischen Risiken (man denke sich die Pole mit Ruß bestreut) das Risiko einer allseitigen Erpressbarkeit(In dem Buch „Das Dschihadsystem“ könnte man diesbezüglich noch einen Pkt. 2.2.4.6 technologische Erpressung hinzufügen).
    Was die große Anzahl von „Revolutionären“ (auch in Ägypten)“ betrifft, kann man verstehen, dass viele dieser Menschen ganz einfach besser leben möchten. Dass es funktioniert, erfahren sie auch aus dem Internet. Wie das zu machen ist, wissen sie nicht, denn Fortschritt und Bildung im westlichen Sinne findet im diesen Ländern nicht statt.
    Leider lassen sich diese frustrierten Menschen natürlich auch von Personen benutzen, die selbst an die Macht kommen wollen.
    Selbst, wenn diese Personen wirklich ohne Dschimmi´s etwas Gutes bewirken wollen, dann müssen sie Druck einsetzen, denn sie müssten diesen Aufbegehrenden zunächst einmal Bildung und dann produktive Disziplin aufzwingen (Ausnahmen bestätigen hier die Regel) und der nächste Stammesfürst wartet schon auf seine Gelegenheit. Damit schließt sich ein Kreis.
    Sollte dort wirklich eine echte Demokratie versucht werden, dann wird es ihr ergehen, wie es bei uns gerade geschieht.

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